Nachbeben

  • Nachbeben


    Freitag, 14:08 Uhr, Schröders Imbisswagen


    "Na, habt ihr schon Pläne fürs Wochenende?", erkundigte Kai Schröder sich. Semir knabberte gerade am Schenkel seines Grillhähnchens. Dementsprechend undeutlich fiel seine Antwort aus. "Mja... Andschea und isch fahren nach Schtraschbursch", nuschelte er mit vollen Backen. "Elschäscher Schpetschialitäten genieschen..."
    Tom musste sich angesichts Semirs Mimik bei diesen sprachlichen Verrenkungen beherrschen, um nicht seine Frikadelle quer über den Bistrotisch zu prusten. Dabei verschluckte er sich und begann zu husten. Schröder war sofort zur Stelle und schlug ihm kräftig auf den Rücken. Allerdings traf er exakt die Prellung von Kranichs gestrigem Zusammenstoß mit einem Pferdehuf...
    "AU! Verdammt, Schröder", schrie Tom und krümmte sich. Der Schmerz fuhr ihm nicht weniger intensiv durch Mark und Bein als am Vortag. "Sorry, Tom", entschuldigte Kai sich, "Was ist denn mit dir? Du bist doch sonst nicht so empfindlich", wollte er wissen. "Wir mussten gestern zwei verängstigte Pferde einfangen, die nach einem Unfall auf der A46 herumirrten", erklärte Semir mit inzwischen leerem Mund. "Dabei hat eins ausgeschlagen und Tom am Rücken getroffen." - "Ist nichts weiter passiert2, schwächte Kranich ab. "Aber diese Scheißprellung tut höllisch weh, sobald man dagegen kommt."
    Schröder nickte mitfühlend. "Das kann ich mir vorstellen", meinte er. Dann huschte ein verschwörerisches Grinsen über sein Gesicht. "Möchtest du dich rächen? Ich habe 1a Pferdewurst im Kühlfach..." Tom starrte Schröder an, als wäre der ein Massenmörder. "Wie bitte? Ich soll Pferd essen?"Er schüttelte angewidert den Kopf. "Nee, das vergiss mal ganz schnell. Und komm bloß nicht auf die Idee, mir jemals so `n Zeug unterzujubeln!"
    Kai Schröder hob in der füt ihn typischen "So etwas traust du mir zu?" -Geste die Schultern und öffnete den Mund. Doch zu einer Erwiderung kam er nicht mehr. "Zentrale an alle! Überfall auf die Raststätte Frechen! Täter fliehen mit einem dunkelgrünen Ford Mondeo auf der A57 Richtung Norden! Vorsicht, sie sind bewaffnet, haben schon zwei Menschen verletzt!", ertönte es aus dem Funkgerät des BMW.
    Ein hastiges "Tschüss" schafften die beiden Kommissare noch so gerade eben. Gleich darauf saßen sie im Wagen und rasten davon. Schröder schaute ihnen kurz nach, bevor er die nur halb gegessenen Speisen wegräumte und den Tisch abwischte. "Ein Wunder, dass die noch kein Magengeschwür haben", murmelte er vor sich hin. "Immer dieses Gehetze, nie kommen sie richtig zum Essen. Und ich wollte mal bei denen mitmischen! Dann wäre ich jetzt nur noch Haut und Knochen..."


    ***

  • Freitag, 14:27 Uhr, Neuss, Hafengelände


    "Achtung!", schrie Tom. Der Mondeo bog in eine Nebenstraße ab, schleuderte dabei bedenklich. Trotzdem feuerte der Beifahrer nach wie vor auf die Verfolger. Tom schoss in unregelmäßigen Abständen zurück. Versuchte immer wieder, einen der Hinterreifen zu erwischen. Bisher jedoch ohne Erfolg. Erneut schlugen einige Projektile durch die Windschutzscheibe, zwangen die Freunde wieder einmal in Deckung.
    Semir nahm etwas Gas weg, hob vorsichtig den Kopf. "Jetzt haben wir sie!", rief er triumphierend aus. Tom kam hinter dem Armaturenbrett hervor. Dies war eine Sackgasse. Der Ford stand vor einem offensichtlich aufgegebenen mehrstöckigen Kontorhaus, die Insassen stiegen gerade aus. Beide Räuber waren dunkel gekleidet und mit Sturmhauben maskiert. Sie schienen unschlüssig zu sein, wohin sie sich wenden sollten.
    Vor allem erweckten sie den Eindruck, sich nicht einig zu sein. Sie schrieen sich gegenseitig an und gestikulierten wild, während sie weiterhin auf die Polizisten schossen. Tom holte tief Luft, zielte konzentriert und drückte ab. Im nächsten Moment brach die Gestalt auf der Beifahrerseite mit einem lauten Ächzen zusammen.
    Der Fahrer zögerte kurz, dann riss er die hintere linke Tür des Mondeo auf. Er zerrte ein Bündel von der Rückbank, presste dieses an die Brust und stürmte in das Gebäude. Semir und Tom verließen den BMW und liefen zu dem reglos daliegenden Gangster. Ein Laut der Überraschung entfuhr beiden, als Semir ihm die Maske vom Kopf zog.
    "Das ist ja eine Frau", rief er. Tom schluckte betroffen. Er hasste es, auf Frauen zu schießen. Aber es war Notwehr, er hatte sich und seinen Partner verteidigt. Sie hatte es selbst herausgefordert... "Ist sie...?", setzte er an, ohne die Frage zu beenden. "Nein, sie lebt. Ich rufe einen RTW", beruhigte Semir ihn, nachdem er die Halsschlagader ertastet hatte. "Und Verstärkung", schlug Tom mit Blick auf das Gebäude vor.
    Während Gerkhan mit der PAST telefonierte sah Kranich sich das Innere des Mondeo an. Als er sich seinem Partner zuwandte erschrak dieser über seine plötzliche Blässe. "Tom? Was ist los?", wollte er wissen. "Das Bündel, mit dem der Kerl abgehauen ist..." " ?Was ist damit?" Semir trat n?her und schaute jetzt ebenfalls in den Ford. "Oh Gott...? Er zuckte entsetzt zurück. ?Ein Babysitz!? ""Und Blut?" ergänzte Tom leise.
    Er schloss einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnete war der Ausdruck darin hart. Er schaute auf die reglose Frau hinunter. "Wie kann man sich eine Schießerei mit der Polizei liefern, wenn man ein Baby auf dem Rücksitz hat?", klagte er die Bewusstlose an. "Das Kleine ist mit Sicherheit verletzt worden. Vielleicht sogar..."
    Semir drückte Toms Arm. "Wenn es tot wäre, hätte der Kerl es nicht mitgenommen. Dann wäre es doch nur Ballast" beschwichtigte er Kranich. Dieser nickte, sein Blick veränderte sich. "Komm, lass uns nachsehen. Vielleicht finden wir das Schwein! Und je eher das Würmchen versorgt wird, desto größer ist seine Überlebenschance..."


    ***

  • Freitag, 14:34 Uhr, Neuss, ehemaliges Kontorhaus im Hafengelände


    Mit den Waffen im Anschlag arbeiteten Semir und Tom sich durch das Gebäude vor. Einen Raum nach dem anderen inspizierten sie, gaben sich gegenseitig Deckung. Das Erdgeschoss war leer. Sie stiegen vorsichtig die einzige Treppe hoch und erreichten den Hauptflur im ersten Stock. Da die Treppe in der Mitte war entschieden sie, jeder eine Seite zu überprüfen. Falls sie zusammenblieben und die falsche Richtung nahmen bestand die Gefahr, dass der flüchtige Räuber hinter sie gelangte.
    Semir hatte eben den dritten Raum gecheckt, als er Tom vom entgegengesetzten Ende des Ganges rufen hörte: "Semir!" Er drehte sich um. Sein Partner betrat das letzte Zimmer, gerade gegenüber. Ein Stück weit darin lag das Bündel von vorhin auf dem Boden. Es war tatsächlich ein Baby. Semir registrierte wie im Film, was sich in den nächsten Sekunden abspielte. Vor seinen Augen. Doch er konnte absolut nichts dagegen tun...
    Tom hatte den Arm mit der Pistole gesenkt, beugte sich zu dem Kind hinunter. Noch bevor es passierte wusste Semir, was kommen würde. Stürzte sofort los. "TOM! NEEEIIIN", schrie er. Zu spät. Er sah den Schatten hinter der angelehnten Tür hervorspringen. Sah seinen Partner erschrocken hoch zucken. Härte das dumpfe Geräusch, als der Gangster Tom mit einem Brett zu Boden schlug. Und blieb eine Sekunde später wie angewurzelt stehen.
    "Keinen Schritt weiter! Oder dein Kollege ist tot", warnte der immer noch maskierte Mann. Er drückte den Lauf seiner Waffe auf Toms Hinterkopf. Kranich lag regungslos neben dem leise wimmernden Baby auf dem Bauch, das Gesicht Semir zugewandt. Ein dünner Blutfaden kroch an seiner Schläfe hinunter. Angst spiegelte sich in seinen Augen. Aber auch ein Ausdruck, der nur so etwas wie "Tut mir Leid, Partner2 bedeuten konnte... 2Verpiss dich, Bulle!2, befahl der Kerl. 2Sag deinen Leuten, ich will eine Million Euro und einen vollgetankten Fluchtwagen. In zwei Stunden!"
    Semir kaute angespannt an seiner Unterlippe. Vor noch nicht einmal elf Monaten war Tom mehrere Tage in der Gewalt von brutalen Kidnappern gewesen. Es hatte Wochen gedauert, bis er dieses Trauma überwunden hatte und den Dienst wieder aufnehmen konnte. Wie würde er eine erneute Geiselnahme überstehen?
    "Du sollst abhauen!", forderte der R?uber noch einmal lauter. "Ich gehe gleich", erwiderte Semir ruhig. Den Täter nicht zu reizen war oberstes Gebot in so einer Situation. "Aber ich möchte vorher mit Ihnen reden." - "Es gibt nichts zu reden. Den ganzen Quatsch von wegen "keine Chance" und "Aufgeben" kannst du dir sparen", wehrte der Mann ab.
    Semir wechselte einen schnellen Blick mit Tom. Nickte leicht. Er hatte verstanden, worum sein Partner ihn mit den Augen gebeten hatte. Und schloss daraus, dass dieser sich stark genug für die kommenden Stunden fühlte. "Lassen Sie mich wenigstens das Baby mitnehmen", bat er den Verbrecher. "Es ist wahrscheinlich verletzt und sollte unbedingt in ein Krankenhaus!"
    Der Typ schüttelte den Kopf. "Das Balg bleibt genauso hier wie dein Partner! Zwei Geiseln sind besser als eine", weigerte er sich. "Aber...? ""Nichts aber", fauchte der Gangster. "Los, raus! Oder ich verpass deinem Kumpel ´ne Kugel! Irgendwohin, wo er nicht gleich dran verreckt", drohte er. Semir blieb nichts Anderes übrig als nachzugeben. Er nickte Tom noch einmal aufmunternd zu, bevor er langsam rückwärts zur Treppe ging. Um keinen Preis hätte er diesem eiskalten Verbrecher den Rücken zugedreht! Jemand, der Babys als Geiseln nahm schreckte vermutlich auch nicht davor zurück, Polizisten von hinten zu erschießen...


    ***

  • Freitag, 14:52 Uhr, Neuss, ehemaliges Kontorhaus im Hafengelände


    "Sei endlich still, du blödes Gör!", fluchte der Räuber. Dabei schüttelte er das weinende Baby rücksichtslos. "Sind Sie verrückt?", rief Tom entsetzt. "Sie bringen es ja um! Wissen Sie nicht, wie empfindlich ein Baby ist?" Er zerrte an seinen Handschellen, mit welchen der Gangster ihn an ein von der Decke bis zum Boden verlaufendes Heizungsrohr gefesselt hatte. Es machte ihn rasend vor Wut, wie der Kerl mit diesem zarten Geschöpf umging. Seine eigene prekäre Lage spielte an diesem Punkt nur eine untergeordnete Rolle.
    "Halt´s Maul, Bulle!", fuhr der Typ ihn an. "Sonst stopf ich es dir." Tom schluckte kurz. Doch er dachte nicht daran stumm zuzusehen, wie ein Kind misshandelt wurde. "Wenn Sie es anschreien und ihm weh tun hört es nie auf zu weinen", erklärte er ruhig. "Sie müssen sanft mit ihm umgehen, es im Arm wiegen und leise mit ihm sprechen."
    "Ach ja?" Der Typ legte das Kind wieder auf den Boden, kam langsam näher. Hockte sich vor Tom. "Weißt du was? Mir ist dieses Balg vollkommen egal! Hauptsache, es hält die Klappe. Und du auch", meinte er kalt. Im nächsten Moment traf seine Faust den Kommissar hart im Gesicht. Toms Kopf flog zur Seite. Blut lief aus dem gerissenen Mundwinkel. Er unterdrückte den Schmerz, schaute in die kühl funkelnden Augen im Sehschlitz der Maske.
    "Und wenn Sie mich totprügeln ? das Baby braucht Geborgenheit, um sich zu beruhigen", wagte er den nächsten Anlauf, um den Mann zur Vernunft zu bringen. Einen Augenblick zuckte dessen Arm. Schien es, als würde er erneut zuschlagen. Doch er besann sich, stand auf und holte stattdessen das immer noch jammernde Kindchen.
    "Leg deine Beine im Schneidersitz zusammen", befahl er. Tom sah ihn verwundert an, gehorchte aber sofort. Gleich darauf lag das Baby auf seinen Beinen. "So. Jetzt sieh zu, dass es still ist", forderte der R?uber und ging zurück zum Fenster. Tom starrte perplex von ihm zu dem wimmernden Häufchen Elend vor sich. Eine bereits getrocknete, schmale Blutspur zog sich seitlich über den blassgelben Strampelanzug. Zum Glück schien das Kleine wohl mit einem oberflächlichen Streifschuss davongekommen zu sein. Trotzdem brauchte es einen Arzt. "Das Baby muss ins Krankenhaus!", sagte er eindringlich.
    "Es wird schon nicht abkratzen, bis deine Kollegen die Kohle beschafft haben", bekam er zu hören. "Und damit Schluss. Ich diskutiere nicht mit dir." Der Kerl unterstrich seinen Standpunkt, indem er seine Waffe drohend auf Tom richtete. Dieser presste die Lippen zusammen und nickte widerstrebend. "Verraten Sie mir wenigstens, wie es heißt?", fragte er nach kurzem Zögern.
    "Keine Ahnung. Interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass es ´ne Zicke ist. Wie seine verdammte Mutter", fügte der Verbrecher geringschätzig hinzu. Dann widmete er seine volle Aufmerksamkeit wieder den Aktivitäten draußen. Beobachtete argwöhnisch die Kollegen des SEK, welche sich mittlerweile auf dem Gelände verteilten.
    Tom dagegen bemühte sich, wenigstens mit einer Hand an das Baby zu kommen. Seine um das Heizungsrohr geschlungenen Arme hatten trotz der Handschellen ein bisschen Bewegungsfreiheit. Es wurde keine sehr bequeme Stellung. Aber er schaffte es, das Kind näher an sich zu ziehen und etwas zu drehen, bis er sein Köpfchen erreichte.
    "Sch, sch... Ist ja gut, Kleines", sprach er es leise an. Sanft strich er über den weichen Flaum. Immer wieder. Murmelte dabei zusammenhanglose, aber beruhigende Worte. Ignorierte den bewaffneten Gangster am Fenster, schaltete ab. Er tauchte völlig ein in diese auch ihm Trost spendende Ablenkung. Es gab nur noch das hilflose Geschöpf auf seinem Schoß und ihn.


    ***

  • Freitag, 16:12 Uhr, Neuss, ehemaliges Kontorhaus im Hafengelände


    Anna Engelhardt wanderte nervös zwischen den Einsatzfahrzeugen auf und ab. Immer wieder glitt ihr Blick zu dem Fenster, hinter welchem sie den Gangster und seine Geiseln wusste. Starrte ständig auf die Uhr. Beobachtete die Strasse, ob der Wagen mit dem Geld endlich kam. Strich sich unabläßig vorwitzige Haarsträhnen hinters Ohr.
    Semir trat zu ihr. Er zögerte kurz, bevor er ihr beruhigend die Hand auf den Arm legte. "Ich hatte zuerst auch Angst, ob er damit fertig wird. Aber es ist nicht dasselbe wie damals, Chefin", meinte er leise. Sie schaute ihn an. "Ich weiß. Trotzdem möchte ich ihn so schnell wie möglich heil da raus haben", erwiderte sie. "Und das Baby selbstverständlich auch", fügte Anna noch hinzu.
    "Gibt es schon etwas Neues von der Frau?", wechselte sie das Thema. "Ja. Sie schwebt nicht in Lebensgefahr. Die Kugel hat keine Organe verletzt", berichtete Semir. "Gut. Dann kann man sie wenigstens für diese Sauerei zur Verantwortung ziehen", bemerkte die Engelhardt. "Wie kann man ein Kind in derartige Gefahr bringen?" Sie schüttelte den Kopf. "Die Denkweisen mancher Menschen werde ich niemals nachvollziehen können..."
    Semir nickte zustimmend, antwortete jedoch nicht. Stattdessen fischte er sein vibrierendes Handy aus der Jackentasche. "Ja, Semir", meldete er sich. Seine Augen wurden schmal. ?"Augenblick, ich gebe Ihnen meine Chefin", sagte er und hielt Anna das Telefon hin. "Unser Freund da oben, mit Toms Handy", erklärte er. Sie nahm den Apparat. "Engelhardt. Wie geht es Herrn Kranich und dem Baby?", fragte sie sofort.
    Ein hartes Lachen klang durch den Äther. "An dem Bullen ist eine Kinderschwester verloren gegangen", spottete der Gangster. "Richtig rührend, wie er das Gör zur Ruhe bekommen hat und verhätschelt. Aber Schluss damit. Wie weit sind Sie mit meinem Geld"- - "Ich erwarte es jeden Moment", entgegnete Anna. "Zusammen mit Ihrem Fluchtwagen." - "Gut. Rufen Sie mich an, wenn alles fertig ist." Damit beendete der Mann das Gespräch.
    Semir sah sie erwartungsvoll an, während er sein Handy wieder einsteckte. "Tom kümmert sich anscheinend um das Baby", gab die Chefin die Aussage des Geiselnehmers wieder. "Und wohl mit Erfolg, es soll ruhig sein." Gerkhan lächelte erfreut. "Das ist gut. Dann hat er wenigstens keine Zeit, Angst um sich selbst zu haben." In diesem Augenblick erschien der Konvoi mit dem Lösegeld am Ende der Straße.


    ***

  • Freitag, 16:31 Uhr, Neuss, ehemaliges Kontorhaus im Hafengelände


    Der Räuber warf Tom den Handschellenschlüssel hin. "Eine aufschließen, den Arm vom Rohr und wieder fesseln", kommandierte er knapp. Dabei richtete er seine Pistole auf das Baby, welches noch immer auf Toms Schoß lag. Kranich gehorchte widerspruchslos. Er würde ganz bestimmt nichts versuchen, was das kleine Mädchen gefährden könnte.
    Als die Stahlfessel erneut einrastete gab der Gangster die nächste Anweisung. "Schlüssel wieder zu mir!" Wieder befolgte Tom diese wortlos. "Jetzt hoch mit dir und dem Balg! Und wage ja nicht, es loszulassen", warnte er den Polizisten. Es war nicht gerade einfach, diesem Befehl trotz der Handschellen nachzukommen. Doch schließlich stand Kranich mit dem Baby auf den Armen vor dem Verbrecher. Sprach sanft mit der Kleinen, um sie nicht zu irritieren. "Alles in Ordnung, Engelchen. Wir machen nur einen Spaziergang", raunte er.
    In den vergangenen zwei Stunden waren sie zu einer Einheit geworden. Zunächst war es nur eine Mischung aus Beschützerinstinkt und Ablenkung gewesen. Doch je länger er sich mit dem Kindchen beschäftigte desto geborgener fühlte Tom sich auch selbst. Das Baby zwitscherte leise vor sich hin. Strahlte ihn praktisch ununterbrochen an, seit es sich beruhigt hatte.
    Ein solch intensives Leuchten hatte er zuletzt in Elenas Augen gesehen. Er ertappte sich bei dem Gedanken, ob das Kind vielleicht so ähnlich ausgesehen hätte. Sein Kind, welches mit Elena gestorben war. Bevor er es kennen lernen durfte... Ihm wurde bewusst, dass er eine tiefe Zuneigung zu diesem zarten Geschöpf in seinen Armen entwickelt hatte. Die Kleine war ihm während dieser kurzen Zeitspanne ans Herz gewachsen.
    Der Gangster trat hinter Tom, packte ihn mit festem Griff an der Schulter und presste die Pistolenmündung an seine Halsschlagader. "Los, beweg dich!", forderte er. In dieser Konstellation gingen sie durch das Gebäude hinunter bis zur Tür. Dort stoppten sie zunächst, um sich einen Überblick zu verschaffen.


    Ein dunkelblauer BMW wartete etwa fünfzehn Meter entfernt auf dem Platz vor dem Haus. Die Türen der ihnen zugewandten Beifahrerseite standen einladend offen, auf dem R?cksitz lag ein Koffer mit hochgeklapptem Deckel. Geldbündel waren darin zu erkennen. Die Einsatzfahrzeuge parkten mit großem Abstand im Halbkreis um den BMW, ließen jedoch die Zufahrt zur Stra?e großzügig frei. Dahinter standen zahlreiche Polizisten, SEK-Beamte und natürlich Semir mit der Chefin.
    Misstrauisch spähte der Gangster in die Runde. Doch er schien nichts Verdächtiges zu entdecken. Also schob er seine Geisel vorwärts, bis zum Fluchtfahrzeug. Dort warf er einen Blick in den Koffer, ohne Tom loszulassen oder die Waffe wegzunehmen. Ein zufriedenes Grunzen quittierte den Anblick der Geldscheine, ehe er die Tür zustieß. Dann dirigierte er Kranich nach vorne. "Einsteigen und durchrutschen, du fährst", bestimmte er. "Aber langsam, Bulle! Versuch ja keine Dummheiten!"
    Tom überlegte nicht lange. Zwar ging er ein gewisses Risiko ein, falls er jetzt etwas unternahm. Doch wenn er erst einmal mit dem Baby auf dem Schoß am Lenkrad saß waren sie beide diesem Kerl hoffnungslos ausgeliefert! Er tat so, als würde er gehorchen und bückte sich etwas. Gerade so, als wenn er mit seiner lebendigen Last einzusteigen versuchte.
    In derselben Sekunde, als der Kerl deswegen die Pistole von Kranichs Hals nahm reagierte dieser blitzschnell. Er wandte sich halb um und trat mit voller Kraft zu. Der Verbrecher taumelte zurück. Ein ebenso überraschter wie wütender Schrei entfuhr ihm, er schoss blind vor Zorn auf seine Geiseln. Gleichzeitig mit seinem Schuss fielen zwei weitere. Ohne einen Laut brach der Räuber tödlich getroffen zusammen.


    ***

  • Freitag, 16:37 Uhr, Neuss, ehemaliges Kontorhaus im Hafengelände


    Tom war ebenfalls zu Boden gestürzt. Er hatte sich noch gerade eben so weit zur Seite drehen können, dass er das Kind mit seinem Körper deckte, ohne es unter seinem Gewicht zu begraben. Nun lagen sie praktisch nebeneinander auf dem Asphalt. Toms Arme umfingen den weinenden Säugling noch immer schützend. Sein linker Handrücken war aufgeschärft. Er hatte die Hand beim Aufprall als Polster für das Köpfchen benutzt.
    Anna und Semir erreichten die beiden zeitgleich. "Tom! Ist alles in Ordnung mit dir?", fragte Gerkhan besorgt. "Nicht ganz...", kam dessen gepresst klingende Antwort. "Aber ich glaube, es ist nur ein Streifschuss." Die Chefin nahm ihm behutsam das plärrende Baby ab, hob es hoch und wiegte es beruhigend. "Na du Armes? Noch so klein und musst schon so furchtbare Dinge erleben..." murmelte sie mitfühlend.
    Semir befreite seinen Freund unterdessen von den Handschellen und half ihm vorsichtig auf. Eine langsam breiter werdende rote Spur zog sich diagonal über Kranichs rechte Rückenseite. "Mensch, Tom! Der Mistkerl hat genau dieselbe Stelle erwischt wie das Pferd", meinte Gerkhan grinsend. "Das erklärt wenigstens, warum es so verdammt weh tut", ging Tom auf den Scherz ein. Er musste trotz seiner Schmerzen schmunzeln.
    Dann trat er zur Chefin, schaute das kleine Mädchen liebevoll an und streichelte es zärtlich. "Tut mir Leid, mein Engel. Ich wollte dich nicht erschrecken. Aber die Sache musste ein Ende haben. Schließlich brauchst du doch ein Fläschchen und frische Windeln, nicht wahr?" Er versenkte seinen Blick tief in die ängstlichen Augen des Babys. Spürte eine innere Wärme, die er verloren glaubte. Von welcher er dachte, sie mit Elena begraben zu haben.
    Er vergaß die Welt um sich herum. Registrierte weder Schmerzen noch den Notarzt, der sich seine Verletzung ansehen wollte. Auch Semir und die Engelhardt existierten nicht in diesem neuen Universum, welches er soeben betreten hatte. Ohne zu fragen oder ihren Protest zu beachten nahm er der Chefin das weinende Baby aus dem Arm, drückte es sanft an sich. Leise, unverständliche Worte flüsternd ging er mit ihm zu einem der wartenden RTW´s.
    Anna und Semir starrten ihm völlig perplex hinterher. Ihre Verwirrung wurde noch größer, als sie nur Sekunden später eine Veränderung der Geräuschkulisse feststellten. "Es hat aufgehört zu weinen", bemerkte Semir überrascht. "Ja. Und zwar verdammt schnell..." Anna schüttelte verwundert den Kopf. "Wie macht er das?" Semir hob ratlos die Schultern. "Keine Ahnung. Aber es katapultiert ihn schlagartig auf Rang 1 meiner Liste zukünftiger Babysitter", feixte er.
    Die Chefin wandte sich um und schaute ihn eindringlich an. "Gibt es da vielleicht etwas, das ich wissen sollte? Immerhin geht es um meine Sekretärin!" Semir kratzte sich verlegen am Kinnbart. "Nun ja... Wir haben noch keine Bestätigung vom Arzt. Aber Andrea ist mit ihrer Regel schon zehn Tage überfällig...?, gestand er.


    ***

  • Freitag, 18:53 Uhr, Neuss, Lukaskrankenhaus


    "Verflixt, Semir! Jetzt fahr endlich mit Andrea nach Straßburg", stöhnte Tom. "hr habt euch seit einer halben Ewigkeit auf dieses Wochenende gefreut. Ich liege schließlich nicht im Sterben, dass du unbedingt meine Hand halten musst."- "Aber es geht dir trotzdem nicht gut", konterte Gerkhan und verschränkte demonstrativ die Arme vor der Brust.
    "Ich habe eine Gehirnerschütterung und einen Streifschuss. Das heilt beides auch wieder, wenn du nicht hier herumhockst", stellte Kranich trocken fest. "Genauso wie die Platzwunde über der Schläfe und die aufgeschürfte Hand", bestätigte Andrea lächelnd. Sie zog ihren Mann an sich und hauchte ihm einen Kuss auf die Wange. "Komm, mein Schatz. Dein Partner möchte seine Ruhe haben, falls du es nicht gemerkt hast", sagte sie.
    "Natürlich habe ich. Darum geht es doch gar nicht." Semir schüttelte missbilligend den Kopf. "Herr Kranich hat eine chronische Aversion gegen ärztliche Anordnungen. Ich bin sicher, dass er sich heimlich aus dem Staub macht, sobald ich den Rücken drehe statt sich auszukurieren." - "Dieses Mal nicht", versprach Tom und hob die rechte Hand. "Du hast mein Wort, dass ich mich nicht vom Klinikgelände entferne, bevor ich es offiziell darf!"
    Ein skeptischer Blick traf ihn. "Bist du wirklich krank oder was hält dich hier fest?", wollte Semir wissen. Tom zögerte mit der Antwort. Würde sein Freund ihn verstehen" "Die Kleine...", gestand er verhalten. "Ich möchte sie nicht allein lassen." Eine Weile war es vollkommen still im Raum. Schließlich meinte Semir: "Tom... Ich kann nachvollziehen, dass du etwas für das Baby empfindest. Aber vergiss nicht, dass es unter der Aufsicht des Jugendamtes steht. Das bedeutet, es kommt ins Heim oder zu einer Pflegefamilie, sobald die Ärzte seiner Entlassung zustimmen." Er holte tief Luft. "Und dann siehst du es vermutlich niemals wieder..."
    Kranich wandte sich ab und starrte mit zusammengepressten Lippen aus dem Fenster. "Ich weiß...", erwiderte er tonlos. "Wenigstens wird es dort besser für sie sein als bei der kriminellen Mutter." - "Das steht außer Frage. Trotzdem solltest du dich jetzt schon zurückziehen, bevor es dir richtig weh tut. Je mehr du dich mit dem Kind beschäftigst desto schlimmer wird der Abschied", riet Gerkhan seinem Partner.
    Andrea nickte mitfühlend. "Semir hat Recht, Tom. Auch wenn es schwer fällt - es ist besser für dich, Abstand zu halten." Sie strich unwillkürlich mit der Hand über ihren Bauch. Dachte an das winzige Geschöpf, welches wahrscheinlich in ihr heranwuchs. Und auch daran, wie sehr Tom sich damals gefreut hatte, als Elena schwanger war. Offensichtlich hatte er diesen entsetzlichen Verlust wohl doch nicht ganz überwunden.
    "Nun verschwindet endlich! Sonst seid ihr erst nach Mitternacht in eurem Hotel", forderte Kranich seine Freunde mit einem schiefen Lächeln auf. "Ich komme schon klar." Semir und Andrea wechselten einen Blick, bevor sie zustimmten. "Okay. Dann gute Besserung und bis Montag" verabschiedeten sie sich. "Danke. Und euch viel Spaß!", wünschte Tom. Gleich darauf fiel die Tür hinter den beiden ins Schloss. Keine fünf Minuten später kletterte Kranich aus dem Bett, zog sich an und verschwand in den weitläufigen Gängen der Klinik.


    ***

  • Sonntag, 15:06 Uhr, Neuss, Lukaskrankenhaus


    Verblüfft schaute Anna Engelhardt sich im Zimmer ihres Ermittlers um. Weit und breit keine Spur von ihm oder seinen Sachen. Sie ging zur Stationsleitung und erkundigte sich bei der diensthabenden Schwester. "Entschuldigen Sie, ich suche Herrn Kranich von Zimmer 207." - 2Herr Kranich wurde gestern Nachmittag entlassen", gab diese bereitwillig Auskunft.
    "Was? Er sollte doch mindestens drei bis vier Tage hier bleiben?!", wunderte Anna sich. "Hm... Ja. Aber..." Die Schwester zögerte, bevor sie der Engelhardt zuraunte: "Ich weiß auch nicht, was genau vorgefallen ist. Fragen Sie am besten mal Professor Dr. Kühl von Abteilung K4, das ist die Säuglingsstation. Der hat hier einen Mordsaufstand gemacht. Gleich danach hat unser Oberarzt die Entlassungspapiere für Herrn Kranich ausgestellt."- "Aha... Danke für die Auskunft?, meinte Anna stirnrunzelnd.
    Zehn Minuten später und etliche steril wirkende Flure weiter saß sie dem Oberarzt der Kinderabteilung, Dr. Michael Gerigk, in dessen Büro gegenüber. "Ich kann Ihre Verwunderung verstehen, Frau Engelhardt. Es geht mir ehrlich gesagt auch nicht anders", bemerkte er achselzuckend. "Ich habe so etwas jedenfalls noch nicht erlebt." - "Was genau meinen Sie?"
    Gerigk lehnte sich zurück. "Das Baby von dieser Kriminellen - sie heißt übrigens Christine Beyer - kam mit einer äußeren Verletzung und in ziemlich vernachlässigtem Zustand hier an. Wir haben die Wunde versorgt, es gebadet, gefüttert und ins Wärmebettchen gelegt. Kurz, alles uns Mögliche für das Kind getan. Trotzdem hörte es nicht auf zu weinen. Die Schwestern haben die ganze Nacht versucht, es zu beruhigen. Ohne Erfolg", berichtete er. "Was hat Herr Kranich damit zu tun?", hakte Anna ein.
    "Herr Kranich kam bereits Freitagabend hierher und bat darum, das Baby besuchen zu dürfen. Da er kein Verwandter ist und auch keine Genehmigung des Jugendamtes hatte mussten wir ihn natürlich abweisen. Gestern Morgen ist es ihm irgendwie gelungen, sich in ihr Zimmer zu schleichen, ohne bemerkt zu werden. Als Schwester Cecilia ihn entdeckte saß er mit der Kleinen auf dem Arm im Baderaum."Gerigk machte eine Pause, bevor er hinzufügte: "Das Erstaunliche ist, dass die Schwester nichts gehört hat. Sie ist zufällig in diesen Raum gegangen, um etwas zu holen."
    Anna schaute ihn nachdenklich an. "?Sie meinen, das Baby hat bei ihm nicht mehr geweint" Seltsam. Genauso war es bei der Geiselnahme", murmelte sie. "Als wenn er irgendetwas an sich hat, was sie beruhigt."- "Scheint so. Trotzdem können wir eine solche eigenmächtige Handlungsweise natürlich nicht dulden. Wo kämen wir hin, wenn jeder X-Beliebige nach Lust und Laune zu den Babys spazieren darf? Können Sie sich vorstellen, was das für den Ruf unserer Klinik bedeuten würde? Das Vertrauen der Mütter in die Sicherheit ihrer Kinder wäre vollkommen zerstört! Und die zuständige Betreuerin vom Jugendamt war auch nicht gerade begeistert...", fügte er hinzu.
    Anna nickte unangenehm berührt. "Sie haben ihn nach diesem Vorfall hinausgeworfen", vermutete sie. "Nein, nur mit einer klaren Ansage von der Station verwiesen. Der Knall kam erst ein paar Stunden später, als er trotz ausdrücklichen Verbots erneut versuchte, zu ihr zu gelangen. Unser Chefarzt, Professor Dr. Kühl, hat ihn persönlich dabei erwischt und daraufhin für seine sofortige Entlassung gesorgt. Darüber hinaus hat er Hausverbot. Außer im lebensbedrohlichen Notfall. Dann nehmen wir ihn selbstverständlich trotzdem auf", fügte Gerigk hinzu.
    "Anscheinend ist es höchste Zeit, dass ich ein ernstes Wörtchen mit ihm rede", stellte die Chefin trocken fest. "Bei allem Verständnis für seine Gefühle gegenüber dem Kind - ein solches Verhalten ist für einen Hauptkommissar nicht tragbar. Eine gewisse Disziplin erwarte ich von meinen Mitarbeitern, auch wenn ich ihnen große Freiräume lasse. Und bisher hervorragende Erfahrungen damit gemacht habe..."
    Gerigk lächelte schwach. "Ich denke, ich weiß, was Sie meinen. Herr Kranich ist mir nämlich keineswegs unsympathisch. Und er hat die Kleine sehr gern. Hätte sich bestimmt vorbildlich um sie gekümmert, wenn er gedurft hätte. Aber ohne offizielle Erlaubnis konnte ich das beim besten Willen nicht gestatten." - "Nein, natürlich nicht..."
    Einen Augenblick schwiegen beide. Schließlich sagte Anna: "Wo ich schon mal hier bin - können sie mir für unsere Akten bitte ein paar Informationen über das Kind geben"Wie heißt sie? Und wie alt ist sie?", wollte sie wissen. "Ziemlich genau sechs Wochen, sie ist am 3. Februar geboren. Frau Beyer hat sie ohne ärztliche Hilfe zur Welt gebracht, auch nirgendwo angemeldet. Sie hat gegenüber dem Jugendamt deutlich gemacht, dass sie ein "Unfall" war. Unerwünscht. Sie hat viel zu spät gemerkt, dass sie schwanger war. Sonst hätte sie abtreiben lassen. Deshalb hat sie ihr auch keinen Namen gegeben. Und sie dementsprechend vernachlässigt..."
    Gerigk seufzte. "Wenigstens hat sie heute Vormittag die Freigabe zur Adoption unterschrieben. Wohl das erste Vernünftige, was sie für ihr Töchterchen getan hat." "Ja, das scheint mir auch so", bestätigte Anna die Meinung des Arztes. "Vielen Dank, Herr Doktor." - "Gern geschehen, Frau Engelhardt. Auf Wiedersehen. Und viel Glück für das Gespräch..."


    ***

  • Sonntag, 18:21 Uhr, K?ln, Tom Kranichs Wohnung


    "Was haben Sie sich bloß dabei gedacht, Tom? Sie können von Glück sagen, dass Sie nicht auch noch wegen Hausfriedensbruch angezeigt wurden!" Anna Engelhardt saß ihrem Mitarbeiter in dessen Wohnzimmer gegenüber. Ihr prüfender Blick las die Antwort bereits in seinem Gesicht, bevor er nach einigem Zögern erwiderte: "Es tut mir Leid, Chefin. Aber ich konnte einfach nicht anders." Er fuhr sich in einer hilflos wirkenden Geste durchs Haar. "Ich werde verrückt bei dem Gedanken, dass sie in ihrem Bettchen liegt und weint. Bestimmt hat sie Angst, fühlt sich allein..." - "So wie Sie...", meinte Anna leise.
    Schweigen. Zusammengepresste Lippen und Wegschauen waren die einzigen Reaktionen auf ihren Schuss ins Blaue. Bestätigten ihre Vermutung. Behutsam sprach sie weiter. "Tom... Sie haben schon sehr lange keine Beziehung mehr gehabt, fühlen sich vermutlich einsam. Das Baby hat Ihnen das Gefühl gegeben, endlich etwas für sich zu haben. Ihre Liebe jemandem schenken zu können, der sie braucht. Ich verstehe das. Aber es nicht Ihr Kind. Sie werden es niemals wiedersehen, sobald es eine Pflegestelle hat."
    "Das weiß ich, verdammt noch mal", brach es aus Kranich heraus. Die Verzweiflung über diese unabänderliche Tatsache stand deutlich in seinen traurigen Augen. "Trotzdem liebe ich sie!" Erschrocken starrte er seine Chefin an. Hatte er eben tatsächlich eingestanden, sein Herz an dieses zauberhafte Geschöpf verloren zu haben? Verlegenheit breitete sich auf seinem Gesicht aus. Eine zarte Röte zog sich über seine Wangen.
    Anna Engelhardt lächelte mitfühlend. "Das verstehe ich ja auch. Sie ist wirklich ein kleiner Schatz. Aber so schwer es Ihnen fällt - Sie müssen sich damit abfinden, dass Ihre Gefühle für das Kind keine Zukunft haben." Sie erhob sich und trat zu ihm. Legte ihre Hand auf seine Schulter und drückte sie kurz. "Mir ist klar, dass es weh tut. Auch, dass es nicht von heute auf morgen geht. Aber versuchen Sie es bitte. Ihnen selbst und uns allen zuliebe, ja?"
    Tom senkte den Kopf. Nickte kaum sichtbar. "Okay...", murmelte er so leise, dass Anna ihn kaum verstand. "Ich bin jederzeit für Sie da, falls Sie zwischendurch Gesprächsbedarf haben", bot sie ihm an. Er hob den Blick zu ihr und lächelte schwach. "Danke, Chefin." - "Schon gut, dafür sind wir doch praktisch wie eine Familie" erwiderte sie. "Erholen Sie sich noch ein paar Tage. Vor Mittwoch will ich Sie nicht im Revier sehen. Und vor allem - keine weiteren Dummheiten, verstanden"- - "Versprochen", akzeptierte Kranich die Anordnungen seiner Vorgesetzten.
    Als sie gleich darauf gegangen war holte er sich eine Flasche Rotwein und ein Glas. Mit jedem Schluck schien er sich leichter, besser zu fühlen. Doch er wusste, dass er sich selbst betrog. Dass es ihm morgen früh wesentlich schlechter gehen würde. Trotzdem trank er weiter. Langsam. Genoss jeden Moment, in welchem der gleichzeitig samtene und fruchtige Wein seine Kehle hinabfloss. Ihn von innen wärmte.
    Er strich mit den Fingern so liebevoll über die Flasche, als wäre sie das Baby. Sah mit jedem Tropfen der roten Flüssigkeit die schmale Blutspur an ihrem Strampelanzug vor sich. Seine Augen spiegelten sich im Glas. Wurden zu ihren Augen. Strahlten ihn an. Leuchteten wie Sterne...
    Plötzlich sprang er auf, schleuderte das Glas mit aller Kraft gegen die Wand. Es zerbrach mit lautem Klirren. Scherben und Rotweinspritzer flogen durch das halbe Wohnzimmer. Er achtete nicht darauf, sank auf den Sessel zurück und vergrub schluchzend das Gesicht in den Händen. "Oh Gott, warum? Warum darf ich nicht für sie da sein? Ich liebe den kleinen Engel doch so sehr!"


    ***

  • Drei Wochen später


    Mittwoch, 10:47 Uhr, Düsseldorf, Büro von Staatsanwalt Dr. Simon Kämpfer


    Eigentlich hatten Semir und Tom ziemlich gute Laune gehabt. Diese verflog jedoch schlagartig, als sie das Büro des Staatsanwalts betraten. Sie hatten sich ohnehin gefragt, was Dr. Kämpfer noch zum Fall Christine Beyer von ihnen wollte. Schließlich waren sämtliche Aussagen und Berichte längst vom Tisch. Die Räuberin saß mittlerweile in Untersuchungshaft und erwartete ihren Prozess. Insofern betrachteten die beiden Kommissare die Angelegenheit als erledigt.
    Abgesehen von Toms nach wie vor sehr intensiven Gefühlen für das Kind der Frau. Er konnte diese zwar so weit kontrollieren, dass sie sich im Alltag nicht störend bemerkbar machten. Aber jedes Mal, wenn er ein Baby sah oder beobachtete, wie glücklich Semir und Andrea über deren Schwangerschaft waren spürte er einen bohrenden Schmerz.
    Nun standen sie nicht nur dem Staatsanwalt und Frau Beyers Pflichtverteidiger Bernd Nolte gegenüber. Sondern auch einem Mann, den eigentlich kein Angehöriger der Autobahnpolizei jemals wieder sehen wollte. "Guten Tag. Wie geht es Ihnen?", begrüßte Hauptkommissar Christian Lehmann vom BKA die beiden und hielt ihnen die Hand hin. Gleich darauf zog er sie unangenehm berührt wieder zurück, weil Tom und Semir sie geflissentlich ignorierten.
    Dr. Kämpfer hob nur eine Augenbraue, Nolte machte ein fragendes Gesicht. Doch keiner gab einen Kommentar zu diesem Verhalten ab. "Danke, dass Sie gleich gekommen sind", begann der Staatsanwalt. "Wir haben den dringenden Verdacht, dass Christine Beyer an einem weiteren Verbrechen beteiligt war, dass Sie betrifft."
    Erstaunt blickten Kranich und Gerkhan sich an. ?Und was hat Lehmann damit zu tun?" wollte Semir wissen. Seine Stimme hatte einen bei ihm seltenen kühlen Klang. "Es war sein Fall. SoKo 24. Die Erpresserbande, deren Opfer auch Herr Kranich wurde", erkl?rte Kämpfer. Tom spürte, wie sich seine Haut zusammenzog. Eisige Kälte kroch jäh durch seine Adern.
    "Frau Beyers Fingerabdrücke sind mit jenen identisch, welche damals in dem Resthof gefunden wurden", fuhr Lehmann jetzt fort. "Aber das allein ist kein Beweis, dass sie Ihre Wächterin war. Nur ein Indiz, dass sie dort gewesen ist. Also haben wir Sie hergebeten, um die Frau anhand der Stimme zweifelsfrei zu identifizieren." Semir erschrak über die plötzliche Blässe im Gesicht seines Partners. Sah den tiefen Schmerz in seinen Augen. Und geradezu panische Angst!
    Beruhigend legte er eine Hand auf Toms Arm. "Ich glaube, das ist keine gute Idee", bemerkte er. "Herr Kranich... Uns ist klar, dass es nicht leicht für Sie ist. Aber Sie wollen doch sicher auch, dass die Verantwortliche bestraft wird?!", hakte K?mpfer nach. "Ja... Nein... Ich..."Tom stotterte bei dem verzweifelten Versuch, etwas zu sagen. Fuhr sich mehrmals mit der Linken durchs Haar.
    Er kam sich vor wie in einem Karussell. Alles schien sich zu drehen. Riss ihn in einen Strudel von Empfindungen, die er tief in sich verschüttet hatte. Welche jetzt mit aller Macht an die Oberfl?che drängten. Er registrierte nur unbewusst, dass Semir ihn am Arm zu einem der Besucherstühle zog und auf diesen drückte. "Mensch, Tom! Kipp mir bloß nicht um", sagte er dabei besorgt.
    Kämpfer ging zu seinem Telefon und wählte eine Nummer. "Dr. Harder? Sie hatten Recht. Kommen Sie bitte dazu? Danke, bis gleich." Er legte auf und verkündete: "Der Polizeipsychologe hat vermutet, dass Herr Kranich bei dieser Gegenüberstellung seine Unterstützung braucht. Er ist in ein paar Minuten hier." Semir lächelte. "Danke. Mit Dr. Harders Hilfe schafft er es sicher!"


    ***

  • Mittwoch, 11:19 Uhr, Düsseldorf, Staatsanwaltschaft, Verhörzimmer


    Die Befragung von Christine Beyer zu der Entführung war bisher ergebnislos verlaufen. Sie stritt erwartungsgemäß ab, etwas damit zu tun zu haben. Ihre Fingerabdrücke stammten angeblich davon, dass sie den leerstehenden Resthof einmal als Unterschlupf genutzt hatte. Eine Spiegelscheibe erlaubte den beiden Autobahnpolizisten, das Verhör vom Nebenzimmer aus zu verfolgen, ohne selbst gesehen oder gehört zu werden.
    Kranich hatte der Unterhaltung konzentriert, mit geschlossenen Augen gelauscht. Doch immer wieder den Kopf geschüttelt."Die Stimme war ähnlich. Aber dunkler. Nicht so kalt und schrill", meinte er, als der Staatsanwalt zu ihnen herüberkam. Trotzdem bebte er am ganzen Leib. Die enorme Anspannung war ihm deutlich anzumerken. "Dann bleibt uns nur die harte Methode "direkte Gegenüberstellung", stellte K?mpfer fest. "Vielleicht verrät sie sich dabei."


    Mit weichen Knien betrat Tom nach Dr. Kämpfer den Raum. Dr. Harder blieb dicht hinter ihm. Er wusste, dass die Situation eine übermenschliche Belastung für seinen Patienten bedeutete. Versuchte, ihm die nötige Kraft zu übertragen.
    "Hallo, wen haben wir denn da?", begrüßte Christine Beyer die beiden Neuankömmlinge freundlich. Ihr Tonfall und die Tonlage hatten sich schlagartig geändert. "Ich wusste gar nicht, dass es auch attraktive Bullen gibt", meinte sie leicht spöttisch. Doch es schwang auch ein Hauch Erotik in ihrer plötzlich viel weicheren Stimme mit. Weder Harder noch Kämpfer hatten mit dem gerechnet, was folgte...
    Kranichs Augen weiteten sich in panischem Entsetzen. Ein gequälter Laut entfuhr ihm, er begann zu taumeln. Harder schob ihn reaktionsschnell auf den nächsten Stuhl. Dort sackte Tom förmlich in sich zusammen. Er schlug die Hände vors Gesicht, schüttelte verzweifelt den Kopf. "Nein... Bitte...", stammelte er. "Sie soll still sein! Ich ertrage diese Stimme nicht!"
    Einen Augenblick herrschte befangenes Schweigen im Raum. Bis Semir die Tür aufriss, rücksichtslos hinter sich zuknallte und sich neben seinen Freund stellte. Ihm tröstend die Schultern drückte. "Das ist wohl Beweis genug, oder? Kann er jetzt endlich hier weg?" schnauzte er den Staatsanwalt an. "Es tut mir Leid, Herr Gerkhan. Aber ich muss die klare Aussage von Herrn Kranich hören, dass er Frau Beyer identifiziert hat", erwiderte Kämpfer bedauernd.
    Die Beyer lachte kehlig und sah die zitternde Gestalt mit einem merkwürdigen Blick an. "Ich habe mich schon die ganze Zeit gefragt, wann du dahinter kommst. Seit ich erfahren habe, wer mir die Kugel verpasst hat warte ich auf deinen Besuch." Sie machte eine Pause, bevor sie hinzufügte: "Zuckerbulle..."
    Mit einem Schrei, der dem eines verwundeten Tieres glich, sprang Tom auf und starrte sie an. "Nennen Sie mich nie wieder so! Nie wieder, verstanden?", schrie er. In seinen Augen stand eine verwirrende Mischung aus Hass und unendlichem Schmerz. Nackte Verzweiflung. Welche sich noch zu vertiefen schien, als die Beyer erneut lachte.
    "Gefällt dir dein Kosename nicht mehr? Ich dachte du magst es, wenn ich dich so nenne..." Sie lehnte sich betont langsam auf ihrem Stuhl zurück. Lächelte herablassend. "Hat dir die Zeit bei mir etwa doch nicht gefallen? Sollte ich mich so getäuscht haben?"Sie zog einen Schmollmund. "Schade. Dabei hatten wir doch so viel Spaß zusammen, Zuckerbulle..." Tom stöhnte auf. Ließ sich einfach zurück auf den Stuhl fallen. Vergrub das Gesicht erneut in den Händen. Begann zu schluchzen. "Bitte... Hören Sie auf!", flehte er dabei.


    ***

  • Mittwoch, 11:32 Uhr, Düsseldorf, Staatsanwaltschaft, Verhörzimmer


    Dr. Kämpfer räusperte sich vernehmlich, bevor er die Verbrecherin ansprach. "Heißt das, Sie und Herr Kranich hatten während seiner Gefangenschaft sexuellen Kontakt?" "Allerdings", gab Christine Beyer mit einem breiten Lächeln zu. Dann strich ihre Zungenspitze genießerisch über ihre Lippen. "Er war einfach traumhaft. Ich hatte selten einen so guten Liebhaber", verriet sie.
    "Halt endlich den Mund, Miststück!", entfuhr es Kranich. "Hast du noch nicht genug angerichtet?" Doch seine Stimme strafte den Zorn der Worte Lügen. Sie klang noch ebenso erstickt wie zuvor. Die Beyer lachte schallend. Es war offensichtlich, dass sie die Situation genoss.
    "Ich denke, wir gehen besser nach nebenan", schlug Dr. Harder vor. Er zog Kranich mit sanfter Gewalt vom Stuhl und schob ihn aus dem Raum. Semir nahm Toms anderen Arm. Zusammen führten sie ihn zurück in das Nebenzimmer, wo er sofort auf den nüchstbesten Stuhl sank. Staatsanwalt Kämpfer und Verteidiger Nolte folgten unmittelbar darauf.
    Semir hockte sich vor seinen Partner und schaute ihn forschend an. "Tom... Hast du wirklich mit ihr geschlafen?", fragte er. Sein Tonfall war ernst. Er hoffte inständig, dass die Frau log. Dass sein Freund sich nicht schuldig gemacht hatte. Doch tief in seinem Innern spürte er, dass sie die Wahrheit sagte. Dass sie tatsächlich mit Tom intim gewesen war...
    "Nein!", wehrte Kranich vehement ab. Er hob den Kopf. Das unermessliche Leid in seinen Augen versetzte Semir schlagartig viele Monate zurück. An den Augenblick, als er Tom gefunden und befreit hatte. Genau dieselbe Qual stand jetzt wieder darin. "Sie hat mich..." Tom presste die Lippen zusammen, wich Semirs Blick aus. Seine Kiefer wirkten hart wie Stein, die Wangenmuskeln zuckten unaufhörlich.
    "Ich konnte doch nichts dagegen tun", brach es schließlich aus ihm heraus. "Ich konnte nichts sehen, mich nicht rühren... Und plötzlich waren ihre Hände da... überall... Schoben meinen Pullover hoch, öffneten meine Hose... Zogen sie runter bis zu den Knien... Die Unterhose auch... Und als ich auf die einzig mögliche Art versuchte, mich zu wehren... Mich darauf konzentrierte, nicht zu wollen... Da hat sie... Sie hat..."
    Er schluckte, holte einmal tief Luft und gestand endlich ein, was er eigentlich für den Rest seines Lebens geheim halten wollte. "Sie hat mir die Schlinge um den Hals gelegt und mich stranguliert. So lange, bis... " Er senkte den Kopf, fuhr sich aufstöhnend mit beiden Händen durchs Haar.
    "...bis es automatisch zu einer Erektion kam", vollendete Dr. Harder den Satz leise. "Herr Kranich... War das nur eine einmalige Sache oder..." Tom kämpfte mit sich. Sein Kiefer mahlte. "Nein... Jeden verdammten Tag... Immer und immer wieder...", quetschte er mühsam hervor, ohne jemanden anzusehen.

  • Niemand sprach ein Wort. Die Erschütterung über das wahre Ausmaß von Toms Martyrium stand allen ins Gesicht geschrieben. Erst nach einer ganzen Weile gelang es Semir, den Schock abzuschütteln. Sich so weit zusammenzureißen, seinen Freund voller Mitgefühl in den Arm zu nehmen. Tom brauchte seine Hilfe, seine Stärke jetzt mehr denn je...
    Dr. Harder räusperte sich. "Ich muss Sie vorläufig für dienstunfähig erklären, Herr Kranich. Und wir werden uns in nächster Zeit täglich, mindestens jedoch alle zwei Tage sehr intensiv unterhalten", stellte er klar.
    Tom nickte schwach, ohne den Kopf zu heben. Seine Hand tastete zaghaft nach der seines Partners auf seiner Schulter. Schob sich zögernd darauf. Er schloss mit einem dankbaren Lächeln die Augen, als Semir die andere Hand noch darüber legte. Der sanfte, freundschaftliche Druck hatte etwas Tröstendes.
    Seltsam... So verzweifelt Tom auch über die Enth?llung seines schrecklichen Geheimnisses war - er empfand gleichzeitig eine gewisse Erleichterung. Ihm schien, als könnte er auf einmal freier atmen. Fü?hlte sich von der schweren Last befreit, die seit damals sein Herz bedrückt hatte. Wenn da nur nicht die lähmende Angst vor der Presse gewesen wäre...


    "Tja... Wie es aussieht erhöht sich die Liste der Anklagepunkte gegen Ihre Mandantin ziemlich massiv, Herr Nolte", bemerkte Dr. Kämpfer. "Nicht nur bewaffneter Raubüberfall mit schwerer Körperverletzung und versuchter Mord an den Herren Gerkhan und Kranich, sondern auch noch Entführung und Vergewaltigung..." Tom zuckte hoch. "Nein! Bitte... Wenn Sie das öffentlich machen kann ich mich nirgends mehr sehen lassen! Geschweige denn, meinen Beruf noch weiter ausüben... Ich wäre das Gespött von ganz Deutschland! Dann kann ich mich auch gleich erschießen?, beschwor er den Staatsanwalt.
    Dieser schaute ihn nachdenklich an. Erkannte die Verzweiflung in den flehenden Augen des Polizisten. "Ich verstehe...", meinte er leise und wandte sich dem Kollegen von der Verteidigung zu. "Herr Nolte... Lassen Sie uns bitte gemeinsam mit Richter Hübner sprechen. Vielleicht können wir ja eine für alle Beteiligten akzeptable Übereinkunft erzielen, die Vergewaltigung aus dem Prozess rauszuhalten." - "Selbstverständlich", stimmte Nolte sofort zu.
    Ein Hoffnungsschimmer war in Toms Augen zu erkennen, als er von dem Rechtsanwalt zu Kämpfer schaute. "Wenn das möglich wäre...", flüsterte er mit rauer Stimme. "...dann brauche ich mir keinen neuen Partner suchen", setzte Semir den Satz gespielt fröhlich fort. "Und du weißt schließlich am besten, wie schwer das w?äe. Bei meinen Ansprüchen..."


    ***

  • Donnerstag, 15:08 Uhr, PAST


    "Schön, dass Sie kommen konnten, Tom", begrüßte Anna ihn. "Wie geht es Ihnen?2 Er wiegte den Kopf etwas hin und her. "Danke, geht so", erwiderte er, während er sich auf die angebotene Besuchercouch setzte. Semir nahm neben ihm Platz. "Dr. Harder meint, es wird ein hartes Stück Arbeit für mich, über alle notwendigen Einzelheiten zu sprechen. Aber er ist auch zuversichtlich, dass ich mit der Zeit darüber hinwegkomme", berichtete Kranich.
    "Das freut mich." Anna lächelte voller Wärme. "Ich denke, ich kann ein klein wenig dazu beitragen", eröffnete sie ihren beiden Ermittlern. "Staatsanwalt Dr. Kämpfer hat mich angerufen. Richter Hübner hat einer Übereinkunft zugestimmt."Semir und Tom sahen sich Überrascht und erfreut an. "Und wie lautet die?", erkundigte Gerkhan sich. "Frau Beyer wird bezüglich der Schießerei bei der Flucht nicht wegen versuchten Mordes an Ihnen beiden, sondern Widerstands gegen die Staatsgewalt angeklagt. Die...", Sie zögerte einen Wimpernschlag lang, bevor sie weitersprach: "Die Vergewaltigung fällt strafrechtlich ganz unter den Tisch. Die Gesamthaftstrafe für alle Delikte wird etwa 12 -15 Jahre betragen."
    Semir schüttelte ärgerlich den Kopf. "Das ist entschieden zu wenig für das, was sie Tom angetan hat", stellte er fest. "Dafür hat sie sich aber auch verpflichtet, bis zum Tod absolutes Stillschweigen über die Vergewaltigung zu bewahren", erinnerte Anna ihn. "Und das ist für Tom entschieden wichtiger!"
    Kranich nickte zustimmend. "Ja, auf jeden Fall! Selbst wenn sie in ein paar Jahren darüber reden würde wäre mein Leben ruiniert! Dagegen ist es mir wirklich vollkommen egal, ob sie zehn, zwanzig oder dreißig Jahre im Knast sitzt", erklärte er.
    "Bei Ihrer Zeugenaussage zur Entführung wird man Ihnen so wenig Fragen wie möglich stellen. Und natürlich darauf achten, dass Frau Beyer weder durch Worte noch durch Blicke etwas von der Intimität zwischen Ihnen erkennen lässt." - "Hoffentlich hält sie sich daran", schnaubte Semir zweifelnd. "Wenn ich an ihre Show beim Verhör denke wird mir jetzt noch übel..." Er schüttelte sich regelrecht. "Nur gut, dass dieses Luder nie wieder an ihr Baby herankommt! Wer weiß, was sie dem armen Ding alles beigebracht hätte...", sinnierte er laut.
    Anna Engelhardt holte scharf Luft, als das Kind erwähnt wurde. Beobachtete Kranich. Sie wusste, dass er sich noch nicht von seiner Zuneigung für die Kleine gelöst hatte. Zu oft sah sie die traurige Sehnsucht in seinen Augen, wenn er Andrea anblickte. Oder besser gesagt, ihren natürlich noch flachen Bauch...
    Erschrocken zuckte sie zusammen, als Tom plötzlich unerwartet aufsprang. "Mein Gott...", rief er und schlug sich mit der Hand vor die Stirn. "Ich verdammter Idiot!" Ein unerklärlicher Glanz lag in seinen weit aufgerissenen Augen. "Sie ist doch Anfang Februar geboren", sprudelte er hastig los. "Das sind ziemlich genau neun Monate!"
    Semir starrte ihn an, als wäre er nicht ganz bei Trost. "Wie, neun Monate?!", wiederholte er verständnislos. "Was meinst du?" - 2Von der Entführung bis zu ihrer Geburt!", rechnete Tom ihm vor. "Das Engelchen ist vielleicht meine Tochter!" Er schien von innen zu strahlen, als er ohne ein weiteres Wort aus der Tür störmte.


    ***

  • Freitag, 09:48 Uhr, Jugendamt Köln


    Jutta Seibold stand am Fenster ihres Büros und sah gedankenverloren hinaus. Sie musste erst verdauen, was sie soeben erfahren hatte. Noch nie in ihrer sechzehnjährigen Tätigkeit als Sozialpädagogin hatte sie etwas derart Abenteuerliches gehört. Und doch wusste sie, dass jedes Wort der Wahrheit entsprach. Ihr geschulter Instinkt, ihre Erfahrung sagten es ihr. Mehr noch als das Blatt Papier auf ihrem Schreibtisch...
    Als sie sich wieder umdrehte und ihren Besucher anschaute war ihr Blick sehr ernst. "Ist Ihnen die mögliche Tragweite Ihres Anliegens bewusst, Herr Kranich?", fragte sie ruhig. Tom nickte lächelnd. "Selbstverständlich. Da der DNA-Test des kriminaltechnischen Labors positiv ausgefallen ist, ich also ihr leiblicher Vater bin, habe ich das Recht, sie regelmäßig zu sehen", stellte er fest. Jutta Seibold spitzte die Lippen, wiegte den Kopf hin und her.
    "Ob es dem Kindeswohl entspricht, wenn ein so kleines Baby immer wieder aus seinem gewohnten Umfeld gerissen wird wage ich zu bezweifeln", erklärte sie mit sanfter Stimme. "Glauben Sie mir, Sie tun der Kleinen damit keinen Gefallen!" Sie setzte sich seufzend wieder auf ihren Stuhl. "Es fällt den Betreuerinnen im Heim auch ohne äußere Störung schon schwer genug, sie zu beruhigen. Sie weint noch immer die meiste Zeit, trinkt und schläft zu wenig..."
    "Was?" Toms Miene spiegelte Bestürzung und große Sorge wider. "Bitte, Frau Seibold. Bringen Sie mich zu ihr", bat er in eindringlichem Tonfall. "Und dann? Selbst wenn Sie es tatsächlich schaffen, das Kind zu beruhigen ? was bringt es für die weitere Pflege? Es würde sich nur noch mehr an Sie klammern, sich von niemand Anderem trösten lassen", wehrte die Pädagogin ab. "Das wäre absolut nicht sinnvoll!"
    Tom stand ruckartig auf, begann durch den Raum zu wandern. Seine Bewegungen wirkten nervös. Er strich sich mehrmals mit der Hand durchs Haar, während er nachdachte. Ein heftiger Kampf tobte in seinem Innern. Er fühlte sich zerrissen zwischen der Liebe zu seinem Töchterchen und... "All dem, wofür du bisher gelebt hast?, erinnerte ihn die Stimme seiner Loyalität nachdrücklich.
    Ja, er war Polizist mit Leib und Seele. Glaubte an das Gute und die Notwendigkeit des täglichen Engagements dafür. Doch ihm war in den dunkelsten Stunden seiner Laufbahn etwas Einzigartiges, Unvergleichliches geschenkt worden. Etwas, das ihm schon einmal durch seinen Beruf genommen wurde... Auf einmal fiel ihm die Entscheidung leicht.
    Seine Augen bekamen einen warmen Glanz. "Frau Seibold... Ich habe verstanden", sagte er. "Ich werde die volle Verantwortung für mein Kind übernehmen. Es zu mir holen und aufziehen, mit allen Rechten und Pflichten", erklärte er mit fester Stimme.
    Die Pädagogin schaute ihn verblüfft an. "Sie meinen, Sie würden Erziehungsurlaub nehmen? Und wollen immer für sie da sein? Ohne Rücksicht darauf, wie sie entstanden ist?" Sie trat direkt vor ihn und fixierte seinen Blick. "Können Sie garantieren, dass Sie das Kind niemals spüren lassen, was die Mutter Ihnen angetan hat?"
    Tom hielt dem Blick mühelos stand. "Ja, das kann ich", versprach er. "Meine Tochter ist für die Verbrechen ihrer Mutter nicht verantwortlich. Und von mir wird sie auch nichts darüber erfahren!"Seine Stimme wurde weich. "Ich liebe das Kind, Frau Seibold. Ich habe es schon geliebt, bevor ich von seiner Abstammung wusste. Und daran wird sich niemals etwas ändern..."
    Jutta musste schmunzeln, als sie an Kranichs Verhalten im Krankenhaus dachte. Ja, er hatte schon damals bewiesen, wie wichtig ihm das Baby war. Wenn auch auf die falsche Art. Doch jetzt und hier verstärkte sich mit jeder Sekunde, die sie ihm in die leuchtenden Augen sah ihr persönlicher Eindruck. Das sichere Gefühl, zwei Herzen zu vereinen, die sich längst gefunden hatten...
    "In Ordnung, Herr Kranich. Sie bekommen die Chance, ihr ein liebevoller Vater zu sein", gab sie lächelnd nach.


    ***

  • Freitag, 11:24 Uhr, Köln, Städtisches Kinderheim Köln-Sülz


    Ein zufriedenes Schmatzen füllte den Raum. Leise gemurmelte, sanfte Worte begleiteten die Mahlzeit des Kindchens. Tom hielt mit strahlenden Augen sein Töchterchen im Arm und gab ihm sein Fläschchen. Die Kleine trank hungrig, saugte die Milch mit kräftigen Mundbewegungen in sich hinein. Auch ihre Äuglein leuchteten. Blieben unbeirrt auf ihren Vater gerichtet. Ein Fäustchen umklammerte Toms Zeigefinger. So fest, als wollte sie ihn nie mehr loslassen...
    Jutta Seibold und Schwester Ramona sahen sich lächelnd an und verließen den Raum. Auf dem Flur bemerkte die Kinderschwester: "Er ist gerade rechtzeitig gekommen. Wir standen kurz davor, sie ins Krankenhaus zu bringen." Frau Seibold zog erstaunt die Augenbrauen zusammen. "Weshalb? Ist sie krank?", fragte sie. "Nein. Jedenfalls nicht physisch. Aber sie hat jeden Tag weniger getrunken, dafür immer mehr geweint..." Schwester Ramona seufzte dankbar. "Zum Glück für das Kindchen hat Herr Kranich erfahren, dass sie seine Tochter ist und auch Interesse an ihr. Ich weiß nicht, was sonst geworden wäre."
    Frau Seibold nickte langsam. "Ja, ihm liegt wirklich sehr viel an ihr. Ich hoffe nur, dass er dieser Verantwortung auch gewachsen ist. Schließlich hatte er noch nie eine Familie, war bisher ausschließlich für seinen Beruf da... Es wird gewiss nicht leicht für ihn werden!" Ramonas Lächeln vertiefte sich. "Ich habe seine Augen gesehen, als er sie in den Arm nahm. Er wird ihr ein guter Vater sein, Frau Seibold. Jedenfalls wird es diesem Kind ganz sicher niemals an Liebe fehlen..."


    Tom konnte sein Glück kaum fassen. Ihm war, als schwebte er auf einer riesigen Wolke. Ein gütiges Schicksal hatte ihm ein Kind geschenkt. Seinen größten Traum erfüllt. Sicher, seine Freude wäre vollkommen, wenn er auch eine Gefährtin hätte. Aber das Kapitel Frauen war in seinem bisherigen Leben nicht unbedingt das erfolgreichste gewesen. Entweder hatte es nicht gehalten ? oder man hatte sie ihm mit Gewalt genommen.
    Einen Augenblick verweilten seine Gedanken bei Elena und ihrem gemeinsamen Kind. Es wäre jetzt etwa vier Jahre alt. Dann wäre dieses entzückende Geschöpf auf seinem Schoß das kleine Schwesterchen. Aber nur in seiner Fantasie. In der Realität gab es nur sie. Sie allein würde sein Herz erfreuen. Ihn anlächeln, wenn sie morgens aufwachte. Genauso wenn sie abends einschlief, nachdem er ihr eine Geschichte vorgelesen hatte.
    Spontan beugte er sich etwas tiefer und strich mit den Lippen sanft über das Köpfchen des Babys. "Mein kleiner Engel", raunte er zärtlich. "Ich werde für dich da sein. Immer!", versprach er ihr. "Wir sind eine Familie. Nichts und niemand wird sich je zwischen uns stellen."


    ***

  • Freitag, 15:34 Uhr, PAST


    Anna Engelhardt starrte ungläubig auf das Gesuch in ihrer Hand. Sie hob den Kopf, fixierte den Blick ihres Gegenübers. "Drei Jahre Erziehungsurlaub?", brachte sie nur vollkommen perplex hervor. Tom Kranich nickte mit ernster Miene. "Ich bin ihr Vater, Chefin. Daran gibt es nicht den geringsten Zweifel. Und ich habe nicht die Absicht, mein Fleisch und Blut irgendwelchen fremden Menschen zu überlassen. Jedenfalls nicht, bevor sie im Kindergartenalter ist", schränkte er seine Aussage ein klein wenig ein.
    Anna sank zurück gegen die Lehne ihres Stuhls. Die Hand mit dem Antrag fiel kraftlos auf ihren Schoß. Eine Weile schwiegen beide. "Haben Sie sich das auch genau überlegt, Tom?", hakte sie schließlich nach. "Die Verantwortung für ein Kind..." - "...ist exakt das, was ich möchte?, bestätigte er. "Sie hat nur mich. Christine Beyer hat sie zur Adoption frei gegeben, ihre Angehörigen haben also keinerlei Rechte. Abgesehen davon, dass sie dort ohnehin ebenso unerwünscht wäre wie schon bei der Geburt..."
    Er schaute kurz zu Boden, bevor er den Blickkontakt wieder herstellte. "Ich hätte längst eine Familie, wenn Elena nicht getötet worden wäre. Jetzt schenkt mir das Schicksal eine Tochter. Was sollte ich Ihrer Meinung nach tun? Mich abwenden und sie ignorieren? Selbst wenn ich sie nicht so sehr lieben würde wie ich es tue ? das könnte ich nicht!", erklärte er.
    "Es gibt doch sicher auch die Möglichkeit, das Kind bei einer Pflegefamilie unterzubringen, wo Sie es regelmäßig besuchen können", schlug Anna vor. Doch schon am Ende dieses Satzes ahnte sie die Antwort. "Das dachte ich ursprünglich auch. Frau Seibold, die Betreuerin vom Jugendamt, hat mir jedoch klar gemacht, dass diese Variante ihr schaden würde. Sie hätte keine feste Bezugsperson, wäre hin- und hergerissen zwischen der Pflegemutter und mir...", erwiderte Tom.
    Er lächelte Anna mit einer irgendwie hilflos wirkenden Miene an. "Natürlich wird mir der Job fehlen. Ich war immer gern hier bei der Autobahnpolizei. Und ich weiß, dass Semir und die anderen mich brauchen. Aber Sabrina braucht mich auch - mehr als jeder andere Mensch auf der Welt! Und ich will für sie da sein." Sein Blick wurde flehend. "Ich möchte nicht nur ihr Erzeuger sein, Chefin. Sondern ihr Vater..."
    "Sabrina?" Die Engelhardt legte den Kopf schräg. "Seit wann hat sie einen Namen"-- "Seit ich ihn heute für sie ausgesucht habe", gestand Tom leicht verlegen. "Offiziell ist es aber noch nicht. Ich gehe Montag mit Frau Seibold zum Standesamt." Anna nickte langsam. "Sabrina Kranich... Klingt hübsch?, stellte sie lächelnd fest.
    Hoffnung breitete sich auf Toms Gesicht aus. "Chefin... Heißt das..." - "Dass ich Ihren Antrag unterschreiben und an die Personalverwaltung weiterleiten werde."Sie beugte sich mit ernster Miene vor."Sie sollten aber unbedingt darauf achten, dass Ihre Erklärungen, woher das Kind auf einmal kommt, möglichst wenige Informationen zur Identität der Mutter enthalten! Sonst nützt Frau Beyers Schweigen Ihnen nämlich nichts!", erinnerte sie ihn.
    "Ich weiß, Chefin", bestätigte Kranich. "Vor allem darf die Beyer selbst es niemals erfahren. Ich möchte nicht erpressbar sein, wenn sie irgendwann aus dem Knast kommt. Nicht auszudenken, wenn Sabrina eines Tages erfährt, wie sie entstanden ist!" Angst flackerte kurz in seinen Augen. "Diesen Schock würde sie nicht verkraften..."


    ***

  • Drei Monate später


    Sonntag, 10:42 Uhr, Köln-Lindenthal, Paul-Gerhardt-Kirche


    "Und so taufe ich dich auf den Namen Sabrina Nadja Kranich. Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen", verkündete Pfarrer Spengler, während er etwas Wasser auf den Kopf des Kindchens tropfen ließ. Sabrina zuckte zwar etwas und verzog das Gesicht, weinte aber nicht.
    Nadja Steffen, geborene Kranich, und Semir Gerkhan strahlten um die Wette. Beide hielten die Kleine gemeinsam über das Taufbecken. Schließlich hatte Tom sowohl seine Schwester als auch seinen besten Freund gebeten, die Patenschaft für sein Töchterchen zu übernehmen. Also wollte natürlich jeder die Ehre dieses feierlichen Augenblicks genießen.
    Am glücklichsten war jedoch der stolze Vater. Mit Hilfe von Frau Seibold und Schwester Ramona hatte er schließlich alle behördlichen und versorgungstechnischen Hindernisse gemeistert. Andrea hatte ihn beim Einkauf der notwendigen Möbel und Utensilien beraten, Semir beim Umbauen und Streichen des jetzigen Kinderzimmers geholfen. Hotte und Bonrath hatten es sich nicht nehmen lassen, dem kleinen Sonnenschein, wie sie Sabrina nannten, das Bettchen zu kaufen.
    Die Engelhardt hatte Tom im Namen aller Kollegen mit einem großzügigen Drogeriemarkt-Gutschein für Windeln und Babynahrung überrascht, als er Sabrina zehn Tage nach seiner Entscheidung endgültig zu sich geholt hatte. Von Anna persönlich stammten das Mobile aus Schmetterlingen über dem Bettchen sowie eine Plüschspieluhr.
    "Falls Sie irgendetwas brauchen scheuen Sie sich nicht, sich bei uns zu melden", hatte die Chefin angeboten. "Ich weiß, dass Sie während des Erziehungsurlaubs deutlich weniger Gehalt beziehen als bisher." Tom hatte sich verlegen bedankt, das Angebot jedoch abgelehnt. "Das geht schon, Chefin. Für die festen Kosten und unseren Lebensunterhalt reicht es. Andere Eltern müssen mit weniger über die Runden kommen. Dagegen haben wir Beamte es noch ziemlich gut..."
    Gewiss war es eine gewaltige Umstellung für ihn. Die ersten Tage mit Sabrina in der eigenen Wohnung waren ziemlich chaotisch gewesen, bis beide zu ihrem täglichen Rhythmus gefunden hatten. Doch die Freude über sein Engelchen wischte jeden Moment im Nu beiseite, den er überlegte, ob er richtig entschieden hatte. Besonders glücklich machte ihn die Tatsache, dass selbst sein Vater zur Taufe gekommen war. Dessen konservative Einstellung, seine bisherige eher gleichgültige Haltung gegenüber Tom und seinem Lebensweg schienen verflogen. Zwar hatte er angemerkt, dass er auch gern eine nette Schwiegertochter zu seinem ersten Enkelkind bekommen hätte. Doch auch ihn hatte der unschuldige Charme des kleinen Mädchens in kürzester Zeit überwältigt.
    Toms Mutter war begeistert von Sabrina, seit Tom sie seinen Eltern voller Stolz präsentiert hatte. Er hatte ihnen, wie allen Unbeteiligten, eine glaubhafte Geschichte über ihre Herkunft erzählt: Eine kurze Affäre mit einer Frau, die kein Kind haben wollte und nach früherer ärztlicher Diagnose eigentlich gar keines bekommen konnte. Deshalb hatten sie nicht verhütet. Ein klassischer Unfall, für den er nur zu gern die Verantwortung übernommen hatte, sobald er von dem Kind erfuhr.
    Nur selten schweiften seine Gedanken zu Christine Beyer. Für ihn war sie nicht Sabrinas Mutter, sondern die Frau, die ihn missbraucht hatte. Jedoch würde es das größte Glück in seinem Leben ohne sie nicht geben. Deshalb gestattete er sich ein kurzes, stummes "Danke"an ihre Adresse, als seine Schwester ihm Sabrina nach der Zeremonie wieder zurückgab.
    Er drückte sie liebevoll an sich, legte seine Wange an ihre. Leise, glucksende Laute sprudelten aus ihrem Mündchen, ihre Finger klammerten sich an sein Revers. Sein Blick traf den von Andrea. Sie lächelte voller Zuneigung und Verständnis, rieb sich unwillkürlich über den leicht gerundeten Bauch. Semir trat neben sie, griff nach ihrer Hand und hauchte ihr einen schnellen Kuss auf die Stirn.
    In ein paar Monaten würden auch seine besten Freunde dieses Glück erleben, was ihm geschenkt worden war. Und wer weiß " Nadja war zwar noch nicht schwanger, sie und ihr Mann wollten aber eine Familie. Er freute sich darauf, dass Sabrina eines nicht allzu fernen Tages mit diesen Kindern spielen würde.
    Sein Geist schweifte weit in die Zukunft. Sah sich zu feierlicher Orgelmusik durch eine geschmückte Kirche gehen, seine wundersch?ne Tochter im Brautkleid an der Hand. Am Altar wartete ihr Bräutigam darauf, dass er sie ihm übergab. Ja, das wünschte er sich für sie, wenn sie erwachsen war. Einen Mann, der sie genauso sehr lieben würde wie er selbst.
    Er hielt Sabrina ein klein wenig von sich weg und schaute sie an. Wohlige Wärme durchflutete ihn. Wie immer, wenn ihre Äuglein ihn anstrahlten. Diese tiefgründigen Seen, die inzwischen ebenso grau-grün leuchteten wie seine eigenen Augen... Ein entrückter Seufzer entfuhr ihm. Voller Zärtlichkeit strichen seine Lippen über ihr Köpfchen. "Ich liebe dich, Sabrina... Mein kleiner Engel..."




    -----ENDE-----

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