Vom Ende bis zum Anfang

  • Und Semir würde bald zurückkommen und ihn hier raus holen, wenn er sich um Konrad gekümmert hatte, davon war Ben restlos überzeugt. Es war wieder der alte Semir gewesen, der bei ihm gewesen war, sein Partner, dem er vertrauen und auf den er sich absolut verlassen konnte, der für ihn so etwas wie ein Familienmitglied geworden war. Und gerade deshalb hatte ihn Semirs Zurückweisung damals so sehr getroffen. Er hatte immer gedacht, dass es Semir genau so wie ihm gehen würde, doch dort in der Türkei hatte sich anscheinend gezeigt, dass dem doch nicht so war. Aber Ben hatte inzwischen verstanden, warum Semir so auf seine Anwesenheit reagiert hatte. Gerade weil Ben so wichtig für ihn war, hatte Semir ihn nicht in dieser Gefahrenzone haben wollen. Wahrscheinlich war das seinem Partner in dieser Situation selbst nicht klar gewesen, so wie er sich ihm gegenüber verhalten hatte, aber das war im Nachhinein betrachtet, einfach den dortigen Umständen geschuldet gewesen. Und all die Dinge, die sonst noch geschehen waren, wären in dieser Form nie passiert, wenn Ben das einfach nur eher erkannt hätte und Semir ihm vielleicht ein kleines bisschen anders gegenüber getreten wäre.
    Doch sie würden das alles wieder auf die Reihe kriegen, da war sich Ben sicher und als erstes würde er jetzt damit anfangen, Semir zu unterstützen, indem er sich aufraffte, seinem Partner entgegen zu gehen. Antonio war mit Layla unterwegs, mehr als zwei Schläger konnten doch eigentlich nicht mehr im Haus sein und da diese nicht unbedingt mit viel Intelligenz ausgestattet waren, musste doch selbst er es in seinem Zustand schaffen, irgendwie unbemerkt an ihnen vorbei zu kommen.
    Langsam, sehr langsam versuchte Ben aufzustehen, doch es wollte ihm kaum gelingen. „Komm schon, wie willst du die Treppe schaffen, wenn du nicht mal auf die Beine kommst!“ beschimpfte er sich selber und endlich gelang es ihm, sich aufrecht hinzustellen. Schwer atmend lehnte er sich gegen die Wand und schloss die Augen, zwang sich gleich darauf wieder dazu, sie zu öffnen. „Ausruhen kann ich mich später“, flüsterte er und versuchte, einen kleinen Schritt in Richtung Ausgang zu machen.
    Nachdem er es geschafft hatte, zum Stehen zu kommen, fiel ihm das Gehen dann auch nicht mehr ganz so schwer, er musste nur aufpassen, dass er das Gleichgewicht nicht verlor. Er stützte sich an der Wand ab und erklomm langsam Stufe um Stufe. Kurz bevor er an der schweren Tür angelangt war, machte sich die Sorge in ihm breit, dass seine Flucht an dieser Stelle bereits zu Ende sein könnte, doch nachdem er sich fest dagegen gelehnt hatte, öffnete sie sich zu seiner großen Erleichterung und er sah einen breiten Flur vor sich.
    Natürlich war sie offen gewesen schalt er sich selbst, Semir hätte ihn wohl kaum eingesperrt da unten zurück gelassen. Vorsichtig ging er den Flur entlang, inzwischen floss genug Adrenalin durch seine Adern, so dass er sicher war, dass er es schaffen könnte, das Haus aus eigener Kraft zu verlassen, er durfte sich dabei nur nicht erwischen lassen. Wenn er doch nur wüsste, wo die beiden Typen und vor allem Antonio und Laylawaren! Vor allem letzteren wollte er nicht begegnen, Ben konnte nicht wissen, dass beide nicht mehr im Haus waren. Doch dann konnte er zwei Stimmen ausmachen, die hektisch miteinander sprachen. Vorsichtig lugte er um die Ecke und sah die beiden Helfershelfer von Antonio, die nicht zu wissen schienen, was sie machen sollten. Im Keller hatte Ben die Sirenen nicht hören können, doch Marco und Luigi waren durch ein geöffnetes Fenster schon frühzeitig auf den nahenden Besuch aufmerksam gemacht worden.
    „Verdammt, was sollen wir nur machen, die ganze Lieferung ist hier, Antonio wird uns in der Luft zerreißen, wenn wir damit auffliegen!“ stöhnte Marco. Luigi rührte sich nicht. In seinem Kopf schien es zu arbeiten. Nach einem kurzen Augenblick des Schweigens ging er zwei Schritte nach vorne und griff in einen Kasten, der vor ihm stand. „Wir werden denen da draußen einen heißen Empfang bereiten, ich geh jedenfalls nicht in den Knast und Antonio ist mir scheißegal!“ Mit diesen Worten zog er den Bolzen der Handgranate, die er sich genommen hatte, heraus, hielt die Sicherung aber noch mit dem Finger heruntergedrückt. „Bist du wahnsinnig geworden, willst du uns umbringen?!“ schrie Marco ihn entsetzt an, doch Luigi schien das nicht zu kümmern. Er sah in Richtung Fenster und schien zu überlegen, in welche Richtung er die Granate werfen sollte. Dann schien es so, als wolle er ausholen, doch in diesem Moment sprang Marco auf ihn zu und ein wildes Gerangel begann, als plötzlich ein untrügliches Poltern zu hören war, als die Handgranate Luigis Hand entglitt, zu Boden fiel und für beide unerreichbar zwischen die anderen Kisten rollte, in denen sich Waffen und auch Sprengstoff befand. Marco und Luigi sahen sich einen Augenblick lang entsetzt an und spurteten dann los, jeder in eine andere Richtung.

  • Auch Ben sah zu, dass er so schnell wie möglich von hier weg kam, doch er kannte sich im Gegensatz zu Marco und Luigi in diesem großen Haus nicht aus, er hatte keine Ahnung, wie er auf dem schnellsten Weg hier raus kommen sollte. Nach einer gefühlten Ewigkeit, die jedoch nicht mehr als wenige Sekunden gedauert haben konnte und er fast den rettenden Ausgang erreicht hatte, brach hinter ihm das Inferno los. Obwohl er damit gerechnet hatte, traf ihn die Wucht der Druckwelle der Explosion doch völlig unvorbereitet und riss ihn zu Boden. Eine immense Hitze breitete sich um ihn herum aus und überall knackte und ächzte es bedrohlich.
    „Nein, bitte nicht so“, flüsterte Ben. Er wollte nicht so sterben, er wollte weder ein Opfer der Flammen werden, noch hier ersticken, was allerdings die wahrscheinlichere Variante war, wenn er an die ganzen giftigen Stoffe dachte, die hier wohl inzwischen in der Luft waren. Er musste es schaffen, wieder auf die Beine zu kommen. Hoffentlich war Semir nicht schon wieder im Haus gewesen und ihm war nichts passiert.
    Er atmete noch einmal tief durch und versuchte dann, sich wieder aufzurichten, doch als er es bis auf die Knie geschafft hatte, brach über ihm ein Teil der Zwischendecke herunter und begrub seine Beine unter Trümmern. Ben schrie auf, als das Gewicht ihn auf den Boden drückte und ihm somit jegliche Hoffnung nahm, es alleine hier raus zu schaffen. Verzweifelt versuchte er, sich mit den Armen aus dem Schutt heraus zu ziehen, doch es gab nichts woran er sich festhalten konnte. Also begann er, seine Anstrengungen darauf zu konzentrieren, den Beton weg zu schieben, der auf seinen Beinen lag und er bildete sich ein, diesen sogar ein Stückchen bewegt zu haben, doch inzwischen bekam er immer schlechter Luft und auch die Hitze nahm immer mehr zu, auch wenn er das vorher kaum noch für möglich gehalten hatte. Langsam ließen seine Kräfte nach, er konnte einfach nicht mehr.
    „Ben? Ben! Halte durch, ich komme, ich hab’s dir doch versprochen!“ Semir? Konnte das wirklich Semirs Stimme sein, die er da hörte? Er versuchte, den Namen seines Partners zu rufen, doch er brachte nur ein Krächzen zustande, doch er versuchte er weiter und hoffte einfach, dass Semir es hören würde.
    Der stand inzwischen völlig verzweifelt vor der Kellertür oder vielmehr vor dem, was davon noch übrig geblieben war. Auch hier waren Teile der Decke herab gestürzt und machten es Semir somit unmöglich, den Keller noch einmal zu betreten. Tränen stiegen in ihm auf und er versuchte auch nicht, diese zu unterdrücken. „Ben“, flüsterte er. Er wusste, dass sein Freund da unten sterben würde, wenn er nicht sogar schon tot war. Und er stand hier oben, zur Untätigkeit verdammt, denn es gab nichts, was er tun konnte. Das Haus würde bis auf die Grundmauern niederbrennen, er selbst hatte Glück gehabt, dass sich das Zentrum des Feuers im Augenblick noch auf der von ihm abgewandten Seite des Gebäudes befand, nur so hatte er es überhaupt so weit hier hinein schaffen können, doch auch hier wurde der Qualm langsam immer dichter und das bedeutete, dass Ben da unten an den giftigen Dämpfen ersticken würde. Diese Vorstellung machte Semir fast wahnsinnig, er musste irgendetwas tun, doch alleine konnte er nichts ausrichten er musste Hilfe holen, auch wenn das bedeutete, dass er Ben schon wieder hier zurücklassen musste. Es fühlte sich für Semir so an, als würde er Ben verraten, auch wenn der davon gar nichts mitbekam, vielleicht war er ja auch schon gar nicht mehr bei Bewusstsein, so dass er nichts mehr mitbekam. Trotzdem rief er so laut er konnte: „Ben? Ben! Halte durch, ich komme, ich hab’s dir doch versprochen!“

  • Hustend und sich den Ärmel weiterhin als Schutz vor den Mund haltend, rannte er geduckt und so schnell er konnte wieder in Richtung Ausgang. Fast war er schon an der Tür angekommen, als er seinen Ohren nicht zu trauen glaubte. Eine heisere Stimme, die er trotzdem jederzeit wieder erkennen würde, rief seinen Namen und das sogar ganz in seiner Nähe. Konnte das wirklich sein oder war das nur ein Wunschdenken? Das war doch eigentlich unmöglich! Aber konnte er es sich leisten, dem nicht nachzugehen, auch wenn jetzt nichts mehr zu hören war? Doch für Semir stand völlig außer Frage, dass er dem Geräusch folgen würde und so bewegte er sich langsam in die Richtung dessen Ursprungs. Der Rauch trübte seine Sicht zwar weiterhin, doch dann sah er Ben, der auf dem Boden lag und dessen Beine unter Schutt begraben lagen. Die Gefühle, von denen Semir in diesem Augenblick überrollt wurden, konnte er im Nachhinein kaum beschreiben; die Palette reichte von einer großen Erleichterung, dass er seinen Partner gefunden hatte, über die Angst, wie es ihm gehen würde, bis hin zu der Ungewissheit, wie er es schaffen könnte, Ben hier raus bringen könnte. Er beugte sich zu Ben, um dessen Puls zu fühlen, doch als den Finger an dessen Hals legte, hörte er die geflüsterten Worte: „Da oben ist falsch, der Mist liegt auf meinen Beinen.“
    Ben hatte seine letzte Kraft zusammen genommen und Semirs Namen so lange und so laut gerufen, wie es im nur irgendwie möglich gewesen war, auch wenn er kaum hatte glauben können, dass es tatsächlich sein Freund gewesen sein könnte, den er da gehört hatte, doch er hatte es versuchen müssen, was hatte er sonst für eine Wahl gehabt. Und er hatte Recht gehabt, es war tatsächlich Semir gewesen, der auf der Suche nach ihm gewesen war, den sein Leben für ihn riskierte und spätestens jetzt war Ben klar, dass es wieder sein alter Partner war, der hier unterwegs war und diese Erkenntnis ließ ihn wieder Hoffnung schöpfen, dass er es doch noch schaffen könnte, hier lebend raus zu kommen. Er schlug die Augen auf und sah Semir an, der ihn seinerseits ziemlich besorgt ansah, wohingegen Ben das Gefühl hatte, dass jetzt alles nur noch besser werden konnte.
    Für einen kurzen Moment war Semir völlig perplex, hatte sich dann aber rasch wieder gefangen, es war keine Zeit für so etwas! „O.k., meinst du, du kannst mir etwas helfen?“ fragte er Ben, während er eine passende Stelle zum Zupacken suchte. Ben nickte, er bereit, noch einmal all seine Kräfte zusammen zu nehmen, um zu versuchen, sich unter dem Schutt herauszuwinden, wenn Semir es schaffen würde, das Ganze etwas anzuheben.
    Doch so sehr der sich auch bemühte, das verfluchte Teil bewegte sich keinen Millimeter. Hektisch sah er sich um, ob er nicht irgendetwas sah, was sich als Hebel verwenden ließe, doch es war nichts passendes in Sicht, er hatte nicht mehr viel Zeit, er spürte, dass das Feuer immer näher kam, der Qualm wurde immer dichter und legte sich schwer auf seine Atemwege. Erneut versuchte er mit aller Kraft, Ben die nötige Bewegungsfreiheit zu verschaffen, damit er sich befreien konnte, doch er schaffte es einfach nicht!
    „Lass gut sein, Semir, sieh lieber zu, dass du dich selbst in Sicherheit bringst“, vernahm er da auf einmal Bens Stimme. Fassungslos starrte er seinen Partner an, doch der schien das eben Gesagte völlig ernst zu meinen. „Hör zu, es bringt doch nichts, wenn wir beide hier drauf gehen, verschwinde einfach von hier, es ist in Ordnung.“ Hatte Ben zuerst noch große Hoffnung in Semir gesetzt, begriff er langsam jedoch, dass es sein Freund nicht schaffen konnte, der Schutt war einfach zu schwer. Es hatte ihn ehrlich gesagt enorme Überwindung gekostet, das zu sagen, er hatte große Angst vor dem, was gleich hier auf ihn zukommen würde und eigentlich wollte er dabei auch nicht alleine sein, doch er konnte doch nicht von Semir verlangen, hier gemeinsam mit ihm zu sterben, wenn sein Partner noch die Möglichkeit hatte, sich in Sicherheit zu bringen. Vielleicht konnte er ihn vorher noch bitten, ihn bewusstlos zu schlagen, damit er das Ende nicht mehr miterleben musste. Doch konnte er das von seinem Freund verlangen?

  • Semir gab keinen Ton von sich, sondern versuchte weiterhin, Ben zu befreien. Er musste es schaffen, es konnte doch nicht sein, dass er jetzt versagte, er musste er schaffen, er musste einfach! Der Qualm wurde immer stärker und er begann ebenso wie Ben zu husten. Seine Augen fingen an zu tränen, doch er ließ in seinen Anstrengungen nicht nach, auch wenn er spürte, dass seine Kräfte langsam nachließen und auch Ben war diese Tatsache nicht entgangen.
    „Semir, du musst dich in Sicherheit bringen“, flüsterte Ben und überlegte, wie er seine Bitte anbringen konnte, doch sein Partner schüttelte nur den Kopf und nahm noch einmal seine ganze verbliebene Kraft zusammen, um es noch einmal zu versuchen. Mit aller Gewalt zwang er sich, nicht daran zu denken, was geschehen würde, wenn er es nicht schaffen würde. Er zog so fest er konnte, seinen Blick starr auf das Deckenteil gerichtet, als plötzlich zwei Arme neben ihm auftauchten, ebenfalls fest zugriffen und zogen. Und mit dieser Hilfe gelang es endlich, das Ganze so weit anzuheben, dass Ben es schaffte, sich ein Stück nach vorne zu ziehen, bis seine Beine frei waren. Völlig entkräftet blieb er liegen, während Semir bereits wieder neben ihm war und ihn hoch zog. „Los komm schon, du musst nur noch ein bisschen durchhalten, bis wir hier raus sind. Danach kannst du dich so lange ausruhen, wie du willst, aber jetzt musst du dich noch mal zusammenreißen!“ Ben nickte und versuchte, mit Semirs Hilfe auf die Beine zu kommen. Sie taten zwar weh, aber es schien nichts gebrochen zu sein. Wieder bemerkte Semir die helfenden Hände, die er fast schon wieder vergessen hatte, so sehr war er auf Ben konzentriert. Doch jetzt drehte er sich um, damit er sehen konnte, wer ihm da zu Hilfe gekommen war.
    Semir glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, doch es war tatsächlich niemand anderes als Dr. Küpper, der hier neben ihm stand und sich ebenfalls nach Kräften bemühte, Ben hier raus zu bringen. „Sie?“ krächzte Semir, denn auch bei ihm hatte der Rauch inzwischen seine Spuren hinterlassen. Küpper sah ihn kurz an und sagte dann: „Ich kann Konrad doch nicht sagen, dass ich seinen Sohn hier drinnen habe sterben lassen. Und jetzt schleunigst raus hier!“
    Auch wenn Küpper nur kurz mit Konrad hatte sprechen können, so war die Angst eines Vaters um sein Kind, trotz seines eigenen schlechten Zustandes, nicht zu übersehen gewesen. Und wenn die anderen hier jetzt zu feige waren, um in dieses Gebäude zu gehen; bitte, dann würde er es eben tun. Denn eines hatte sich bei ihm nicht geändert: wenn er sich für etwas entschieden hatte, dann zog er es auch ohne Rücksicht auf Verluste durch, auch wenn das in diesem Fall bedeutete, dass er seine eigene Gesundheit aufs Spiel setzte, doch er hatte einfach das Gefühl, dass er das den Beteiligten hier schuldig war.
    Semir nickte nur, darüber, was das alles zu bedeuten hatte, konnte er sich später noch Gedanken machen. Also machten sie sich mit vereinten Kräften daran, die letzten Meter bis zur Tür hinter sich zu bringen und endlich hatten sie es geschafft.
    Nachdem sie dann auch noch einige Meter vom Haus entfernt waren, kamen ihnen bereits einige Feuerwehrleute und Sanitäter entgegen gelaufen. Semir hatte da drinnen gar nicht mitbekommen, dass die Brandbekämpfer angerückt waren, doch bei diesem weithin sichtbaren Feuer war das eigentlich zu erwarten gewesen. Dr. Küpper und er legten Ben, den sie bis hierher gestützt, beziehungsweise eher getragen hatten, vorsichtig auf den Boden, wo dieser sofort eine Sauerstoffmaske angelegt bekam. Auch Semir und Dr. Küpper wurden auf diese Weise versorgt.

  • Sorgenvoll blickte Semir auf seinen Partner, bis dieser die Augen aufschlug und ihn ansah. Mit einer Hand griff Ben nach der Maske und schob diese ein Stückchen zur Seite. „Danke“, sagte er leise und sah dabei erst zu Semir und dann zu Dr. Küpper, der ihm nur zunickte. „Herr Jäger, Sie brauchen Sauerstoff und Sie dürfen sich nicht anstrengen“, tadelte ihn der inzwischen eingetroffene Notarzt. „Wir werden Sie jetzt mitnehmen“, kündigte er dann noch an. „Kann ich mitfahren?“ fragte Semir sofort, doch der Mediziner schüttelte bedauernd den Kopf. „Zum einen ist im Wagen leider kein Platz mehr für Sie, zum anderen müssen Sie selbst auch noch versorgt werden. Aber wir werden uns gut um ihn kümmern und Sie werden ja auch ins gleiche Krankenhaus gebracht, dann können Sie auch so bald wie möglich zu ihm.“ Semir nickte und erkannte die unausgesprochene Frage im Blick seines Partners. „Nichts und niemand wird mich davon abhalten“, sagte er energisch und auch wenn sich der Arzt über diesen Ton etwas zu wundern schien, erkannte Semir, dass Ben ihn verstanden hatte und das war die Hauptsache. Kurze Zeit später war Ben auf eine Trage gelegt und in den Krankenwagen gebracht worden. Die Türen schlossen sich und Semir blieb allein mit Dr. Küpper zurück. Bevor er sich verarzten ließ, wollte er noch einmal mit diesem Mann sprechen, dessen Verhalten er immer noch nicht verstand.
    „Ich habe mich noch gar nicht bei Ihnen bedankt“, begann er, nachdem er seine Sauerstoffversorgung losgeworden war. Er hatte dem Sanitäter versprochen, sich in der Klinik noch einmal gründlich durchchecken zu lassen und nach einer kurzen Untersuchung hatte der dann auch nichts dagegen gehabt und war auch zurück zum Krankenhaus gefahren. „Ist schon gut“, winkte Dr. Küpper ab, „den Großteil des Risikos haben sowieso Sie getragen, Herr Jäger kann sich glücklich schätzen, Sie als Freund und Partner zu haben.“ „Das wird sich noch herausstellen“, murmelte Semir mehr an sich selbst gerichtet, doch Küpper sah ihn fragend an. „Es hat da in der letzten Zeit ein paar Missverständnisse gegeben“, gab Semir im Ansatz eine Erklärung. Küpper nickte und dann fiel ihm ein, worum Konrad ihn gebeten hatte, kurz bevor er ins Krankenhaus gebracht worden war. Sie hatten zwar nur wenige Worte miteinander wechseln können und ein ausführliches Gespräch stand noch aus, aber Küpper hatte ein gutes Gefühl bei der Sache, seit er endlich damit angefangen hatte, im Hier und Jetzt zu leben und die Vergangenheit ruhen zu lassen.
    „Konrad hat mich gebeten, seinem Sohn Briefe zukommen zu lassen, sie sind in einem großen Umschlag in seinem Schreibtisch. Er meinte, es wäre sehr wichtig, dass Ben sie unbedingt haben müsste, vielleicht hat das ja auch damit zu tun?“ Semir zuckte die Schultern, davon wusste er nichts, doch er würde sich darum kümmern. Er würde auf dem Weg ins Krankenhaus sowieso an der Firma vorbei kommen, da konnte er auch noch einen kurzen Abstecher in Konrads Büro machen, wenn diese Briefe so wichtig waren.
    „Ich würde dann jetzt gerne von hier verschwinden, ist das o.k.?“ fragte er dann sicherheitshalber, da er dem Frieden zwischen ihm und Küpper immer noch nicht ganz traute. „Meinen Bericht bekommen Sie dann noch.“ Der Staatsanwalt nickte. „Offiziell haben Sie mit der ganzen Sache sowieso nichts zu tun, also brauche ich Sie hier erst einmal nicht, wir sehen uns dann im Büro.“ Er nickte Semir noch einmal kurz zu und wandte sich dann in Richtung Martin Lauers, der im Moment nichts anderes tun konnte, als den Löscharbeiten zuzusehen. Marco und Luigi waren bei ihrer überstürzten Flucht erwischt und auch erst einmal in die Klinik gebracht worden, da beide Brandwunden davon getragen hatten. Vor morgen konnte nach Auskunft des Arztes keine Befragung stattfinden. Die Fahndung nach Layla und Antonio hatte er ebenfalls in die Wege geleitet, auch hier konnte er nur abwarten, doch er befürchtete, dass diese keinen Erfolg haben würde. Er konnte sich nicht überwinden, dem Staatsanwalt entgegen zu gehen, er befürchtete, dass er als Verantwortlicher für den Misserfolg dieser ganzen Aktion herangezogen und seine Karriere damit zu Ende sein würde. Er atmete tief durch und wappnete sich innerlich für das Gespräch mit dem Staatsanwalt.

  • Auch Semir hatte sich inzwischen ausreichend von dem Gebäude entfernt, doch er konnte immer noch die immense Hitze spüren, die von dem Brand ausging. Ihn durchlief ein Schauer, wenn er daran dachte, was gewesen wäre, wenn er es nicht rechtzeitig geschafft hätte, wenn Ben nicht alleine aus diesem Keller gekommen wäre oder wenn Dr. Küpper ihm nicht zu Hilfe gekommen wäre. Er hatte in dieser Situation nicht darüber nachgedacht, welche Konsequenzen sein Handeln gehabt hätte, wäre er wirklich neben Ben gestorben, oder hätte er sich doch noch in Sicherheit gebracht? Aber hätte er Ben dort so zurücklassen können? Semir wusste es nicht und er hoffte, dass er nie wieder in eine Situation geraten würde, die eine solche Entscheidung von ihm abverlangen würde. Er versuchte, diese Gedanken abzuschütteln und machte sich auf den Weg. Es war jetzt an der Zeit, sich über die Zukunft Gedanken zu machen, statt sich diese Horrorszenarien auszumalen.
    Durch seine Dienstmarke hatte er keine Schwierigkeiten, in Jägers Büro zu kommen, zumal dort immer noch nicht viel zu sehen war; alle Rechner und Unterlagen waren noch bei der Staatsanwaltschaft, auch wenn sie sicherlich bald wieder an ihren angestammten Platz zurückkehren würden. In der zweiten Schreibtischschublade wurde Semir dann fündig, denn die Handschrift auf dem Briefumschlag erkannte er sofort und damit war ihm auch klar, warum diese Briefe so wichtig waren. Der größere Umschlag war geöffnet worden, innen befanden sich weitere, allerdings verschlossene, kleinere Umschläge, die mit verschiedenen Nummern beschriftet waren. Ein Zettel befand sich ebenfalls noch darin, auf diesem war jedoch nur die Bitte zu lesen, Konrad möge die Briefe doch bitte an Ben weiterleiten. Wahrscheinlich hatte der Firmenchef diese Post erst erhalten, als Ben schon unterwegs war, Semir konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, dass er sie absichtlich zurückgehalten haben könnte, sonst hätte er sie doch kaum aufbewahrt, oder? Semir schüttelte den Kopf, das ging ihn nichts an, das musste Ben selbst mit seinem Vater klären. Also packte Semir die Briefe ein, als ihm plötzlich siedendheiß einfiel, dass Susanne noch überhaupt nicht darüber Bescheid wusste, wie alles gelaufen war und vor allem, wie es Ben ging. Mit schlechtem Gewissen kramte er hektisch nach seinem Telefon und gab ihre Nummer ein.
    Am Knacken in der Leitung nach dem ersten Klingeln erkannte er, dass sie den Anruf entgegen genommen hatte und noch bevor sie etwas sagen konnte, redete er auch schon drauf los. „Susanne, hier ist Semir, wir haben ihn, hörst du? Wir haben ihn, es geht ihm im Augenblick nicht ganz so gut, aber er wird schon wieder.“ Ehrlich gesagt wusste er zwar nicht, ob Ben nicht auch innere Verletzungen davon getragen hatte, aber irgendwie war er optimistisch, dass dem nicht so war. Allzu oft hatte er dieses Gefühl nun wirklich nicht, also warum sollte er sich jetzt täuschen? Er hörte, wie Susanne erleichtert aufatmete. „Wo ist er?“ fragte sie dann. „Auf dem Weg ins Krankenhaus, ebenso wie sein Vater“, antwortete Semir. Die näheren Umstände musste er ihr zu diesem Zeitpunkt noch nicht erzählen, sie würde schon früh genug erfahren, wie knapp es letztendlich gewesen war, doch zuerst sollte sie sich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass mit Ben alles in Ordnung war, wie auch immer es mit ihnen beiden weitergehen würde. Diesbezüglich konnte Semir überhaupt nicht abschätzen, wie sich alles entwickeln würde. „Kümmerst du dich um ihn?“ wollte Susanne dann wissen. „Ja, ich bin auf dem Weg“, antwortete er. „Susanne?“ fragte er dann, als von ihr erst einmal nichts mehr kam. „Sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich brauche erst mal etwas Zeit für mich, um das alles auf die Reihe zu kriegen, ich weiß im Moment noch gar nicht, was ich Ben überhaupt sagen soll“, kam es dann von ihr. „Versprich mir, dass du dich um ihn kümmerst und ihn nicht allein lässt, ja?“ bat sie Semir dann noch. „Natürlich“, entgegnete Semir, der gut verstehen konnte, dass Susanne erst einmal zur Ruhe kommen musste, bevor sie sich der Begegnung mit Ben stellte. Wahrscheinlich wusste sie wirklich nicht, wie sie ihm gegenüber treten sollte, Ben hatte ja noch keine Ahnung, dass sie alles mit angesehen hatte und Semir hatte auch nicht vor, ihm das zu sagen. Vielleicht war es auch besser, wenn er das nicht erfuhr, falls sich das irgendwie einrichten ließ. Er musste unbedingt mit Bens Vater darüber sprechen. Doch jetzt musste er zusehen, dass er endlich zu seinem Partner kam, um sein Versprechen einzulösen. Dann hatte Susanne erst einmal Zeit, sich Gedanken zu machen, da sie nun wusste, dass Ben es erst einmal so weit geschafft hatte. „Ich melde mich später noch einmal“, versprach er dann und verabschiedete sich. Dann gab er noch kurz seiner Frau Bescheid, die versprach, sich um Susanne zu kümmern.

  • Im Krankenhaus angekommen fragte er sich dann durch und erfuhr, dass Ben sich bereits auf seinem Zimmer befand, und dass er alleine dort war. Vor allem letztere Information beruhigte Semir, er hatte schon befürchtet, Ben würde sich mit seinem Vater ein Zimmer teilen, doch der war auf einer anderen Station untergebracht worden. Auch ihm ging es schon besser, nachdem er die entsprechenden Medikamente bekommen hatte.
    Schließlich stand Semir vor Bens Zimmer. Er hatte ehrlich gesagt ein wenig Angst davor, rein zu gehen, was sollte er Ben nur sagen? Im Keller war es ihm ganz leicht gefallen, die richtigen Worte zu finden, aber jetzt so in Ruhe, von Angesicht zu Angesicht, ohne die Möglichkeit, irgendwie auszuweichen? Das lag ihm eigentlich gar nicht, aber er konnte sich vor diesem Gespräch auf keinen Fall drücken. Und er konnte nicht ewig hier im Flur stehen bleiben, also griff er nach der Klinke und betrat nach einem kurzen Klopfen den Raum.
    Zu seiner Erleichterung schien Ben zu schlafen, so hatte er noch ein wenig Zeit, um nachzudenken. Er zog sich leise einen Stuhl neben das Bett seines Partners und setzte sich zu ihm. Er betrachtete Bens Gesicht und fragte sich, warum er letztes Mal nicht intensiver versucht hatte, seinen Freund ausfindig zu machen, um mit ihm zu reden. Warum hatte er überhaupt so wenig mit ihm gesprochen? So viel von dem, was passiert war, hätte vermieden werden können, wenn er es nur geschafft hätte, eher den Mund aufzumachen. Er hätte Ben nicht so aus dem Weg gehen dürfen und jetzt wusste er auch, was er seinem Freund sagen würde, wenn der wieder aufwachen würde. Dann machte er es sich so gut es ging auf seinem Stuhl gemütlich. Schließlich machten sich auch bei ihm die Anspannung und Anstrengung der letzten Stunden bemerkbar und er schlief ein.
    „Ich kann dir auch ein Bett besorgen lassen“, hörte Semir dann auf einmal eine Stimme sagen. Verwirrt öffnete er die Augen und fand das Zimmer im Halbdunkeln vor, die Sonne war schon untergegangen, nur die Nachttischlampe spendete etwas Licht. Er rutschte wieder in die Senkrechte, denn er hatte schon fast auf dem Stuhl gelegen, glücklicherweise war er nicht auf den Boden gerutscht, das wäre ihm doch sehr peinlich gewesen. Er blickte zu Ben, der zwar ziemlich fertig aussah, ihn aber auch angrinste. Semir fiel ein Stein vom Herzen, als er letzteres bemerkte.
    „Ne, geht schon, ich will mich hier ja nicht häuslich einrichten“, antwortete er. „Wie ist die Lage?“ fragte er dann vorsichtig. „Soweit ganz gut“, antwortete Ben. „Meinem Vater geht es wieder besser und ich werd’ auch schon wieder auf die Beine kommen.“ Er schwieg einen Moment. „Wenn du nicht gewesen wärst…“ „… wärst du gar nicht erst in diese Lage gekommen“, vervollständigte Semir den Satz. Verständnislos sah Ben ihn an. „Wie genau meinst du das jetzt?“ fragte er dann. „Ich bin mir ziemlich sicher, dass du mich nicht überfallen und da runter geschleppt hast.“ Semir seufzte. „Ich hab’ dir da unten ja schon ein paar Worte dazu gesagt, falls du dich erinnerst“, begann er und Ben nickte, sagte jetzt aber nichts mehr. „Und ich habe das alles auch ernst gemeint. Hör mal, ich habe mich dir gegenüber wie das letzte Arschloch verhalten und es tut mir sehr leid.“ Eigentlich wollte er noch mehr sagen, doch jetzt unterbrach ihn Ben. „Aber du warst da, als ich dich gebraucht habe“, stellte er fest. Er konnte kaum glauben, dass Semir sich schon wieder bei ihm entschuldigte, doch diese Tatsache machte ihm nur mehr als deutlich, dass es sein Partner wirklich ernst meinte. „Ja, aber das war eher ein Zufall“, winkte Semir ab. „Das glaube ich nicht“, entgegnete Ben. „Du hättest meinem Vater nicht helfen müssen, du hattest genug Gründe, es abzulehnen, trotzdem hast du es gemacht.“ Jetzt war es an Semir, verständnislos drein zu schauen. „Es geht ihm, wie gesagt, besser und er hat mir einiges erzählt. Semir nickte verstehend. Er war neugierig, wie aufrichtig der alte Jäger gewesen war, denn solche Erfahrungen, wie dieser sie heute hinter sich gebracht hatte, führten normalerweise dazu, dass danach einiges zur Sprache kam, was sonst ungesagt geblieben wäre. Aber das ging ihn nichts an, das war eine Sache zwischen Ben und seinem Vater. Doch Ben schien Semirs Gedanken erraten zu haben. „Er hat mir viel erzählt, auch dass er dafür verantwortlich war, dass ihr nicht zu mir gekommen seid.“ Kurz dachte Ben an das Gespräch mit seinem Vater zurück, welches sie erst vor wenigen Stunden hier im Krankenhaus geführt hatten.

  • Nach dem ganzen Untersuchungsmarathon war Ben völlig erschöpft eingeschlafen, denn er hatte die Gewissheit, dass seine Verletzungen zwar schmerzhaft, aber nicht lebensgefährlich waren. Hatte er im Keller noch Zweifel gehabt, ob er das Ganze überleben würde, so wusste er jetzt, dass er sich wieder vollständig erholen würde. Zwar würde das einige Zeit in Anspruch nehmen, aber das war ihm egal, Hauptsache, er würde wieder gesund.
    Als er die Augen aufschlug, sah er als erstes seinen Vater neben sich sitzen. Dann erst bemerkte er Semir, der auf der anderen Seite saß, im Augenblick aber tief und fest zu schlafen schien. „Papa! Wie geht es dir?“ fragte er besorgt, denn das letzte, was er von ihm gehört und gesehen hatte, hatte ihm große Sorgen bereitet. „Alles in Ordnung mein Junge, die richtigen Medikamente haben schnell geholfen, sonst würde ich kaum hier sitzen. Ich werd’ schon wieder. Viel wichtiger ist es jetzt, wie es dir geht.“ Ebenso besorgt blickte er Ben an. Der horchte noch einmal in sich hinein, doch dann konnte er guten Gewissens antworten: „Ich denke, es geht mir soweit ganz gut, ich bin nur ziemlich müde.“
    Konrad nickte. „Das ist ja auch kein Wunder bei all dem, was du in letzter Zeit mitgemacht hast. Und ich fürchte, dass ich da auch nicht ganz unschuldig dran bin.“ Fragend sah Ben seinen Vater an, doch dann erinnerte er sich an dessen Worte im Keller, die er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz verstanden hatte. Anscheinend hatte Konrad vor, sein Gewissen zu erleichtern und Ben wollte ehrlich gesagt auch wissen, was genau sein Vater getan hatte. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass ich dir einige Dinge erzähle, auf die ich wirklich nicht stolz sein kann und dann kannst du entscheiden, ob du danach noch mit mir redest.“ Ben wurde langsam nervös, wenn er seinen Vater so reden hörte, doch er nickte nur. Es schien wichtig zu sein, also musste er sich es anhören.
    Also begann Konrad zu erzählen, was in ihm vorgegangen war, als Andrea ihn angerufen hatte und er dann zu Ben ins Krankenhaus gekommen war. Wie er auf einmal begonnen hatte, sich verantwortlich zu fühlen und daraufhin dafür gesorgt hatte, Ben von seinen Freunden fernzuhalten, doch das einfach nur aus dem Grunde, ihn schützen zu wollen. „Ich hätte mich nicht so einmischen dürfen, ich hätte erst genaueres über die Umstände herausfinden sollen. Im Nachhinein weiß ich, dass es ein Fehler war, doch als mir das klar wurde, warst du schon weg und es war zu spät.“
    Ben schwieg nach diesem Geständnis erst einmal. Nach dieser Erklärung seines Vaters erschien vieles in einem anderen Licht und machte jetzt plötzlich auch einen Sinn. Doch er konnte die Verantwortung dafür nicht allein auf seinen Vater schieben, auch er trug zum Teil Schuld an der Situation. Wenn er seinen Vater einfach nur direkt nach Semir oder Susanne gefragt hätte, hätte Konrad ihm wahrscheinlich die Wahrheit gesagt und Ben hätte von sich aus auf die beiden zugehen können, was er dann wohl auch getan hätte und dann wäre alles nie so weit gekommen. Doch auch wenn Konrad über seinen Kopf hinweg gehandelt und das schlimme Folgen gehabt hatte, konnte Ben ihm nicht wirklich böse sein, zeigte ihm dieses Verhalten doch auch, dass sich sein Vater um ihn sorgte und er ihm keineswegs egal war, wie er so oft das Gefühl hatte.
    Konrad wirkte sehr erleichtert, als Ben ihm das auch sagte. „Ich danke dir sehr für dein Verständnis, mein Sohn“, sagte er fast förmlich. Dann fiel ihm noch etwas ein. „Susanne hat Briefe für dich zu mir geschickt, ich habe den Staatsanwalt gebeten, sie für dich zu holen, aber ich glaube, er hat diese an Semir weitergegeben. Ja, ich kenne Küpper von früher, eigentlich haben wir uns nie so gut verstanden, doch das hat sich jetzt geändert, aber das ist eine lange Geschichte, die erzähle ich dir ein anderes Mal“, erklärte einem sichtlich irritierten Ben. „Ich wusste nicht, wo du unterwegs warst, als sie ankamen, ich habe sie also einfach aufgehoben. Semir wird sie dir sicherlich noch geben“, erklärte er dann mit einem Blick auf den immer noch schlafenden Partner seines Sohnes. Ben nickte nur, es gab da noch etwas, das er wissen wollte.

  • „Warum warst du eigentlich in diesem Keller?“ stellte er dann die Frage, die ihn schon seit dem Zeitpunkt beschäftigte, seit er seinen Vater dort unten gesehen hatte. Konrad seufzte. „Entgegen aller Vernunft hatte ich Layla ja doch eingestellt, sie passte einfach zu gut auf die vakante Stelle. In der Rückschau betrachtet war das natürlich ein riesengroßer Fehler, denn sie hat meine Firma dazu benutzt, um ihre illegalen Geschäfte hier aufzubauen.“ Erneut nickte Ben, er hatte sich so etwas schon gedacht. Er war sehr enttäuscht von Layla und auch wütend, sowohl auf sie, aber noch viel mehr auf sich selbst, denn er hatte wirklich geglaubt, dass sie etwas Vernünftiges aus ihrem Leben hatte machen wollen, doch stattdessen hatte sie einfach versucht, Serhats Geschäfte weiter zu führen. Wie hatte er sich nur so täuschen lassen können? Doch die Antwort lag auf der Hand. Layla war ihm in einer Situation begegnet, in der er völlig unerwartet auf sich alleine gestellt gewesen war und sie hatte ihm geholfen ohne Fragen zu stellen. Nach den vielen Gesprächen, die sie geführt hatten, als sie gemeinsam unterwegs gewesen waren, hatte er das Gefühl gehabt, sie einigermaßen kennen gelernt zu haben, doch er hatte nie alle Facetten von ihr gesehen, ihre dunkle Seite hatte sie gut vor ihm verborgen. Vielleicht hatte er diese auch einfach nicht sehen wollen, aber das war letztendlich auch egal. Was wohl aus ihr geworden war?
    „Das LKA hat mich dazu überredet, für sie den verdeckten Ermittler zu spielen“, riss Konrad ihn dann aus seinen Gedanken. „Ich habe im Gegenzug dann darauf bestanden, dass Semir an den Ermittlungen teilnimmt, weil ich wusste, dass ich ihm vertrauen kann. Doch dann ist alles aus dem Ruder gelaufen und den Rest der Geschichte kennst du ja.“ „Wie bitte? Verdeckt für das LKA?“ fragte Ben fassungslos. „Wie können die nur so unverantwortlich sein?!“ Doch Konrad winkte ab. „Ich habe darauf bestanden. Der Ruf der Firma musste geschützt werden, sie ist mein Lebenswerk“, erklärte er. „Und ich brauche endlich jemanden, der das auch so sieht und erst mit mir und später dann alleine auf sie aufpasst.“ Aufrichtig sah er Ben an und nach einer Weile nickte er. So wichtig, wie für ihn sein Beruf war, war es die Firma nun einmal für seinen Vater. „Ich verstehe, was du meinst“, sagte er also und Konrad schien erleichtert darüber zu sein, dass sein Sohn endlich Verständnis für ihn aufzubringen schien. Dann erklärte er Ben seinen Plan und je länger er redete, desto mehr merkte er, dass sein Sohn nach anfänglichem Zögern bereit wurde, sich darauf einzulassen.


    „Wir haben gedacht, dass du erst einmal in Ruhe gelassen werden wolltest“, riss Semirs Stimme ihn schließlich aus seinen Gedanken. „Susanne wollte zudem nichts falsch machen, so wie sie sich vorher aufgeführt hat.“ Er biss sich auf die Zunge, diese Bemerkung hätte er sich besser verkniffen. Doch dann fiel ihm etwas ein. Er griff in seine Tasche. „Die hat dein Vater für dich aufgehoben.“ Mit diesen Worten überreichte er Ben den Umschlag. Der nickte. „Ja, mein Vater hat mir schon davon erzählt. Der Brief kam erst an, als ich schon weg war. Er hatte auch mal in einem Telefonat so eine Andeutung gemacht, aber da wollte ich noch nichts davon wissen. Ich wollte einfach nur weg, Abstand von allem gewinnen. Als das mit Layla passiert ist, war ich auf dem Rückweg. Ich wollte endlich mit euch reden. Ich hatte meinen Vater angerufen, um ihm Bescheid zu sagen, aber da war auf einmal Layla am Apparat und hat mich zu dem Treffen überredet. Na ja, und was dann passiert ist, weißt du ja so ungefähr.“ Er schwieg einen Augenblick. „Ich hätte mich damals ja auch eher melden können.“ Er machte eine weitere Pause. „Meinst du, wir kriegen das alles wieder hin?“ fragte er dann.

  • Semir nickte energisch. „Also, was mich angeht; ich habe meine Lektion gelernt, das kann ich dir versichern.“ Ben grinste. „Soll das etwa heißen, dass du in deinem Alter noch lernfähig bist?“ Trotzdem war er unglaublich erleichtert, diese Worte von seinem Freund zu hören. „Du, sei mir nicht böse, aber ich glaube, ich würde jetzt gerne allein sein und etwas lesen“, sagte er dann. „Na klar, ich lass dich dann mal in Ruhe“, erwiderte Semir, der sich gut vorstellen konnte, dass Ben jetzt endlich erfahren wollte, was Susanne ihm mitzuteilen hatte. „Ich muss meiner Frau ja auch noch Bericht erstatten.“ „Kommst du morgen wieder?“ fragte Ben dann noch. „Ja klar, was glaubst du denn?“ schnaubte Semir gespielt empört. „Vielleicht bringe ich auch noch Verstärkung mit, Andrea hat dich nämlich auch vermisst.“ Ben grinste erneut. „Sag ihr, ich freue mich.“ Semir erhob sich und ging zur Tür. „Bis morgen, Partner“, verabschiedete er sich dann, auch wenn es ihm schwer fiel, jetzt zu gehen. Doch er versuchte, sich klar zu machen, dass dies hier ein ganz normaler Abschied wie immer war, einfach nur ein ‚Auf Wiedersehen’ bis zum nächsten Tag, nicht so wie letztes Mal. „Bis morgen“, erwiderte auch Ben und Semir verließ das Zimmer, um diesmal mit guten Nachrichten nach Hause zu kommen.
    Nachdem sich die Tür geschlossen hatte, griff Ben nach den Briefen. Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder Angst vor dem, was darin stehen könnte, haben sollte, doch seine Neugier siegte. Egal, was darin stand, er musste sich dem jetzt stellen, damit er wusste, wie es in Zukunft mit ihnen weitergehen würde. Und nachdem er alles gelesen und endlich verstanden hatte, warum Susanne so gehandelt hatte, war in ihm ein Entschluss gereift, von dem er hoffte, ihn auch umsetzten zu können. Doch dazu waren noch einige Vorbereitungen notwendig, aber der Blick auf die Uhr sagte ihm, dass er sich erst morgen darum kümmern würde können. Vielleicht war es auch gar nicht schlecht, noch eine Nacht darüber zu schlafen, obwohl er von seiner Entscheidung überzeugt war. Er konnte nur hoffen, dass sich das alles auch so umsetzen ließ.


    Susanne hatte die ganze Nacht kein Auge zugetan, obwohl sie sich eigentlich dringend hätte erholen müssen. Doch sie war viel zu aufgewühlt gewesen, als dass sie hätte schlafen können. Tausend Gedanken waren ihr durch den Kopf gegangen, sie freute sich darauf, Ben wieder zu sehen, hatte aber auch gleichzeitig Angst davor, nur deswegen hatte sie auch noch gezögert. Eigentlich wäre sie am liebsten sofort zu ihm gefahren, doch ihr Kopf war wie leer gewesen, nachdem sie die erlösenden Worte aus Semirs Mund vernommen hatte, sie hätte überhaupt nicht gewusst, was sie Ben hätte sagen sollen Auch jetzt war sie sich nicht sicher, ob sie die richtigen Worte finden würde, aber sie wollte ihn endlich wieder sehen. Also machte sie sich so früh wie möglich auf den Weg ins Krankenhaus. Ebenso wie Semir fragte sie sich durch. Sie hatte weder mit ihm, noch mit Andrea gesprochen, sie musste diesmal alleine dadurch. Im Nachhinein kam es ihr nämlich so vor, als hätten sie drei sich gegen Ben verbündet, so dass er von Anfang an eigentlich kaum eine Chance gehabt hatte, auch wenn das nie so von ihr beabsichtigt gewesen war.
    Susanne war sich letztendlich auch nicht so sicher, was sie in der Wohnung mit ihrem Auftritt hatte bezwecken wollen; aber bei ihr waren einfach alle Sicherungen durchgebrannt, als sie Ben und Layla dort gesehen hatte, schienen sich doch alle ihre Befürchtungen bewahrheitet zu haben. Sie würde akzeptieren müssen, wenn Ben ihr nun tatsächlich den Laufpass geben würde, sie hätte es nicht anders verdient. Sie hatte ihn sehr enttäuscht, ihm nicht vertraut und das war etwas, was auch sie sich selbst nur schwer verzeihen konnte. Sie musste diesen Gedanken im Hinterkopf behalten, auch wenn Ben während seiner Tortour gesagt hatte, dass er zu ihr zurück wolle. Vielleicht hatte er nur gemeint, dass er sich die alte Zeit, in der sie noch glücklich miteinander gewesen waren, zurück wünschte. Susanne konnte nicht ausschließen, dass er einfach nur dieses längst vergangene Bild vor Augen gehabt hatte, weil es ihm geholfen hatte, mit der Situation klar zu kommen. Vielleicht konnte er sich nicht einmal mehr erinnern, dass er so etwas gesagt hatte und außerdem hatte er ja keine Ahnung, dass sie das alles mitbekommen hatte und höchstwahrscheinlich würde er das auch nie erfahren, sie würde ihm jedenfalls nichts sagen.

  • Im Augenblick wünschte sich Susanne nichts sehnlicher, als wieder dort anknüpfen zu können, wo sie vor der Reise in die Türkei gestanden hatten, doch tief in ihrem Inneren wusste sie auch, dass das kaum möglich sein würde. Ebenso wenig wusste sie, wie es mit der Freundschaft zwischen Ben und Semir weitergehen würde. Vielleicht wäre sie ein wenig beruhigter gewesen, wenn sie von den Gesprächen der beiden gewusst hätte, aber so stand sie nun mit zitternden Händen vor dem richtigen Zimmer und wollte gerade anklopfen, als von innen die Klinke heruntergedrückt wurde und sich die Tür öffnete. Susanne glaubte fast, ihr Herz würde stehen bleiben, als sie auf einmal erkannte, wer ihr da auf einmal gegenüber stand.
    Es war niemand anderer als Konrad Jäger, der aus Bens Zimmer gekommen war und Susanne wusste nicht, was sie sagen sollte, doch ihm schien es ähnlich zu gehen. Dann schloss er leise die Tür hinter sich. „Ben schläft noch, er braucht viel Ruhe, er hat eine Menge mitgemacht“, sagte er. „Das ist mir klar, aber ich werde jetzt trotzdem dort hinein gehen und Sie werden mich nicht davon abhalten“; entgegnete Susanne und war erstaunt darüber, wie fest und sicher ihre Stimme nach außen hin klang, denn sie fühlte sich dermaßen unsicher und innerlich aufgewühlt in diesem Deja vu, dass sie sich wunderte, überhaupt ein Wort raus gebracht zu haben.
    „Natürlich musst du zu ihm“, antwortete Konrad jedoch zu ihrer großen Überraschung. Sie sagte nichts mehr, denn dieser Kommentar hatte ihr nun wirklich die Sprache verschlagen. Susanne starrte Konrad nur fassungslos an, was ihm sichtlich unangenehm war. „Es war mein Fehler, ich hätte nicht verhindern dürfen, dass ihr euch seht, wenn ich es einfach zugelassen hätte, wäre wahrscheinlich alles anders gekommen. Ich hätte auch Layla nicht einstellen dürfen, auch das war ein großer Fehler. Glaub mir, das alles tut mir sehr leid und ich würde viel dafür geben, alles ungeschehen zu machen.“ Susanne wusste immer noch nicht, was sie sagen sollte, sie war wie erschlagen von diesem Geständnis, doch Konrad sprach noch weiter. „Meine Einmischung hat alles nur schlimmer gemacht, als es ohnehin schon war, aber so etwas wird nie wieder vorkommen, das verspreche ich dir. Ich habe übrigens dafür gesorgt, dass Ben deine Briefe bekommt, Semir hat sie gestern noch aus meinem Büro geholt und hierher gebracht.“ Er schwieg einen Augenblick. „Ich hoffe sehr, dass du mir irgendwann verzeihen kannst, aber du sollst auch noch wissen, dass ich nur aus Sorge um Bens Wohlergehen gehandelt habe.“ Er sah Susanne mit aufrichtigem Blick an. Diese wusste im Augenblick noch nicht so recht, was sie davon halten sollte und so antwortete sie: „Ich weiß nicht, es ist im Moment alles ziemlich viel, gib mir bitte etwas Zeit.“ Sie war immer noch vollkommen überrumpelt von seinem Geständnis. „Natürlich, mehr wollte ich auch gar nicht“, antwortete Konrad, der nur froh war, dass Susanne ihn nicht sofort zum Teufel gejagt hatte, sondern ihm noch eine Chance zu geben schien, auch wenn er diese kaum verdient hatte. „Ich werde mich jetzt noch ein wenig hinlegen, vielleicht lassen sie mich heute noch hier raus.“ Susanne nickte nur und Konrad machte sich auf den Weg zurück auf seine Station. Er hatte alles gesagt, was ihm auf dem Herzen gelegen hatte, jetzt konnte er nur hoffen, dass die Zeit für ihn arbeiten würde, damit er und Susanne sich irgendwann wieder einander annähern könnten. Denn sie würde weiterhin ein Teil seines Lebens bleiben, davon war er im Gegensatz zu Susanne selber, sehr überzeugt.
    Diese machte nun einen erneuten Anlauf, Bens Zimmer zu betreten. Ebenso leise wie sie die Tür geöffnet hatte, schloss sie diese wieder. Auf Zehenspitzen ging sie zu dem Bett, in dem Ben lag und tatsächlich noch schlief. Auf dem Nachttisch stand zwar schon das Tablett mit dem Frühstück, aber die Krankenschwester war wohl auch der Meinung gewesen, dass Schlaf im Augenblick wichtiger als das Essen war. Daher waren wohl auch noch die Rollos halb heruntergelassen blieben. Auf der Höhe von Bens Schulter stand noch ein Stuhl direkt neben dem Bett; hier hatte eben wohl Bens Vater und gestern vielleicht auch Semir gesessen. Wahrscheinlich hatte Konrad ihn dort stehen lassen, um unnötigen Lärm zu vermeiden, der Ben hätte wecken können. Also nahm Susanne ebenso leise Platz, wie sie eben durch den Raum gegangen war und sah Ben erst einmal nur an. Sie hatte ihn schon so lange nicht mehr gesehen und in diesem Moment wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihn vermisst hatte, und dass sie ihn nie wieder verlieren wollte.

  • Vorsichtig, ganz vorsichtig nahm sie seine Hand, die auf der Bettdecke lag und beugte sich noch ein wenig näher zu ihm. Ihr Blick glitt über sein Gesicht, auf dem noch allzu deutlich die Spuren der vergangenen Misshandlungen zu erkennen waren. Tränen begannen über ihr Gesicht zu laufen und sie musste sich alle Mühe geben, um nicht laut aufzuschluchzen, denn irgendwie fühlte sie sich verantwortlich dafür, dass Ben in diese Situation geraten war. Wenn sie ihm doch nur die Gelegenheit gegeben hätte, sich zu erklären, wenn sie nicht einfach weggegangen wäre, wenn sie ihm einfach nur vertraut hätte, wenn, wenn, wenn… Doch an der Vergangenheit konnte sie nichts mehr verändern, nur die Zukunft konnte sie beeinflussen, auch wenn sie in diesem Moment noch keine Ahnung hatte, wie diese aussehen könnte. Sie ließ ihren Blick schweifen, denn sie konnte es kaum ertragen, die ganze Zeit in Bens malträtiertes Gesicht zu blicken, selbst im Schlaf schien er noch Schmerzen zu haben, konnte man denn nichts dagegen machen?
    Ihr Blick fiel auf den Nachttisch neben dem Bett und sie erkannte darauf ihre Briefe, die sie Ben vor etlichen Wochen geschrieben hatte, doch auch heute noch stand sie zu jedem Wort, was dort drin zu finden war. Augenscheinlich hatte er sie wirklich erst jetzt zu lesen bekommen, Konrad hatte also die Wahrheit gesagt. Doch was hatte es bei ihm bewirkt, hatten ihre Worte ihm etwas bedeutet oder war er schon zu lange weg gewesen und hatte sich bereits so distanziert, dass es ihn nicht mehr interessierte, was sie ihm zu erklären versucht hatte.
    Auf einmal fühlte sich Susanne unglaublich müde, der fehlende Schlaf machte sich im noch halbdunklen Zimmer nun mit aller Macht bemerkbar und sie konnte nicht anders als ihren Kopf neben Ben aufs Bett zu legen, jedoch ohne seine Hand dabei loszulassen und so schlief sie fast augenblicklich ein.
    Als Ben langsam aufwachte, spürte er als erstes, dass jemand neben ihm war und seine Hand hielt. Langsam öffnete er die Augen und erblickte Susanne, die neben ihm tief und fest zu schlafen schien. Eine ganze Menge an Emotionen überrollten Ben in diesem Moment und ließen ihn die Schmerzen, die er inzwischen wieder hatte, völlig vergessen. Denn eine Empfindung war in diesem Gefühlswirrwarr ganz deutlich zu spüren, und dass war die Tatsache, dass er unglaublich froh war, sie wieder zu sehen, alles andere war erst einmal nicht so wichtig. Ihm wurde bewusst, dass nur der Gedanke an dieses Wiedersehen ihn solange hatte durchhalten lassen, aber dennoch war er froh, dass er jetzt noch einen Moment Zeit hatte, sich auf das bald folgende Gespräch vorzubereiten.
    Es hatte ihn sehr erschüttert, was er zu lesen bekommen hatte, doch auf diese Weise hatte er endlich verstanden, warum Susanne in der Türkei und später auch in Deutschland so reagiert hatte. Und er konnte es ihr nicht einmal übel nehmen, obwohl er trotzdem enttäuscht war, dass sie ihm nicht vertraut hatte. Aber sie hatte ihm diese Briefe geschrieben, in denen sie ihm alles erklärt und ihn auch um Verzeihung gebeten hatte. Außerdem war sie jetzt hier, bestimmt hatte Semir ihr Bescheid gegeben, und auch diese Tatsache machte ihm deutlich, dass sie es ernst meinte und ihn zurück wollte.
    Vorsichtig legte er erst den einen, dann den anderen Arm um die Schlafende und zog sie noch ein Stückchen näher an sich heran. Er spürte ihren ruhigen Atem und die Wärme ihres Körpers und das tat ihm unglaublich gut. Er hatte fast das Gefühl, als kehre so langsam wieder seine Kraft zurück, auch wenn ihm klar war, dass dieser Eindruck täuschte. Wahrscheinlich käme er keinen Meter weit, wenn er jetzt aufstehen würde, falls er das überhaupt schaffen würde. Ben seufzte. Er hasste es einfach, so hilflos zu sein, er musste zusehen, dass er wieder auf die Beine kam, denn in seinem Kopf begann ein Gedanke, langsam Gestalt anzunehmen. Und je länger er darüber nachdachte, desto besser gefiel ihm das Ganze, auch wenn sein Vater wieder eine Rolle dabei spielen würde. Doch dazu musste er fit sein. Es blieb nur die Frage, ob Susanne dabei mitspielen würde, aber er war bereit, das Risiko einzugehen. Er zog sie noch ein Stückchen dichter an sich heran, schloss die Augen und genoss einfach nur den Moment. Wenn sie wach werden würde, würden sie endlich miteinander reden müssen und das würde nicht einfach werden. Einerseits war das etwas, worauf er schon lange wartete, andererseits wollte er sich am liebsten davor drücken, aber das war definitiv keine Option. Am liebsten wäre es ihm, wenn einfach alles wieder so wie früher wäre, aber ihm war klar, dass das nicht einfach so funktionieren würde, dazu war zu viel geschehen.

  • Er blinzelte, als er ein Geräusch an der Tür vernahm und legte dann den Finger auf die Lippen, als er Andrea erkannte. Sie nickte und kam langsam und leise näher. Sie lächelte als sie Susanne erkannte, doch dann wurde ihr Blick wieder ernst. „Semir kommt später noch vorbei, er musste doch noch ins Büro, um seine Aussage zu machen, aber ich habe ihm versprochen, dass ich dir persönlich Bescheid sage“, flüsterte sie und Ben nickte. „Außerdem wollte ich dich auch unbedingt sehen, ich muss mich nämlich dringend bei dir entschuldigen“, fuhr sie dann fort, doch Ben schüttelte den Kopf. „Jetzt fang bitte nicht damit an, dass du mich aus der Türkei nicht hättest anrufen sollen, das war vollkommen richtig so und falls ihr noch einmal solche Probleme bekommen sollte, dann erwarte ich, dass du dich wieder meldest. Ich weiß ja nicht, wie viel Verwandtschaft Semir sonst noch so hat, aber ich hoffe doch sehr, dass die dann anders drauf ist“, antwortete Ben ebenso leise, aber mit erheblichen Nachdruck in der Stimme. Andrea lächelte noch einmal kurz, zeigte ihr diese Antwort doch, dass Ben und ihr Mann sich wirklich wieder zusammengerauft hatten. Semir hatte ihr zwar schon etwas erzählt, aber sie hatte das Gefühl, dass er noch einiges ausgelassen hatte und sie war sich auch nicht sicher, ob sie je davon erfahren würde, aber die Hauptsache war, dass zwischen den beiden Männern wieder alles in Ordnung war. Doch sie hatte Ben noch etwas anderes zu beichten. Es war ihr wichtig, dass Ben wusste, welche Rolle sie bei seinem Streit mit Susanne gespielt hatte, sie fühlte sich wirklich schuldig.
    „Hör mal, als Susanne mit mir im Hotel war und es darum ging, ob du ihr untreu gewesen bist, da habe ich recht schnell angefangen, gegen dich zu argumentieren; um ehrlich zu sein, konnte ich mir irgendwie sogar gut vorstellen, dass es wahr sein könnte, ich meine, ich habe die Möglichkeit, dass es anders sein könnte, gar nicht in Betracht gezogen.“ Sie schwieg nach ihrem Geständnis erst einmal. Sie hatte eigentlich noch sagen wollen, dass ihr alles entsetzlich leid tat, aber das hätte so platt geklungen und sie war sich ziemlich sicher, dass Ben sich dieser Tatsache bewusst war.
    Auch Ben sagte erst einmal nichts. Davon hatte Susanne in ihren Briefen nichts geschrieben, aber es war typisch für sie, dass sie ihre Freundin nicht in ein schlechtes Licht rücken wollte, sondern alleine die Verantwortung für ihr Handeln übernahm, obwohl Andrea sie in ihrer Ansicht sicherlich bestärkt hatte. Aber konnte er der Frau seines Partners deswegen ernsthaft böse sein? Sie hatte doch nur das getan, was man von einer guten Freundin erwartete: sie hatte sich vorbehaltlos auf Susannes Seite gestellt und sie unterstützt. Natürlich hätte Ben sich gewünscht, dass sie etwas genauer nachgefragt und ihm eine Chance gegeben hätte, auch noch etwas dazu zu sagen, aber das war in dieser Situation ja gar nicht möglich gewesen.
    „Es ist in Ordnung Andrea“, sagte er also deshalb. „Du bist ihre Freundin und du warst für sie da, als sie dich gebraucht hat, das ist alles, was zählt.“ Andrea wollte noch etwas sagen, doch in diesem Moment schien Susanne wach zu werden, also strich sie Ben nur einmal kurz über den Arm, flüsterte „Danke“, und verschwand dann aus dem Zimmer, hier würde sie jetzt nur stören. Sie nahm sich aber fest vor, später noch einmal mit Ben zu reden und das alles wieder gut zu machen. Sie wusste zwar noch nicht ganz genau, wie sie das anstellen sollte, aber irgendwas würde ihr schon einfallen.
    Während sich Andrea wieder auf den Weg nach Hause machte, wurde Susanne langsam richtig wach. Zuerst wusste sie gar nicht, wo sie war, sie spürte nur zwei Arme, die sie festhielten. Sie wagte es kaum, die Augen zu öffnen, sie hatte Angst, dass es nur ein Traum sein könnte, aus dem sie eigentlich gar nicht aufwachen wollte. Doch es fühlte sich alles so real an und als sie dann noch ein leises „Hey du Schlafmütze“ vernahm, hob sie dann doch die Lider und fand sich tatsächlich eng an Ben gekuschelt wieder, der sie wirklich festhielt. Es war definitiv kein Traum, sondern die Wirklichkeit, in der sie sich befand.
    „Du hast mir gefehlt“, sagte Ben dann noch ebenso leise. Denn das war das, was er im Augenblick empfand und Susanne sollte das wissen, egal, was jetzt noch weiter geschah. Aber es musste ihr ja ähnlich gegangen sein, sonst wäre sie kaum hier und ihre Antwort bestätigte seine Vermutung. „Du mir auch“, sagte sie. „Ich bin so froh, dass du wieder da bist“, fügte sie dann noch hinzu. Ben nickte und hielt sie einfach nur weiter fest.

  • Beide hatten sich ihr Wiedersehen so oft vorgestellt, doch das es in dieser Form stattfinden würde, damit hatte keiner von ihnen gerechnet. Zudem waren beide viel zu überwältigt von der Situation, als dass sie in diesem Moment mehr hätten sagen können, obwohl es doch so viel gab, worüber sie reden mussten, doch das war jetzt einfach nicht der passende Augenblick für ein solches Gespräch. Auch wenn das schon wieder ein Aufschieben war, war ihnen klar, dass sie sich diesmal nicht vor klaren Worten drücken würden, denn nur so hatte sie noch eine Chance, ihre Beziehung zu retten.
    „Ich will nie wieder ohne dich sein“, begann Susanne dann doch nach einiger Zeit des Schweigens. „Ich möchte dich auch nie mehr verlieren“, antwortete Ben und sogleich regte sich bei Susanne wieder das schlechte Gewissen. „Es tut mir so leid, dass ich dir all diese Dinge unterstellt habe, ich hätte wissen müssen, dass du so etwas selbst in betrunkenem Zustand nie tun würdest“, bat sie ihn um Verzeihung. Dass er sie belogen und sich nicht gemeldet hatte, wollte sie jetzt noch nicht zur Sprache bringen, es war erst einmal wichtig, dass das zwischen ihnen geklärt wurde, und außerdem war sie ja auch diejenige, die sich für mehr zu entschuldigen hatte.
    Ben nickte. „Das ist wahr, das würde ich nie tun und ich hatte eigentlich gedacht, dass du das wüsstest und es hat mich sehr verletzt, als ich begriffen habe, dass du das geglaubt hast“, sagte er zu Susanne. Das war zwar hart für sie, aber er wollte ehrlich zu ihr sein, auch wenn ihm das nicht leicht fiel. Doch es hatte so viel Missverständnisse, so viel falsches Verstehen gegeben, dass er es für besser hielt, nun vollkommen bei der Wahrheit zu bleiben, wenn sie ihre Beziehung wieder auf ein festes Fundament stellen wollten.
    „Meinst du, wir kriegen das wieder hin?“ fragte sie ihn nach einer kurzen Pause, in der sie seine Worte erst einmal hatte verarbeiten müssen. Sie hatte zwar gewusst, dass sie ihm sehr weh und vor allem auch Unrecht getan hatte, aber das nun so direkt und ehrlich von ihm zu hören, machte ihr doch ganz schön zu schaffen. Es machte alles noch viel realer.
    Ben schwieg einen Moment, währenddessen Susanne glaubte, ihr Herz würde aufhören zu schlagen. Er hatte zwar zu ihr zurück gewollt, doch was sollte sie nur tun, wenn er jetzt gemerkt hätte, dass es doch nicht funktionieren würde? Doch dann lächelte Ben und sagte: „Also ich für meinen Teil werde alles dafür tun, dass es funktioniert und was ist mit dir?“
    Susanne war unglaublich erleichtert, diese Worte von ihm zu hören, auch wenn ihr klar war, dass noch viel Zeit vergehen würde, bis sie wieder unbefangen miteinander umgehen könnten, wenn sie das überhaupt schaffen würden. Doch an ein Scheitern wollte sie im Augenblick nicht denken, also antwortete sie: „Ich werde mein Bestes tun“, wohl wissend, dass dies sehr nach einer Floskel klang, doch etwas passenderes fiel ihr einfach nicht ein und Ben schien auch so zu verstehen, was sie meinte.
    „Sag mal“, begann er dann nach einer weiteren längeren Pause und sie sah ihn aufmerksam an, denn seine Stimme klang jetzt sehr ernst. Er wusste nicht, wie sie auf das reagieren würde, was er als nächstes zu ihr sagen würde, doch er wollte seine Pläne nicht mehr aufschieben; eigentlich hatte er jetzt noch gar nicht vorgehabt, sie das zu fragen, es war noch gar nicht alles vorbereitet oder gar komplett durchdacht, aber er wollte keine Zeit mehr verschwenden, wer wusste schon, was noch alles passieren würde, er wollte einfach nicht mehr warten. „Würdest du mich in nächster Zeit in die USA begleiten?“ Fragend sah Susanne ihn an, darauf konnte sie sich jetzt gar keinen Reim machen. „Willst du dort Urlaub machen?“ wollte sie dann wissen, obwohl sie sich das kaum vorstellen konnte. „Nein, mein Vater hat mich gebeten, ihn dorthin zu begleiten, er hat dort etwas Geschäftliches zu regeln. Und ich würde mich sehr freuen, wenn du auch dabei sein könntest, weil es dich in gewisser Weise auch irgendwie betrifft. Außerdem hätten wir dann mal Abstand von allem hier und könnten uns nur um uns kümmern. Und ehrlich gesagt wäre es mir auch wichtig, wenn du dich wieder etwas besser mit meinem Vater verstehen würdest, dazu wäre das auch eine gute Gelegenheit. Er möchte sein Verhalten dir gegenüber wirklich wieder gut machen, ich würde mich sehr freuen, wenn du ihm diese Chance geben würdest. Und keine Sorgen, wir hängen dort nicht permanent aufeinander, wir hätten noch genug Zeit für uns. Also, was sagst du?“

  • Susanne schluckte, damit hatte sie überhaupt nicht gerechnet. Bedeutete das jetzt etwa, dass Ben nach dieser ganzen Sache nun doch dem Drängen seines Vaters nachgegeben hatte und in die Firma einsteigen wollte? Doch was hatte das mit ihr zu tun? Sie wusste, dass irgendwo in Kalifornien auch eine große Niederlassung war, hatte Ben vielleicht sogar vor, dorthin zu ziehen? Brauchte er den Abstand? Aber eigentlich war das für sie kaum vorstellbar, oder irrte sie sich? Wollte Ben nicht mehr in sein altes Leben zurückkehren? Oder war einfach zuviel passiert, so dass es gar nicht mehr möglich war? Aber eigentlich hatte sie bis jetzt noch einen anderen Eindruck gehabt…
    „Also, was sagst du?“ wurde sie von seiner erneuten Frage aus ihren Gedanken gerissen. Ben war sich unsicher, ob er nicht zu weit vorgeprescht war, denn Susanne machte auf ihn einen so zögerlichen, fast zaghaften Eindruck, so kannte er sie gar nicht. Aber er hatte einfach das Gefühl gehabt, sie jetzt überrumpeln zu müssen, damit sie endlich von der Stelle kamen.
    „Hm? Oh, natürlich komme ich mit wenn du das möchtest“, antwortete Susanne schließlich, denn was sollte sie auch sonst sagen, sie hatte ja gar keine andere Wahl, wenn sie ihre Beziehung retten wollte. In ihrem Kopf schwirrten auf einmal so viele Gedanken herum, dass sie keinen davon richtig zu fassen bekam und so auch nicht merkte, dass Ben erneut etwas zu ihr sagte.
    „Susanne, bist du noch da?“ fragte er. „Was? Ja, alles in Ordnung“, antwortete sie. Fast musste Ben gegen seinen Willen grinsen; es war wirklich viel, was er ihr da gerade zumutete, doch sie hatte tatsächlich zugestimmt, ohne weitere Fragen zu stellen, sie gab sich wirklich Mühe, ihm zu zeigen, dass sie ihm vertraute. Er war sich auch sicher, dass sie Wort halten würde, sie war wirklich fest entschlossen, ihren Fehler wieder gut zu machen. Doch auch er musste sie noch um Verzeihung bitten und ihr erklären, warum er sich nach seiner Rückkehr aus der Türkei nicht direkt bei ihr gemeldet hatte, doch jetzt war definitiv nicht der richtige Zeitpunkt dafür, aber er würde es nicht vergessen.
    Die Tür zu seinem Zimmer öffnete sich und ein Arzt betrat den Raum, Ben konnte sich dunkel an sein Gesicht erinnern. „So Herr Jäger, dann wollen wir doch mal sehen, wie es Ihnen heute geht, wenn ich Ihren Besuch bitten dürfte, draußen zu warten?“ Ben wollte etwas sagen, doch Susanne schüttelte den Kopf. „Ist schon gut, ich habe noch einiges zu erledigen, ich komme nachher wieder“, sagte sie. „Versprochen“, fügte sie dann noch hinzu und küsste Ben zum Abschied. Es war ganz automatisch passiert und es hatte sich wirklich gut angefühlt, einfach so wie früher. Sie nickte dem Arzt noch kurz zu und verschwand dann. Ehrlich gesagt war ihr diese Pause sogar ganz recht, denn es gab eine Menge, über das sie nachdenken musste. Manches davon war sehr verwirrend für sie, wie zum Beispiel die Tatsache, dass Ben jetzt doch mit seinem Vater zusammenarbeiten würde. Das hätte sie nie für möglich gehalten, doch extreme Erfahrungen veränderten die Menschen nun mal und sie würde einfach versuchen, allem, was da noch kommen würde, aufgeschlossen gegenüber zu stehen, denn über aller Ungewissheit stand die Freude und Erleichterung darüber, Ben wieder wohlbehalten zurück bekommen zu haben, so wie die Gewissheit, ihn nie wieder verlieren zu wollen.
    Ben war im Nachhinein ehrlich gesagt sogar ein kleines bisschen froh über die Auszeit, obwohl er Susanne natürlich viel lieber noch bei sich gehabt hätte, aber sie hatte so ausgesehen, als täte ihr eine Pause ganz gut. Wenn er es genau betrachtete, war es ganz schön viel gewesen, was er da gerade von ihr verlangt hatte. Wahrscheinlich würde sie jetzt permanent darüber nachgrübeln, auch wenn sie fast ohne mit der Wimper zu zucken zugestimmt hatte, hatte er gemerkt, dass ihr das ganz schön schwer gefallen war. Er hatte sich zugegebenermaßen auch nicht gerade klar ausgedrückt, wenngleich er das auch absichtlich gemacht hatte, aber dass sie trotzdem mitkommen wollte, zeigte ihm deutlich, wie ernst sie es meinte.
    Der Arzt zeigte sich nach der Untersuchung recht zufrieden mit seiner Genesung und stellte ihm eine baldige Entlassung in Aussicht, was Ben natürlich sehr recht war. Und da keine weiteren Komplikationen auftraten durfte er tatsächlich bereits zwei Tage später wieder nach Hause. Während seines Aufenthaltes in der Klinik war er fast keinen Augenblick allein gewesen, vor allem Semir war so oft da gewesen wie es sein Dienstplan erlaubt hatte und sie hatten es beide tatsächlich geschafft, wieder dort anzuknüpfen, wo sie vor der ganzen Sache gestanden hatten, so dass es Ben recht schnell fast schon so vorkam, als wäre alles nur ein böser Traum gewesen. Das einzige, was ihn noch daran erinnerte, dass dem nicht so war, war der Umstand, dass bei Semir noch häufig das schlechte Gewissen durchschimmerte, was Ben auf Dauer recht anstrengend fand, doch das würde sich mit der Zeit hoffentlich noch geben.

  • Auch Susanne war nur selten von seiner Seite gewichen, nur einmal war sie länger weg gewesen, als sie sich darum gekümmert hatte, wieder zur PAST zurückkehren zu können. Auch wenn sie sich nicht sicher war, wie es nach der USA Reise weitergehen würde; beim LKA wollte sie auf keinen Fall mehr arbeiten. Frau Krüger war darüber wirklich froh gewesen und hatte sich sehr für sie eingesetzt, so dass sie wahrscheinlich zum nächsten Ersten wieder in ihren alten Job zurückkehren würde. Konrad hatte sie auch zweimal getroffen und es dabei geschafft, normal mit ihm umzugehen, auch hier würde die Zeit für sie arbeiten. Es war deutlich zu spüren gewesen, dass er sein Verhalten wirklich bereute und Susanne würde ihm eine Chance geben, genauso, wie sie ihre von Ben bekam.
    Doch aus diesem wurde sie einfach nicht schlau, eine Tatsache, die sich auch durch ihr Verhalten bemerkbar machte, wenn auch für sie nur unbewusst. Ben war jedoch nicht entgangen, wie sehr Susanne sich bemühte, nichts falsch zu machen, er hoffte, dass sich das irgendwann einmal legen würde und sie endlich wieder zu einem normalen Umgang miteinander finden würden, doch ihm war auch klar, dass dies wohl kaum vor ihrer Reise der Fall sein würde. Doch er wollte ihr noch nichts verraten, diese Überraschung wollte er sich nicht nehmen lassen. Auch er hatte ein Gespräch mit Frau Krüger gehabt, einer Rückkehr zu seiner alten Arbeitsstelle stand nichts mehr im Wege. Sobald die Ärzte ihr Einverständnis geben würde, konnte er wieder dahin zurückkehren, wo er hingehörte. Ben hatte nicht gedacht, dass es möglich wäre, so breit zu grinsen, aber Semirs Gesichtsausdruck hatte definitiv alle Rekorde geschlagen, als er diese Neuigkeit erfahren hatte. Und auch Ben war unglaublich erleichtert, dass auch in dieser Hinsicht alles glatt gelaufen war, auch wenn das alles recht viel auf einmal war und er längst noch nicht wieder völlig hergestellt war.
    Und so war er froh, als sie endlich auf dem Weg nach Amerika waren. Es war noch nicht viel Zeit seit seiner Entlassung aus dem Krankenhaus vergangen und entsprechend anstrengend war das alles für ihn. Er war dankbar für den Umstand, dass sie mit dem Privatjet seines Vaters unterwegs waren, da waren sie wenigstens ungestört.
    Jäger senior hatte sich diskret in den hinteren Teil der Kabine zurückgezogen, so dass sie wirklich ihre Ruhe hatten. Auch wenn sie schon vorher nur zu zweit in ihrer Wohnung gewesen waren, hatten sie dort kaum Zeit für sich gehabt, denn es war viel zu organisieren gewesen und Ben hatte zudem noch diverse Arzt- und Physiotherapeutentermine wahrzunehmen gehabt, dass er abends immer sehr früh todmüde ins Bett gefallen war. Zum Reden war also kaum Zeit gewesen, doch jetzt hatten sie etliche Flugstunden vor sich und hier oben würde sie kaum jemand stören.
    „Verrätst du mir jetzt endlich, was du mit deinem Vater eigentlich vorhast?“ traute sich Susanne dann doch zu fragen, als sie sich bereits über dem Atlantik befanden. Ben grinste, er hatte schon darauf gewartet. „Jetzt hast du es schon so lange ausgehalten, da kommt es jetzt auf die kurze Zeit auch nicht mehr an. Lass dich einfach überraschen!“ Es war Susanne nur allzu deutlich anzusehen, dass sie mit diese Antwort nicht zufrieden war, aber sie fragte nicht weiter, so dass Ben nun doch das Gefühl hatte, er müsse noch etwas dazu sagen. „Es ist nichts schlimmes, keine Sorge. Und ich bin sehr dankbar dafür, dass du mich begleitest, ich weiß, dass das nicht selbstverständlich ist.“ Beim letzten Satz war er wieder ernst geworden. „Ich möchte, dass du weißt, dass ich dir vertraue“, entgegnete Susanne ebenso ernst. „Das weiß ich“, sagte Ben. „Und ich verstehe jetzt auch, warum du so reagiert hast, es ist okay. Es tut mir auch sehr leid, dass ich mich nicht sofort bei dir gemeldet habe, als ich zurück gekommen bin, dass hätte uns sicher sehr viel Ärger erspart.“ „Aber du hattest guten Grund dazu, dich so zu verhalten, immerhin habe ich dich einfach sitzengelassen, ohne etwas zu sagen, oder dir eine Nachricht zu hinterlassen“, erwiderte Susanne, auch wenn sie sich natürlich gewünscht hätte, dass Ben sich anders verhalten hätte. Aber sie konnte ihm dafür wirklich keinen Vorwurf machen. Ben nickte. „Das mag wohl sein, aber ich hätte es trotzdem nicht machen sollen, so was ist doch auch eigentlich gar nicht meine Art. Aber ich war so enttäuscht und auch wütend, ich habe zu diesem Zeitpunkt einfach nicht verstanden, was los war. Erst hattest du dich am Taxi so komisch verhalten und dann warst du einfach weg. Ich könnte mich immer noch dafür ohrfeigen, dass ich nicht sofort gesagt habe, was am Abend und in der Nacht passiert ist, aber das weißt du ja jetzt.“

  • Susanne nickte. „Ja, Layla hat mir auch alles erzählt, als ich mit ihr alleine war. Wo ist sie jetzt eigentlich?“ fragte sie dann. Ben zuckte die Schultern. „Das weiß niemand. Auch Antonio ist noch verschwunden. Es wird zwar nach beiden gefahndet, aber ich glaube, dass sie sich ins Ausland abgesetzt haben. Vielleicht haben sie ja doch zusammengearbeitet, vielleicht aber auch nicht. Ich weiß es nicht und es ist mir letztendlich auch egal. Ich war viel zu gutgläubig, ich hätte mich nie auf sie einlassen dürfen und ich will sie auch nie wieder sehen.“ Susanne schwieg, sie wusste nicht, was sie dazu sagen sollte, auch wenn sie Bens Ansicht grundsätzlich teilte, war es doch seltsam, nicht zu wissen, was mit ihr geschehen war.
    „Als ich an dem Abend bei ihr war, nachdem Semir weg war, haben wir uns einfach nur gut unterhalten“, begann Ben dann unvermittelt zu erzählen. „Ben, du musst mir das nicht sagen“, unterbrach Susanne ihn, doch er schüttelte den Kopf. „Ich möchte, dass du alles weißt“, entgegnete er jedoch und sprach weiter. „Sie hat mir von ihrer Zeit in Deutschland erzählt und wie sie es nach dem Tod ihrer Eltern wieder zurück in ihre Heimat gezogen hat. Wie viel davon nun gelogen war, weiß ich nicht, aber auch im Nachhinein habe ich eher das Gefühl, dass sie zwar die Wahrheit gesagt, aber eben auch eine ganze Menge verschwiegen hat. Aber zu diesem Zeitpunkt gab es für mich keinen Grund, ihr nicht zu glauben. Warum also sollte ich sie nicht mitnehmen? Und als sich dann herausgestellt hatte, dass ihr weg wart, war sie es, die mich davon zu überzeugen versucht hat, dass es bestimmt eine simple Erklärung dafür geben würde. Doch nach der ersten Enttäuschung war ich einfach nur sauer, dass ihr mich zurückgelassen habt. Ich war dann die ganze Zeit bis zum Abflug auf meinem Zimmer, was Layla in der Zeit gemacht hat weiß ich nicht. Vielleicht hat sie da schon angefangen, ihre Geschäftsbeziehungen zu organisieren. Na ja, ich kenne jetzt jedenfalls alle türkischen Seifenopern, auch wenn ich kein Wort verstanden habe.“ Er grinste kurz. „Den Flug haben wir natürlich zusammen verbracht, aber wir hatten uns eigentlich gerade erst wieder getroffen, als ihr reingeplatzt seid, Layla hatte ja ein Zimmer im Hotel. Das Treffen mit meinem Vater hatte ich von der Türkei aus organisiert, ich hatte ihr ja mein Wort gegeben. Aber zu dem Zeitpunkt wollte ich das Ganze so schnell wie möglich hinter mich bringen. Keine Ahnung, was ich gemacht hätte, wenn ihr nicht aufgetaucht wärt. Wahrscheinlich wäre ich zu Semir gefahren, auch weil ich mir gedacht habe, dass du wohl dort sein würdest. Bestimmt hätten wir uns dann gefetzt, aber es wäre alles zur Sprache gekommen und wir hätten endlich alles klären können.“ Er seufzte. „Es war wirklich dämlich von mir, nichts von mir hören zu lassen, aber ich kann da ganz schön stur sein, weißt du?“ Susanne lachte leise auf. „Ach ja? Komisch, ist mir noch gar nicht aufgefallen“, flachste sie und auch Ben grinste, er war froh, dass die Stimmung wieder etwas lockerer wurde. „Ja, manchmal kommt das vor“, antwortete er also mit geraden Mundwinkeln, aber einem Lächeln in den Augen.
    „Ich bin so froh, dass ich dich wiederhabe“, sagte Susanne dann und lehnte sich an Ben. „Ich auch“, entgegnete er und legte seinen Arm um sie. Susanne kuschelte sich noch enger an ihn und genoss die Zweisamkeit. In diesem Moment beschloss sie, dass sie die Vergangenheit hinter sich lassen würde, um noch einmal neu anzufangen. Und das bedeutete auch, dass sie Ben nie erzählen würde, dass sie gesehen hatte, was mit ihm geschehen war und vor allem, dass sie gehört hatte, was er gesagt hatte. Es war nicht für ihre Ohren bestimmt gewesen und er hatte es ihr im Nachhinein auch so gesagt. Sie wusste zudem nicht, wie er darauf reagieren würde, wenn er erfahren würde und letztendlich war es auch gar nicht wichtig, es war ja alles gut ausgegangen. Sie würde einfach versuchen, diese Bilder aus ihrem Gedächtnis zu streichen, auch wenn sie wusste, dass ihr das sehr schwer fallen würde. Sie musste unbedingt auch noch mit Semir darüber sprechen, gemeinsam würden sie das schon schaffen. Und solange sie Ben gesund und munter an ihrer Seite wusste, würde sie das schon hinkriegen, auch wenn sie nachts manchmal noch davon träumte, wie sie so hilflos vor diesem Monitor saß und nichts dagegen tun konnte, dass Ben gequält wurde. Im Zweifelsfall würde sie sich noch professionelle Hilfe holen, aber im Augenblick wollte sie darüber nicht weiter nachdenken, sondern einfach nur der luxuriösen Flug genießen, bevor sie sich dann wieder die Angst vor dem geschäftlichen Termin erlauben würde. Sie würde schon früh genug erfahren, worum es ging, denn aus Ben war ja nichts heraus zu bekommen und Konrad wollte sie schon gar nicht fragen. Sie war froh, dass sich ihr Verhältnis wieder so einigermaßen normalisiert hatte und das wollte sie nicht aufs Spiel setzten. Und auch wenn sie partout nicht verstand, warum Ben darauf beharrte, dass sie dabei war; ändern konnte sie es sowieso nicht. Hauptsache, sie konnte mit ihm zusammen sein.

  • Wider Erwarten ging der Flug recht schnell vorüber und schon am frühen Abend Ortszeit waren sie in ihrem Hotel angekommen, in dessen Restaurant auch bereits heute das Geschäftsessen mit Konrads Partner stattfinden sollte. Sie waren doch nicht nach Kalifornien geflogen, sondern befanden sich jetzt in Nevada, da hier ein neues Logistikzentrum entstehen sollte, wie Konrad berichtet hatte und es gab hier noch eine Menge zu regeln. Es schien also ein sehr wichtiges Treffen zu sein und Ben kannte den Geschäftspartner noch nicht und endlich verriet er Susanne, dass auch dies der Grund war, warum er sie gebeten hatte, dabei zu sein, er wollte ihre Meinung über diesen Mann hören. Susanne hatte allerdings stark das Gefühl, dass das höchstens die halbe Wahrheit war, denn Ben hatte eine gute Menschenkenntnis, oder vertraute er seinem eigenen Urteil nicht mehr, seit er auf Layla herein gefallen war?
    Mehr hatte er aber trotzdem nicht gesagt und so saßen sie also gemeinsam mit Konrad und Sam Miller beim Abendessen. Es hatte sich herausgestellt, dass Sam zwar noch recht jung war, aber die Niederlassungen von Konrads Firma in den Staaten mit großem Geschick und Engagement leitete. Obwohl auch einige geschäftliche Dinge besprochen wurden, war es ein sehr netter Abend, welcher auch erst sehr spät endete. Über Bens Rolle in der Firma wurde während der ganzen Zeit jedoch nichts gesagt und Susanne war sich immer noch nicht sicher, was sie von all dem halten sollte und danach zu fragen hatte sie sich nicht getraut. Immerhin hatte sie sich etwas amüsiert und auch der lockere Umgang mit Konrad hatte ihr gut getan. Es war wirklich von Vorteil gewesen, außerhalb ihrer gewohnten Umgebung zusammen zu sein. Dennoch war Susanne heilfroh, dass sie nach der Verabschiedung von Sam nur wenige Schritte zu ihrem Zimmer gehen musste. Doch als sie sich dort schließlich aufs Bett fallen ließ und Ben sich neben sie setzte, merkte sie, dass er noch etwas auf dem Herzen zu haben schien, was er unbedingt jetzt noch loswerden wollte.
    „Also sag schon, was ist los?“ murmelte sie also. „Ist das so offensichtlich?“ fragte Ben verdutzt. „Du vergisst, dass ich dich ziemlich gut kenne“, antwortete Susanne. ‚Auch wenn ich beim letzten Mal ziemlich daneben gelegen habe’, fügte sie noch in Gedanken hinzu, aber es war jetzt nicht die passende Gelegenheit, dieses Thema zur Sprache zu bringen.
    Ben schwieg einen Moment. „Du weißt doch, dass mein Vater plant, sich langsam aus dem aktiven Geschäft zurück zu ziehen“, begann er und Susanne war auf einmal wieder hellwach. War es nun soweit? Eröffnete ihr Ben jetzt die Tatsache, dass er beabsichtigte, doch in das Familienunternehmen einzusteigen? War er hierher gekommen, um sich den Geschäftspartnern vorzustellen?
    „Susanne, geht es dir nicht gut?“ wurde sie aus ihren Gedanken gerissen. „Du siehst auf einmal so blass aus?“ Verwirrt sah sie Ben an. „Nein, ist schon gut, ich bin nur total müde, erzähl weiter.“ Skeptisch sah Ben sie an, fuhr dann aber fort. „Sam ist erst seit einigen Jahren im Unternehmen, hat aber schon viel auf die Beine gestellt. Wie fandest du ihn eigentlich?“ Susanne war irritiert ob dieser Frage, versuchte aber, sich nichts anmerken zu lassen. „Ich fand ihn sehr symphatisch und engagiert, ob er was vom Geschäft versteht, kann ich nicht beurteilen, aber das, was er darüber erzählt hat, klang ganz vernünftig.“ Ben nickte. „Ja, den Eindruck hatte ich auch, das werde ich auch meinem Vater sagen.“ „Warum ist das so wichtig, Ben?“ konnte Susanne es sich doch jetzt mehr verkneifen zu fragen.
    „Sam soll die Nachfolge meines Vaters antreten“, war die Antwort, die Susanne nun völlig fassungslos aussehen ließ. „Aber ich dachte, dass du…“ begann sie, doch Ben schüttelte den Kopf. „Er hat es mir noch einmal angeboten, schließlich bin ich sein Sohn, aber da hatte er Sam schon im Hinterkopf. Auch Julia ist damit einverstanden, sie hat ihn bereits kennen gelernt. Ich habe dir nichts gesagt, weil ich wollte, dass du ihm unvoreingenommen begegnest. Deine Meinung ist mir sehr wichtig.“ Er schwieg einen Moment. „Mein Vater hat sich nach der ganzen Sache verändert, er hat endlich akzeptiert, dass ich mein eigenes Leben führe, das Thema ist nun ein für alle mal erledigt. Aber er hat sehr großen Wert darauf gelegt, dass ich mit seiner Wahl einverstanden bin und diesen Gefallen konnte ich ihm kaum abschlagen.“

  • Susanne umarmte Ben heftig, eine riesengroße Erleichterung machte sich in ihr breit. „Und ich dachte die ganze Zeit, du würdest jetzt doch bei ihm einsteigen… Ben, ich bin so froh, dass du dich dagegen entschieden hast, das wäre einfach nicht das richtige für dich gewesen.“ Ernst sah er sie an. „Ich habe darüber nachgedacht, wirklich. Diesmal sogar ernsthaft. Aber du hast Recht, das ist einfach nichts für mich. Ich gehöre nicht in ein Firmenbüro, sondern zur Polizei. Aber ich bin auch froh, dass das jetzt alles geregelt ist. Es bleibt nur zu hoffen, dass mit Sam auch alles klappt.“ „Das wird es bestimmt“, versuchte Susanne ihn zu beruhigen, denn sie konnte sich wirklich gut vorstellen, dass der dynamische junge Mann das hinkriegen würde. „Dann lass uns jetzt schlafen, ich nämlich wirklich müde“, schlug Ben dann vor und Susanne nickte. Obwohl ihr viele Gedanken durch den Kopf gingen, war sie bereits nach kurzer Zeit eingeschlafen, während Ben noch eine Weile wach lag. Den ersten Teil seines Vorhabens hatte er mit Erfolg hinter sich gebracht, doch würde auch der Rest so glatt laufen? Er hatte keine Ahnung, wie Susanne darauf reagieren würde, doch er war bereit, auch dieses Risiko noch einzugehen und er konnte nur hoffen, dass sie mitmachen würde.
    Während Susanne am nächsten Morgen lange ausschlief, traf Ben sich kurz mit seinem Vater, der sich danach dann mit Sam zusammen setzten wollte, um alles zu besprechen. Man konnte den Aktionären nicht einfach so einen Nachfolger vorsetzten, das Ganze musste sorgfältig und langfristig vorbereitet werden, zumal Konrad auch nicht die Absicht hatte, alles sofort komplett aus der Hand zu geben. Auch er musste sich noch an den Gedanken gewöhnen, in Zukunft weniger Verantwortung tragen zu müssen.
    Ben und Susanne machten sich am frühen Nachmittag also ohne Konrad auf den Weg nach Las Vegas, welches sich in der Nähe ihres Aufenthaltsortes befand. Ben wollte diese Metropole unbedingt einmal kennen lernen, wenn sich diese Gelegenheit so bot und auch Susanne war neugierig auf die Atmosphäre in der Spielerstadt, die sie bisher nur aus dem Fernsehen kannte.
    „Jetzt braucht dein Vater wenigstens keine Sorge haben, dass du die Firma verzocken könntest“, lachte Susanne, nachdem Ben dann nach etlichen Versuchen zum wiederholten Male Pech am Roulettetisch gehabt hatte. „Ich weiß auch nicht, die Zahlen passten doch so gut, ich weiß auch nicht, was der Croupier gegen die elf hat.“ In gespielter Verzweiflung raufte Ben sich die Haare. „Was hältst du davon, wenn wir mal eine kurze Pause machen?“, fragte er dann nach einem kurzen Blick auf die Uhr. Sie nickte. „Ja, da habe ich gar nichts gegen, so langsam wird mir das hier drin auch etwas zu viel, auch wenn es sehr interessant ist.“ Sie wandte sich in Richtung Ausgang. „Ich weiß zwar nicht, ob es draußen wirklich besser ist, aber eine Auszeit kann auf keinen Fall schaden.“ Also machten sich die beiden auf den Weg und schlenderten, nachdem sie das Casino verlassen hatten, Arm in Arm die Straße entlang. Sie versuchten, sich nicht von der Hektik, die um sie herum herrschte, anstecken zu lassen, sondern beobachteten, was um sie herum geschah und da gab es auch genug zu sehen, ohne selber mitzumachen. Fasziniert beobachtete Susanne die Menschen und Lichter dieser Stadt; es war einfach unglaublich, dass alles hier in der Realität zu erleben, obwohl sie sich fast wie in einem Traum vorkam. Noch vor wenigen Wochen hätte sie nicht einmal gewagt, an so etwas zu denken, geschweige denn, davon zu träumen. Ben schien es ebenso zu gehen wie ihr, denn auch er beobachtete nur alles um sich herum und sagte kein Wort. Doch dann blieb er auf einmal stehen und zog Susanne ganz dicht an sich heran, so dass sich fast ihre Nasenspitzen berührten.
    „Es gibt da noch etwas, worüber ich mit dir sprechen muss“, sagte er dann leise. Susanne war von diesem Worten völlig überrascht und hatte keine Ahnung, worauf er hinauswollte, auch wenn sich ihr Herzschlag wieder erheblich beschleunigte. Es würde wohl noch ziemlich lange dauern, bis sie sich grundsätzlich wieder entspannen könnte. Sie lehnte ihren Kopf ein wenig zurück, um Ben besser sehen zu können. „Verrätst du mir auch worüber?“ fragte sie dann einfach, denn es kam ihr wirklich nichts in den Sinn, was noch auszudiskutieren wäre, worüber sie noch nicht zumindest einmal gesprochen hatten. „Vor längerer Zeit habe ich dich mal etwas gefragt…“ begann Ben, doch bei Susanne fiel immer noch nicht der Groschen. „…und du hast ‚ja’ gesagt…“ fuhr er dann fort und endlich verstand sie, worauf er hinaus wollte. „Ich kann mich daran erinnern…“, versuchte sie mit möglichst fester Stimme zu sagen, obwohl ihr das kaum möglich war, sie musste sich wirklich zusammen reißen. Was wollte er ihr sagen?

  • „Weißt du, als die Sache mit…, du weißt schon, wen ich meine“, fing Ben an; den Namen auszusprechen kam ihm in dieser Situation unpassend vor, „also, jedenfalls, als das alles passiert ist, da habe ich mir gewünscht, dass ich einen Ring am Finger hätte, damit endlich alle Bescheid wüssten.“ Er konnte sich wirklich noch gut daran erinnern, wie ihm dieser Gedanke in der Bar in den Sinn gekommen war, doch er wollte jetzt nicht weiter über diese Situation nachdenken, das war Vergangenheit. Susanne schluckte, das war etwas, das sie nicht erwartet hatte.
    „Und nach dieser ganzen Sache hat sich daran auch nichts geändert und ich möchte auch, dass du so immer daran erinnert wirst, dass du mir vertrauen kannst und ich dir treu sein werde.“ Der Kloß in Susannes Hals war während seiner Worte immer größer geworden und sie wunderte sich, dass sie überhaupt noch im Stande war, ein Wort raus zu bringen. „Ben, ich weiß gar nicht, was ich sagen soll, ich hab dich gar nicht verdient“, antwortete sie. „Können wir das Vergangene nicht einfach hinter uns lassen?“ fragte Ben und Susanne nickte, nichts wäre ihr lieber als das.
    „Also, willst du mich dann noch heiraten?“ fragte er sie erneut und obwohl um sie herum so viele Menschen waren, Autos fuhren und überall die Hektik zu spüren war, hatte Susanne das Gefühl, als wäre dies alles ganz weit weg und sie wären in diesem Moment nur zu zweit auf dieser Welt. Sie hörte all die Geräusche um sie herum nicht mehr, den Lärm der Casinos, die Stimmen der Einheimischen und Touristen, sie hörte nur noch das Schlagen ihres Herzens und es gab nur sie und Ben. „Ja, ich will“, flüsterte sie.
    „Kannst du das in fünf Minuten noch mal sagen?“ fragte Ben sie dann nach einem kurzen Moment des Schweigens. Er hatte sehr gehofft, dass sie so antworten würde, jetzt konnte doch eigentlich nichts mehr schief gehen. Er hatte lange überlegt, ob er ihr diese Frage noch einmal stellen sollte, oder ob sie nicht erst einmal sehen sollten, wie sich das Zusammenleben nach all den Ereignissen gestalten würde, doch er dann war ihm klar geworden, dass er nicht mehr warten wollte. Es konnte sowieso niemand garantieren, dass es funktionieren würde, dass wusste man vorher nie. Man konnte immer nur aus der Situation heraus entscheiden, in der man sich gerade befand und dann hoffen, dass alles gut gehen würde. Und er liebte sie und wollte mit ihr zusammen sein, etwas anderes kam für ihn gar nicht in Frage. Also warum das Ganze nicht mit dem besiegeln, was sie sowieso vorgehabt hatten? Konnte es einen besseren Neuanfang geben?
    Er wies auf das Gebäude, vor dem sie standen. „Du weißt schon, wofür Las Vegas neben seinen Casinos noch bekannt ist, oder?“ fragte er und erst jetzt realisierte Susanne, dass sie vor einer der vielen Hochzeitskapellen standen. „Aber… aber braucht man nicht wenigstens einen Termin?“ fragte sie. Ben sah auf seine Uhr. „Ich würde sagen, wir sind pünktlich. Und das ausnahmsweise sogar mit mir.“ Er grinst erst und wurde dann wieder ernst. „Susanne, ich verspreche dir eine große Hochzeit mit allem drum und dran, wenn wir wieder zuhause sind; von mir aus auch mit einer Kutsche mit zehn Schimmeln davor, aber ich will einfach nicht, dass noch etwas dazwischen kommt; also, gehst du jetzt mit mir da rein?“
    Susanne sah ihn noch einen Moment lang an, doch dann nickte sie. Ben hatte Recht. Sie beide wollten es und warum nicht dann gleich hier? Eine Feier mit Familie und Freunden konnten sie immer noch nachholen, denn darauf wollte sie ehrlich gesagt wirklich nicht verzichten, wenn sie diesen wichtigen Schritt schon machte. „Ich nehme mal an, du hast zufälligerweise auch alle Papiere dabei, die wir brauchen?“ fragte sie pro forma, wohl wissend, dass diese Frage nur rhetorisch sein konnte und Ben nickte. „Und was ist mit den Trauzeugen?“ wollte sie dann noch wissen. Insgeheim rechnete sie mit Konrad und Sam, so ertappt, wie Ben gerade aussah. „Na ja“, druckste er herum, „es ist da jemand eingeflogen worden“, gab er zu und bestätigte damit anscheinend ihre Vermutung. „Ist das o.k. für dich?“ Susanne nickte. „Ja, warum nicht. Also lass uns gehen.“ Ben sah sie mit einem Lächeln an und gemeinsam betraten sie die Kapelle.
    Kaum dass sich die Tür geschlossen hatte, erkannte Susanne, dass sie sich geirrt hatte, was die Wahl der Trauzeugen anging. Ben hatte die Wahrheit gesagt, es war tatsächlich jemand mit dem Flieger gekommen, allerdings waren das nicht die Personen, die sie zunächst vermutet hatte, sondern vielmehr die beiden Menschen, ohne die sie sich dieses Ereignis kaum hätte vorstellen können. Kaum dass sie diese Tatsache realisiert hatte, war Andrea auch schon aufgesprungen und ihr um den Hals gefallen. „Du hast ‚ja’ gesagt, ich wusste es, ich freue mich so für euch!“ sprudelte es aus ihr heraus und auch Semir grinste wie ein Honigkuchenpferd über die gelungene Überraschung.
    Susanne war immer noch völlig perplex, doch langsam begann sie zu begreifen, dass das alles Wirklichkeit war und sie gleich tatsächlich den Mann heiraten würde, den sie immer gewollt hatte, auch wenn es zwischen ihnen so manches Mal sehr turbulent zugegangen war. Sie war sich auch sicher, dass dies in Zukunft kaum anders werden würde, aber genau das war es doch, was ihre Beziehung ausmachte und sie war sich sicher, dass sie in Zukunft alles gemeinsam schaffen würden.
    Ben hatte in diesem Moment zwar keine Ahnung, was in Susannes Kopf vorging, aber eins konnte er erkennen, und dass war die Tatsache, dass sie ehrlich glücklich war, denn ihm ging es da nicht anders.
    Endlich fühlte sich alles wieder richtig an, es war so, wie es sein sollte; die Frau, die er liebte, war an seiner Seite und würde gleich sogar seine Ehefrau werden und auch sein bester Freund war mit seiner Frau hier, um das gemeinsam mit ihm zu erleben. Und wenn das alles hier vorbei war, würden sie in ihren Alltag zurückkehren, und zwar jeder wieder an den Platz, an den er gehörte. Alle Streitigkeiten waren unwichtig geworden, sie waren zwar nicht vergessen und das würden sie wohl auch nie sein, aber sie hatten es geschafft, ihre Differenzen zu überwinden und das war letztendlich das, was ihre Freundschaft ausmachte. Auch wenn es drunter und drüber ging; in Zukunft würden sie wie früher fest zusammenhalten, denn ihnen war beiden klar geworden, was sie einander bedeuteten. Denn eines wussten sie jetzt sicher:


    Wahre Freundschaft zerbricht nie.




    So, das war mein Nikolausgeschenk für euch, ich hoffe, dass alle offenen Fragen geklärt werden konnte. Was mit Layla passiert ist, werden wir wohl nicht mehr erfahren, denn wer weiß, wo sie und Antonio abgeblieben sind...


    Ben und Co werden sich bald wieder auf den Weg nach Hause machen, doch ich befürchte, dass diese Reise einige böse Überraschungen parat haben wird, aber auf diese Geschichte werdet ihr noch etwas warten müssen; ich versuch's mal im Frühjahr hinzukriegen.


    Ich wünsche euch noch eine schöne Adventszeit und erholsame Weihnachten, lasst euch nicht zu sehr stressen, sondern genießt alles in Ruhe!


    Alles Liebe


    Danara

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