Hannibal

  • Semir blickte zu Boden. Vielleicht wusste er wirklich nicht so genau Bescheid, wie er gedacht hatte. Hatte Starling wirklich nur verzweifelt versucht, Lecter abzulenken und dazu zu bewegen, dass er sie in Ruhe ließ? Und die These, dass Lecter ihr diesmal wieder nichts angetan hätte, war reichlich vorschnell – das wusste er. Wortlos, mit gesenktem Blick, verließ den Raum und ließ die beiden Frauen zurück.


    Auf dem Gang kam ihm Ben entgegen: „Na Partner, wieder beruhigt? Euer Geschrei war ja in der ganzen Dienststelle zu hören.“ Semir ging nicht auf die provozierende Frage ein: „Noch irgendwas Neues?“ „Ne, außer dass Lecter sie von einem Handy aus angerufen hat, das sich zum Zeitpunkt des Gesprächs logischer Weise in der Mobilfunk-Wabe rund um das Hotel befand. Ist aber keine Überraschung, schließlich stand er gleich darauf bei ihr im Zimmer. Jetzt ist es ausgeschaltet – wir können es also nicht orten.“ Semir stöhnte: „Wär ja auch zu schön gewesen.“ „Aber du kannst dir die restliche Tonbandaufnahme später noch anhören.“, bot Ben ihm an. Dann streckte er seinem Partner noch einen Brief entgegen: „Das ist übrigens der Brief aus dem Hotelzimmer. Hab noch nicht reingeschaut. Wahrscheinlich von Lecter an Clarice. „Oh, wenigstens etwas.“ Semir nahm den Brief entgegen, den sie eine Stunde zuvor sichergestellt hatten. In all der Hektik war noch niemand dazu gekommen, ihn zu öffnen. Auch Clarice hatte nicht mehr an ihn gedacht. Gespannt riss Semir den Umschlag auf und zog das Briefpapier heraus. Die Schrift war geschwungen, altmodisch, wie mit Feder geschrieben. Als Ben den Rosenduft vernahm, rümpfte er kurz die Nase. Er sah seinem kleineren Partner über die Schulter, während sie lasen:


    Guten Abend Clarice,


    Könnte es sein, dass Sie abermals versuchen, meinen Aufenthaltsort herauszufinden?
    Es ist bedauerlich, dass Sie mir den Luxus der Freiheit nicht zu gönnen scheinen. Oder am Ende doch nur ein letztes verzweifeltes Aufbäumen dieses grässlichen Jack Crawfords? Die ein letztes Mal aufkeimende Gier nach Anerkennung und Ruhm, bevor er als bis zu seinem Tode vor sich hin vegetierender Rentner tagtäglich mit einer Zeitung auf seinem Schoß in einem Ohrensessel einschlafen wird? Hat er Sie als Unterstützung abkommandiert, weil er wusste, er würde nur mit Ihnen eine Chance haben, mich zu schnappen?


    Ich glaube, Sie sollten sich von ihrem Vorgesetzten trennen. Ich könnte das für Sie arrangieren.
    Vielleicht bei einem letzten gemeinsamen Abendessen?
    Der deutsche Wein ist übrigens ausgezeichnet – wobei ich die Weine Württembergs denen des Mittelrheins vorziehe. Wie gut diese zu einem zarten Kalbsbries passen... Sie sollten es einmal versuchen, Clarice.


    Und wie läuft die Arbeit mit Ihren neuen, deutschen Kollegen? Eine dilettantische Truppe, wie mir scheint. Ich würde sie gerne kennenlernen. Lassen Sie schon Ihr Telefon abhören? Die können doch nicht ernsthaft glauben, mich mit solch einfältigen Tricks schnappen zu können? Trotzdem werde ich Sie nicht enttäuschen.
    Ich freue mich schon auf eine baldige Unterhaltung mit Ihnen, Clarice.


    Hochachtungsvoll,
    Hannibal Lecter M.D.


    PS: Schweigen die Lämmer denn mittlerweile? Sie werden es mich wissen lassen, nicht wahr?


    „Der Typ nervt langsam!“, stieß Ben ärgerlich aus. Semir blieb ernst: „Ben, das ist kein Kindergarten-Spaziergang. Der ist uns immer einen Schritt voraus.“ „Für mich klingt das eher nach jeder Menge psychischer Störungen, zusammen mit Arroganz und ein bisschen Glück!“ „Ben!“, wies Semir seinen Partner zurecht: „Sei vorsichtig mit dem. Wir sind entschieden im Nachteil. Sag mir irgendeinen Punkt, wo wir ansetzten sollen! Wir haben nichts!“ Innerlich ertappte Ben sich dabei, wie er kurz an seiner Sicherheit zweifelte. War sein verhalten nur ein Schutzreflex? Wollte er nur nicht zeigen, dass er genauso fühlte wie sein Partner und dies mit Trotz überspielen? Das würde er sich niemals eingestehen, geschweige denn zugeben. Also wechselte er mit einem Blick auf die Uhr das Thema: „Ich geh jetzt nach Hause. Bis morgen!“ Noch immer leicht trotzig machte Ben auf dem Absatz kehrt und verließ die Dienstelle. Auch heute sah Semir seinem Partner nachdenklich nach, wie er die Polizeistation verließ und dann von der Nacht verschluckt wurde.


    ...

  • „Miss Starling, hier ist der Brief von Lecter an sie. Tut mir leid, wir haben ihn schon gelesen.“ Zurück in seinem Büro, wo Clarice Starling noch immer saß, schloss Semir die Tür. Darauf bedacht, keinen erneuten Streit anzufangen, übergab er der amerikanischen Kollegin den Brief. Sie nahm ihn wortlos entgegen und begann zu lesen. Er beobachtete mit verschränkten Armen ihre Reaktionen. Er bemerkte mehrmals, wie sie schluckte und sich ihre Augen weiteten. Hannibal Lecters Worte konnten treffen wie Pfeilspitzen.
    „Miss Starling“, begann Semir vorsichtig, als er den Eindruck hatte, sie habe den Brief zu Ende gelesen: „Glauben Sie nicht, dass der Fall vielleicht zu persönlich für Sie sein könnte? Es ist ohne Zweifel eine Belastung für sie. Und sie werden keine Ruhe mehr vor Lecter haben – solange er lebt. „Herr Gerkhan, ich kann den Fall nicht abgeben.“, antwortete die FBI-Agentin bestimmt: „Wenn ihn irgendjemand schnappen kann – dann ich. Jeder andere wird bei diesem Versuch sein Leben lassen! Auch Sie!“


    Mit noch immer etwas Wut im Bauch war Ben auf dem Weg nach Hause. Genervt schaltete er das Radio aus, aus dem laute Rockmusik dröhnte. Dass er jemals das Radio ausschalten würde, wenn gute Rockmusik gesendet wurde, hätte er sich im Leben nicht träumen lassen. Aber er brauchte jetzt Ruhe. In wenigen Minuten würde er an seiner Wohnung angekommen sein. War er vorher zu schroff gewesen, seinen Partner so stehen zu lassen und nicht auf seinen wiederholten Rat einzugehen? Er spürte, wie er im Grunde genommen sauer auf sich selbst war, schob jedoch alles auf den verhassten Serienmörder, den sie jagten. Dieses Monster schaffte es, Reaktionen in Menschen auszulösen, die sie nicht selbst steuern konnten. Natürlich fühlte Ben, welche Gefahr dieser Mensch darstellte. Aber es entsprach einfach nicht seiner Art, Angst zu zeigen – jemandem Respekt zu zeigen, der ihn nicht verdient hatte.
    Das Hupen eines Autos riss ihn aus seinen Gedanken. Ben stieg reflexartig auf die Bremse und kaum einen Moment später kam das Mercedes E-Klasse Coupé zum stehen. Zum zweiten Mal innerhalb von wenigen Tagen hätte er einem Auto beinahe die Vorfahrt genommen. Er achtete nicht auf die wilden Gesten des Fahrers, der nachts um halb 3 beinahe in einen Unfall verwickelt worden wäre. „Scheiß Rechts-vor-links.“, schimpfte er vor sich hin, bevor er wenige Minuten später vor seiner Wohnung in der Kölner Innenstadt angekommen war.


    Erschöpft rieb er sich die Müdigkeit aus den Augen, bevor er die Autotür zuschlug. In ein paar Minuten konnte er endlich ins Bett. Der Abend hatte sich doch noch länger gezogen, als er es erwartet hatte. Routiniert drückte er auf den Knopf des Funkschlüssels. Im Weggehen vernahm er flüchtig das orangene Blinken und das typische Absperrgeräusch des Wagens. Müde stapfte er zur Haustür, sperrte sie auf und trottete die Treppe nach oben bis in den dritten Stock, wo sich seine Wohnung befand. Er steckte den Schlüssel ins Schloss. War hier alles normal? Einen kurzen Moment hatte er das Gefühl, als würde ihn etwas stören. Dann schüttelte er den Kopf: „Jetzt mach dich nicht auch noch verrückt.“ Er drehte den Schlüssel herum und drückte die Tür auf. Alles war dunkel. Auf den ersten Blick schien alles normal. Doch dann drang die leise Musik an sein Ohr. Von irgendwo waren die ruhigen Klänge klassischer Klavier-Musik zu hören. Er trat noch einmal kurz nach draußen ins Treppenhaus. Nein, kein Zweifel: Die Musik kam aus seiner Wohnung. „Scheiße.“, flüsterte er. Sollte er Semir anrufen? Er spürte das Handy in seiner Jackentasche. Langsam und geräuschlos griff er danach. Er zögerte. Dann bewegte er seine Hand weiter nach unten und griff doch statt dem Handy nach seiner Dienstwaffe. Den Fehler von Clarice Starling würde er nicht machen – sollte sich wirklich ein ungebetener Gast in der Wohnung befinden. Er zog langsam den Schlitten nach hinten. Es klickte metallisch. Dann setzte einen Fuß ins Innere der Wohnung.


    ...

  • Hinter jeder Ecke konnte Lecter lauern. Oder hatte er sich nun auch schon von der Angst anstecken lassen? Er fühlte sich kurz sogar etwas albern. Die Musik wurde schneller. Vielleicht hatte er nur vergessen das Radio abzustellen. Noch ein Schritt nach innen – die Waffe im Anschlag. Mehrmals richtete seine Pistole in eine andere Richtung der Wohnung. Ein Orchester setzte ein. Er spürte Schweißperlen auf seine Stirn steigen. Ein Trommelwirbel. „Ach, scheiß drauf.“, flüsterte er. Schnell fischte er mit seiner linken Hand das Handy aus seiner Tasche, während er mit der rechten hektisch die Waffe immer wieder in andere Richtungen riss. Kurzwahl Semir. Er drückte eine Taste und hielt das Handy ans Ohr. Mit weit aufgerissenen Augen starrte er in die Dunkelheit. „Nimm ab. Nimm ab.“ Wieder riss er die Pistole herum. „Mach endlich!“ Er erblickte sein Radio, aus dem die klassische Musik drang. Ein paar Schritte. „Ja?“, meldete sich Semir endlich. „Semir, bei mir stimmt irgendwas nicht. Kannst du schnell bei mir vorbeifahren?“ Den letzten Satz hatte Semir schon nicht mehr richtig wahrgenommen. Er hatte nur noch ein kurzes „Rühr dich nicht von der Stelle!“ geschrien, dann rannte er bereits zu seinem Auto. Etwas entspannter steckte Ben das Handy weg. Er sah sich kurz um und machte dann die letzten zwei Schritte bis zum Radio. Er drückte auf einen Knopf und augenblicklich herrschte wieder Stille im Raum. „Oh Mann.“, atmete er tief aus. Im selben Moment riss ihn etwas nach hinten. Er schrie auf. Er spürte ein Tuch vor seinem Mund und seiner Nase. Er ließ seine Pistole fallen, um sich mit beiden Händen gegen den Angreifer hinter ihm wehren zu können. Doch dazu kam er nicht mehr. Einen kurzen Augenblick roch er den beißenden chemischen Gestank, der von dem Tuch ausging, das ihm auf das Gesicht gedrückt wurde. Hinter ihm vernahm er ein leises „Pssssssst.“, das ihm ins Ohr gezischt wurde. Dann kippte sein Kopf zur Seite und seine Füße gaben nach. Er merkte noch, wie sich sein Griff lockerte und seine Augen zufielen. Dann war er weg.



    „Scheiße, scheiße, scheiße!“ Semir stand voll auf dem Gaspedal. Der Motor seines BMW heulte auf. Mit enormem Tempo schoss der Wagen durch die Stadt. Das abwechselnde Blau- und Rotlicht spiegelte sich an den Häuserwänden wieder. Semir war noch im Büro gewesen, als ihn Bens Anruf erreicht hatte. An seiner Stimme hatte Semir sofort bemerkt, dass Ben sich Sorgen machte. Und dann musste es etwas ernstes sein, denn Ben bat nicht oft um Hilfe.
    Er griff zum Funkgerät: „Cobra 11 an alle Einheiten! Brauche dringend Unterstützung in die Sonnenstraße 23. Beamter in Not! Schickt alles, was ihr habt! Ende.“ So eine Durchsage hatte er erst einmal tätigen müssen. Es war in jener Nacht, als er seinen Partner Tom verloren hatte. Er war wenige Augenblicke zu spät gekommen. „Nur nicht schon wieder einen Partner verlieren, nur nicht wieder zu spät kommen!“, dachte er bei sich. Er schleuderte den BMW um eine Kurve. Hätte er vielleicht noch Clarice Starling mitnehmen sollen? In dieser Situation war ihre Unterstützung möglicherweise die hilfreichste von allen. Doch er war sofort los zu seinem Dienstwagen gesprintet. Was war wichtiger? Starling dabei zu haben oder keine Sekunde Zeit zu verlieren? Er hatte sich für die Zeit entschieden. Erschießen konnte er Lecter zur Not auch alleine - wenn er rechtzeitig kommen würde. Doch daran wollte er gar nicht denken. Er biss die Zähne zusammen und gab wieder mehr Gas.


    2:56 Uhr. Es begann zu regnen. Mittlerweile waren die Straßenlaternen in diesem Viertel abgeschaltet. In die Stille der Nacht erklang das monotone Prasseln der Regentropfen auf den Asphalt. Keine Menschenseele war zu sehen. Dann ein leises Schleifgeräusch. Ein älterer Mann zog einen leblosen Körper über die stockdunkle Straße zu einer weißen Mercedes-Limousine. Er öffnete die hintere Tür des Wagens und hob den Körper ins Innere. Ein leises, angestrengtes Keuchen war zu hören. Dann warf Hannibal Lecter die Tür zu und stieg selbst in das Fahrzeug. Dann plötzlich ein aufheulender Motor. Die Scheinwerfer eines Autos durchschnitten die Dunkelheit der Nacht. Rote und blaue Blitze. Hannibal Lecter saß bewegungslos auf dem Fahrersitz des Mercedes und wartete. Er hatte weder den Motor, noch das Licht der Limousine angeschaltet. Er saß regungslos in einem völlig unauffälligen, scheinbar am Straßenrand parkenden Auto und beobachtete die Szene.


    Mit quietschenden Reifen hielt der silberne BMW vor dem Mehrfamilienhaus in der Sonnenstraße. Ein Beamter sprang heraus und rannte mit gezogener Waffe Richtung Eingangstür. Die Fahrertür ließ er offen stehen, auch die Scheinwerfer hatte er angelassen.
    Hannibal Lecter wartete noch einen Moment, bis der Polizist im Inneren des Gebäudes verschwunden war. Dann ließ er den Motor an und fuhr langsam in die Nacht. Mehrere Polizeiautos mit Blaulicht kamen seinem Fahrzeug entgegen, schenkten ihm jedoch keine Aufmerksamkeit. Zufrieden grinste der alte Mann und warf einen Blick zurück auf die Rücksitzbank, wo Bens regungsloser Körper lag. Es war alles glatt gelaufen.


    ...

  • Semir trat die Wohnungstür ein – seine silberne Dienstwaffe in der einen, eine Taschenlampe in der anderen Hand. „Ben!“, schrie er ins Innere der Wohnung. Stille. Er lief durch die ganze Wohnung. „Ben!“ Keine Antwort. Semir erreichte die Stelle, an der Bens Radio stand. Auf dem Boden lag eine schwarze Pistole, daneben ein weißes Tuch. Er hob es auf und roch kurz daran. „Oh mein Gott.“, stieß er aus. Er kannte diesen chemischen Gestank und ahnte, dass sein Partner wohl nicht mehr bei Bewusstsein war. Semirs Fassungslosigkeit wich Verzweiflung und Wut. Ihm kamen die Tränen. Voller Wucht trat er gegen einen Schrank und stieß verkrampft einen Fluch aus. Er war wieder zu spät gekommen. Daran änderte auch das Großaufgebot der Polizei nichts, das nun nach und nach eintraf.


    Mehrere Stunden später. Semir saß in seinem Büro der Dienststelle und hatte sein Gesicht in seinen Händen vergraben. Er warf einen kurzen Blick auf den leeren Platz ihm gegenüber. Würde er jetzt leer bleiben? Er musste wieder wegsehen. „Semir, wir werden Ben finden.“ Kim Krüger stand hinter ihm und hatte ihm eine Hand auf seine Schulter gelegt. Er antwortete nicht. Er wusste, wie Bens Chancen jetzt standen. Er war in den Händen eines Kannibalen. Wie viel Zeit hatte er wohl noch? Und wie sollten Sie ihn finden? Semirs Mischung aus Verzweiflung und Wut äußerte sich in völligem Verkrampfen. „Wo bleibt die Starling?“, presste er scharf hervor. „Sie ist schon auf dem Weg ins Hotel gewesen, aber sie müsste jeden Moment wieder hier sein. Keine Sorge.“ „Hat die Ringfahndung schon irgendwas ergeben?“ Kim Krüger schüttelte vorsichtig den Kopf. Semir stöhnte nur. Wie konnte das sein, dass dieser Mensch mit Ben einfach so verschwinden konnte?
    Da sprang die Bürotür auf und Clarice Starling kam leicht außer Atem herein: „Ich bin so schnell gekommen wie ich konnte.“ Sie richtete sich an Semir: „Das mit Ihrem Partner tut mir leid.“ Semir drohte die Fassung zu verlieren: „Was? Was tut Ihnen leid?? Dass er jetzt wahrscheinlich schon tot ist??“ „Nein, Herr Gerkhan…“. Er unterbrach sie: „Frau Starling, ich brauche jetzt keine langen Vorträge und kein erneutes Täterprofil! Ich will von Ihnen eine klare Information: Wie stehen seine Chancen? Was könnte Lecter vorhaben? Und wo zum Teufel könnte er sein?“ Clarice holte Luft: „Also aus seinen vergangenen Taten wissen wir, dass er seine Opfer eine Zeit lang festhält, bevor er…“ „Keine Details!“, unterbrach Semir sie erneut: „Und was ist mit Ben?“ „Nun, Ihr Partner ist Polizist. Ich könnte mir vorstellen, dass Lecter an einer Unterhaltung mit ihm besonderen Spaß hat. Ich muss Ihnen aber auch ganz klar sagen, dass er schon mehrere Polizisten ermordet hat und er zudem von Herrn Jäger wohl keine allzu hohe Meinung zu haben scheint. Das ging ja aus seinen Briefen hervor." Sie sah Semir ernst in die Augen: „Er wird ihm all seine Kraft abverlangen."



    Zur gleichen Zeit saß Ben gefesselt auf einem Stuhl in einem Kellerraum außerhalb der Stadt. Hannibal Lecter hatte dieses leer stehende Gebäude bei einem ausgiebigen Spaziergang entdeckt. Bens Kopf hing nach unten – er war noch immer nicht bei Bewusstsein. Durch ein kleines Fenster drang etwas Licht der Morgendämmerung ins Innere des Raumes. Die umherfliegenden Staubpartikel waren deutlich im fahlen Schein der Sonne zu sehen, deren wenige Strahlen, die in den Raum drangen, durch den dichten Nebel draußen gefiltert wurden.
    Hannibal Lecter saß Ben in einigen Metern Entfernung gelassen gegenüber und betrachtete einen kleinen, rasiermesserscharfen Skalpell, den er in seinen Händen hielt.



    Wie schon in den letzten Tagen tigerte Semir unruhig durch die Dienststelle. Doch jetzt war noch viel mehr Eile geboten. Die ganze Belegschaft der Autobahnpolizei war aus ihrer Nachtruhe geholt worden. Mittlerweile war es fast 5 Uhr morgens. „Was macht ihr?“, rief er auffordernd Jenny und Bonrath zu. „Wir stellen eine Liste mit sämtlichen leer stehenden Gebäuden und so weiter im Großraum Köln zusammen. Aber das sind so viele...“ „Dann beeilt euch mal, wir haben keine Zeit zu verlieren!“ „Semir, wir machen doch schon so schnell wir können!“, gab Bonrath gestresst zurück. Semir wandte sich an seine Chefin, die gerade vorbei lief. Auch sie war schwer in Hektik, die ganze Fahndung zu organisieren, die auf Hochtouren lief. „Chefin, wir müssen jetzt an die Öffentlichkeit! Wir müssen Fotos von Lecter an alle Hotels schicken. Irgendwo muss er ja sein. Und bei seinem Geschmack kann ich mir nicht vorstellen, dass er unter einer Brücke pennt.“ „Gut Semir, ich sehe was sich machen lässt.“ „Ja, am besten sofort! Uns läuft die Zeit davon!“


    ...

  • Schmerzen.
    Ben merkte sofort, dass irgendetwas nicht stimmte, auch wenn er sich nicht sofort daran erinnerte, was in der Nacht geschehen war. Langsam kam er zu Bewusstsein. Er nahm seine gekrümmte Haltung wahr, die Schmerzen im Kopf, Nacken, Rücken und an den Händen. Er öffnete schwerfällig seine Augen ein Stück weit. Er hatte nicht die Kraft, seinen hängenden Kopf anzuheben – trotz, oder gerade wegen den Schmerzen. Bewegungslos sah er an sich hinunter. Staub hatte sich auf seine Kleidung gelegt. Er konnte seine Hände nicht bewegen. Zuerst wusste er nicht recht, ob es an ihm lag, oder ob seine Bewegungen durch etwas anderes verhindert wurden. Dann drängte sich wieder der schneidenden Schmerz an den Handgelenken in sein Bewusstsein. Tatsache – er war gefesselt. Er stöhnte. Vorsichtig und schwerfällig versuchte er seinen Kopf zu heben. Wie lange mochte er wohl in dieser Position gewesen sein? Mit der Zeit kamen die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück. Die Klaviermusik. Der kurze Kampf, bei dem er das Bewusstsein verloren hatte. Hannibal Lecter. „Scheiße.“, hustete er. Seine Lungen fühlten sich an wie komplett mit Staub bedeckt. Kurze Zeit später zwang er sich nun erneut, gegen die Schmerzen im Nacken anzugehen und den Kopf zu heben. Einen Moment befürchtete er, es könnte knacken und sein Genick abbrechen – solche Schmerzen hatte er.
    Mit geschlossenen Augen warf er seinen Kopf nach hinten. So war es besser, doch nun meldete sich sein Rücken zurück. Er musste sich strecken, er musste sich hinlegen. Doch nach wie vor saß er gefesselt auf einem harten Holzstuhl. Er öffnete die Augen. Sofort durchfuhr seinen Kopf ein stechender Schmerz. Er fühlte sich wie nach einer langen Nacht mit Tour durch sämtliche Kneipen Kölns. Schlimmer. Er sah sich um. Der Stuhl, an den er gefesselt war, stand in der Mitte des kleinen Raumes. Die Wände hatten keinen Putz, geschweige denn eine Tapete – überall nur graue, staubige Mauer. Er versuchte seinen Kopf noch etwas zu drehen. Hinten über ihm schien ein kleines Fenster zu sein, denn nur von dort kam ein wenig Tageslicht ins Innere des Raumes. Den ganzen Raum hinter sich konnte er nicht sehen, dafür war er zu fest an den Stuhl gefesselt. Er drehte sich wieder zurück nach vorne. Wenige Meter vor ihm stand ihm gegenüber ein weiterer Stuhl, den er noch gar nicht wahrgenommen hatte. Dahinter schien eine Art Tisch zu stehen, vielleicht eine alte Hobelbank oder ein Werktisch. Auf jeden Fall war er völlig verstaubt – wie der ganze Raum.


    Er versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. Er spürte, dass er nichts mehr in seinen Hosentaschen hatte – weder ein Handy, noch ein Taschenmesser, noch irgendetwas anderes Nützliches. Er versuchte an seinem Stuhl zu rücken. Doch er war zu schwer – oder er noch nicht genug bei Kräften, um sich so ein größeres Stück bewegen zu können. Er versuchte es wieder. Plötzlich wurde der Lichtschein hinter ihm verdeckt. Schlagartig wurde es dunkler im Raum, als ob jemand einen großen Schatten auf ihn warf. Ben saß nun da wie versteinert. Er wagte keine Bewegung. Dann spürte er einen warmen Atem an seinem Hals. Er schielte nach rechts, ohne den Kopf zu bewegen. Aus den Augenwinkeln erkannte er eine Gestalt direkt neben ihm. „Guten Morgen.“, hauchte ihm jemand direkt ins Ohr. Er fuhr zusammen. Mit diesem plötzlichen Geräusch, das die Stille wie ein Rasiermesser durchschnitt, hatte er nicht gerechnet. Und dann noch so nah neben ihm. Und er ahnte, mit wem er es hier zu tun hatte. Hannibal Lecter musste die ganze Zeit direkt hinter Ben gestanden und sich erst jetzt bewegt haben und so das kleine Fenster und die damit verbundene Lichteinstrahlung verdeckt haben. Jetzt hatte er sich zu Ben heruntergebeugt und war mit seinem Kopf direkt neben Bens gewesen, nachdem er von hinten an ihn herangetreten war. Ben rührte sich nicht. Sofort trat ihm kalter Schweiß auf die Stirn.
    Hannibal Lecter trat nun nach vorne in Bens Blickfeld. Zum ersten Mal sah er nun diesen, einen der vielleicht gefährlichsten Männer dieser Zeit in natura. Doch nun befand er sich Auge in Auge mit ihm in einem Raum. Er war ihm hilflos ausgeliefert. Sein erstes Treffen mit ihm hatte er sich anders vorgestellt. Er ging mit dem Rücken zu Ben gewandt ein paar Schritte nach vorne, ehe er sich dann mit einer schwungvollen Bewegung umdrehte und Ben genau in die Augen starrte. Sein Gesichtsausdruck zeigte Überlegenheit. Ben hatte ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen. Lecter sah ihn noch einen Moment an, schien ihn von oben bis unten zu mustern, ehe er zu sprechen begann: „Schön sie kennenzulernen, Herr Jäger.“ Er streckte Ben seine Hand entgegen, zog sie dann aber mit einem Grinsen wieder zurück, als hätte er jetzt erst gesehen, dass Ben gefesselt war. Ben kam sich bereits jetzt gedemütigt vor. Und er spürte wieder die Wut in ihm aufsteigen. Wie sollte er sich verhalten? Bisher hatte er noch jede dieser Situationen mit seiner Taktik überlebt und so würde er es auch diesmal machen. Er biss die Zähne zusammen und presste wütend hervor: „Was wollen Sie, sie kranker…?“ Weiter kam er nicht. Seine Stimme versagte, als Hannibal Lecter mit seinem stechenden, ihn fixierenden Blick auf ihn zuging. Immer näher.


    ...

  • Mit weit aufgerissenen, starrenden Augen stand Lecter nun vor Ben. Nicht mal ein Meter trennte die beiden. Der Kannibale neigte sich langsam zu Ben herunter. „Sie sind ein mutiger, junger Mann, Ben. Zumindest wollen sie das sein.“ Er betonte die Wörter so, dass sie pure Überlegenheit und Allwissen demonstrierten. „Soll ich Ihnen etwas sagen? Sie stinken nach Angst unter Ihrer erbärmlichen, aufgesetzten Maske aus Trotz und Stärke!“ Er sprach die Worte so scharf aus, dass sie wie Kugeln aus einem Gewehr auf Ben angefeuert wurden. Und sie trafen. Plötzlich wandte er sich wieder ab und ging ein paar Schritte weg, während er etwas ruhiger weitersprach: „Hässliche Kette, die Sie da übrigens um den Hals hatten.“ Plötzlich hob er sie in seiner Hand und betrachtete wie beiläufig den Anhänger daran. „Ich nehme an, Sie wissen nicht einmal, was dieses billige Amulett hier darstellen soll… Verzeihen Sie übrigens, dass ich Ihnen diesen grässlichen Dreitagebart abrasiert habe. Aber sie können ihr einfältiges Streben nach Rebellion und Coolness ja noch durch ihre Frisur zum Ausdruck bringen. Nicht wahr?“ Ben konnte es nicht fassen. Lecter hatte ihm wirklich den Dreitagebart abrasiert! Wie krank war dieser Mensch eigentlich? Es machte ihn fast rasend, dass Lecter seine Reaktion genüsslich zu beobachten schien. Er riss mit aller Kraft an seinen Fesseln, doch sie bewegten sich kein Stück. „Was fällt Ihnen…?“ Wieder unterbrach der Serienmörder Bens aufkommenden Wutausbruch: „Ich hatte befürchtet, dass Sie nicht besonders wohlwollend darauf reagieren würden. Verzeihen Sie mir – aber ich sehe gerne das Gesicht der Menschen, mit denen ich mich unterhalte. Fühlen Sie sich nun etwa nackt ohne diese paar Stoppeln? Spüren Sie, wie Sie nun vor mir sitzen, wie ein aufgeschlagenes Buch?“ Verständnislos und sarkastisch blickte er Ben an, wartete aber keine Antwort ab. Die hätte Ben auch nicht geben können – er fühlte sich ausgesaugt und leer. Lecter führte seinen Triumphzug in abschätzigem Tonfall fort: „Wissen Sie nicht, dass jeder einzelne Baustein Ihres sogenannten Stils, jedes Ihrer Accessoires Ihr Inneres preisgibt? Lesen Sie nach in John Donnes „Gebete“: Muss ich mir einen Totenkopf in einem Ring anschauen, wo ich doch selbst einen im Gesicht habe? Denken Sie einmal darüber nach.“



    „Chefin, das darf doch wohl nicht wahr sein, dass die ganze Großfahndung rein überhaupt keine Ergebnisse bringt!! Was ist denn das für eine Scheiße hier??“ Voller Zorn riss Semir alle Papiere von seinem Schreibtisch. Es machte ihn wahnsinnig, dass es noch immer keinen Hinweis auf den Ort gab, wo Ben festgehalten wurde. Clarice Starling stand etwas hilflos herum, startete aber schließlich einen Versuch, den Hauptkommissar etwas zu beruhigen: „Herr Gerkhan, es ist nur eine kleine Chance, aber vielleicht besteht die Möglichkeit, dass Lecter nochmal den Kontakt zu mir sucht. Möglicherweise ruft er nochmal an. Wenn er das tut, dann können wir ihm vielleicht ein Angebot machen.“ „Sie meinen, ihm eine Falle stellen?“ Die FBI-Agentin schien einen Moment abzuwägen: „Ja.“ „Und sie glauben das klappt? Könnte er darauf reinfallen?“ „Das kommt darauf an, wie wir es machen.“, antwortete sie: „Der Schlüssel dazu, Lecter zu schnappen, liegt möglicherweise nur bei mir. Er fühlt sich von mir angezogen, glaube ich.“ Es schien ihr unangenehm zu sein, das auszusprechen. Semir spürte auch, dass sie sich überwinden musste, das zuzugeben. Er erinnerte sich an die Akten, die sie bei Hartmut gelesen hatten. Schon zu diesem Zeitpunkt hatten Ben und er so etwas vermutet. Die ganzen Briefe und Anrufe hatten es bestätigt und nun hatte es Clarice Starling selbst gesagt. Vielleicht war das wirklich die einzige Chance, die sie hatten, Ben zu retten. Doch dazu mussten sie auf Lecters Anruf hoffen und ihm dann ein Angebot machen, das er nicht ablehnen konnte. Sie brauchten einen Plan.


    ...

  • Auch wenn die Unterhaltung zwischen Hannibal Lecter und Ben bisher nur wenige Minuten gedauert hatte, fühlte sich der Hauptkommissar völlig erschöpft. Unter seinen Achseln hatten sich dunkle Flecken gebildet, von seiner Stirn tropfte der Schweiß. Die staubige, stickige Luft war kaum auszuhalten. Und dann noch dieses „Gespräch“ mit Lecter...
    Er schritt gerade in aufrechter, stolzer Haltung vor Ben auf und ab durch den Raum. Mit seiner einen Hand hielt er hinter dem Rücken seinen anderen Unterarm fest. So wirkte er beinahe wie ein General mit einer Kriegsverletzung, der vor seiner Truppe auf und ab marschierte, während er eine Rede vor ihnen hielt.


    „Hat Ihnen Clarice Starling von unserer ersten Begegnung erzählt?“, hatte er in fast süßlichem Tonfall das Thema gewechselt. Als er keine Antwort von Ben erhielt, fuhr er unbeirrt fort. In seinen Gesichtszügen war keine Regung zu spüren, doch man konnte spüren, wie er sich innerlich auf seinen nächsten psychologischen Schachzug vorbereitete. Er kam langsam wieder auf Ben zu, der seine Angst nun kaum mehr verbergen konnte. Er saß gefesselt vor einem grausamen Psychopathen, der ihn anscheinend von oben bis unten gemustert hatte, ohne einmal zu zwinkern. Er bemerkte, wie Lecters Augen noch einmal über seinen ganzen Körper wanderten, bevor er weitersprach: „Wissen Sie, wie Sie aussehen mit Ihrer windigen Frisur und Ihrer lässigen Kleidung? Wie ein Millionärssöhnchen, dem seine Eltern peinlich sind.“ Ben biss die Zähne zusammen. Lecter setzte triumphierend noch einen drauf: „Wie gerne hätte ich Ihren Vater einmal kennen gelernt. Er ist sicher nicht glücklich darüber, wie ihr Leben bei der Polizei vor sich hin plätschert. Sagen Sie, hat er eine Firma? Steinreich, ihr Vater, nicht wahr? Und Sie haben etwas abbekommen, wie es aussieht. Schließlich haben Sie bis gestern Düfte von Chanel getragen und auch ihre Lederjacke war nicht billig. Aber Sie träumten nur davon, aus ihrem perfekten Leben auszusteigen; etwas Action zu haben, nicht wahr?“ Er machte eine Pause, in der er es anscheinend genoss, wie er sein Gegenüber langsam auskochte. „Ihrem Blick entnehme ich, dass Sie es nicht gerne hören, wenn man über Ihren Vater spricht. So großer Hass? Oder etwa wieder versöhnt?“ Er grinste Ben an, in dem immer mehr Wut aufstieg. Woher wusste dieser Mann das alles? Nun musste er sich zusammenreißen. Sollte er sich einfach so wehrlos ergeben? Nein, das entsprach nicht Bens Art. „Sie haben doch nur ein großes Maul, weil ich hier gefesselt vor Ihnen sitze!“ Er fühlte nach diesem kurzen Gegenangriff ein wenig Genugtuung. Doch als er Lecter beobachtete, war er kaum einen Moment später nicht mehr sicher, ob er vielleicht besser hätte still sein sollen. Er hatte schwer atmend Lecters Blick verfolgt. Dieser durchbohrte ihn mit seinen Augen förmlich. Zum ersten Mal war in seinem Gesicht mehr als nur Überlegenheit und Sarkasmus zu sehen: Wut. Er hatte seinen Mund einen Spalt geöffnet – seine weißen Zähne kamen zum Vorschein. Bewegungslos, wie zu Eis erstarrt, stierte er Ben an. Dann holte er zum Gegenschlag aus und zischte ebenso bedrohlich wie verachtend: „Haben Sie schon einmal getötet, Herr Hauptkommissar? Fühlten Sie die Macht, die Sie über Leben und Tod hatten? Wie Sie sich einen kleinen Moment Ihres Lebens wie Gott fühlen können? Bestimmt nicht. Aber ich habe was Sie betrifft die Macht über Ihr Leben und Ihren Tod. Und darum sollten Sie besser vorsichtig sein und Ihre Zunge hüten.“ Ben schluckte. Er wusste, dass dieser Satz durchaus wörtlich zu verstehen war. Das war unfassbar. In seinen schlimmsten Träumen hätte er nicht daran gedacht, dass er einmal von einem Kannibalen verspeist werden könnte. Doch Lecter setzte noch einen darauf und machte seinem Opfer so den Garaus: „Sie mögen ein ehrgeiziger Junge sein – ehrgeizig und mutig – aber auch kindisch und aus Ihrem übertriebenen Mut resultierend schlichtweg dumm. Denn Sie wissen nicht, wann Sie besser still sein sollten.“ Die letzten Worte flüsterte er wieder beinahe. Ben wurde es immer unwohler. Hatte er mit seiner einen Aussage nun sein Todesurteil besiegelt? Aus jedem der nächsten Worte versuchte er abzuleiten, ob sich Hannibal Lecter bereits für seinen Tod entschieden hatte: „Ich sage Ihnen eines: Ich werde Sie lehren, wie Sie Ihrem Leben im Schatten der Millionen Ihres Vaters entfliehen können. Entfliehen in die wahren Härten des Lebens! Dann werden Sie sehen, ob dies eine gute Idee war.“ Ben fühlte sich geschlagen. Hatte er noch eine Chance? Erschöpft ließ er den Kopf hängen. Er spürte noch immer den bohrenden Blick Lecters. Vielleicht sollte er jetzt besser einlenken. Langsam hob er den Kopf.
    „Gut, Sie haben gewonnen. Was wollen Sie?“, fragte er resigniert und schwer atmend. Lecter wandte sich zufrieden ab und erklärte wohlwollend: „Nun, ich musste mir doch die Leute anschauen, die mich nun versuchen zur Strecke zu bringen. Und eines musste ich Ihnen schon in den letzten Tagen trotz ihrem schlechten Geschmack und Ihrem mangelnden Respekt lassen: Sie sind kein Feigling. Ein Löwenherz. Wie gerne würde ich davon einmal kosten…“ Bei den letzten Worten hatte er abermals die Lautstärke seiner Stimme bedrohlich gesenkt, während er sich wieder schwungvoll umgedreht, Ben näher gekommen war und langsam seinen Blick auf den Brustkorb des Kommissars gesenkt hatte. Plötzlich strich der Skalpell, den Ben bisher noch gar nicht in Lecters Hand bemerkt hatte, ganz leicht über seinen von der Kleidung geschützten Brustbereich. Es lief ihm eiskalt den Rücken hinunter. Trotz der aufsteigenden Panik, dem Zittern seines Körpers, ließ er seinen Kopf hängen, um Lecter nichtmehr ansehen zu müssen. Dieser Mensch war der pure Wahnsinn. Immer hatte Ben versucht, im Angesicht eines Verbrechers Stärke zu zeigen. Doch dieser hier machte ihn fertig. Wenn man Hannibal Lecter ansah, spürte man förmlich seine grausame Macht, mit der er Menschen innerlich zerreißen konnte, bevor er es auch äußerlich tat. „Semir, wo bleibst du?“


    ...

  • Die Zeit schien still zu stehen. Die Sorge über seinen Partner wie ins Gesicht gebrannt, stand Semir am Fenster und starrte nach draußen auf den Parkplatz der Autobahnpolizei.


    Erinnerungen fuhren im durch den Kopf. Das erste Mal, als er Ben gesehen hatte auf seinem Motorrad, seiner lässigen Kleidung und den Stöpseln seines iPods im Ohr. Genau dort drüben waren sie gestanden. Er erinnerte sich daran, wie er Ben zu Beginn ihrer Zusammenarbeit überhaupt nicht hatte leiden können, sie sich dann aber doch zusammengerauft hatten und den Mörder seines alten Partners Chris Ritter gefasst hatten. Einige Erlebnisse zogen vor seinem geistigen Auge an ihm vorbei, einzelne Bilder blitzen auf und verschwanden wieder. Semir spürte, wie Tränen in seinen Augen aufstiegen und sein Blick verschwommen wurde. Was würde passieren, wenn Hannibal Lecter nicht mehr anrufen sollte? Würden er Ben jemals wieder sehen?
    „Herr Gerkhan, wir wären jetzt so weit.“ Semir erschrak, als Clarice Starlings Stimme ihn aus seinen Gedanken riss. Er räusperte sich kurz, wischte sich einmal energisch übers Gesicht und folgte dann der FBI-Agentin, die sein Büro sofort wieder verlassen hatte. Draußen hatte sich beinahe die gesamte Belegschaft der Autobahnpolizei versammelt und stand in einem Halbkreis um ein Flip-Chart herum, auf der Kim Krüger und die amerikanische Kollegin einige Notizen und Zeichnungen gemacht hatten. Susanne stand mit einem Block und Kugelschreiber neben der Chefin, um alles zu protokollieren. Das Revier hatte sich in der letzten Stunde in eine vollausgestattete Einsatzzentrale verwandelt. Techniker arbeiteten an einem PC, der über zig Kabel an ein Telefon, ein Sprachrecorder und allerhand sonstige technische Geräte angeschlossen war. Dann erspähte er den Einsatzleiter des SEK, den er schon von früheren Einsätzen kannte. Außerdem waren auf einem Tisch allerhand Dinge aufgereiht: Angefangen von Schutzwesten für die gesamte Belegschaft über Maschinengewehre, bis hin zu Peilsendern und Leuchtraketen war alles vorhanden. Semir stellte sich neben Dieter und Jenny. Er ließ seinen durch die Runde schweifen. Die Gesichter zeigten Besorgnis aber auch Entschlossenheit. Semir spürte die Spannung, die in der Luft lag. Alles deutete darauf hin, dass sämtliche Vorbereitungen für einen Großeinsatz getroffen waren, für den die Einsatzbesprechung nun unmittelbar bevorstand. Das Gefühl der absolut perfekten Organisation konnte bei Polizeibeamten unglaubliche Motivation hervorrufen und Kraft geben. Und die hatte Semir nötig für die Schlacht, die ihm noch bevorstehen konnte.


    „So, meine Damen und Herren!“, richtete sich Kim Krüger an ihre Belegschaft: „Es sind nun sämtliche Vorbereitungen für den bevorstehenden Einsatz getroffen. Wie Sie alle wissen, befindet sich Hauptkommissar Ben Jäger offenbar in der Hand des gesuchten Serienmörders Hannibal Lecter. Sie finden auf diesem Tisch ein Dossier mit den wichtigsten Informationen über den Gesuchten, Fahndungsfotos etc. Diese Fotos liegen bei allen Flughäfen, Bahnhöfen und Zollstationen vor. Desweiteren ist das SEK, MEK und auch ein Team der GSG9 in Bereitschaft, Luftunterstützung ist uns ebenfalls zugesichert und Sondereinheiten aus Frankreich, Belgien und den Niederlanden sind auch informiert falls Lecter sich ins Ausland absetzen will.“ Sie machte eine kurze Pause und nahm einen Schluck Wasser aus einem Becher neben ihr. „Die Einsatzleitung liegt bei mir, die Bereitschaftspolizei, Fahndungs- und Sturmtruppen werden von den entsprechenden Gruppenführern koordiniert. Die Beratung zu psychologischen Fragen in Bezug auf Lecter hat FBI-Agentin Clarice Starling übernommen. Sie wird gleichzeitig als Lockvogel aktiv sein, dazu gleich mehr.
    Der Plan sieht also folgendermaßen aus: Aufgrund unserer Einschätzungen können wir davon ausgehen, dass sich Hannibal Lecter früher oder später bei uns melden wird. Dazu werden alle Anrufe für Clarice Starling, auch die aus ihrem Hotelzimmer, auf unsere Dienststelle umgeleitet, wo sie angenommen und so schnell wie möglich zurückverfolgt werden können. Sonstige Anrufe werden von der Kölner Polizeidirektion angenommen und bearbeitet. Wenn Lecter also anruft, gibt es drei Ziele: Erstens müssen wir den Zustand von Ben Jäger herausfinden, zweitens den Aufenthaltsort bestimmen und drittens Lecter einen Deal vorschlagen. Dazu wird ihm ein Austausch von Ben Jäger gegen Clarice Starling angeboten. Nach ihrer Einschätzung wird er darauf höchstwahrscheinlich eingehen.“ Semir sah in das Gesicht der FBI-Agentin. Sie sah zu Boden, als wäre sie eine Todeskandidatin kurz vor ihrer Hinrichtung. War sie bereit, sich im Extremfall für Ben zu opfern? „Der Kern des Einsatzes wird also in der Übergabe bestehen.“ fuhr Kim Krüger in ihrem gewohnt sicheren Befehlston fort: „Das ist unsere einzige Chance, Lecter zu schnappen und Ben Jäger zu retten.“ Sie sah einen Polizisten nach dem anderen an. „Dazu müssen wir mit höchster Vorsicht vorgehen. Lecter ist unglaublich raffiniert. Er wird uns alles abverlangen.“


    Danach folgte eine detaillierte Besprechung des Einsatzes, bei dem jede Vorgehensweise, Aufgaben und Positionen für jede Einheit verteilt, und sonstige zu beachtende Dinge besprochen wurden. Jeder Polizist wusste nun Bescheid, um was es ging, und was er zu tun hatte. Noch bevor Semir seine Bedenken äußern konnte, dass nun alle bis zu einem eventuellen Anruf von Lecter untätig dasitzen würden, ordnete Kim Krüger an, dass die Bereitschaftspolizei in Gruppen eine Liste mit allen bekannten, leer stehenden Gebäuden im Großraum Köln durchkämmen sollte – falls Hannibal nicht anrufen sollte.
    Doch noch während die Beamten sich mit Westen und sonstigem Equipment ausstatteten, klingelte das Telefon.


    ...

  • Augenblicklich war Stille im Raum.
    Auf einem Bildschirm erschien in großen Buchstaben: BEN JÄGER MOBIL. Ein Techniker setzte sich schnell Kopfhörer auf, drückte zwei Knöpfe am Recorder, dann noch einen auf der Tastatur des Computers und sagte dann knapp: „Aufnahme und Ortungsverfahren läuft. Bitte.“ Mit einer auffordernden Geste in Richtung des Telefonhörers sah er Clarice Starling an. Es war geplant, dass Sie den Anrufe entgegen nehmen sollte. Langsam hob sie den Hörer ab und führte ihn zu ihrem Ohr. Semirs Herz schlug bis zum Anschlag. Wie gebannt hing er am Lautsprecher des Telefons, aus dem jeden Moment die Information kommen konnte, ob Ben noch lebte oder nicht.


    „Starling.“ Selbst dieses erste Wort schien die FBI-Agentin schon Anstrengung zu kosten. Einen Moment war Stille in der Leitung – wie immer, wenn er anrief. Noch bevor eine Stimme zu hören war, wusste sie, dass er dran war.
    „Jaaa!“ Die eigenartig hohe Stimme Hannibal Lecters spielte Freude vor. Oder freute er sich wirklich? „Sehr nett von Ihren deutschen Kollegen, Sie meinen Anruf entgegen nehmen zu lassen. Etwa ein Teil der psychologischen Strategie, die Sie sich im Kampf gegen mich ausgedacht haben? Seeehr gut.“ Er schien wirklich sehr gut gelaunt zu sein.
    „Dr. Lecter, wie geht es Hauptkommissar Jäger?“, fragte Starling so sicher und bestimmt, wie Sie nur konnte. „Ich bedaure. Es geht ihm nicht besonders gut.“, schallte es seelenruhig aus dem Lautsprecher zurück. Semir biss so fest die Zähne zusammen, dass er zu zittern begann. Was sollte das bedeuten? Lecter setzte genüsslich fort: „Er sitzt da, wie ein Häufchen Elend, der Herr Hauptkommissar. Ich muss gestehen, so langsam langweilte mich die Unterhaltung mit ihm. Ich habe mich jedoch sehr zu Ihrer Freude, wie ich annehme, noch nicht dazu entschieden, seinem Leiden ein Ende zu setzen. Schließlich könnte für mich noch etwas mehr bei dieser Sache herausspringen, als nur ein gutes Abendessen, nicht wahr?“ Semir hielt es nicht mehr aus. Alle Muskeln in seinem Körper waren angespannt, er war rot angelaufen. Dieter bemerkte als erster, dass mit seinem Freund und Kollegen gleich etwas passieren würde. Schnell lief er zu Semir hinüber und hielt ihn fest. Genau im richtigen Moment, denn einen Augenblick später platze Semir heraus. Wie wild stürzte er in Richtung Clarice Starling und schrie sich mit sich überschlagender Stimme den Hass aus dem Leib. Dieter und einige Beamte hielten ihn an den Armen fest und versuchten ihn zur Ruge zu bringen. Seine schreienden Laute waren von der Aufregung derart entstellt, dass sie kaum zu verstehen waren. Er war sich sicher, er würde Lecter umbringen, falls er Ben töten würde. Aus seinem Hals und hochroten Kopf traten die Adern hervor, er bekam Muskelkrämpfe. Jenny erkannte Semirs Zustand und rief bereits einen Krankenwagen, als er noch immer schreiend und wild um sich schlagend von seinen Kollegen nach draußen gezerrt wurde. Kaum auf der Toilette der Dienststelle angekommen, übergab er sich und warf sich anschließend auf den kalten, gefliesten Boden. Die Belastung war für den Familienvater zu viel gewesen. Dieter hockte besorgt neben dem erschöpften Hauptkommissar.
    So hatte er Semir in all den Jahren noch nie erlebt.


    „Habe ich da eben eine Unbeherrschtheit im Hintergrund vernommen? Sie wissen, ich verabscheue Taktlosigkeiten.“, stichelte Lecter währenddessen. „Ben Jägers Partner, Herr Gerkhan, nehme ich an.“ Clarice Starling rang für einen Moment nach Worten. Auch ihr saß, wie allen, der Schock über Semirs Wutausbruch noch in den Gliedern. „Dr. Lecter.“, begann sie dann einen neuen Anlauf: „Ich mache Ihnen ein Angebot.“ Sie schloss die Augen und holte Luft. Der nächste Satz konnte über ihr Leben entscheiden: „Lassen Sie Ben Jäger laufen und nehmen Sie dafür mich als Austausch.“ Nun war es raus. Sie hatte dem Löwen den Knochen hingeworfen. Würde er nur damit spielen oder ihn fressen?


    ...

  • Wieder ein Moment Stille in der Leitung.
    Gebannt lauschten alle im Kreis um die telefonierende Clarice Starling stehenden Beamten, wann Hannibal Lecter den nächsten Ton von sich geben würde. Mit bittersüßer Stimme meldete er sich wieder zu Wort. Wie immer war sein bösartiges Lächeln in seiner Stimme zu hören: „Wie damals, nicht wahr Clarice? Sie machen mir ein verlockendes Angebot und Sie gehen davon aus, dass ich es annehmen werde. Und Sie haben berechtigten Grund zu dieser Annahme, schließlich habe ich mich Ihnen damals in der Küche sozusagen offenbart. Wissen Sie noch? Natürlich wissen Sie es.“ Er legte eine kurze Pause ein um seine Worte wirken zu lassen. Und sie wirkten. Clarice Starling schien kaum mehr bei dem Gespräch zu sein. In ihrem Kopf spielten sich alle Szenen noch einmal ab, die sie damals erlebt hatte. Wie hypnotisiert nahm sie zwischen den vernebelten Erinnerungen die Worte ihres Widersachers wahr: „Sie wissen mehr über mich, als jeder andere Mensch auf dieser Erde. Und nun wollen Sie zu mir kommen? Glauben Sie nicht, dass ich Ihnen diesen plumpen Trick so einfach abkaufe.“ Seine Stimme klang nun schärfer: „Sie wissen doch genau – all Ihr Wissen über mich bringt Ihnen rein gar nichts, wenn Sie mir gegenüber stehen. Oder wie sicher sind Sie sich, dass ich mir meine Hand nicht zurückhole?“ Nun begann auch ihr Körper zu zittern. Sie schwieg. Kim Krüger wurde unwohl. Auch unter den anderen Beamten breitete sich Unruhe aus. Das Gespräch entglitt ihrer Kontrolle. Clarice Starling konnte sich nicht mehr auf Ihre Aufgabe konzentrieren. Unsichere Blicke zwischen den Polizisten. Der Techniker warf einen kurzen Blick zu Kim Krüger, die sich überlegte, das Gespräch abzubrechen. Sie hatte ihre Hand schon auf die Schulter der FBI-Agentin gelegt, da hielt sie inne. „Ich könnte durchaus gekränkt darüber sein, dass Sie mich abermals verhaften wollten. Doch ich gebe Ihnen noch eine Chance, da ich Ihre Gesellschaft so schätze.“ Ein leises, keuchendes Lachen kam aus dem Lautsprecher. In diesem Moment riss der Techniker seine Faust mit nach oben zeigendem Daumen nach oben. Auf seinem PC-Bildschirm tauchte eine Landkarte mit den Rastern der Mobilfunkwaben auf. Eine Wabe blinkte grün auf. Sie hatten Bens Handy geortet, von dem aus Hannibal Lecter telefonierte. Sofort wandte sich Kim Krüger ab und gab den Einsatzbefehl an den Leiter des SEK, der daraufhin sofort nach draußen rannte. „Nun denn,“, fuhr Hannibal Lecter seelenruhig fort: „Ich freue mich, Sie wieder zu sehen. Doch werden Sie nicht übermütig und lassen Sie Ihre neue Waffe zu Hause. Wie schnell trifft man eine unüberlegte Entscheidung...“ „Wo treffen wir uns, Dr. Lecter?“, presste Clarice mit trockener Stimme hervor. „Sie wissen, wo wir uns treffen.“, tönte es aufmunternd zurück. „Ach ja - das Sondereinsatzkommando sollte an den jungen Mann denken, den ich noch in meiner Gesellschaft habe. Langsam beginnt er zu stören… À plus!“ Die Leitung war tot.


    Clarice Starling blieb bewegungslos auf dem Stuhl sitzen, auf dem sie während des Telefonats platzgenommen hatte. Sofort ergriff Kim Krüger das Wort: „Alles klar, los geht’s. Das Signal kommt aus einem Waldstück bei Brühl. Möglicherweise hält er Ben in einer alten Forsthütte oder einem leer stehenden Haus dort fest. Das SEK wird das Gelände weiträumig umstellen, bevor Starling in das Waldstück fährt. Dann rücken sie durch den Wald bis zum Treffpunkt vor. Wir müssen vorsichtig sein, da wir nicht genau wissen, wo in diesem Waldgebiet das Treffen stattfindet. Aber ist ist hier nur ein Waldweg eingezeichnet, also wird Starling darauf fahren. Und nochmal an alle: Höchste Priorität hat das Leben von Ben Jäger! Lecter wird entweder festgenommen oder, wenn es sich nicht vermeiden lässt, ausgeschaltet. Und Abflug!“ Während die Beamten nach draußen stürmten, erklang die Sirene eines Krankenwagens vor der Dienststelle. Kim Krüger warf einen aufmunternden Blick auf die noch immer bewegungslos dasitzende FBI-Agentin, klopfte ihr kurz auf die Schulter und joggte dann nach draußen. Sie musste nach Semir sehen.
    Währenddessen begannen die Techniker stumm, Clarice Starling zu verkabeln.


    „Wie geht es ihm?“, fragte Kim Krüger besorgt, als sie zum Krankenwagen hinausstürzte. „Er hat sich wieder etwas beruhigt.“, gab Bonrath zurück. „Der Arzt sagt nach erster Einschätzung, dass es kein Nervenzusammenbruch ist. Aber nahe dran.“ Er ließ seinen Blick nicht von seinem auf der Trage liegenden Kollegen und Freund ab. „Der Arzt hat ihm schon eine Beruhigungsspritze gegeben.“ Da drehte sich der junge Notarzt um: „Ja, am besten wäre es, wenn er jetzt eine Weile schlafen würde. Er ist total geschafft. Danach ein ausgewogenes Essen und dann wird das schon wieder. Erschöpft hob sich der Oberkörper des Hauptkommissars an. Keuchend stützte er sich mit seinen Ellenbogen auf der Trage ab. „Chefin, was ist mit Ben?“, presste er hervor. „Wir sind dran. Das SEK ist auf dem Weg in ein Waldstück bei Brühl, wo der Austausch mit Starling stattfinden soll.“ „Ok, dann schnappen wir uns das Ar…“ „Oh nein!“, unterbrach der Arzt Semir abrupt und drückte ihn wieder zurück auf die Trage. „Sie ruhen sich jetzt erst mal aus.“ Bonrath nickte bestätigend. Sofort wurde Semir zornig: „Aber Chefin, ich kann doch jetzt nicht einfach daliegen und schlafen, während Ben da draußen um sein Leben kämpft!“ „Semir, das verstehe ich ja. Aber in Ihrem Zustand sind Sie keine Hilfe bei dem Einsatz. Wir werden das hinbekommen.“, versuchte sie ihn zu beruhigen. Doch Semir ließ sich nicht aufhalten: „Das ist mir egal. Ich muss zu meinem Partner.“ Wieder richtete er sich auf. „Lassen Sie mich los!!“, knurrte er dem Arzt ins Gesicht. „Semir!“, zischte die Chefin nun scharf. Ihre Geduld war am Ende. „Sie sind in Ihrem Zustand nicht einmal in der Lage eine Waffe zu führen!“ „Das ist Lecter auch nicht.“, gab er trocken zurück und hüpfte von der Trage. Energisch schob er den perplexen Notarzt zur Seite und lief zielstrebig auf den Eingang der Dienststelle zu, aus der man ihn vor wenigen Minuten hinausgetragen hatte. „Gerkhan!“, rief Kim Krüger ihm nach. Doch er reagierte nicht. Zuerst torkelte er einen Moment, bis er sich dann wieder gefangen hatte und schnurstracks in sein Büro lief. Kaum eine Minute später kam er mit unverändert starrem, entschlossenem Blick zurück, stieg in seinen Dienstwagen und ließ die ratlose Chefin, den Notarzt, Jenny und Bonrath einfach stehen. Wütend gestand Kim Krüger ihre Niederlage ein. „Los geht’s!“, forderte sie ärgerlich ihre Mitarbeiter auf und setzte sich in Bewegung.



    „Sie haben Glück, Hauptkommissar Jäger. Sie werden anscheinend noch gebraucht… Zumindest ist das die Ansicht Ihrer Kollegen.“ Hannibal Lecter stolzierte lächelnd um den gefesselten Ben, während er genüsslich sein Skalpell betrachtete, ihn gegen das Licht hielt und die Schärfe prüfte. Von dem Hauptkommissar kam kein Lebenszeichen. Er saß nach wie vor auf dem Stuhl und ließ bewusstlos den Kopf hängen. „Bald werden wir ein wenig Gesellschaft haben.“, grinste Lecter ihm aufmunternd zu.



    In diesen Minuten sprangen Kim Krüger und zwei Polizisten in einen Van und brachen auf in das Waldstück. Einige Meter vor ihnen fuhr Clarice Starling in einem schwarzen BMW auf ihrem Weg zum Übergabeort. Sie fühlte sich allerdings eher wie eine Kuh auf dem Weg zur Schlachtbank. Doch bis sie am Treffpunkt mit Lecter angekommen sein würde, würde das SEK alle Vorbereitungen für den Zugriff getroffen haben, so dass weder ihr noch Ben etwas geschehen sollte.
    Das war zumindest der Plan, doch der Miene aller Beteiligten war die Anspannung ins Gesicht geschrieben. So leicht würde sich Hannibal Lecter nicht überlisten lassen. Oder war Clarice Starling tatsächlich sein einziger Schwachpunkt und im Kampf gegen den Psychopathen der größte Trumpf?


    ...

  • Es war später Nachmittag.
    Graue Wolken standen am Himmel und verdeckten die Sonne. Ein kühler Wind strich durch die Wipfel der Bäume, als Clarice Starling aus dem zivilen Einsatzwagen der Polizei stieg. Sie stand mitten auf einem Waldweg in einer langgezogenen Linkskurve. Vor der Wegbiegung hielt nun auch leise der dunkelblaue Van, in dem Kim Krüger saß. Das SEK hatte die Gegend kreisförmig umstellt und drang nun vorsichtig im Schutz der Bäume vor, bis etwas zu sehen war. Doch wo war Semir? Von seinem silbernen BMW war weit und breit keine Spur. Wusste er, wo der Austausch genau stattfinden sollte? „Oh Mann, hoffentlich macht dieser Dickkopf keine Dummheiten.“, stöhnte die Chefin, als sich Clarice Starling schließlich über ihr im Mantelkragen verstecktes Funkgerät meldete: „Ich sehe ein kleines Haus in einiger Entfernung am Straßenrand. Ich gehe zu Fuß weiter.“ „Verstanden.“, bestätigte Kim Krüger umgehend. Mit gesenktem Blick atmete Sie tief durch. Sie hatte ein ungutes Gefühl in der Magengegend. „Hoffentlich geht alles glatt. Sonst steht die deutsche Polizei vor den Amerikanern wie Amateure da.“


    Schritt für Schritt ging die FBI-Agentin auf dem Waldweg entlang. Unter ihren Schuhen knarzte mit jedem Schritt der steinige Boden. Keine Sekunde ließ sie das kleine Gebäude aus den Augen. Es erschien ihr untypisch für diese Gegend. Im Wald rechnete man immer nur mit Holzhütten. Doch dieses Gebäude hatte betonierte Mauern. Trotzdem sah es bereits ziemlich heruntergekommen aus. Der Putz bröckelte von den Wänden, die Decke war anscheinend teilweise eingefallen. „Nur ein Erdgeschoss, möglicherweise führt noch eine Treppe nach unten. Am Boden ist ein kleines verwachsenes Fenster zu sehen. Vielleicht vom Keller.“ „Alles klar. Irgendwelche Personen zu sehen?“ „Negativ.“, gab Starling kurz zurück, wobei sie versuchte, ihren Mund kaum zu bewegen. Jede Bewegung ihrer Lippen konnte für einen Beobachter sichtbar sein und sie verraten. Ängstlich sah sie sich um. Hinter jedem Baum konnte der Psychopath lauern. Sie stand nun etwa 20 Meter vor dem Gebäude, das zu ihrer Linken am Straßenrand aufgetaucht war. Ringsum waren nur Bäume und dieser eine Schotterweg, soweit sie in den Wald sehen konnte. Eine graue, metallene Eingangstür war an der zum Weg gerichteten Seite des Hauses angebracht. Sie war geschlossen. Einen Moment blieb Starling stehen. Irgendetwas hatte sie dazu bewegt innezuhalten. Sie lauschte. Das eigentümliche Rauschen, das im Wald zu hören ist, war zu vernehmen. In ein paar Kilometern Entfernung die Autobahn. Ein Specht. Sie sah nach oben. Die Bäume verdeckten die wenigen Sonnenstrahlen dieses Tages und tauchten den Waldweg so in eine eigentümlich dunkle Atmosphäre. Es war ziemlich kühl hier. Oder lief ihr nur ein erneuter Schauer über den Rücken, weil sie daran dachte, mit wem sie sich treffen sollte? Würde sie noch heute in diesem Wald sterben? Wer wusste das schon? Außer vielleicht einer…


    In diesem Moment schritt Dr. Hannibal Lecter hinter der Fassade des Gebäudes hervor. In kerzengerader Haltung stolzierte er in rechtem Winkel zu Clarice Starling durch das hohe Gras um das Haus, bis er den Waldweg erreicht hatte und ihr nun direkt gegenüber stand. Die Polizistin stand wie angewurzelt da und fixierte den alten Mann ohne jede Bewegung. Mit einer schwungvollen Bewegung drehte Lecter sich um 90 Grad und sah sie nun das erste Mal, seit er aufgetaucht war, an. Über sein Gesicht huschte ein Grinsen. „Guten Tag, Clarice. Schön, dass Sie kommen konnten.“ Er begrüßte die in gut 10-15 Metern Abstand stehende Frau wie bei einem Rendezvous unter normalen Menschen. Seine Haltung war noch immer kerzengerade, fast steif, seine Brust herausgestreckt, die Beine zusammen und mit beiden Armen ruhig an der Seite seines Körpers hängend.
    „Wo ist Ben Jäger?“, warf Clarice Starling ihm gefühlskalt entgegen. Wieder versuchte sie, ihre Angst so gut es ging, zu verstecken. Doch sie wusste, dass er sie förmlich roch. „In der Nähe.“, entgegnete Lecter freundlich.


    „An alle Einheiten! Lecter ist aufgetaucht. Ist das SEK in Stellung?“, rief Kim Krüger währenddessen hektisch in das Funkgerät. Sie hatte über das an Starling angebrachte Mini-Mikrofon jeden Satz des Gesprächs mitbekommen. „Negativ, wir kämpfen uns noch zum Zielort vor. Schließlich mussten wir zu Beginn den Sicherheitsabstand einhalten. Wer konnte ahnen, dass die Zielperson schon so schnell auftaucht?“, kam es vom Einsatzleiter des SEK zurück. Kim Krüger fluchte: „Und jetzt ist sie mit dem Psychopathen ein paar Minuten allein! Wo steckt nur Semir?“


    ...

  • „Clarice, sehen Sie irgendwas von Ben?“, fragte Kim Krüger über Funk. Starling reagierte sofort: „Dr. Lecter, es war abgemacht, dass Sie Ben Jäger gegen mich tauschen. Ich habe meinen Teil der Abmachung erfüllt. Jetzt sind Sie dran. Ich sehe aber nichts von ihm!“ „Verstanden.“, bestätigte die Leiterin der Autobahnpolizei.
    „Ach Clarice, die Sache ist ein Spiel. Es geht nicht immer nur um das Geschäftliche. Sehen Sie das Erfreuliche an diesem Treffen!“, forderte Lecter sie fröhlich auf. „Das fällt mir schwer.“, entgegnete sie kalt. „Ich weiß… Ich weiß.“ Er setzte einen bedauernden Gesichtsausdruck auf. „Schon seit damals in der Küche wusste ich, dass Sie mich wohl immer abweisen werden. Sie haben keinen Einblick in diese, meine Welt.“ Welches Ziel verfolgte er mit seiner Gesprächsführung? „Welche Welt? Die, unschuldige Menschen zu töten?“ „So langsam müssten Sie es doch wissen, dass niemand unschuldig ist. Der Mensch ist ein Sünder. Das ist seine Natur. Die Sünde als Resultat von allgegenwärtiger Begierde. Dagegen ist kein Ankommen.“, erklärte er. Clarice Starling fragte sich, ob bereits Scharfschützen in Stellung waren. Lecter hatte augenscheinlich im Moment keine Waffe, außer seiner Stimme. Er gab für Gewehrkugeln ein leichtes Ziel ab. Doch sie wusste, dass keine Schussfreigabe erteilt werden würde, solange keine Spur von Ben zu sehen war.
    „Gut Dr. Lecter, wie stellen Sie sich den weiteren Ablauf vor?“ Er lachte hämisch: „Glauben Sie, ich wüsste nicht was ihr Schachzug bei diesem Spiel hier ist? Sie wollen mich dazu bringen, Ihnen den armen, hilflosen Ben Jäger zu präsentieren und mich außer Gefecht setzen lassen, sobald er in Sicht ist. Wo bleibt denn dabei der Spaß? So einfach werden Sie es bei mir nicht haben, Sie ungezogenes Mädchen.“ Er schnalzte, seine Worte untermalend, grinsend mit der Zunge. „Doktor, so kommen wir nicht weiter. Ich bin da, was wollen Sie noch?“ Auffordernd lief Starling ihren ganzen Mut zusammennehmend ein paar Schritte auf den Kannibalen zu. Wie ein sich bedroht fühlendes Raubtier veränderte ihr Gegenüber augenblicklich sein Verhalten in Aggressivität, die sie sofort zum stehen brachte. Scharf schleuderte er ihr die Worte entgegen: „Fühlen Sie nicht die Hinterlistigkeit, mit der Sie agieren? Mit einem albernen, plumpen Trick, auf den nicht einmal Jack the Ripper hereingefallen wäre, versuchen Sie mich zu überlisten! Ich habe damals genau Ihre Tränen gesehen, als ich Sie in der Küche geküsst habe – angekettet, bevor ich meine eigene Hand abgeschlagen habe statt Ihre, um von den Handschellen loszukommen. Und so zahlen Sie es mir zurück? Oh nein, so einfach kommen Sie mir nicht davon! Dafür haben Sie mich zu oft zu hintergehen versucht!“ Er redete sich vor lauter Zorn in Rage. Kim Krüger wurde immer unruhiger. Allein die Worte zu hören, verschaffte ihr keinen Überblick über die Situation, sie verwirrten sie eher. Von was für einem Kuss hatte Lecter gesprochen? War Starling in akuter Gefahr? „Wo bleibt das SEK? Zugriff vorbereiten!“, rief sie, sich an den letzten Strohhalm klammernd. „Wir brauchen noch, der Weg ist schwerer als gedacht. Ist Jäger schon in Sicht?“ „Verdammt, nein!“, schrie sie zurück. Vor lauter Verzweiflung hatte sie vergessen, das Headset, dass sie nur mit Clarice Starling verband, zuzuhalten, damit sie nicht verängstigt war, dass sie dort draußen praktisch keinen Schutz hatte. Nur an den Knöcheln steckte ein kleiner Revolver in einem verdeckten Holster. Sollte Kim Krüger selbst das Fahrzeug verlassen und sich auf den Weg machen, um im Notfall eingreifen zu können?


    Die FBI-Agentin versuchte unterdessen vergeblich, ihre verängstigten Gesichtszüge zu verbregen. Lecter fauchte sie weiter mit unvermindertem Zorn an: „Ich habe mich bislang jeden Tag dafür entschieden, Sie am Leben zu lassen – ja, die Welt ein Stück interessanter sein zu lassen. Doch jetzt werde ich mich neu entscheiden. Es ist oftmals nur eine so kleine Bewegung, die einen Kuss von einem Biss unterscheidet, nicht wahr?“ Die letzten Worte zischte er nur noch – die Worte eingehüllt in sein allgegenwärtig grausames, bösartiges Grinsen, das die Zähne des Kannibalen offenbarte.


    Kim Krüger musste hilflos mit anhören, wie ihr die Kontrolle über den Einsatz entglitt. Die zeitliche Abstimmung zwischen dem Eintreffen des SEK und dem Beginn des Treffens war katastrophal gewesen. Doch diesen Zeitpunkt hatte nicht sie gesteuert, sondern ein unberechenbarer Soziopath. Kim Krüger stand auf und öffnete die Tür des Vans.


    „Wie fühlen Sie sich jetzt Clarice? Sie haben mich in der Falle, nur dieser kleine, so unbedeutende Kommissar hält sie von Ihrem großen Triumpf ab. Denken Sie doch an sich! Ich gehöre Ihnen, dann aber vielleicht er nicht mehr. Entscheiden Sie sich!“, flüsterte er ihr zu, während er beschwörend auf sie zu kam. Sie trat einen Schritt zurück. Ben Jäger zu retten, war ihre Aufgabe. Ohne Lecter würden sie Jäger vielleicht nie finden. Sie brauchte den Kannibalen lebend – noch.


    ...

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  • Schritt für Schritt kam er auf sie zu. Dieser Anblick kam ihr so bekannt vor. Nur fand er diesmal in der freien Natur statt. „Schuss ins Bein“, schoss es ihr durch den Kopf. Ein Griff nach unten an ihren Knöchel. Nein, dazu war er ihr schon zu nahe. Musste Sie sich tatsächlich opfern, um Ben Jäger vielleicht das Leben zu retten?


    „SEK vor Ort. Team Rot ist an der hinteren Wand des Gebäudes, sehen uns heimlich nach Einstiegsmöglichkeit um, um das Haus zu durchsuchen. Team Blau hat Sichtkontakt zu Lecter und Starling. Scharfschützen warten auf Feuerbefehl.“ Die Meldung des SEK-Leiters war für Kim Krüger eine riesen Erleichterung. Sofort war sie wieder bei der Sache. Jetzt galt es richtig zu handeln. „Scharfschützen bleiben auf Standby, solange wir Jäger nicht haben. Team Rot, durchsucht das Haus, wenn möglich. Bleibt aber in Deckung! Zugriff nur bei akuter Gefahr!“


    „Entscheiden Sie sich!“, beschwor Lecter sie noch immer. „Haben Sie trotz all Ihrem Ehrgeiz kein Selbstwertgefühl? Sie können mich hier und jetzt erledigen! Das ist Ihr Ziel! Sie wissen es und ich weiß es!“ Er trieb ein perfides Spiel mit dem Leben von Ben Jäger. Oder bluffte er am Ende nur? „Was haben Sie mit meiner abgeschlagenen Hand getan? Haben Sie sie behalten, als Souvenir? “, stachelte er sie weiter an. Sie verstand den Zusammenhang nicht. Er schien ihre Gedanken lesen zu können: „Ein Souvenir demonstriert den Sieg und lässt in Erinnerungen die Macht des Siegers neu aufflammen! Jemand der Souvenirs behält, kostet seinen Sieg aus! Geben Sie es zu, Sie hätten die Hand gerne behalten!“ In einem irren Rausch überschüttete er Clarice mit Worten. Sie wurde wirr, sie konnte sich nicht mehr konzentrieren. Es blieb ihr in ihrer Bedrängnis nichts anderes übrig, als auf die Frage zu antworten: „Nein! Niemals! Ihre Hand ist von der Spurensicherung mitgenommen worden!“ „Ach Clarice, Sie waren doch nicht etwa so ehrlich und dachten daran, dass Sie keinen Besitz von etwas ergreifen dürften, was Sie nicht selbst… erlegt haben, oder doch? Dann wissen Sie auch, wer das Souvenir für Sie erlegt hat! Ich hätte es Ihnen gegönnt, aber Sie lehnten ab! Holen Sie es jetzt nach!“ Seine Stimme war inzwischen so stechend scharf, dass sie sich in ihrem Kopf festbiss und es ihr unmöglich machte, einen klaren Gedanken zu fassen. Seine wahnsinnige Logik erschloss sich ihr nur zum Teil. Er war direkt vor ihr, sie war in Bedrängnis. Sie musste sich verteidigen. Oder setzte er sie nur unter Druck um sie zu etwas zu bringen, dass nur ihm in die Karten spielte? Aber was war sein Ziel? Wollte er hier und heute sein Leben beendet haben – von ihr? Das konnte doch nur ein Bluff sein!?


    „Clarice! Clarice! Sollen wir zugreifen?“ Kim Krüger war nicht sicher, ob sie das tun konnte. Im Extremfall stand nun tatsächlich das Leben von Clarice Starling gegen das von Ben. Der Zugriff bedeutete wahrscheinlich Lecters Tod – dann konnte auch Ben verloren sein, wenn er nicht im Gebäude war, sondern irgendwo anders. Doch kein Zugriff konnte womöglich den Tod der FBI-Agentin bedeuten. Seit fast einer Minute schrie sie nun schon nach Starling, die die Worte der Einsatzleiterin aber nicht wahrnahm. Alle ihre Sinne waren nur auf den Psychopathen vor ihr gerichtet. „Team Blau, ist Starling in Gefahr?“ Kurze Pause. „Hier Team Blau. Schwer zu sagen. Er setzt sie unter Druck, aber es ist keine Waffe in Sicht.“ Kim Krüger atmete kurz erleichtert auf. Sie würde keinen Zugriff oder finalen Rettungsschuss befehlen. „Team Rot, habt ihr Zugang zum Haus?“ „Hier Team Rot. Negativ, einziger Zugang zum Gebäude ist von der Zielperson einsehbar.“ „So ein Mist!“, schimpfte sie. Konnten Sie einen Zugriff riskieren, bei dem Lecter nicht getötet werden sollte? Nein, das Risiko bei diesem Mann war zu groß, dass er einen Beamten zu einer Reaktion zwang, die Lecters Tod zur Folge hatte. Von keinem Beamten konnte verlangt werden, dass er in einen Zugriff gegen dieses Monster ging, ohne in Erwägung zu ziehen, in Notwehr einen tödlichen Schuss abzugeben.


    „Was ist mit Ihnen, Clarice? Der Griff zu Ihrer Waffe ist so leicht, so schnell. Glauben Sie doch nicht, dass ich die kleine Beule an ihrem rechten Knöchel übersehen habe!“ Es war raus. Lecter wusste von der Waffe. Doch sie würde ihn nicht erschießen. Nein, nicht bevor Ben Jäger nicht gerettet war! „Nein!“, schrie sie verzweifelt. „Nun denn - es tut mir leid“, Lecter nahm Anlauf: „werde ich Sie wohl dazu zwingen müssen!“ Er sprang auf sie zu. Das letzte was Clarice Starling sah, war der weit aufgerissene Rachen Lecters, der geradewegs auf ihr Gesicht zuschoss. Sie stieß einen Schrei aus und schloss die Augen, noch bevor sie zum Revolver greifen konnte. Noch während dem Aufprall auf dem steinigen Boden spürte sie Zähne in ihrem Gesicht.


    ...

  • „Lecter attackiert sie!“, schallte es plötzlich durch das Funkgerät. Kim Krüger fuhr zusammen. Es ging nicht anders. Sie konnte die Agentin nicht sterben lassen. Augenblicklich gab sie den Befehl: „Feuerfreigabe erteilt!“ Kaum eine Sekunde später erschütterte ein Schuss den Wald.
    Vögel stoben auf. Der Knall hallte noch lange im Wald nach. War das nicht nur der Tod von Lecter, sondern auch der von Ben?


    Nach dem Schuss warf es Hannibal Lecter augenblicklich von Starling herunter. Mit blutendem Gesicht blieb die Agentin liegen. Der Kannibale selbst wälzte sich laut knurrend neben ihr am Boden. Kim Krüger gab aus ihrem Van sofort weitere Anweisungen, auch wenn ihr die Situation nicht ganz klar war. Sie hatte schließlich nicht sehen können, was sich abgespielt hatte. „Team Rot stürmt das Gebäude!“ Sofort stürmten mehrere Beamten aus ihrer Deckung hervor und drangen in das Haus ein. Rauchgranaten zischten, überall waren die lauten Rufe der vorstoßenden Polizisten zu hören.
    Diesen Moment nutzte Hannibal Lecter, um sich unter Schmerzen aufzurappeln. Sein linker Arm blutete stark und hing nur schlaff herab, doch er konnte noch laufen. Der Schuss des Scharfschützen hatte ihn bei seinem Angriff auf Starling nur so verletzt, dass er von der Agentin abgelassen hatte. Doch kaum stand der Kannibale wieder auf seinen Beinen, war ein Polizist des zweiten SEK-Teams zur Stelle. Ein weiterer kümmerte sich sofort um die am Boden liegende Starling, während die beiden Scharfschützen weiter ihre Position im Wald eingenommen hatten. Der Beamte stürmte auf Lecter zu, der ihm den Rücken zugewandt hatte und leicht gebeugt dastand. Doch kaum ergriff der Polizist den alten Mann, fuhr er in einer blitzschnellen Bewegung herum. Ein kurzer Stoß, ein kurzes Stöhnen und der SEK-Mann sank geräuschlos zu Boden. Niemals hatte er mit einer derart schnellen Reaktion dieses alten Mannes gerechnet. Noch bevor der andere Beamte bemerkte, was geschehen war, war Lecter so schnell ihn seine alten Beine trugen in den Wald gelaufen. Ein erneuter Schuss eines Scharfschützen hallte durch den Wald, eine Kugel schlug krachend in einen Baum ein. Doch der Kannibale war weiter auf der Flucht.


    „Was ist hier los??“, schrie Kim Krüger, als sie aus dem Van sprang, der kaum eine Minute später am Ort des Geschehens eintraf. Wild gestikulierende Polizisten liefen umher, andere rannten gerade in den Wald. Über ihnen ratterte mittlerweile ein Polizeihubschrauber. „Das Gebäude ist leer und Lecter ist flüchtig! Aber er ist verletzt!“ „Oh mein Gott.“ Kim Krüger stand fassungslos vor der der Szene. Clarice Starling hatte sich inzwischen aufgerichtet und hielt sich mit einer Hand die Backe. An ihren Händen und ihrer Kleidung klebte Blut. „Krankenwagen sind schon auf dem Weg“, rief ein anderer Beamter der Einsatzleiterin zu. „Lasst den Heli die Umgebung absuchen!“, schrie sie in einer Mischung aus Ärger, aber auch Verzweiflung und Hilflosigkeit.


    Keuchend stolperte Hannibal Lecter durch das Gestrüpp. Dornen zerkratzen seine Arme, doch er spürte den Schmerz nicht. Wie ein Besessener richtete er seinen Blick starr auf das Ziel: Eine Lichtung. Er war sicherlich mehr als zehn Minuten quer durch den dichten Wald gerannt. Für sein Alter war er überraschend fit. Schließlich brach er durch ein Gebüsch nach draußen auf die menschenleere Lichtung. Vor ihm erstreckte sich ein kleiner See, wie es sie in dieser Gegend oft gab. An das stille Gewässer grenzte eine kleine Wiese an, am Ufer stand ein hölzernes Bootshaus. Er sah sich einen Moment um, bevor er dann auf die Hütte zustürzte. Dorthin hatte er Ben Jäger in der letzten Nacht gebracht. Der Kannibale fand erstaunlich schnell wieder zu Kräften. Sein Puls war auch diesmal kaum über 85 Schläge gestiegen.
    Schwungvoll stieß er ein paar alte Bretter zur Seite, die er vor dem Eingang des alten Bootshauses platziert hatte. Er vernahm das Geräusch eines Hubschraubers. Schnell huschte er durch die alte, knarzende Tür nach innen und zog sie hinter sich zu. Nur ein kleines Fenster und ein paar Ritzen im Holz ließen nun Licht in das Häuschen dringen. Von unten war das plätschern des Wassers zu hören, das gegen die im Wasser stehenden Pfeiler schwappte, auf denen eine Hälfte des Bootsschuppens gebaut war. Er sah sich einen Moment um. Allerhand Dinge wurden hier gelagert. Überall alte Paddel, Bretter, aber auch einige Gasflaschen standen hier herum. Draußen auf der kleinen Wiese hatte er einen Grillplatz gesehen. Wahrscheinlich wurden sie dazu verwendet. Lecter grinste in sich hinein. Er warf einen Blick unter ein altes Boot, das verkehrt herum auf dem staubigen Boden lag. Dort lag Ben Jäger. Gefesselt und schwer atmend. Genau wie er ihn vor Stunden hier zurückgelassen hatte. Um ihn würde er sich gleich kümmern. Doch zuerst hatte er noch etwas zu erledigen. Er gab zu, die Sache war nicht gelaufen wie geplant. Doch wenn er hier draußen wieder die Gesellschaft der Polizei bekam, würde er vorbereitet sein…


    ...

  • „Er muss Jäger erst vor kurzer Zeit hier weggeschafft haben. Im Keller des Hauses stand ein alter Stuhl. Auf dem Boden lagen Seile, an denen Blutspuren gefunden wurden. Sie waren noch nicht sehr alt.“ Clarice Starling stand mit einem großen Verband, der einen Teil ihres Gesichts verdeckte, an einem Krankenwagen auf dem Waldweg. Neben ihr wurde gerade der verletzte SEK-Mann abtransportiert, dem Lecter blitzschnell die Klinge seines Skalpells genau in die Lücke zwischen Hose und Schutzweste gerammt hatte, als dieser ihn festnehmen wollte.
    Clarice betrachtete nun zusammen mit Kim Krüger unter Schmerzen einen Plan der Umgebung. Mehrere Seen waren darauf eingezeichnet. „Ok, wo könnte Lecter hin wollen? Durch den Wald zu rennen, bringt ihm nicht viel. Außer, er hat ein Ziel.“ Sie fasste sich nachdenklich an ihr Kinn. „Gibt es an diesen Seen irgendwelche Möglichkeiten, Schutz oder Deckung zu finden? Vielleicht in Grillhütten? Bootshäuser?“ Kim Krüger sah ihre amerikanische Kollegin an. Das war vielleicht ihre einzige Chance.



    Stolz betrachtete Hannibal Lecter sein Werk. Dann warf er einen misstrauischen Blick in den Wald. Er sah in alle Richtungen. Bisher war nichts zu sehen. Er musste sich beeilen, denn er hatte noch etwas zu erledigen…



    „Semir, wenn Sie das hören, dann rufen Sie mich sofort an! Wenn Sie Ihrem Partner schon helfen wollen, dann gefälligst mit uns gemeinsam! Keine Alleingänge!“ Semir hatte offensichtlich sein Handy aus. Nur die Mailbox meldete sich. „Der macht mich noch wahnsinnig.“, stöhnte Kim Krüger und steckte ihr Handy weg.



    „So, Herr Hauptkommissar! Wir haben noch etwas vor.“ Hannibal Lecter zog den gefesselten Körper unter dem Boot hervor. Ben konnte keine großen Versuche unternehmen, sich zu wehren. Er war zu schwach. Die Fesseln schnürten ihm bereits zu lange das Blut in den Händen ab. Der Knebel in seinem Mund war staubtrocken. Er wusste nicht, wie lange er noch durchhalten würde.
    Benommen ließ er seinen Oberkörper aufrichten und gegen die Innenwand der Hütte lehnen. Er hatte keine Ahnung, wo er war. Er war sicher die ganze Nacht im Dunkeln gelegen, seit er von Lecter erneut mit Chloroform betäubt worden war und er wieder das Bewusstsein verloren hatte. Es fiel ihm schwer, seine Augenlider zu öffnen. „Nun denn.“, begann der grinsende alte Mann vor ihm. „Wie Sie wissen, hat jedes Spiel ein Ende. Und oft läuft ein Spiel nicht so wie geplant. Aber eines ist gewiss: Es wird immer einen Sieger geben.“ Geräuschvoll zog er sein Skalpell hinter dem Rücken hervor. Die rasiermesserscharfe Klinge war bedeckt mit Blut. Hannibal Lecter putzte sie mit einer geschmeidigen Bewegung an seinem Hemdärmel ab und hielt sie anschließend gegen das Licht, um sie zu betrachten. Er stand so direkt vor dem kleinen Fenster, durch das nur wenig Licht ins Innere des Boothauses drang. Die Glasscheibe war größten Teils mit Dreck und Staub bedeckt. Doch für seinen Zweck würde das Licht ausreichen. Er wandte sich wieder an sein bewegungslos auf dem Boden sitzendes Opfer. „Und dieser Sieger werden heute zumindest nicht Sie sein, Herr Jäger.“ Der Kannibale senkte seinen Blick. Die Klinge des Skalpells hielt er genau so, dass sie aus seiner Perspektive Bens Körper fast komplett verdeckte. Ben gab keinen Laut von sich. Er wünschte sich fast, dass es bald vorbei wäre. Er hatte die Hoffnung verloren. Keine Schmerzen mehr – was für ein wundervoller Gedanke. Er ließ den Kopf hängen. Auch als Lecter ihm den dreckigen Knebel aus dem Mund zog, schrie er nicht. Der ganze Rachen schmerzte ihm. Er brauchte Wasser. Er schien keinen Muskel seines Körpers mehr kontrollieren zu können. Er spürte nur Schmerz. Wann würde es endlich vorbei sein?
    Hannibal Lecter hob andächtig den Skalpell in die Luft: „Bereit, wenn Sie es sind, Hauptkommissar Jäger.“, sagte er höflich und holte aus. „Ist nichts Persönliches.“ Dann setzte er seinen Arm in Bewegung...


    ...

  • Die Klinge zischte durch die Luft. Ben hatte die Augen geschlossen und nahm nur das Geräusch wahr. Das Letzte, was er hören sollte.


    In diesem Moment klirrte die Glasscheibe rechts über ihm. Glas splitterte und die Scherben prasselten auf ihn nieder. Ein lauter, verzerrter Schrei und der dunkle Schatten vor ihm wurde wegerissen. Ein lautes Krachen, wie wenn ein schwerer Gegenstand auf Holz landete und es zerbrach. Unter Anstrengung öffnete er seine Augen und bewegte schwerfällig den Kopf.
    Hannibal Lecter lag am Boden, unter ihm das zerbrochene Holz des Bootes, unter dem Ben in der Nacht gelegen hatte. Und auf dem Kannibalen – eine Person, die Ben kannte. Er traute seinen Augen und seiner Wahrnehmung nicht. War das alles Wirklichkeit? Auf Hannibal Lecter lag wild auf ihn einschlagend – Semir.


    Getrieben von Wut holte Semir für einen Faustschlag nach dem anderen aus. Er legte alle Kraft, die er noch hatte, in die Schläge. Der Sprung durch die Glasscheibe des Bootshauses ins Innere war sehr schmerzhaft gewesen. Die Scherben hatten ihm das Gesicht und die Hände zerschnitten. Von seiner Stirn tropfte Blut. Doch es interessierte ihn nicht. Mit verkrampftem Gesicht und zugekniffenen Augen schlug er auf den Kannibalen ein. Erst als dieser sich kaum mehr rührte, ließ er nach. Doch plötzlich riss Lecter seinen Arm hoch. Semir zuckte zurück doch es war zu spät. Er spürte einen schneidenden Schmerz am Hals und fasste sich reflexartig mit beiden Händen an die Kehle. Nach Luft ächzend torkelte er zurück, stolperte und krachte mit dem Rücken gegen die Innenwand des Bootsschuppens. Links neben ihm vernahm er das leise, verzweifelte Wimmern seines Partners. Semir wurde schwarz vor Augen. Verkrampft presste er die Hände auf seinen Hals. Er spürte, wie er gepackt wurde, nach draußen ins Licht gezerrt wurde und gegen etwas Metallenes geworfen wurde. Er schrie auf. Großflächiger Schmerz zog ihm über den Rücken. Etwas hinter ihm gab nach und kippte um. Dann hörte er etwas zischen. Dieses Geräusch erkannte er trotz all seinem Schmerz und all seiner Panik. Es war austretendes Gas aus den Flaschen, zwischen denen er lag. Offenbar hatte sich ein Ventil geöffnet, als er auf sie geworfen worden war. Schockiert am Boden liegend riss er die Augen auf und erblickte den genau vor ihm stehenden Psychopathen. Überall im Gesicht hatte er Hämatome und blutete aus der Nase. Mit scheinbar letzter Kraft reckte er erneut, wie in einem Ritual, die tödlich scharfe Klinge in die Höhe und keifte mit stechendem Blick: „Gute Nacht, Herr Gerkhan!“


    Dann ein Schuss. Mit einem lauten Echo hallte er über die Lichtung. Semir fuhr zusammen – den Blick starr auf Lecter gerichtet. Dann ein weiterer Schuss. Der Kannibale stand mit weit aufgerissenen Augen da, die Arme zu beiden Seiten ausgestreckt, als ob er an einem Kreuz hängen würde. Das Skalpell fiel ihm aus der Hand. Er torkelte auf Semir zu. Der Hauptkommissar flüsterte nur ein kurzes: „Oh Gott!“ und rappelte sich auf, so schnell es ging. Ein zweiter, dritter und vierter Schuss ließ die Bäume erzittern. Lecter torkelte weiter, und weiter. Dann kippte er. Semir humpelte unter starken Schmerzen und blutend in die Hütte, riss Ben nach oben, warf sich seinen Arm über die Schulter und zog ihn nach draußen. So schnell ihn seine Füße trugen, zerrte er seinen Partner mit sich und entfernte sich mit allerletzter Kraft von der Hütte. Hinter ihnen schlug Dr. Hannibal Lecter mit seinem Körper neben dem Haufen Gasflaschen auf dem Boden auf. Ein letzter Schuss hallte, dann stieg über der Lichtung ein Feuerball auf.


    Lecter wurde in die Luft geschleudert und flog einige Meter von den explodierenden Gasflaschen weg. Ben und Semir wurden ebenfalls von der Druckwelle zu Boden gerissen. Die Bootshütte zerbrach in tausend Stücke und zerstreute sich über den ganzen Waldboden.
    Dumpf schlug der bewegungslose Körper des wohl schrecklichsten Mörders aller Zeiten auf dem weichen Waldboden auf.


    Ben und Semir bleiben erschöpft im Gras liegen. Über ihnen kreiste der Polizeihubschrauber. Nur schemenhaft nahmen sie die zu ihnen eilenden Sanitäter wahr und die an ihnen vorbeilaufende Clarice Starling, die ihnen mit ihren Schüssen das Leben gerettet hatte.
    Mit geschocktem Blick lief sie zum regungslosen, lädierten Körper des Kannibalen hinüber. Er lag am Ufer des Sees und starrte zufrieden in den bewölkten Himmel. Als er die FBI-Agentin neben ihm bemerkte, bewegte er seine Augen einen kurzen Moment zu ihr hinüber, bevor sie kaum merklich wieder in die ursprüngliche Position zurückkehrten. Sehr langsam und schwerfällig öffnete er seinen Mund. Er brauchte einen Anlauf, bis er einen Ton herausbrachte und schließlich leise hauchte: „Danke Clarice… Danke.“ Danach fror sein Blick ein.
    Zum ersten Mal schien das sonst so teuflisch erscheinende Grinsen auf seinem Gesicht einfach nur wie ein zufriedenes Lächeln.
    Clarice Starling sank neben ihm zu Boden. Langsam rann ihr eine Träne über die Wange.



    Zwanzig Minuten später war die Waldlichtung voll mit Einsatzwagen der Polizei und der Feuerwehr. Die Besatzung eines auf der Wiese gelandeten Rettungshubschraubers hatte Ben und Semir erstversorgt. Für Hannibal Lecter kam jede Hilfe zu spät. Seinen Körper hatten zu viele Kugeln getroffen.
    Clarice Starling saß nachdenklich mit einem Becher heißem Tee in der Hand neben Ben und Semir. Alle drei waren in eine Goldfolie eingepackt, Ben lag auf der Trage des Rettungshubschraubers. Nachdem er eine Spritzen bekommen, eine Kanüle gelegt worden war und er Wasser zu trinken bekommen hatte, ging es ihm bereits wieder etwas besser. Trotzdem schmerzten sein steifer Rücken und vor allem seine so lange abgeschnürten Hände. Doch er würde wieder gesund werden. Semirs Halswunde und Schnittverletzungen durch das Glas der Fensterscheibe, durch die er gehechtet war, waren nicht sehr tief. Auch sie würden wieder verheilen, auch wenn eine Narbe zurückbleiben konnte. Ebenso die Bissverletzung von Clarice.
    Keiner von ihnen sagte ein Wort. Dann ergriff die FBI-Agentin schließlich das Wort: „Musste es so enden?“, fragte sie, während sie zwei Männer in schwarzen Anzügen beobachtete, wie sie einen Sarg in den Kofferraum eines Leichenwagens schoben. Semir dachte einen Moment nach. „Vielleicht war es eine Erlösung für ihn.“, dachte er laut nach. „Ja, vielleicht.“, bestätigte Starling nachdenklich. Dann verstummten sie wieder.


    Kurz darauf trat Kim Krüger an die stillen Polizisten heran und lächelte gehemmt. Ihr brannte die Frage auf der Zunge, was genau zwischen Clarice und Hannibal Lecter damals in der Küche passiert war. Der Kuss, die Hand – alles. Doch sie schwieg. Vielleicht würde die Geschichte eines Tages verfilmt werden…


    Einige Minuten später flog der Hubschrauber ab und transportierte Ben in ein Krankenhaus, wo er sich erholen sollte. Semir sah seinem Partner froh und erleichtert nach.
    Plötzlich riss ihn eine strenge Stimme mit amerikanischem Akzent aus seinen Gedanken. Jack Crawford war in einer Limousine am Ort des Geschehens angekommen. Er richtete sich zuerst an seine Kollegin: „Gut gemacht, Starling. Sie haben es geschafft, es ist vorbei.“ Er legte ihr freundschaftlich einen Arm um die Schultern, was man von ihm gar nicht erwartet hätte. Dann sah er zu Semir hinüber und seine Miene verfinsterte sich leicht. „Über die Sache mit dem Hack-Angriff auf den FBI-Computer unterhalten wir uns noch.“ Dann hob er die Hand und ging davon. Semirs kurzzeitig erstarrter Blick löste sich nur langsam. Er schluckte und hob verunsichert grinsend die Hand. Dann nahm er einen tiefen Schluck aus seinem Tee-Becher, um den ungläubig und vorwurfsvoll dreinschauenden Augen Clarice Starlings und Kim Krügers nicht begegnen zu müssen.


    Schnell machte er sich auf den Weg zu Ben ins Krankenhaus. Seine Chefin lächelte und sah ihm kopfschüttelnd nach.



    ENDE

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