Hannibal


  • Viel Spaß bei meiner zweiten Story, die morgen dann so richtig startet. Bitte kräftig feeden! :)
    Ach ja: Wer die Möglichkeit hat (und alt genug ist ;) ), dem empfehle ich zur Einstimmung mal "Roter Drache" und "Das Schweigen der Lämmer" anzuschauen. Die Fortsetzung des Films "Hannibal" (FSK 18 ) gibt's ja dann ab morgen hier Stück für Stück. ;)


    PS: Wer die Filme nicht kennt: Keine Angst, der Prolog fasst die Vorgeschichte, die es in den Filmen nachzuschauen gibt, zusammen. Im Feeds-Thread gibt's auch noch ein paar Infos.


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    Hannibal


    Prolog:


    „Gut, ich erzähle Ihnen die Geschichte: Alles begann in Baltimore (USA), im Jahre 1975. Der zu diesem Zeitpunkt sehr angesehene, hochintelligente forensische Psychiater Dr. Hannibal Lecter unterstützte die Mordkommission von Baltimore bei der Jagd auf einen kannibalistischen Serienmörder. Im Laufe der Ermittlungen kam der FBI-Agent Will Graham dem Täter auf die Spur – es war Hannibal Lecter selbst. Doch für diese Verhaftung zahlte Graham einen hohen Preis:
    Bei dem Versuch, Lecter festzunehmen, fügte dieser ihm grausame Stichwunden zu, die er nur knapp überlebte. Er trat nach seiner Genesung aus dem Polizeidienst aus. Hannibal Lecter, der mittlerweile von der Boulevardpresse den Spitznamen „Hannibal der Kannibale“ erhalten hatte, wurde zu lebenslänglicher Haft in einer geschlossenen psychiatrischen Klinik mit höchster Sicherheitsstufe verurteilt. Alle Versuche, ihn zu verhören, schlugen fehl. Dieser Mensch ist unberechenbar und viel zu gerissen für die Standardmethoden. Unter dem Einfluss einer Wahrheitsdroge gab er dem FBI beispielsweise das Rezept einer Soße, anstatt der Informationen über einen Mord.


    Im ersten Jahr seiner Haft verhielt sich Lecter sehr zuvorkommend, sodass seine Sicherheitsmaßnahmen geringfügig gelockert wurden. Eines Tages klagte er über Brustschmerzen und wurde in ein Krankenhaus gebracht. Als ihm zur Durchführung des EKG die Handfesseln und das Mundstück abgenommen wurden, griff er eine Krankenschwester an. Sein Puls stieg dabei zu keinem Zeitpunkt über 85 Schläge – nicht einmal als er ihr die Zunge abbiss. Nach diesem Zwischenfall wurden die Sicherheitsmaßnahmen in seinem Umfeld natürlich enorm erhöht – er durfte seine Zelle nicht mehr verlassen. Wenn sie gereinigt werden musste, wurde ihm eine Zwangsjacke angelegt und sein Gesicht mit einer Ledermaske bedeckt, um ihn am Beißen zu hindern.


    Einige Jahre später half Lecter dem FBI durch seine hohen intellektuellen und psychiatrischen Fähigkeiten zweimal, einen Serienmörder zu fassen. Vielleicht erinnern sie sich noch an „Buffalo Bill“? Dabei traf Lecter das erste Mal auf die junge FBI-Agentin Clarice Starling, die ihm als Gegenleistung für seine Hilfe die Unterbringung in einem Bundesgefängnis verschaffte. Wegen leicht gelinderten Sicherheitsmaßnahmen gelang es ihm eines Tages, von dort auf gleichermaßen brutale, wie auch geniale Weise auszubrechen. Auf seiner Flucht tötete er unter anderen 2 Polizisten.


    Er reiste nach Florenz, wo er in den folgenden Jahren sein Unwesen trieb, bis ihm ein italienischer Kommissar auf die Schliche kam. Als Clarice Starling davon erfuhr, versuchte sie alles, um den Kommissar warnen – erfolglos. Lecter richtete den Kommissar förmlich hin und suchte daraufhin auch Clarice Starling auf, die nun wieder an seinem Fall arbeitete und alles daran setzte, ihn zu fassen. Doch Lecter geriet in Lebensgefahr, als er einem schwer entstellten, ehemaligen Opfer von ihm in die Hände fiel, das Rache nehmen wollte. In der Absicht, ihn festzunehmen, rettete Starling ihm das Leben, wurde dabei jedoch angeschossen und schwer verletzt. Lecter revanchierte sich prompt und pflegte sie daraufhin ihrem Haus gesund – nicht ohne Vorbereitungen für ein Festmahl nach seinem Geschmack zu treffen. Nachdem sie sich erholt hatte, startete sie jedoch abermals den Versuch, Lecter festzunehmen: Es gelang ihr sogar, ihn mit Handschellen an sich festzuketten. Doch er griff zu einem Küchenbeil. Er drohte, ihr die Hand abzukacken, um sich zu befreien. Doch sie weigerte sich, ihn freizulassen und biss die Zähne zusammen. Er hob das Beil, zögerte und hackte sich schließlich seine eigene Hand ab. Dann floh er und entkam so erneut."


    Wieder führt Hannibal Lecter seine Flucht nach Europa. Am Morgen eines verregneten Sommertages landet er am Flughafen Köln-Bonn.


    ...

  • „Du nix parken auf Standstreifen!“ Ben war bereits ziemlich genervt von diesem offensichtlich russischen LKW-Fahrer, der an diesem verregneten Montagmorgen nichts anderes zu tun hatte, als mitten auf der A3 zu stehen und den Verkehr zu blockieren. „авари́йная полоса́!“ Weder Ben, noch Semir verstanden ein Wort, von dem, was der Mann mit Vollbart sagte. Aber die Alkoholfahne, die von ihm ausging, reichte den beiden auch aus. Angewidert wandte Ben sich ab, während Semir weiter mit Händen und Füßen versuchte, einen Zugang zu dem Mann zu finden.
    Erschöpft rieb sich Ben den restlichen Schlaf aus den Augen und trottete zu dem hinter dem LKW stehenden Dienstwagen der beiden Hauptkommissare, um eine Halterkontrolle des Lastwagens durchzuführen. Auf seinem Weg zum Funkgerät begleitete ihn ein Hupkonzert, das von den in Schrittgeschwindigkeit vorbeifahrenden Autos ausging. Die Autofahrer waren natürlich ebenso genervt von dem halb auf dem Standstreifen und halb auf der Fahrbahn stehenden LKW, der dabei war, einen riesen Stau zu verursachen – und das zur Rush Hour, wo jeder zur Arbeit musste. Ben winkte den vorbeituckernden, wild gestikulierenden Autofahrern mit einem aufgesetzten Grinsen zu, zu dem er eigentlich gar nicht in Stimmung war. „Was für ein Morgen…“, seufzte er und lies sich auf den Beifahrersitz des silbernen 3er BMW fallen, während Semir immer noch hilfesuchend am Führerhaus des LKW-Fahrers stand, der immer noch kein Wort von dem verstand, was der Hauptkommissar ihm sagen wollte. Ben schüttelte den Kopf und griff zum Funkgerät: „Cobra 11 für Zentrale. Wir haben hier nen besoffenen LKW-Fahrer mitten auf der A3. Schickt uns mal bitte noch nen Streifenwagen, um den Verkehr hier zu regeln, sonst haben wir bald nen Stau bis in die Kölner Innenstadt. Und ein Dolmetscher für Russisch wär auch nicht schlecht.“ Gerade als er den letzten Satz ausgesprochen hatte, drang Semirs Stimme an sein Ohr. Offensichtlich war seine Geduld nun auch am Ende. Als ein besonders laut hupender Autofahrer an ihm vorbeifuhr, drehte er sich genervt um, hob eine Hand und schrie ihm „Ja, is‘ klar! Erklär‘s du ihm doch! Idiot!“ nach. Ben sah kurz auf und konnte sich bei dem Blick durch die Windschutzscheibe ein kurzes Grinsen nicht verkneifen. Semir wusste gar nicht mehr, wo ihm der Kopf stand. Überall das Gehupe der Autos, der riesige LKW, der die rechte Spur blockierte und dann auch noch der begriffstutzige Fahrer. Gerade hatte er sich dem Russen wieder zugewandt und Ben begann, das Kennzeichen des LKWs über Funk an die Zentrale durchzugeben, da krachte es hinter ihnen. Semir begann sofort lautstark zu maulen: „Ja super!! Ganz toll! Was ist denn heute wieder los???“ Sofort ließ er den verdutzten Russen stehen und joggte los zu der Stelle, an der die beiden Autos zusammengerasselt waren. Wenn sie jetzt nicht aufpassten, würde hier innerhalb kürzester Zeit ein wahres Chaos entstehen. Auch Ben brach seine Durchsage ab, rief nur noch „Unfall auf der A3, Kilometer 43,5! Wir brauchen Verstärkung!“, warf dann das Funkgerät in den Wagen und rannte ebenfalls los. Semir war zuerst bei den Unfallfahrzeugen und zog den ersten Fahrer aus seinem Auto, als schon der nächste Wagen nicht mehr rechtzeitig bremsen konnte und hinten auffuhr. Glas splitterte und die bereits stehenden Autos wurden zwei Meter nach vorne geschoben. Ben lief sofort weiter, um weitere Fahrer zu warnen, die sich dem Stauende näherten. Die ersten Fahrer erschraken zuerst und bremsten stark ab, als sie den Hauptkommissar auf sich zu rennen sahen. Ein paar Wagen stellten sich quer, andere wichen ruckartig aus und fuhren neben ihnen fahrenden Autos in die Seite. Innerhalb von wenigen Sekunden war die Autobahn in eine Mischung aus Stau, Auffahrunfällen und quer stehenden Wagen verwandelt. Erst nach etwa einer Minute war der erste Schock der Fahrer zu Ende und weitere Fahrzeuge, die die Unfallstelle erreichten, erkannten die Lage frühzeitig und kamen so auch rechtzeitig zum Stehen. Trotzdem hatten Ben und Semir alle Hände voll zu tun, die Personen aus ihren Fahrzeugen zu holen und sich um sie zu kümmern, bevor dann kurze Zeit später die ersten Blaulichter in etwa einem Kilometer Entfernung auftauchten.


    Aus einem der ersten Streifenwagen stiegen Dieter und Jenny, die nur perplex den Kopf schüttelten und Ben und Semir fragend ansahen. Semir sprach mit genervtem Unterton aus, was Ben auch dachte: „Sag einfach nix!“ Dieter hob beschwichtigend die Hände und lief an den Hauptkommissaren vorbei, durch die stehenden Fahrzeuge hindurch zu dem immer noch perplex in seinem Führerhaus sitzenden LKW-Fahrer. Semir sah ihm nach und nickte. Trotz all dem Stress konnte er jetzt wenigstens zufrieden sein, dass er dieses Problem los war. Ben erkannte seine Erleichterung, dass nun Bonrath sich mit dem russischen Fernfahrer herumschlagen durfte. Trotzdem lag Semirs Stirn noch in Falten und das würde sich nach so einem Morgen auch nicht schlagartig ändern. Jenny kümmerte sich währenddessen um die überall stehenden Personen, die teils unverletzt, teils leichte Blessuren von dem Unfall davongetragen hatten.
    Mittlerweile waren auch weitere Streifenwagen, Feuerwehr und Krankenwagen eingetroffen, die nun die Hauptarbeit übernahmen. Nun hatten Ben und Semir kurz Zeit durchzuatmen. Sie setzten sich nebeneinander auf die Leitplanke der Autobahn und betrachteten kurz die Szene. Leicht belustigt verfolgten sie, wie nun Bonrath mit wilden Gesten versuchte, dem LKW-Fahrer klarzumachen, was er falsch gemacht hatte. „Zentrale für Cobra 11.“, ertönte es plötzlich aus Semirs Dienstwagen, der den Crash zum Glück schadlos überstanden hatte. Seufzend erhob sich Semir und setzte sich in Bewegung: „Jetzt nur nicht noch mehr Stress…“ Er beugte sich in den Wagen, hob das Funkgerät vom Beifahrersitz auf und lehnte sich nun gegen das Dach des BMW, während er sich mit dem Daumen seinen Bart unter dem Mund kratze. „Cobra 11 hört.“ Nach einer kurzen Pause ertönte wieder die Stimme aus der Zentrale: „Wir haben einen Leichenfund auf der Toilette des Rastplatz Königsforst. Der Gerichtsmediziner ist schon vor Ort.“ Geräuschlos stöhnte Semir, riss sich dann aber zusammen und bestätigte: „Ja, haben verstanden, sind auf dem Weg.“


    ...

  • „Wär ich doch nur im Bett geblieben.“, seufzte Ben auf der Fahrt zum Rastplatz und gähnte ausgiebig. „Jaja, und mich hier die Arbeit alleine machen lassen, oder wie?“, antwortete Semir mit ironischem Unterton. Seine Laune schien sich langsam zu bessern, auch wenn das, was vor ihnen lag, alles andere als angenehm werden dürfte. Wenigstens konnten sie das Chaos auf der Autobahn hinter sich lassen.


    Etwa 15 Minuten später bog ihr Dienstwagen auf den Rastplatz Königsforst ein. Semir hielt hinter einem parkenden Polizeiauto, dessen Blaulicht noch angeschaltet war. In einigen Metern Entfernung standen noch ein weiterer Streifenwagen, sowie ein VW-Bus der Spurensicherung. Auch ein Leichenwagen war bereits vor Ort. Semir beschlich ein mulmiges Gefühl, das er immer bekam, wenn er an den Fundort einer Leiche kam. Auch Ben war stiller als sonst. Was würde die beiden erwarten? Wenn ein Polizist an einen Tatort kam, musste er mit allem rechnen. Bisher hatten sie noch keine Details erhalten; wussten also nicht, worauf sie sich einstellen mussten.
    Mit ernster Miene zog Semir die Handbremse an und öffnete seine Fahrertür. Als die beiden ihr Fahrzeug verließen, kamen ihnen aus einem kleinen, leicht verkommen aussehenden Bungalow, in dem Toiletten und auch Duschen für LKW-Fahrer zu finden waren, zwei Beamte der Spurensicherung entgegen. An ihren weißen Einmalanzügen klebte Blut. Semir schluckte, ging aber mit entschlossenen Schritten weiter auf die Tür zu, aus der die beiden KTU-Beamten gekommen waren. Ben blieb dicht hinter ihm. Sie duckten sich unter einem rot-weißen Absperrband mit der Aufschrift „Polizeiabsperrung“ hindurch und verlangsamten ihr Tempo, als sie fast an der Tür angelangt waren. Semir atmete tief durch: „Also gut, bringen wir’s hinter uns.“ Die beiden zogen sich Gummihandschuhe über. „An sowas gewöhnt man sich wohl nie.“, dachte er bei sich. Er hatte schon viele Leichen in seinem Leben gesehen, aber es wurde nie zur Routine, wie es möglicherweise bei einem Gerichtsmediziner der Fall war. Wie es wohl Ben gehen mochte? Er hatte seine Kommissarsausbildung beim LKA gemacht und war sicher auch abgehärtet, was unschöne Anblicke anging. Semir wandte sich kurz zu ihm um. Ben blickte leicht betreten zu Boden. Anscheinend war ihm das Ganze auch unangenehm. Gerade wollte Semir nach der Türklinke greifen, da wurde die Tür von innen aufgerissen und ein Mann mit roten Haaren stürzte an den beiden Polizisten vorbei nach draußen. Er stolperte geradewegs zur Seite des kleinen Gebäudes, bückte sich und brach. Ben und Semir wandten sich angewidert ab. Nach ein paar Sekunden trauten sie sich, nochmal einen Blick zu dem Mann hinüberzuwerfen. Er lehnte sich gegen die Steinmauer des Gebäudes – immer noch mit leicht gebückter Haltung. Vorsichtig trat Semir an ihn heran, während Ben abgewandt an der Eingangstür stehen blieb, ohne einen Blick ins Innere des Toilettengebäudes zu werfen. Die beiden hatten den Mann sofort erkannt, der ihnen entgegengestürzt war. „Alles in Ordnung, Hartmut?“, fragte Semir vorsichtig aus ein paar Metern Sicherheitsabstand. Der rothaarige KTU-Beamte trug ebenfalls einen weißen Einmalanzug. Langsam wischte er sich mit einem Ärmel über den Mund, bevor er sich zu Semir umdrehte. Er hielt sich immer noch an der Hauswand fest. „Das da drin ist die Hölle.“ Er atmete tief durch, bevor er fortfuhr: „Ich hab noch nie so viel Blut gesehen.“ Semir wurde es nun auch immer flauer im Magen. Er nickte leicht und wandte sich mit ernstem Blick wieder zu Ben. Auch ihm schien es nicht mehr besonders gut zu gehen. Langsam ging er zurück auf seinen Partner zu. Jetzt standen sie wieder beide vor der offenen Tür. Semir griff Ben an die Schulter. „Also komm. Muss ja sein...“ Vorsichtig drehte er sich um und warf einen Blick ins Innere des kleinen Gebäudes. Es war noch nichts zu sehen. Nur am Boden waren blutige Fußabdrücke, die aber wahrscheinlich von Hartmut und den anderen Beamten stammten, die hier bereits aus und ein gegangen waren. Wahrscheinlich war der ursprüngliche Zustand bereits fotografiert und Spuren gesichert worden, bevor jemand den eigentlichen Tatort betreten hatte – außer natürlich die zu bemitleidende Person, die die Leiche gefunden hatte. „Hier!“, rief Hartmut Semir nach, als dieser das Haus betreten wollte: „Die kannst du sicher brauchen.“ Semir drehte sich noch einmal zu dem KTU-Beamten um und nahm dankend zwei Plastiktüten entgegen, die dafür gedacht waren, mit den Füßen hineinzuschlüpfen. So konnte vermieden werden, dass Spuren von draußen an den Tatort geschleppt wurden. Gleichzeitig schützten die Tüten vor Blut an den Schuhsohlen. Auch Ben nahm widerwillig zwei Tüten entgegen und schlüpfte hinein, bevor die Autobahnpolizisten nochmal einen Versuch starteten, sich zu überwinden und den Tatort zu betreten. Diesen Anblick sollten sie noch lange in Erinnerung behalten…


    ...

  • [usk=16]test[/usk]


    Langsam setzte Semir einen Fuß vor den anderen – jederzeit darauf gefasst, gleich das pure Grauen zu erblicken. Ben blieb dicht hinter ihm. Die beiden lauschten. Vor den beiden lag eine graue Wand, wie sie an öffentlichen Toiletten üblich ist, um die einzelnen Kabinen voneinander zu trennen. Rechts von ihnen hingen zwei Waschbecken. Es war noch nichts zu sehen. Das Geräusch eines auslösenden Fotoapparats und das Knistern von Plastiktüten, wie sie sie selber an den Füßen trugen, drangen an ihre Ohren. In dem Raum war ein eigenartig fahles Licht, das nur durch die dünnen Fenster, an der oberen Kante zur Decke ins Innere des Gebäudes drang. Ein eigenartiger Geruch stieg den Kommissaren in die Nase. Es war nicht der typische Verwesungsgeruch, den sie bereits von anderen Fällen kannten – beispielsweise wenn eine Leiche im Wald gefunden wurde. Sie mochten sich gar nicht weiter vorstellen, was genau zu diesem Geruch führte.


    Sie gingen nach links an der Wand vorbei. Vor ihnen lag nun ein größerer offener Raum mit Pissoirs an der linken Wand und Kabinen an der rechten Seite des Raumes. Als Semir zu Boden blickte, stach ihm sofort die große, dunkle Blutlache in die Augen, die sich aus dem Inneren einer der Kabinen ihren Weg nach draußen gebahnt hatte. Sie bedeckte bereits eine große Fläche des gefliesten Bodens in dem Gebäude. Wieder musste Semir schlucken. Von Ben hinter sich, war kein Ton zu hören. Als die beiden Kommissare näher kamen, blickten ein paar weitere Beamten der Spurensicherung, die am Boden hockten und Spuren sicherten, von ihrer Arbeit auf und nickten ihnen kurz zu. Sie trugen einen Mundschutz, der einen Großteil ihres Gesichts verdeckte. Semir nickte ihnen kurz, mit unverändert versteinerter Miene zu. Er sah auf die rechte Seite des Raumes. Es war klar zu erkennen, aus welcher Kabine die Blutlache kam. Die Tür dieser Kabine stand offen, eine weitere Person mit Einmalanzug verrichtete dort ihre Arbeit. Aus ihrem Blickwinkel konnten weder Ben noch Semir etwas von der Leiche sehen. Sie musste schrecklich zugerichtet sein, wenn sie so viel Blut verloren hatte. Überall am Boden waren die dunklen Flecken von Fußabdrücken zu sehen. Das alles machte die Arbeit der Spurensicherung natürlich nicht leichter. Fast schon andächtig gingen Semir und Ben weiter auf die offen stehende Kabine zu. Die Person, die darin stand, drehte sich zu ihnen um und trat drei Schritte heraus. Es war die Gerichtsmedizinerin, die Ben und Semir schon von früheren Fällen kannten. Sie nahm ihren Mundschutz ab und begrüßte die beiden Kommissare freundlich: „Ah, guten Morgen!“ Wie konnte diese Frau nur so gut drauf sein, bei diesem Anblick? „Naja, als Gerichtsmediziner braucht man nun mal ein sehr sonniges Gemüt.“, dachte Ben bei sich. Die beiden Polizisten wussten, dass sie nie diesen Job hätten machen können. „Guten Morgen Frau Doktor.“, erwiderte Semir den Gruß. Die Frau streckte ihre Hand aus, zog sie dann aber schnell wieder lachend zurück. Semirs freundliches Lächeln gefror, als er die Hände der Pathologin erblickte. Ihre Handschuhe waren fast vollständig mit Blut bedeckt. Sie war noch einen Schritt zur Seite getreten und stand nun fast präsentierend vor der offen stehenden Kabine, aus der die Blutlache kam. Die beiden Kommissare standen nun gut genug, um hineinsehen zu können. Sie wollten sich vor der Medizinerin keine Blöße geben, rissen sich zusammen und warfen gleichzeitig einen kurzen Blick ins Innere. Ben wandte sich sofort wieder ab und auch Semir wich augenblicklich einen Schritt zurück und verzog angewidert das Gesicht. „Boa, das sieht nicht gut aus.“, brachte er gequält hervor. Ben riskierte einen kurzen zweiten Blick. Seine Lippen formten ein geräuschloses „Ach du Scheiße“. Das Opfer war ein älterer Mann. Er lehnte mit einer klaffenden Halswunde, auf der Toilette sitzend, an der Wand. Wenigstens war die Toilette geschlossen und der Mann auch vollständig angezogen. Doch Ben musste unweigerlich an sein Frühstück denken, das er nun auf keinen Fall ein zweites Mal sehen wollte. In seine Gedanken ertönte die überhaupt nicht geschockt wirkende Stimme der Gerichtsmedizinerin: „Gut, fangen wir mal an. Wie sie sehen können, wurde dem Opfer die Kehle durchgeschnitten. Die Wundränder sind beidseitig sehr präzise und glatt. Das bedeutet, dass der Täter als Tatwaffe höchstwahrscheinlich ein sehr scharfes Messer oder einen Skalpell verwendete. Dafür würde auch der recht dünne, aber eben doch sehr lange Schnitt sprechen.“ Sie sprach sehr schnell und trug diese grauenvollen Tatsachen mit einer Trockenheit vor, die den Kommissaren komisch vorkam. Aber sie wussten, dass sie nun professionell sein und versuchen mussten, all die schrecklichen Fakten zu einem klaren Bild zusammenzufügen um so den Tathergang zu rekonstruieren und so auch auf den Täter kommen zu können. „Bei einem derartigen Schnitt“, fuhr die Pathologin fort: „muss man von einer sehr sicheren, kräftigen und skrupellosen Bewegung des Täters ausgehen. Er hat nicht gezögert, sondern kräftig voll durchgezogen.“ Sie machte eine schwungvolle Bewegung, die so aussah, als ob sie sich mit einem imaginären Messer in der Hand von einer Seite des Halses zur anderen selbst die Kehle durchschnitt. Semir senkte den Blick, doch die Medizinerin sprach unbeeindruckt weiter: „Wie sie sich denken können, hat der Schnitt beide Halsschlagadern durchtrennt, was sofort tödlich war und auch zu dem großen Blutverlust geführt haben dürfte. Genaueres aber erst nach der Obduktion.“ „Ähm“, begann Semir vorsichtig: „Können sie schon irgendwas zum Todeszeitpunkt sagen?“ Er versuchte, die Kontrolle über sich wieder voll herzustellen und seine Arbeit zu machen. Für die Gerichtsmedizinerin schien das nach wie vor kein Problem darzustellen: „Nun ja, die Totenstarre ist noch nicht voll ausgebildet, das deutet normaler Weise auf einen Todeszeitpunkt vor etwa zwei bis vier Stunden hin. Allerdings wurde die Leiche ja noch post mortem verlagert, also nach dem Tod bewegt und so platziert. Da ist das alles etwas komplizierter. Auch dazu dann mehr nach der Obduktion. In diesem Sinne…“ Sie lächelte kurz, hob dann ihren Koffer auf und ging hinaus. Ben und Semir sahen sich an. „Puh, die ist ja gut drauf…“, war das einzige was Semir herausbrachte. Ben machte auch den Eindruck, als ob er darum kämpfte, wieder sein eigener Herr zu werden. Immer noch geschockt sah er zwei KTU-Beamten zu, wie sie sich nun daran machten, die Leiche aus ihrer Position zu befreien und sie für den Abtransport vorzubereiten. „Was für ein Mensch tut sowas?“, fragte Semir gedankenverloren sich selbst. „Wie dieser Mistkerl das alles inszeniert hat; alles arrangiert hat.“ „Du meinst, er will uns damit etwas sagen?“, meinte Ben. „Ich weiß nicht.“, schüttelte Semir den Kopf. Er war ratlos und musste sich erst wieder etwas sammeln um einen klaren Gedanken fassen zu können. „Meinst du, wir könnten es mit einem Ritualmord zu tun haben? Ein Serienmörder?“ Ben zuckte die Achseln: „Hoffen wir’s nicht.“ Er wandte sich einem Spurensicherer zu: „Habt ihr die Taschen des Mannes schon untersucht?“ Der Beamte nickte: „Ja, aber er hatte nichts dabei. Keine Geldbörse, nichts.“ „Also keinerlei Hinweise auf seine Identität…“, vollendete Ben ernüchtert den Satz. Er fuhr sich über das Gesicht: „Ok, wo setzen wir an? Kein Geldbeutel, keine Papiere, kein Autoschlüssel, nichts.“ „Raubmord?“, fragte Semir kurz. „Aber warum richtet der Täter ihn dann so hin und sorgt für so eine Szene?“, entgegnete Ben. „Aber was war dann das Motiv – wenn es keiner dieser Verrückten war, die einfach so die Leute abschlachten?“ Wieder zuckte Ben ahnungslos mit den Schultern. Dann stellte er fest: „Also grundsätzlich muss es ja ein Motiv für so eine Tat geben. Aber wer bringt einen alten Mann auf so eine Weise um und klaut ihm dann alles, was er dabei hat? Nach seiner Kleidung zu schließen, handelt es sich nicht um irgendeinen Penner, der kein Geld hatte und auf einem Autobahnrastplatz von einem anderen Obdachlosen umgebracht wird. „Ja, aber dann muss er mit einem Auto oder LKW hergekommen sein. Durch den Wald wird er ja nicht gelaufen sein, oder habt ihr dafür irgendwelche Anhaltspunkte an Hose oder Schuhen gefunden?“, fragte Semir einen der KTU-Beamten. „Nein, bisher haben wir keine Anhaltspunkte dafür, dass er durch den Wald gelaufen sein könnte.“ „Na also. Dann müssen wir sämtliche Autos auf dem Rastplatz kontrollieren, ob er der Besitzer sein könnte. Parallel gehen wir die Vermisstenanzeigen durch, ob jemand auf die Beschreibung des Mannes passt.“ Semir fühlte sich jetzt wieder besser. Er spürte, dass er wieder klar denken konnte. „Alles klar.“ Ben schien ebenfalls wieder zu alter Kraft gefunden zu haben und war entschlossen, den skrupellosen Mörder zu fassen. Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg nach draußen. Die frische Luft tat ihnen gut. Zwei Mitarbeiter eines Bestattungsinstituts trugen gerade einen Metallsarg an ihnen vorbei, um den Leichnam in die Pathologie zu transportieren. Streifenpolizisten befragten gerade einige Zeugen und versuchten, Schaulustige und einige Journalisten von der Absperrung fernzuhalten.
    Die Autobahn-Cops verschafften sich einen kurzen Überblick und machten sich dann an die Arbeit.


    ...

  • Um die Mittagszeit kamen die beiden Hauptkommissare auf die Dienststelle zurück. Sie hatten beschlossen, nichts zu Mittag zu Essen. Der Hunger war ihnen vergangen. Die Identität des Opfers konnte bislang noch nicht geklärt werden. Auch von einem Auto, das dem Mann gehören konnte, gab es keine Spur.
    Auf dem Weg in ihr Büro fasste Semir die bisherigen Erkenntnisse zusammen: „Also, wir haben einen älteren Mann mit durchgeschnittener Kehle, die ganze Szene grausig dargestellt auf der Toilette eines Autobahnratsplatzes. Wir haben weder Geldbörse, noch irgendwelche Papiere oder Schlüssel bei dem Mann gefunden und Auto gibt es anscheinend auch keins. Würde also im Grunde alles für einen Raubmord sprechen. Aber warum dann diese Inszenierung?“ Er schloss die Bürotür, setzte sich auf seinen Platz und fuhr dann fort. Ben hörte ihm ruhig zu. „Wir haben bisher keine Zeugen, außer den LKW-Fahrer, der die Leiche gefunden hat. Aber der wird uns wohl nicht mehr weiter helfen können. Die Berichte der Gerichtsmedizin und Spurensicherung bekommen wir wahrscheinlich morgen. Vielleicht können wir ja dann was genaueres über Tathergang, Tatzeitpunkt und Identität des Opfers sagen.“ Jetzt meldete sich auch Ben zu Wort: „Apropos Identität: Die Kollegen sind alle Vermisstenanzeigen durchgegangen. Bisher kein Treffer. Die Kleidung des Opfers sind normale Massenanfertigungen. Also auch eine Sackgasse. Wahrscheinlich wäre es das Beste, wenn wir über die Presse eine Beschreibung des Mannes veröffentlichen. Vielleicht kommen wir so auf seine Identität und können auch etwas mehr über ein mögliches Motiv sagen. Könnte schließlich ja auch sein, dass der Raubmord nur zur Inszenierung dazugehörte und in Wahrheit ganz was anderes dahinter steckt.“ „Mich stört an der Sache irgendwas... Auf der einen Seite deutet alles auf einen Raubmord hin, auf der anderen Seite haben wir einen Tatort wie bei einem Ritualmord, Mord aus Leidenschaft oder was auch immer.“, hakte Semir ein. „Der ganze Fall ist mir ein Rätsel. Sowas hab ich in all den Jahren noch nie erlebt. Du etwa, Herr Ex-LKA-Kommissar?“ Semir grinste Ben frech an. Dieser verzog nur das Gesicht zu einer Grimasse, kam dann aber wieder auf den Fall zurück: „Vielleicht brauchen wir ja nen Profiler oder so. Wie in den Filmen, so mit Persönlichkeitsbild des Täters und so.“ „Jaja, nun mal langsam.“, unterbrach Semir seinen eifrigen Kollegen: „Noch haben wir es hier Gott sei Dank nicht mit nem Serienkiller zu tun. Und in Hollywood sind wir auch nicht.“
    Dann klopfte es kurz an der Tür und Bonrath betrat das Büro. Er sah völlig geschafft aus. „Mann habt ihr ein Glück, dass ihr da so schnell abhauen konntet, heute Morgen. Der russische LKW-Fahrer da, der war ja nicht nur blau sondern auch blöd. Der hat nichts kapiert! Selbst als der Dolmetscher da war, war’s noch schwierig…“ „Ja Bonrath, ich hab’s am eigenen Leib erfahren müssen!“, gab Semir etwas ungeduldig und ohne jedes Mitleid zurück: „Falls du es genau wissen willst, so viel Spaß hatten wir auch nicht.“ „Ach, lasst mich doch in Ruhe!“, winkte Bonrath ab und verließ das Büro wieder etwas beleidigt. Dann streckte nochmal kurz den Kopf herein und fragte: „Sind die Typen da bei der Chefin etwa wegen euch da?“ Synchron drehten die beiden Hauptkommissare ihre Köpfe und versuchten durch die Lamellen der Schalosien in den beiden Büros etwas zu erspähen. Ben kippte fast nach hinten über, als er sich auf seinem Bürostuhl sitzend nach hinten lehnte. Viel war nicht zu sehen, aber anscheinend saßen ein Mann und eine Frau bei der Chefin im Büro und unterhielten sich. Bonrath, der immer noch seinen Kopf zur Tür herein gestreckt hielt, flüsterte aufgeregt: „Das sind übrigens keine Deutschen! Als sie vor einer halben Stunde hier angekommen sind, hat die Chefin sie auf Englisch begrüßt.“ Ben und Semir hörten gespannt zu, was Bonrath erzählte. „Aber nach allem was ich mitbekommen habe, haben die dann auch auf deutsch gesprochen. Aber mit amerikanischem Akzent, wenn ihr mich fragt!“ „Das sind Amis??“, fragte Semir überrascht und streckte seinen Hals noch weiter nach oben, um etwas sehen zu können. Plötzlich sah Ben, wie sich die Chefin aus ihrem Stuhl erhob und aus ihrem Büro herauskam. Augenblicklich war Bonrath aus der Tür verschwunden und Ben und Semir saßen wieder kerzengerade an ihren Tischen – natürlich voll in die Arbeit vertieft.
    Kim Krüger kam zum Büro der Hauptkommissare hinüber und öffnete die Tür. Mit ernster Miene forderte sie: „Meine Herren, bitte in mein Büro.“ Dann war sie auch schon wieder verschwunden. „Haben wir was angestellt?“, fragte Ben unsicher? „Für die Sache heute Morgen konnten wir ja wirklich nichts und der Dienstwagen ist auch noch heil.“ Semir zuckte mit den Schultern und erhob sich aus seinem Stuhl. Die beiden Kommissare machten sich auf den Weg in das Büro ihrer Chefin. Semir klopfte kurz und öffnete dann die Tür. Er nickte den beiden Fremden zu, die vor Krügers Schreibtisch Platz genommen hatten, während sich auch Ben in das Büro schob. Sofort ergriff die Chefin das Wort: „Meine Herren, das sind Special Agent Crawford und Special Agent Starling vom FBI.“


    ...

  • Jetzt verstanden Ben und Semir die Welt nicht mehr. Was machte das FBI hier in Deutschland? Irgendwie kam Semir der Name Starling bekannt vor, aber er wusste ihn nicht zuzuordnen. Nach diesem kurzen Augenblick des Erstaunens gab Semir den beiden FBI-Agenten die Hand: „Semir Gerkhan, hello.“ Etwas Besseres fiel ihm gerade nicht ein. Ben stellte sich ebenfalls vor. Die beiden Amerikaner machten den Eindruck, als ob sie einiges auf sich hielten, wobei die Frau, die die Chefin als Special Agent Starling vorgestellt hatte, einen etwas bodenständigeren Eindruck machte, als ihr wesentlich älterer Kollege Crawford. Dieser musste kurz vor der Pensionierung stehen, während man der äußerst gut aussehenden Starling ihr Alter von wahrscheinlich Mitte bis Ende 40 überhaupt nicht ansah. Sie lächelte ein wenig, als die Kommissare sie begrüßten. Crawford blieb emotionslos. Dann ergriff Kim Krüger wieder das Wort: „Kommen wir gleich zur Sache: Sie fragen sich sicher, was das FBI hier in Deutschland macht. Die beiden Agenten Crawford und Starling befassen sich schon seit vielen Jahren mit der Ergreifung eines international gesuchten Serienmörders.“ Ben sah Semir an. Nun dämmerte es ihnen, um was es ging. Sie hatten allerdings noch keine Ahnung, um wen es ging. Kim Krüger fuhr fort: „Sagt Ihnen der Name Hannibal Lecter etwas?“ Augenblicklich herrschte im ganzen Büro Stille - wie immer Stille herrschte, wenn der Name Hannibal Lecter während einer zivilisierten Zusammenkunft fiel. Ben und Semir standen mit offenen Mündern da. Natürlich hatten sie schon etwas von Hannibal Lecter gehört. Der Fall des psychopathischen Serienmörders „Hannibal dem Kannibalen“ war seit Mitte der Siebziger Jahre immer wieder durch die internationale Presse gegangen, wie kein anderer. Zuletzt vor etwa 10 Jahren. Danach hatte sich alles wieder etwas beruhigt, obwohl nach wie vor bekannt war, dass Lecter auf freiem Fuß war – falls er zwischenzeitlich nicht gestorben war. Schließlich war er mittlerweile auch schon über 70. Nachdem Ben und Semir wieder einen klaren Gedanken fassen konnten, wurde ihnen schlagartig einiges klar. Doch gleichzeitig taten sich viele Fragen auf. Semir brach zuerst das Schweigen: „Ja, aber… der Hannibal Lecter? Was tut der hier in…?“ Weiter kam er nicht. Clarice Starling unterbrach ihn. In relativ gutem Deutsch, aber hörbar amerikanischem Akzent begann sie zu erzählen: „Herr… Gerkhan!“ Sie hatte hörbar Schwierigkeiten, den Namen auszusprechen. „First of all, Entschuldigung mein schlechtes Deutsch. Es ist schon viele Jahre her, dass ich … letztes Mal Deutsch geredet habe.“ Sie machte eine kurze Pause, fuhr dann aber gleich fort: „Wir verfolgen Lecter schon seit … Jahrzehnten. Dieser Mensch ist aber so unglaublich … gerissen; er konnte bisher fast immer entkommen. Gestern haben wir herausgefunden, dass er unter falschem Namen von Washington nach Deutschland geflogen ist. Er ist heute früh morgens am Airport Köln-Bonn gelandet und hat es sofort geschafft, zu verschwinden. Wir wissen nicht, wie. Wir haben sofort Interpol und deutsche Polizei verständigt und haben seine Spur verfolgt. Nachdem wir vorhin mit nächstem Flugzeug gelandet sind, haben wir erfahren, dass er hier bereits zugeschlagen haben könnte. Dieser Mord heute Morgen wäre genau seine … wie sagt man… Handschrift.“ Ben und Semir waren beeindruckt – sowohl von Starlings gutem Deutsch, als auch von der ganzen Situation, in der sie sich nun offensichtlich befanden. Im Grunde war es eine Katastrophe, dieses Monster in Deutschland zu haben. Kaum jemand kannte eine im Moment lebende Person, die dem Bösen in seiner reinsten Form so nahe kam, wie der Psychiater Dr. Hannibal Lecter. „Aber… können Sie mir erklären, warum Lecter ausgerechnet diesen Mann umgebracht hat?“, fragte Semir unschlüssig. „Well, wir müssen davon ausgehen, dass Lecter an Geld, einen deutschen Ausweis, Führerschein und Auto kommen wollte. Außerdem wissen wir, dass er etwa 5 oder 6 Sprachen fließend spricht. Darunter französisch, italienisch und eben auch deutsch. Haben Sie eine Foto vom Opfer?“ „Ähm ja, kleinen Moment.“, Semir lief kurz in sein Büro zurück, um die ersten Tatortfotos zu holen, die die Spurensicherung gemacht und gleich entwickelt hatte. Sie zeigte sie der FBI-Agentin, die nicht überrascht zu sein schien, von dem, was sie sah: „Ja, das haben wir gedacht.“ Sie reichte die Fotos an Crawford weiter. „Wir haben hier ein Dossier über Lecter für Sie. Sehen Sie seine Foto? Vergleichen es mit dem des Opfers.“ Semir und Ben sahen sich die Bilder von Lecter an. Tatsache – das Opfer sah Lecter relativ ähnlich. Beide waren ältere Männer mit zurückgekämmten, grau melierten Haaren, glatt rasiert und waren leicht untersetzt. Solche Männer gab es viele. Anscheinend war Lecter vom Flughafen auf die Autobahn gekommen und hatte sich am Rastplatz auf die Lauer gelegt. Als er diesen ihm relativ ähnlichen Mann sah, der anscheinend Rast machte, um auf die Toilette zu gehen, tötete Lecter ihn und besorgte sich so ein Auto und deutsche Papiere. Er konnte nun für einige Zeit die Identität dieses Mannes annehmen, solange die Polizei dessen Namen nicht herausfand. Bis dahin würde Lecter wahrscheinlich auch durch jede Verkehrskontrolle kommen – mit seinem guten Deutsch würde er wahrscheinlich nicht einmal groß auffallen. Ben und Semir wussten, dass sie jetzt ein großes Problem hatten. „Aber warum sollte er hier in der Umgebung bleiben? Er kann überall hin verschwinden. Er könnte jetzt schon fast in Berlin sein, wenn er wollte.“, warf Ben ein. „Ja, aber mit einem Auto mit Kölner Kennzeichen macht es natürlich Sinn, erst mal in der Umgebung zu bleiben. So fällt er nicht auf.“, merkte Semir an. Ihm schmeckte die ganze Sache nicht. Er hatte schon die schlimmsten Horrorgeschichten über diesen Mann gehört, den sie jetzt in ihrem Revier hatten. „Was ist mit der Zuständigkeit?“, fragte er: „Ist sowas nicht Sache des LKA, BKA, Bundespolizei oder sonst wem? Wenn wir uns jetzt voll reinhängen und morgen dann das BKA vor der Tür steht, dürfen wir denen im besten Fall zuarbeiten und die Drecksarbeit erledigen.“ Kim Krüger hatte anscheinend auf diese Frage gewartet. Sofort antwortete sie: „Das BKA ist eingeschaltet. Allerdings war der Mordfall auf dem Rastplatz unser Fall und das bleibt er auch. Außerdem ist unter diesen besonderen Umständen eine Zusammenarbeit vieler Behörden notwendig. Niemand kennt Lecter besser als das FBI und insbesondere Special Agent Starling, darum werden wir eng mit ihr zusammenarbeiten. Das FBI hat sich auch schon mit BKA und LKA in Verbindung gesetzt, die zugestimmt haben, eine Fahndungs- und Ermittlungsgruppe einzurichten, in der wir als Autobahnpolizei wesentlich beteiligt sind. Wir kennen die Straßen dieser Umgebung und können so am effektivsten Unterstützung leisten. Der ganze Bürokratie-Kram läuft über mich und das BKA. Wir haben übrigens bereits freie Hand und Unterstützung zugesichert bekommen, dass wir auf das Anzapfen von Telefonen, aber auch das Anfordern von Hubschraubern und so weiter, schnell und unbürokratisch zurückgreifen können. Wir wollen diesen Menschen nicht in Deutschland haben und werden darum alles daran setzen, ihn zu schnappen. Tot oder lebendig.“


    ...

  • Ben und Semir waren schwer beeindruckt davon, wie unkompliziert auf einmal die ganze Bürokratie scheinbar beiseitegelegt werden konnte, wenn man sich in solch einer Ausnahmesituation wie dieser befand.


    Die beiden Hauptkommissare befanden sich zusammen mit Clarice Starling gerade auf dem Weg in die Kölner Gerichtsmedizin, um dort Druck zu machen. Sie brauchten schnellstmöglich Ergebnisse, die zur Ermittlung der Identität des Toten beitrugen. Nur so war Lecter zu schnappen. Er war eine tickende Zeitbombe. Crawford kümmerte sich mit der Chefin um Papierkram und die Organisation des Einsatzes. Sie hingegen kämpften sozusagen an der Front. Ben und Semir hatten beide das Dossier über Lecter gelesen. Dieser Mann war eine Bestie – eine Bestie mit Intelligenz, weltmännischer Bildung, einem eigenartigen Charme, ausgeprägtem Sinn für Ästhetik und – einer Vorliebe für Menschenfleisch.


    „Miss Starling?“, begann Ben von seinem Fahrersitz aus mit Blick in den Rückspiegel, wo er die Augen der FBI-Agentin sehen konnte. Sie sah ihn durch den Rückspiegel fragend an. „Er wird bald wieder zuschlagen, oder?“ Sie legte eine Akte auf den Sitz neben sich und schien für eine längere Erklärung auszuholen. „Das kommt darauf an, was sie unter `bald´ verstehen. Er wird töten. Und zwar zu seiner eigenen Belustigung. Er kann sich aber auch zurücknehmen – wenn er will. Er kann über Jahre hinweg auf den - für ihn - Luxus des Tötens verzichten, aber er wird es sich wieder gönnen. Das hört sich jetzt alles sehr hart an – und das ist es auch. Aber wir reden hier über Hannibal Lecter. Er ist sozusagen der Gourmet unter allen Serienmördern. Man kann ihn schwer beschreiben, aber seine Taten sprechen für sich. Wussten Sie, dass er im Gefängnis den Psychopathen in der Zelle neben sich dazu gebracht hat, seine eigene Zunge zu verschlucken? Nur, indem er mit ihm geredet hat. Fragen Sie mich nicht, wie er das angestellt hat, aber er hat es zu seiner eigenen Belustigung getan. Von ihm geht eine Macht aus, die man kaum beschreiben kann. Er kann einen Menschen quasi von innen ausweiden, bevor er es dann äußerlich tut – falls man ihn lässt.“ Semir wusste nicht, ob er sich das alles wirklich anhören wollte. Auf solche Details war er nicht besonders scharf. „Aber trotz seiner Bosheit ist er auf paradoxe Weise sehr kultiviert und ruhig. Wenn er jemanden mustert, zwinkert nie. Er ist ein Meister des Beobachtens und Kombinierens. Nicht um sonst war er einer der führenden forensischen Psychiater der USA. Er ist hochintelligent – und leider viel zu gerissen für Tests.“ „Stimmt es, dass er dem FBI bei einem Verhör unter Einfluss einer Wahrheitsdroge das Rezept für eine Soße gegeben hat, statt der Informationen über einen Mord?“, fragte Ben fasziniert. „Das ist richtig.“, bestätigte Starling: „Er ist absolut unzugänglich, wenn er sich gegen etwas weigert. Er spielt seine Spielchen. Und das wird er auch mit uns tun. Das macht ihm Spaß.“ Ihr Blick war starr und ihre Stimme strahlte ein Gefühl der Angst und auch des Respekts aus. Semir war nach wie vor sehr unwohl bei der Sache. Sollte er Andrea anrufen und dafür sorgen, dass sie und die Kinder für ein paar Wochen wegfuhren? Man konnte ja nie wissen. Er verwarf den Gedanken jedoch zunächst wieder. „Ich habe einmal über ihn gelesen, dass er sowas wie ein Vampir sein soll.“, bohrte Ben weiter nach. Semir verdrehte die Augen. „Ich kann Sie beruhigen Herr … Jäger. Es gibt noch keinen Namen für das, was er ist. Ich weiß nur so viel: Er ist ein grausamer Psychopath und Soziopath der schlimmsten Sorte. Belassen wir es dabei.“ Semir schluckte. Ihm gefror förmlich das Blut in den Adern. Auch Ben war jetzt anscheinend ruhig gestellt. Er starrte nur noch nach vorne und hätte beinahe einem weißen Sprinter die Vorfahrt genommen. Semir reagierte auf Bens Vollbremsung mit einem vorwurfsvollen Blick.


    Wenige Minuten später bogen sie auf das Gelände des Instituts für Pathologie an der Universität Köln ein. Langsam erholten sie sich wieder - auch wenn sie nicht recht wussten, von was. Nahm sie diese Geschichte wirklich so mit? Wortlos parkte Ben seinen Dienstwagen und die 3 Polizisten stiegen aus. Semir konnte Ben nun kurz in die Seite hauen und zwang sich zu einem Grinsen, obwohl ihm der Schock auch noch in den Gliedern saß: „Na, hat sie dir jetzt auch die Coolness ausgetrieben, du Vampir?“ Ben verzog das Gesicht. Dann betraten sie das Institut.


    ...

  • Sofort wurden sie eingehüllt von dem für Krankenhäuser so typischen Geruch aus Arzneimitteln, sonstiger Chemie und anderem Gestank. Obduktionen wurden in der Regel im Untergeschoss des Instituts durchgeführt. Clarice Starling hatte gesagt, dass das BKA für diesen Fall die höchste Priorität festgelegt hatte. Es bestand also die Möglichkeit, dass die Gerichtsmedizinerin bereits erste Erkenntnisse hatte.


    Sie fuhren mit dem Fahrstuhl in das erste Untergeschoss. Vor ihnen lag ein Gang, der in erster Linie durch Neonröhren beleuchtet wurde und den Gang durch die Spiegelungen von den grünlichen Kacheln in ein eigentümliches Licht tauchte. Sie gingen den Gang entlang. Nach einigen Metern kam ihnen die Gerichtsmedizinerin, die Ben und Semir schon am frühen Vormittag gesehen hatten, entgegen. „Ah, Tag! Frau Krüger hat schon angerufen und gesagt, dass sie kommen werden. Kommen sie mit.“ Die drei nickten ihr zu. Während weder Ben noch Semir Lust darauf hatten, noch einmal den Horror des Tatorts zu durchleben, schien Clarice Starling hochprofessionell. Wie schon im Auto versuchte Ben, sich nichts anmerken zu lassen und ebenso kompetent und gefühlskalt zu wirken. Semir lächelte darüber leicht, als er das bemerkte. Er wollte doch nicht etwa der gut 10-15 Jahre älteren FBI-Agentin imponieren?
    „Sind sie öfters hier?“, fragte Starling die Kommissare. Ob sie geahnt hatte, dass sich die Autobahnpolizei nicht unbedingt jeden Tag hier aufhielt, wie etwa Beamte der Mordkommission? „Immer wieder, ja.“, räusperte sich Ben. Als Starling vorausging, warf Semir seinem Partner einen wissenden Blick zu, den dieser mit einer erneuten Grimasse beantwortete. „Und sie? Haben sie auch noch oft mit Leichen zu tun?“, fragte Ben die Agentin in geschäftsmäßigem Ton. „Ich habe meine Ausbildung an der FBI-Akademie in Quantico gemacht. Ich hatte jede Menge Gerichtsmedizin, das können Sie mir glauben. Meine Hauptfächer waren jedoch Psychologie und Kriminologie. Nach meiner Ausbildung, während der ich mit Lecter schon das erste Mal … gesprochen habe, wurde ich von der Abteilung für Verhaltensforschung übernommen. Die Erfinder des Profiling. Damals steckte das Ganze noch in den Anfängen.“ Ben nickte anerkennend. Starling schien sich ihrer deutschen Umgebung unglaublich schnell anpassen zu können. Sie machte nun kaum mehr Fehler. Ben vermutete, dass Fremdsprachen wie Deutsch Teil der Ausbildung beim FBI waren. Vielleicht hatte Clarice Starling es aber auch in der Schule gehabt. Trotzdem war ihm nicht entgangen, wie sie kurz gestockt hatte, als sie ihre erste Unterhaltung mit Lecter erwähnt hatte. Ohne Zweifel – nach allem was er über sie gehört hatte, kannte sie Lecter wie kein anderer. In ihm stieg eine seltsam unheimliche Spannung auf. Diese Frau hatte quasi einen Blick durch die Pforten der Hölle machen können. Doch sie ließ sich ihre Erfahrungen nicht anmerken. Was mochte sie schon alles erlebt haben?
    Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Sie standen nun vor einem Labor der Gerichtsmedizin, in dem mehrere Metalltische standen. Alle waren leer – bis auf einer. Die Leiche des alten Mannes war von einem grünen Tuch abgedeckt. „Lassen Sie ihn mich kurz ansehen.“, bat Starling die Gerichtsmedizinerin, die daraufhin das Tuch zurückzog. Ben und Semir wandten sich reflexartig ab. Die FBI-Agentin schien das nicht zu stören. Aus den Augenwinkeln beobachteten die Autobahnpolizisten ihre amerikanische Kollegin, wie sie den Leichnam untersuchte. Zwischendurch fragte sie die Medizinerin ein paar fachspezifische Dinge, von denen Ben und Semir nichts verstanden. „Können Sie schon was Genaueres zum Todeszeitpunkt sagen?“, fragte Ben, um nicht ganz unbeteiligt da zu stehen. „Wir können den Todeszeitpunkt auf etwa 6 Uhr morgens, plus minus eine halbe Stunde festsetzen.“ „Das könnte passen.“, antwortete Starling, immer noch in die Untersuchung der Leiche vertieft. „Das Flugzeug aus Washington landete um 5:19 Uhr am Airport. Von dort aus zum Rastplatz benötigt man?“ „Mit dem Taxi oder dem Auto etwa 15-20 Minuten reine Fahrtzeit.“, schätzte Semir. „Das würde in etwa hinkommen, wenn man noch die Zeit beachtet, die er gebraucht haben dürfte, um den Flughafen unbemerkt zu verlassen und auf ein passendes Opfer am Rastplatz zu warten.“, schlussfolgerte Ben. „Gut, dann sollten wir alle Taxiunternehmen befragen, die zu diesem Zeitpunkt jemanden vom Flughafen in die Nähe des Rastplatzes gefahren haben. Vielleicht kann ein Fahrer Lecters Kleidung und so weiter genauer beschreiben.“ Semir wusste, dass alle Informationen, die sie so erhalten konnten, im Grunde genommen zweitrangig waren. Es galt einzig und allein, Lecter zu fassen. Wann genau er den alten Mann umgebracht hatte, war nur insofern wichtig, dass ihn jemand zu dieser Zeit gesehen haben könnte, wie er den Rastplatz anschließend verlassen hatte. Das war von höchster Wichtigkeit – ebenso wie die Frage nach der Identität des Opfers.
    „Wonach suchen sie eigentlich?“, fragte Ben Clarice Starling, die noch immer die Leiche untersuchte und diese mittlerweile mit Hilfe der Pathologin umgedreht hatte. „Ich suche nach Hinweisen, die Lecter uns hinterlassen haben könnte. Für ihn ist das möglicherweise der Beginn eines Spiels – das sagte ich ja bereits. Er will nicht verstecken, dass er der Mörder dieses Mannes ist.“ Ben konnte sich noch immer nicht in die Psyche von Lecter hineinversetzen. Aber wer konnte das schon, außer Clarice Starling vielleicht. Und das wahrscheinlich auch nur ansatzweise. „Haben Sie DNA-Material des Mannes mit der Datenbank abgeglichen? Vielleicht ist er ja registriert.“, fragte Starling die Gerichtsmedizinerin weiter. Diese schüttelte den Kopf: „Leider kein Treffer. Aber das Alter des Mannes können wir etwa auf 70-72 Jahre festsetzen.“ „In Ordnung“, mischte sich Ben wieder ein: „Dann sollten wir das in der Pressemitteilung herausgeben. Vielleicht meldet sich ja jemand, der den Mann mittlerweile vermisst.“ Starling schien dieser Gedanke nicht unbedingt zu gefallen aber dann stimmte sie zu: „Ok, wir haben keine andere Wahl. Nur so haben wir die Chance, Hinweise auf Lecters aktuellen Namen, Auto und so weiter zu bekommen.“ Sie trat einen Schritt von dem Metalltisch zurück und zog sich ihre Gummihandschuhe von den Händen. Dann murmelte sie nachdenklich: „Hmm, kein Gruß von Lecter..."
    Auch hier befanden sich die Polizisten in einer Sackgasse.


    ...

  • Noch am Nachmittag war die Pressemitteilung herausgegeben worden und sollte am nächsten Morgen in allen wichtigen Tageszeitungen erscheinen. Sie hofften noch so lange wie möglich geheim halten zu können, wer der Mörder des alten Mannes war, der sich nun in Deutschland herumtrieb.


    Nachdem die beiden Kommissare Clarice Starling an einem Hotel abgeliefert hatten, in dem sie die nächste Zeit übernachten sollte, fuhren die beiden erschöpft nach Hause. Endlich waren sie wieder eine kurze Zeit unter sich. Während die Lichter der Straßenlaternen in der Dunkelheit an ihnen vorbeizogen, gähnte Semir: „Was für ein Tag.“ Er machte eine Pause. „Mir ist das Ganze nicht ganz geheuer. Vielleicht sollte ich Andrea und die Kinder für ne Weile aus der Schusslinie bringen.“ Er hörte sich sehr ernst an. Ben widersprach ihm nicht. „Für mich wirkt der ganze Fall so unwirklich. Hannibal Lecter! Das klingt wie eine Story von der anderen Seite der Welt und jetzt sind wir mitten drin.“, schüttelte Ben ungläubig den Kopf. „Naja, bis gestern war das ja auch noch ne Story von der anderen Seite der Welt. Aber jetzt ist der Mistkerl nunmal hier.“ Semir dachte kurz nach, bevor er weitersprach: „Was meinst du, hat die Starling mit Spielchen gemeint, die Lecter spielt?“ Ben überlegte kurz. „Naja, ich hab gelesen, dass Lecter sich mit Starling öfters in Verbindung gesetzt hat. Er soll ihr Briefe geschrieben haben und sie auch angerufen haben.“ Auf einmal wurde Semir unruhig: „Haben wir ihr Telefon im Hotel schon angezapft?“ „Ich weiß nicht. Aber wenn dieser Lecter so intelligent ist, dann wird er das ahnen und nicht anrufen. Möglicherweise sucht er einen anderen Weg, wenn er so scharf auf Spielchen mit Clarice ist.“ Semir sah auf: „Clarice? Seid ihr etwa schon per du?“ Ben verdrehte die Augen, doch Semir ließ sich nicht beirren: „Du weiß schon, dass diese Frau Amerikanerin ist? Und sie hat Anfang der Achziger das erste Mal mit Hannibal Lecter gesprochen. Innerhalb ihrer Ausbildung. Das bedeutet, dass sie grob geschätzt etwa Mitte bis Ende 40 sein dürfte. Sicher, dass du dir so eine anlachen willst? Gut, sie sieht jünger aus, das gebe ich zu. Aber sie ist eine knallharte, amerikanische FBI-Agentin, die das Böse nur so anzuziehen scheint! Hast du die an der Backe, hast du Lecter an der Backe! Denk an meine Worte! Merkst du nicht, dass da eine Spannung zwischen ihr und diesem Monster in der Luft liegt?“ Es war nicht zu erkennen, wie ernst Semir diese Worte meinte. Aus dem anfänglichen Witz, schien sich eine gefährliche Wahrheit entwickelt zu haben. Trotzdem versuchte Ben zunächst, die Situation etwas aufzulockern: „Die Schöne und das Biest, wie?“, witzelte er, bevor er dann wieder etwas nachdenklicher wurde. Noch während Semir die Augen verdrehte, sagte er: „Nein, du hast schon recht. Sie hat einen merkwürdigen Ton in der Stimme, wenn sie über Lecter spricht. Da gibt es womöglich mehr, was zwischen den beiden passiert ist, als wir oder irgendjemand anders wissen kann.“ „Du glaubst doch nicht, dass die beiden irgendwie…“ „Nein nein“, unterbrach Ben seinen Partner sofort wieder: „Clarice Starling ist geradezu besessen davon, Lecter zu schnappen. Aber irgendwas ist da, was mich stört.“ „Wir sollten vorsichtig sein. Mit Amerikanern sowieso, aber mit diesen hier ganz besonders. Ich hab keine Lust, von einem Kannibalen gefressen zu werden. Und dass das in diesem Fall kein Witz ist, macht die Sache noch viel schlimmer.“ Einen Moment wusste Ben selbst nicht, ob er das, was er da gesagt hatte, wie einen sarkastischen, schlechten Witz gemeint hatte, oder doch bluternst. Er sah Semir an. In seinem Blick war Unruhe zu spüren, als ob sein Partner sich gerade wieder bewusst wurde, dass er Familienvater war. Er hatte nicht nur Verantwortung für sich, sondern auch für seine Frau und seine Kinder. Und so viel wussten die beiden nun über Hannibal Lecter: Es gab keinen perfiden Plan, den er nicht aushecken würde, wenn er Spaß daran hätte.


    Sie waren vor Semirs Haus angekommen. Ben hielt an. „Wir sollten morgen versuchen, ein bisschen mehr über die gemeinsame Vergangenheit von Starling und Lecter herauszufinden. Ich hab keine Lust, aus Unwissenheit in irgendeine tödliche Falle zu tappen.“ Semirs Blick war wie versteinert, als er aus Bens Dienstwagen ausstieg und sich durch das heruntergelassene Seitenfenster von seinem Partner verabschiedete. Er blieb noch kurz am Straßenrand stehen, als sich der silbergraue Mercedes langsam entfernte und in der Dunkelheit verschwand. Ein kalter Wind wehte dem Hauptkommissar um die Schulter. Er blickte sich um. Die Straße war menschenleer. Nur das Pfeifen des Windes war in der Nacht zu hören. Bei dem Gedanken, dass irgendwo hier ein kannibalistischer Serienmörder herumlaufen konnte, der die gleiche Luft wie er und seine Familie atmete, schauderte es ihn. Er spürte seine Waffe im Holster an seinem Gürtel stecken. Wenn ihn heute Nacht jemand ungebetenes besuchen sollte, würde er sie griffbereit haben…


    ...

  • Semir versperrte die Tür von innen und warf den Schlüssel wie gewohnt auf einen kleinen Tisch rechts von der Eingangstür. Es war ein fast ganz normaler Abend. Nur seine Laune war anders als normaler Weise. Er konnte die Sorgen, die er sich machte, nicht verdrängen.
    Es war schon recht spät, darum rief er kein lautes „Hallo!“ ins Haus. Er blickte kurz die Treppe nach oben. Gleich würde er zu seinen Kindern hinauf schauen, doch jetzt wollte er erst einmal Andrea begrüßen. Er ging geradeaus die zwei Stufen hinunter und befand sich jetzt im Wohnzimmer. Da lag seine Frau auf dem Sofa und schlief vor dem laufenden Fernseher. Zärtlich drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn. Schlaftrunken hob sie ihren Kopf: „Hallo Schatz. Essen steht noch auf dem Tisch.“ Er setzte sich zu ihr auf das Sofa und nahm ihre Hand. „Andrea, ich möchte, dass du morgen mit den Kindern ein paar Tage zu deinen Eltern fährst.“ Seine Frau sah ihm tief in die Augen. Sie kannte diesen Satz nur zu gut und sie hasste ihn. Jeden Tag musste sie Angst haben, dass ihr Mann gesund wieder nach Hause kam und dann war es noch genau dieser Satz, vor dem sie ebenfalls Angst hatte. Sie setzte sich auf und fragte ernst: „Was ist passiert?“ Semir strich ihr wortlos eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Er sah sie an. Er wollte sie auf keinen Fall beunruhigen, auch wenn er wusste, dass er das bereits getan hatte. „Andrea bitte!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie energisch nach unten. „Semir, was ist los? Ich kenn dich.“ Er musste es ihr sagen.


    „Das ist jetzt ein Witz, oder? Hannibal Lecter bei uns in Deutschland!“ Sie musste sich zusammenreißen, damit sie nicht zu laut wurde und die Kinder aufweckte. „Und ausgerechnet mein Mann muss derjenige sein, der diesen kranken Psychopathen einfängt? Da gibt es FBI, CIA, LKA, BKA, BND und so weiter, aber nein! Mein Mann von der Autobahnpolizei soll diesen Typen einfangen, ja??“ Sie schaffte es, im Flüsterton so zu wirken, als würde sie schreien. Semir versuchte, seine Frau zu beruhigen, doch ihr Gesicht war bereits ganz rot angelaufen. Er wusste, dass dieser Abend gelaufen war. Andrea würde den restlichen Abend, wenn nicht noch länger, sauer sein und ihn auf dem Sofa schlafen lassen. Er akzeptierte es, denn er verstand sie. Hauptsache, sie würde morgen früh wirklich mit den Kindern zu seinen Schwiegereltern fahren. Dann war er wenigstens die Sorge um seine Familie los und konnte sich vielleicht besser auf den Fall konzentrieren.


    Nachdem Andrea nach oben gegangen und eingeschlafen war, stand Semir noch eine Zeit lang im nun dunklen Wohnzimmer und dachte nach. Der Mond schien durch die große Glasfront des Raumes. Die Schaukel im Garten bewegte sich gleichmäßig im Wind. Semir blickte nach draußen. Er bezweifelte, dass er heute überhaupt schlafen konnte. Und wenn er es doch schaffen sollte, würde er wahrscheinliche jede halbe Stunde wegen eines Alptraums aus dem Schlaf hochschrecken. Wie es wohl Ben erging? Plötzlich riss ihn eine Bewegung im Garten aus den Gedanken. Hatte sich da eben etwas in dem Gebüsch bewegt? Sofort tastete er unter seinem auf dem Sofa liegenden Kopfkissen nach seiner Waffe. Er brauchte einen Moment, dann spürte er das kalte Metall in seiner Hand. Mit einer schnellen Bewegung riss er den Schlitten zurück und nahm die Waffe in den Anschlag. Ihm war sofort der Schweiß auf die Stirn gestiegen. So stand er nun da und starrte angestrengt durch die Glasscheibe nach draußen in die Nacht.


    Clarice Starling schloss die Tür hinter sich und drehte den Schlüssel um. Vor ihr lag das dunkle Hotelzimmer in der Kölner Innenstadt. Mit der Hand fuhr sie die Wand entlang und tastete nach dem Lichtschalter. Wieder stieg das unangenehme Gefühl der Angst in ihr hoch. Sie hatte es fast jeden Abend, seit Hannibal Lecter wieder auf freiem Fuß war. Sie musste immer wieder an den einen Satz denken, den er ihr einmal am Telefon gesagt hatte: „Ich habe keine Pläne, Sie aufzusuchen, Clarice. Die Welt ist interessanter mit Ihnen darin.“ Sie wusste es noch wie an jenem Tag. Danach hatte er in seiner gewohnt ruhigen, monotonen Stimme gesagt: „Sie sollten Acht geben, mir die gleiche Gefälligkeit zu erweisen.“ Das würde sie nicht tun. Niemals. Sie hatte sich geschworen, Hannibal Lecter wieder hinter Gitter zu bringen, und wenn es das Letzte wäre, was sie tun würde.
    Noch immer stand sie im Dunkeln in ihrem Hotelzimmer. Wo war nur der verdammte Lichtschalter? Sie tastete weiter die Wand entlang. Plötzlich stieß ihr Fuß gegen etwas Hartes. Sie fuhr erschrocken zusammen, als sie das unerwartete Geräusch hörte. Sie tastete nach dem, gegen das sie gestoßen war. Es war ein kleines Holzschränkchen, das sich leicht verschoben hatte, als sie dagegen gekracht war. Sie tastete sich blind zurück die Wand entlang. Hier war die Tür, also musste hier doch irgendwo der Lichtschalter sein. Sie begann zu zittern. Sollte sie die Tür nochmal aufsperren, um das Licht auf dem Gang des Hotels zu nutzen, um den Lichtschalter in ihrem eigenen Zimmer zu finden? Nein, hier war er! Wie hoch die Lichtschalter hier in Deutschland angebracht waren… Vielleicht bildete sie sich das aber auch nur ein. Sie knipste das Licht an und fühlte sich augenblicklich viel besser. „Wie blöd kann man auch sein, die Tür zu verschließen, bevor man das Licht anschaltet?“, dachte sie bei sich. Erschöpft ging sie auf das große Bett zu, das in der Mitte des Zimmers stand. Die Vorhänge waren vor dem Fenster zugezogen. Auf der linken Seite des Zimmers führte eine Tür in das Badezimmer. Auf dem Nachtkästchen standen frische Blumen und ein Telefon. Sie ließ sich auf das Bett fallen. Erst jetzt merkte sie, wie müde sie war. Sie schloss die Augen und verfiel augenblicklich in einen Dämmerzustand. Plötzlich riss sie das laute Klingeln des Telefons aus ihrem Halbschlaf. Sie schreckte hoch und brauchte einen Moment, um zu registrieren, wo sie war. Sie starrte auf das Telefon und hob dann langsam den Hörer ab.


    ...

  • „Ja?“, fragte sie mit leicht zittriger Stimme in den Lautsprecher. „Miss Starling, good evening.“ Erleichtert stellte sie fest, dass es ihr Vorgesetzter Jack Crawford war. Er entschuldigte sich, dass er sie so spät störte und sagte, er wolle sich nur kurz erkundigen, ob alles in Ordnung und sie mit ihrem Hotelzimmer zufrieden sei. Sie war froh, kurz mit jemandem auf Englisch reden zu können. Auch wenn das deutsch sprechen noch besser klappte, als sie gedacht hatte, war es doch sehr anstrengend für sie gewesen. Nach nur ein paar Minuten beendeten sie das Gespräch. Crawford wünschte ihr eine gute Nacht und versprach, sie morgen zum Frühstück abzuholen, bevor er sie bei der Autobahnpolizei absetzen würde. Er selbst würde sich dann wieder auf den Weg zum LKA machen, um dort weitere Gespräche zu führen und Vorbereitungen zu treffen. Kaum hatte sie den Hörer aufgelegt und sich zurück ins Bett fallen lassen, war sie auch wieder eingeschlafen.


    Die Nacht war für niemanden besonders erholsam gewesen. Völlig übermüdet betrat Semir um kurz vor 9 Uhr die Dienststelle der Autobahnpolizei. Er hatte die ganze Nacht kaum schlafen können. Es war alles ruhig geblieben im Garten und im Haus. Wahrscheinlich hatte er sich die Bewegungen in dem Gebüsch nur eingebildet oder es war nur eine Katze gewesen. Trotzdem hatte er auch Stunden später kaum zur Ruhe gefunden. Umso erleichterter war er, als schließlich die Sonne aufgegangen war und er sich etwas beruhigen konnte. Gleich nach dem Frühstück war Andrea mit Ayda und Emily zu ihren Eltern gefahren. Sie war zwar nach wie vor alles andere als glücklich darüber, aber sie hörte auf ihren Mann und hatte ihm vor der Abfahrt noch einmal ein eindringliches „Pass auf dich auf!“ zugeflüstert. Er kannte Andrea. Sie regte sich sehr schnell über Dinge auf, die das Familienleben beeinträchtigten, beruhigte sich dann aber auch wieder. Semir sah ihrem Auto nach und winkte zum Abschied nochmal seinen Kindern zu, die ihn durch die Heckscheibe des Wagens mit großen Augen betrachteten und zuück winkten. Ayda war nun alt genug, um teilweise unangenehme Fragen zu stellen. Doch ihre Eltern hatten auch sie dazu überreden können, sich auf den Besuch bei ihrer Oma und ihrem Opa zu freuen.


    Ein paar Minuten nach Semir kam auch Ben in das Büro getrottet. In der einen Hand eine Tüte vom Bäcker, in der anderen einen Pappbecher mit der Aufschrift „Coffee to go“. Anscheinend hatte er seinen Hunger nach den gestrigen Erlebnissen wieder gefunden. „Morgen. Scheint ja keine besonders tolle Nacht gewesen zu sein, oder?“ Semir winkte ab und wischte sich müde über das Gesicht. Clarice Starling war anscheinend noch nicht da. Stattdessen kam Susanne mit der Chefin kurz darauf in das Büro der Kommissare. Sie gab Semir eine Zeitung: „Hier ist der Bericht über den Toten am Rastplatz. Die Presse scheint schon Wind um den Fall zu machen. Ständig klingelt das Telefon. Aber wir mussten die Nummer ja wohl oder übel angeben. Vielleicht meldet sich ja jemand, der einen Mann mit dieser Personenbeschreibung vermisst. Bislang ist keine Vermisstenanzeige bei den umliegenden Dienststellen eingegangen.“ Semir nickte: „Na dann hoffen wir mal, dass es bald was neues gibt und wir den Namen „Lecter“ noch möglichst lange aus dem Spiel halten können.“ Nachdem die beiden Frauen das Büro wieder verlassen hatten, kam Ben zu Semir herüber und setzte sich auf die Kante des Schreibtisches. „Wie wär’s wenn wir jetzt mal bei Hartmut vorbeifahren? Vielleicht kann unser verrückter Professor uns ja ein paar Infos über die Vergangenheit von Starling und Lecter besorgen?“ Semir überlegte kurz und stimmte dann zu. Besser jetzt, wo von der FBI-Agentin noch nichts zu sehen war, als später. Wer wusste, was der Tag noch bringen konnte…


    ...

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  • „Nein, auf gar keinen Fall!“, rief Hartmut bestimmt. Er trug wie immer seinen weißen Laborkittel und hatte eine Brille auf, die mehr einer Taucherbrille, als einem wissenschaftlichen Hilfsmittel glich. „Hartmut.“, begann Semir seinen Überredungsversuch: „Irgendwas kommt uns an dem Verhalten oder der Art von dieser Starling in Bezug auf Lecter komisch vor. Wir müssen hier wissen, mit wem wir es zu tun haben, sonst können wir bei der Sache gewaltig auf die Schnauze fallen!“ Ben nickte zustimmend, doch Hartmut schien die ganze Sache gar nicht zu schmecken. „Und wie soll ich das machen? Soll ich mich beim FBI einhacken?? Selbst wenn da irgendwo in den Akten von denen was stehen sollte, dann sind das vertrauliche Daten! Da hab ich innerhalb von 1 Stunde das ganze FBI, die CIA und sonst wen an der Backe! Und ich hab überhaupt keinen Bock, meinen nächsten Urlaub in Guantanamo zu verbringen!“ Semir stöhnte. „Hartmut!“, begannen Ben und Semir wie aus einem Mund nocheinmal.



    „Dafür werde ich sowas von gefoltert…“, maulte er resigniert vor sich hin, während er irgendwelche unverständlichen Dinge in seine PC-Tastatur eintippte. Ben und Semir standen hinter ihrem rothaarigen Freund und schauten ihm gespannt über die Schulter: „Hartmut!“, munterte Semir ihn mit gedämpfter Stimme auf: „Du bist doch ein Genie! Das kriegen die Amis doch gar nicht raus, dass du, geschweige denn von wo du dich in deren System hackst! Du kannst das doch bestimmt über 20 Proxy-Dingsbums-Server jagen, damit sich da gar keine Spur mehr zurückverfolgen lässt, oder?“ „Schon, aber da komm ich nicht mal eben so mit nem einfach Backdoor-Trojaner rein! Wisst ihr überhaupt, wie die ihre Systeme schützen? Das ist eine einzige riesen große Firewall!“ Hartmut schien immer noch nicht davon überzeugt zu sein, dass das eine gute Idee war, was er hier tat. Trotzdem tippte er weiterhin wie wild irgendwelche Codes in seinen PC ein. Mehr wollten Ben und Semir gar nicht. Darum munterten sie Hartmut nur immer wieder auf, damit er weiter machte und klopften ihm immer wieder anerkennend auf die Schulter. Irgendwann lehnte er sich dann in seinen Bürostuhl zurück und sagte dann etwas unsicher: „So. Das dauert jetzt ne Weile.“ Ben und Semir betrachteten den Bildschirm auf Hartmuts Schreibtisch. Sie verstanden nichts von dem, was dort vor sich ging. In grüner Schrift jagten tausende Buchstaben- und Zahlenkombinationen über den schwarzen Hintergrund. Nach einer Weile fragte Ben vorsichtig: „Ähm, Einstein? Wie lange… also was denkst du denn so ungefähr…“ Entrüstet drehte Hartmut sich um: „Das dauert jetzt halt ne Weile! Das überprüft jetzt zig Zugangscodes für den internen FBI-Rechner, auf den wahrscheinlich nicht mal J. Edgar Hoover persönlich jeden Tag Zugriff hatte!“ Ben hatte zwar keine Ahnung, wer genau dieser J. Edgar Hoover war, aber er hörte sich wichtig an. Gab es da nicht vor einigen Monaten einen Film, der mit dem etwas zu tun hatte? Ben nickte nur entschuldigend, starrte dann wieder angestrengt in den Bildschirm und wartete darauf, dass sich etwas darin veränderte.


    Fünf Minuten später – Ben und Semir betrachteten sich bereits leicht genervt, während Hartmut immer noch zurückgelehnt in seinem Bürostuhl hing – ertönte plötzlich ein helles, elektronisches „Pling“ aus den Lautsprechern des Computers. Stolz verkündete Hartmut: „Wir haben Zugriff!“ „Echt?“, riefen Ben und Semir begeistert und traten sofort wieder näher an den Bildschirm heran. Links oben erschien das runde, blaue Symbol des Federal Bureau of Investigation – kurz FBI. In den Kommissaren war eine Spannung aufgestiegen wie in einem Kind, das ein neues Computerspiel ausprobierte. „Ok“, begann Semir Hartmut zu diktieren: „Such mal nach Dr. Hannibal Lecter. Und lass das Ganze mal ins Deutsche übersetzten!“ Hartmut schüttelte ungläubig den Kopf, während er wieder begann, einige Dinge einzutippen.
    Nach wenigen Augenblicken hatten die drei einen längeren Bericht vor sich, den Hartmut zunächst von einem Programm ins Deutsche übersetzen ließ. Gespannt begannen sie zu lesen.


    ...

  • Dr. med. Hannibal Lecter, geb. 1933 in Litauen, war seit 1973 als forensischer Psychiater in Baltimore tätig. Er war mehrere Jahre ein angesehenes Mitglied der gehobenen Gesellschaft, was sowohl seine Arbeit, weltmännische Bildung, sein Sinn für Ästhetik, besonders in Kunst und klassischer Musik und seine Vorliebe für exquisite Küche ermöglichten.


    Mehrere Male unterstützte er die Mordkommission und das FBI auf der Suche nach Serientätern mit Hilfe der Erstellung von exakten psychologischen Profilen der Täter auf Basis des jeweiligen Beweismaterials.


    1975 unterstützte er Special Agent Will Graham (ID: 8475834-089) bei der Suche nach einem Kannibalen, genannt „Chesapeake Ripper“. Graham kam Lecter durch Zufall auf die Spur, als er nach eigenen Angaben ein Kochbuch in Lecters Büro fand, wo das Rezept für Kalbsbries mit einem Lesezeichen markiert war. Graham stellte den Zusammenhang zu einem Opfer her, dem die Thymusdrüse entfernt worden war (Verweis: AZ-2345-09). Bei dem Versuch, Lecter zur Rede zu stellen, griff dieser den Special Agent an und verletzte ihn schwer mit einem Stilett. Trotzdem war es Graham noch möglich, Lecter mit 3 Schüssen aus seiner Dienstwaffe außer Gefecht zu setzen.


    Ben und Semir überflogen Berichte über die Boulevardpresse, die sich auf den Fall gestürzt hatte und den Spitznamen „Hannibal der Kannibale“ erfunden hatte, und auch über die Gerichtsverhandlung, in der anscheinend aufgedeckt wurde, dass Lecter seinen Gästen bei einem Abendessen dieses selbst zubereitete, exquisite „Kalbsbries“ aufgetischt habe. Anscheinend waren während des Prozesses mehrere Menschen in Ohnmacht gefallen. Die beiden Kommissare mussten mehrmals schlucken.
    Sie lasen weiter, wie Lecter im Gefängnis, eigentlich einer geschlossenen psychiatrischen Klinik, einmal eine Krankenschwester angriff und sie auf schreckliche Weise entstellte, er Will Graham nach einigen Jahren half, die sogenannte „Zahnfee“ zu fassen – nicht ohne dabei seine Spielchen zu Spielen und Grahams Familie durch einen fiesen Trick größter Gefahr auszusetzen. Einige dieser Dinge wussten sie bereits aus Presseberichten, andere schienen unveröffentlicht geblieben zu sein.
    Nach diesen Ereignissen war Lecter das erste Mal auf Clarice Starling getroffen. Ben und Semir fanden einen geheim gehaltenen Bericht Starlings über ihre ersten Unterhaltungen mit Lecter. Er hatte sich anscheinend auch mit ihr einige psychologische Spielchen geliefert, die sie nicht hatte gewinnen können. Sie beschrieb, wie Lecter intimste Details ihres Privatlebens aus ihr herausbekam und teils nur durch seine Beobachtungsgabe und seinen Geruchssinn herausfand. Die beiden Kommissare schauderte es. Hartmut machte sich wieder an die Arbeit. Er konnte und wollte sich nicht mit solchen Abgründen der menschlichen Seele beschäftigen.
    Aus den Berichten ging weiter hervor, dass es Clarice Starling trotz allem letztendlich nur mit Lecters Hilfe geschafft hatte, einen weiteren Serienmörder, den das FBI zu dieser Zeit suchte, zu finden. Die Ermittlungsakte zu „Buffalo Bill“ übersprangen sie jedoch.
    Bei dem Bericht über Lecters Ausbruch nach seiner Verlegung in ein Bundesgefängnis in Memphis mussten Ben und Semir eine Pause machen. Sie hatten nicht einmal geahnt, was man mit einem Menschen alles anstellen konnte. Allein bei seiner Flucht waren mindestens fünf Menschen gestorben – meist auf die grausamste Weise, wie man es sich nur vorstellen konnte.
    Sie übersprangen wieder einen Teil, wo Lecters Flucht nach Florenz und sein Treiben dort zusammengefasst wurde. Am Ende fanden sie heraus, dass Starling Lecter einmal das Leben gerettet hatte, nachdem dieser in die Hände eines ehemaligen Opfers gefallen war, das schwer entstellt überlebt hatte und Rache an ihm nehmen wollte. Sie wurde dabei anscheinend von einer Kugel getroffen. Lecter hatte sich revanchiert und sie heimlich in ihrem Haus gesund gepflegt. Es schien also tatsächlich eine engere Verbindung zwischen Lecter und Starling zu geben. Zwar versuchte sie danach wieder, ihn festzunehmen, doch er konnte wieder entkommen. Und das, indem er sich, und nicht der an ihn festgeketteten Starling, die Hand abhackte. Danach war er untergetaucht und verschwunden geblieben. Der Artikel endete mit den Worten:


    Die letzte Spur von Lecter wurde 2012 in Deutschland gefunden, wo ein Mord an einem bislang nicht identifizierten Mann registriert wurde. Clarice Starling und Jack Crawford befinden sich aktuell in Deutschland, um die dortige Polizei bei der Fahndung zu unterstützen.


    „Prost Mahlzeit! Der Typ ist ja noch kränker, als ich gedacht habe!“, stellte Semir verärgert fest, als er alles gelesen hatte. Ben stimmte ihm zu: „Glaubst du, dass Lecter in Starling … sowas wie verliebt sein könnte?“ „Auf jeden Fall war ihm ihre Hand mehr wert, als seine eigene. Und wer weiß, was die Starling bei ihren Berichten weggelassen hat…“ Semir schien besorgt: „Aber ich glaube nicht, dass die beiden unter einer Decke stecken könnten. Schließlich versucht sie seit Jahren, ihn endlich zu schnappen. Das glaube ich ihr. Darum denke ich, wir können ihr vertrauen.“ Sein Tonfall ließ anmerken, dass er nicht hundertprozentig von dem überzeugt war, was er sagte. „Trotzdem scheint da irgendetwas Unterschwelliges zwischen den beiden zu sein – das hat der Bericht bestätigt. Aber selbst wenn er in sie verknallt wäre – sie hat ihn abgewiesen. Ihr Dank für seine Pflege waren die Handschellen. Ob er jetzt sauer auf sie ist? Sie schuldet ihm schließlich seine Hand…“


    ...

  • Ben und Semir fuhren zur Dienststelle zurück. Sie wussten immer noch nicht so recht, was sie von der Sache halten sollten. Die Beziehung zwischen Hannibal Lecter und Clarice Starling war sehr undurchsichtig und daran änderte auch die Berichte nicht viel. Aber wenigstens wussten sie nun etwas mehr. Besonders die Sache mit der Hand war extrem interessant. Höchstwahrscheinlich würde es nicht lange dauern, bis Lecter wieder Kontakt mit seiner Verfolgerin aufnahm. Auch das hatte er früher immer wieder getan. Ben telefonierte gerade mit der Chefin: „Ja, wir müssen unbedingt ihr Telefon im Hotel abhören lassen! Wir sind uns sicher, dass sich Lecter früher oder später bei ihr melden wird.“ „In Ordnung, ich sehe was sich machen lässt.“, gab Kim Krüger zurück und legte auf. Auch sie schien angespannt. Ben fragte sich, wie nahe ihr dieser Fall wohl ging. Ihre Chefin ließ sich wie immer nichts von ihren Gefühlen anmerken, darum ließ sich nur erahnen, wie es in ihr aussah.


    Als Ben und Semir die Dienststelle betraten, spürten sie sofort die Aufregung, die unter den Beamten herrschte. Sie erblickten die Chefin, Clarice Starling und Susanne, wie sie am Tisch der Sekretärin standen, offenbar den Blick auf eine Zeitung gerichtet. Mit fragendem Blick näherten sich die beiden den drei Frauen. Als sie am Tisch von Jenny und Dieter vorbeigingen, flüsterte Jenny ihnen schnell zu: „Hey! Er hat sich gemeldet!“ „Was??“, flüsterte Semir überrascht zurück und beschleunigte wie Ben sein Tempo, den Blick wieder auf die drei Frauen gerichtet. Mit einem flüchtigen „Hallo“ warfen sie einen Blick in die ausgebreitete Zeitung. Aufgeschlagen war die Seite mit den Kontaktanzeigen. Nach einer kurzen Suche glaubten die Kommissare zu wissen, auf welche Anzeige die Frauen starrten:


    In search of the last ring, I’m standing in the dark till we meet again.
    So beginnen Sie ein neues Spiel an neuem Ort – mit Hilfe wie mir scheint.
    Und so spiele ich mit – alleine wie mir scheint.
    Doch im Erkennen ihrer Mitspieler sitze ich an diesem Ort
    Und genieße gelassen den Tag – mit Ausblick auf
    Deutsche Frauen, deutsche Treue, deutschen Wein und deutschen Sang.


    „Hä?“, schüttelte Ben verständnislos den Kopf. „Psycho.“, stellte auch Semir karg fest: „Das mag sich ja nach ihm anhören, aber solche Spinner, die irgendwelchen unverständlichen Mist abdrucken lassen, gibt es viele. Woher wollen Sie wissen, dass es sicher von ihm ist?“ „Und was soll der Schwachsinn mit dem letzten Ring?“, ergänzte Ben.
    Clarice Starling schien darauf gewartet zu haben. „Sehen Sie“, holte sie aus und zeigte auf die erste Zeile: „In erster Linie ist „last ring“ ein Anagramm: Starling. Damit spricht er mich an. Und er sucht nach mir.“ Sie schien von dieser Erkenntnis äußerlich nur wenig geschockt. „Die folgenden Zeilen sind auch für Sie – sie sind auf Deutsch geschrieben. Die Hilfe, von der er spricht, sind sie; genauso wie das, was er als „meine Mitspieler“ bezeichnet. Mit „im Erkennen“ könnte er meinen, dass er dabei ist, sie kennen zu lernen. Er will wissen, mit wem er es zu tun hat.“ Sie beobachtete die Reaktion der umstehenden Personen, die wortlos dastanden. „Soll er doch kommen.“, maulte Ben wütend. „Er hält nicht besonders viel von Ihnen.“, setzte Starling unbeeindruckt fort: „Er genießt gelassen, ohne Sorge, den Tag. Nur die letzte Zeile verstehe ich nicht ganz. Das ist alles, auf das er Aussicht hat.“ „Das ist doch ein Teil der zweiten Strophe der deutschen Nationalhymne, oder?“, meldete sich Susanne zu Wort. „Stimmt.“, pflichtete Kim Krüger ihr bei. „Also nochmal eine Anspielung auf den Austragungsort, dieses Spiels.“, nickte Starling.


    „Na dann, lass uns spielen, Hannibal.“ Semir bemerkte den aufkommenden Übermut, aber auch wie genervt sein Partner von Hannibal Lecter war. Wenn Ben etwas nicht leiden konnte, waren es Verbrecher, die sich der Polizei überlegen fühlten. Dass Lecter dies offensichtlich auch noch auf intellektuelle und lyrische Weise zur Schau stellte, machte ihn ganz rasend. Semir blickte Ben in die Augen: „Sei vorsichtig, dass du dich in nichts verrennst. Der Typ ist anders.“ Ben bemerkte den Respekt, der aus den Augen seines Partners sprachen. Oder war es schon Angst?


    ...

  • „Alles in Ordnung bei euch? Ja? Ok…“ Erleichtert atmete Semir aus. Ben beobachtete seinen Partner durch die Glasscheibe, wie er im Büro der beiden auf und ab ging, während er mit Andrea telefonierte. Die ganze Sache schien dem Familienvater doch sehr zu schaffen zu machen. Plötzlich stand Kim Krüger hinter Ben: „Das Telefon von Starling im Hotelzimmer wird jetzt abgehört.“ „Alles klar.“ Ben war zufrieden. Nun bestand die Möglichkeit, einen eventuellen Anruf von Lecter zurückzuverfolgen. „Weiß Sie davon?“, fragte Ben scheinbar ganz beiläufig. „Selbstverständlich.“, gab die Chefin etwas ärgerlich zurück: „Wir können es uns nicht leisten, hier irgendwas hinter dem Rücken des FBI zu machen. Außerdem hat sie gleich zugestimmt.“ Nach einem weiteren vorwurfsvollen Blick ging Kim Krüger wieder in ihr Büro.


    Ben nahm einen Schluck aus der neben ihm auf Susannes Tisch stehenden Kaffeetasse und warf noch einmal einen Blick in sein Büro, wo Semir noch immer telefonierte und wie ein Tiger im Käfig auf und ab ging. Besorgt verfolgte er die Schritte seines nervösen Partners. So kannte er Semir gar nicht. Klar – auch für ihn war dies eine ungewohnte Situation. Die Autobahnpolizei hatte einfach nicht oft mit Serienmördern zu tun. Er dachte an seine Zeit beim LKA, die nur wenige Jahre zurücklag. Semir war hingegen schon über 15 Jahre bei der Autobahnpolizei. Beim LKA hatte es öfter die Möglichkeit gegeben, Schwerverbrecher zu jagen. Und bis vor einiger Zeit war dies auch immer sein Ziel gewesen. Er hatte die Autobahn nur als einen Zwischenschritt auf dem Weg nach oben angesehen. Ein hoher Beamter beim BKA zu sein, die Hannibal Lecters dieser Welt zu jagen – das war es, was er gewollt hatte. Seinem Vater zu beweisen, dass man es auch bei der Polizei zu etwas bringen und finanziell unabhängig sein konnte. Doch dann hatte er die Autobahnpolizei als das erkannt, was er wollte. Einen Job, der ihm Spaß machte. Das Geld war zweitrangig. Hier hatte er Abwechslung und Action in seinem Leben, das sein Vater nur zu gerne zu einem eintönigen Streben nach immer mehr Geld in Anzug und Krawatte gemacht hätte. Nein, das war nicht Bens Welt. Trotzdem wollte er noch immer seinem Vater zeigen, dass er es zu etwas gebracht hatte. Immer wieder hörte er seinen Vater, wie er das Wort „Autobahnpolizei“ so abfällig aussprach und ausspuckte, wie er nur gekonnt hatte. Daran hatte sich auch nichts geändert, nachdem Ben seine Schwester an deren Hochzeit gerettet hatte. Aber er hatte zum ersten Mal seit Langem Anerkennung von seinem Vater erhalten und war mittlerweile auch mit ihm versöhnt. Doch eine innere Ruhe hatte Ben noch nicht gefunden. Noch immer musste er sich hin und wieder Angebote von seinem Vater anhören, doch in seiner Firma einzusteigen. Eines Tages würde er seinem Vater beweisen, wie viel er auf dem Kasten hatte. Ihm fiel die Anzeige ins Auge, die Hannibal Lecter aufgegeben hatte. „Und das wird bald sein…“, vervollständigte Ben seinen Gedanken und stand entschlossen auf.


    Der restliche Tag verlief sehr ruhig. Die Stille schien fast trügerisch. Es lastete ein konsequenter Druck auf den Kommissaren. Irgendwo da draußen lief eine tickende Zeitbombe herum. Die Fahndung lief auch Hochtouren, doch es gab einfach keine neuen Erkenntnisse. Sie waren zum Warten verdammt. Und das machte alle Anwesenden fast wahnsinnig.


    Am späten Nachmittag dann endlich eine Neuigkeit: Jenny hatte am Telefon eine ältere Dame gesprochen, die sich aufgrund der Personenbeschreibung des Opfers in der Zeitung meldete. Ihr Mann sei seit gestern Morgen verschwunden. Der Besuch in der Gerichtsmedizin gab die traurige Gewissheit: Die Frau hatte den Toten als ihren Mann identifizieren können. Zurück im Büro war nun wieder Hoffnung bezüglich der Fahndung zu spüren. Sofort gab die Chefin alle neuen Informationen an sämtliche Polizeistationen und Streifenwagen weiter: „Achtung an alle Einheiten! Der gesuchte Hannibal Lecter verwendet vermutlich den Namen Friedrich Scherzer. Wir müssen davon ausgehen, dass er Personalausweis, Führerschein und sonstige Papiere dieses Mannes in seinem Besitz hat. Ebenso fahnden wir nun nach dem Wagen dieses Mannes: Es handelt sich um eine weiße Mercedes C-Klasse Limousine, Baujahr 2004. Amtliches Kennzeichen: K – FS 884. Bei Sichtkontakt sofortige Meldung. Ende.“ Nachdem Kim Krüger ihre Durchsage per Funk beendet hatte, nahm sie ihr Headset ab und sagte zu ihren hinter ihr stehenden Mitarbeitern: „So, dann hoffen wir mal, dass Lecter nichts davon mitkriegt, dass wir ihm nun dicht auf den Fersen sind. Sonst besorgt der sich heute noch ein neues Auto. Und dann wird es weitere Tote geben…“ Clarice Starling, die ebenfalls hinter ihr stand, sagte dazu mit einer traurigen Gewissheit: „Das wird es sowieso.“


    ...

  • Es dämmerte. In der heutigen Nacht würde Vollmond sein.


    Dr. Hannibal Lecter stolzierte sicheren Schrittes durch das Foyer eines noblen Kölner Hotels. Er trug einen weiten, schwarzen Mantel, darunter ein weißes Hemd und dunkle Krawatte. Einen großen, schwarzen Hut hatte er weit ins Gesicht gezogen, während er in den Fahrstuhl stieg. Dieser warf einen dunklen Schatten auf die Hälfte seines Gesichts. Die leise, klassische Musik, die von einem Flügel im Foyer ausging, verstummte, als sich die Tür des Fahrstuhls schloss. Er drückte auf den Knopf für die fünfte Etage. An seiner einen Hand trug er weiße Handschuhe. Die andere hatte er unscheinbar in der Manteltasche vergraben. Jeder, der ihn gesehen hatte, hatte ihn für einen stilvollen älteren Herrn gehalten, der auf dem Weg in sein Hotelzimmer war. Und das war er auch. Die Tür des Aufzugs schwang wieder auf. Hannibal Lecter verließ den Fahrstuhl und ging zielgerichtet den Gang entlang. Der dicke Teppichboden dämpfte seine Schritte. Zimmer 513. Leise steckte er einen Schlüssel in das Schloss. Die Tür schwang geräuschlos auf.
    Er legte seinen Hut und Mantel ab, zog seine Handschuhe aus und trat andächtigen Schrittes an die große Glasfront im Hotelzimmer heran. Mit einer langsamen Bewegung öffnete er Die Balkontür und trat nach draußen. Die Sonne war nun fast untergegangen. Ein kühler Wind strich über seine hohe Stirn. Der hell erleuchtete Kölner Dom war von hier aus sehr gut zu sehen. Genüsslich nahm Lecter einen kleinen Schluck des Rotweins, den er zuvor gekauft hatte. Er behielt den Wein einen Moment lang im Mund, um ihn zu erwärmen, bevor er schluckte. Dann schwang er das Glas mit einer runden Bewegung unter seinem Gesicht und genoss den angenehm dezenten Duft, der in der kühlen Nachtluft in seine Nase drang.


    Wie am Abend zuvor betrat Clarice Starling ihr Hotelzimmer und verschloss die Tür. Diesmal fand sie den Lichtschalter schneller. Dieser Tag war weniger anstrengend gewesen und auch der Jetlag bereitete ihr nun keine größeren Probleme mehr. Sie war es seit den letzten Jahren gewohnt, viel zu reisen, müde zu sein und viel zu arbeiten. Auf dem Weg in das Badezimmer fiel ihr Blick auf den Nachttisch. Sie brauchte einen Moment, um zu erkennen, was sie dort störte. Wie gestern standen Blumen darauf und wie gestern war auch noch das Telefon dort. Doch neben dem Telefon lag ein Briefumschlag, der heute Morgen noch nicht dort gelegen hatte. Sofort lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Sie sah sich um und lauschte. Alles war still, nur von draußen drangen gedämpft die Geräusche der Straße an ihr Ohr. Sie hob den Umschlag auf. „Vielleicht hat ihn ja auch ein Zimmermädchen nach dem Aufräumen dort hinterlegt“, redete sie sich ein. Dann drang ihr der dezente Duft in die Nase. Um sich zu vergewissern, roch sie an dem Umschlag. Tatsache – nicht die Blumen auf dem Nachttisch, sondern der Umschlag duftete – Rosenblütenblätter. Mit einem Schlag wusste Sie, dass dieser Brief nur von einer Person stammen konnte. Und es war noch schlimmer. Diese Person wusste, in welchem Hotelzimmer sie wohnte. Und sie hatte es vielleicht bereits betreten. Schlagartig war ihr der letzte Brief eingefallen, den sie vor einigen Jahren von Lecter erhalten hatte. Regungslos stand die FBI-Agentin da. Sie traute sich kaum zu atmen. Langsam griff Sie nach der schwarzen Glock 17, die in ihrem Gürtelholster steckte. Sie umklammerte das kalte Metall mit der rechten Hand, während sie mit der linken den ungeöffneten Umschlag in der Hand hielt. Zuerst musste sie sich sicher sein, dass sich Hannibal Lecter nicht mehr in der Nähe aufhielt. Langsam drehte sie sich um und löste währenddessen geräuschlos den Knopf an der Oberseite des Holsters, der verhinderte, dass die Waffe bei einem Sprint herausfallen konnte. Nun war es nur noch eine schnelle Bewegung – der Bruchteil einer Sekunde – bis sie sich verteidigen konnte. Nach wie vor rührte sich nichts im Zimmer. Ihr Blick fiel auf die Tür zum Badezimmer. Langsam setzte sie einen Fuß vor den anderen, den Blick starr auf die Türklinke gerichtet. Sollte sie sich bewegen, würde sie sofort die Waffe ziehen und abdrücken. Eine Bewegung, die sie schon tausende Male trainiert hatte. Es würde auch diesmal klappen. Sie ließ den Brief fallen. Der dicke Teppichboden verschluckte das Geräusch. Sie spürte eine Schweißperle über ihre Wange laufen, wischte sie jedoch nicht weg. Sie hatte die Tür nun fast erreicht. Jetzt zog sie die Waffe leise aus dem Holster. Sie lehnte sich gegen die Wand neben der Tür. Sollte sich die Tür jetzt öffnen, konnte sie direkt ins Innere schießen. Das Fenster. Sollte Sie darauf auch achten? „Erst das Bad, dann das Fenster.“, entschied sie. Ihre Hand wanderte die Wand entlang zur Türklinke. Ihre vom Schweiß feuchten Hände umgriffen die Klinke fest. „Eins.“, sagte sie innerlich zu sich. Sie hielt den Atem an. Ihr Arm zitterte. „Zwei.“ Sie ging noch einmal den Bewegungsablauf vor ihrem geistigen Auge durch. War sie in dieser Situation noch in der Lage, jede Bewegung exakt genug zu koordinieren? Sie biss auf die Zähne und holte tief Luft. „Drei.“


    ...

  • Mit einem kräftigen Ruck drückte sie die Klinke hinunter und riss die Tür auf. Da durchschnitt das laute, grelle Klingeln des Telefons die Stille im Zimmer. Sie fuhr zusammen. Sofort war ihre ganze Konzentration weg. Beinahe hätte sie abgedrückt und das Hotelzimmer mit einem Einschussloch verziert. Starr vor Schreck warf sie einen Blick in das Bad. Es war leer. Sie stieß einen Fluch aus. Flüchtig wischte sie sich mit einer schnellen Bewegung den Schweiß von der Stirn und lief dann zum Telefon. Das schrille Klingeln brachte wieder Leben in das Zimmer und ließ ihre Angst so kleiner werden. Einen kurzen Moment kam sie sich sogar etwas dumm vor. Wie konnte sie nach all den Jahren immer noch so schreckhaft sein? Als sie den Brief auf dem Boden erblickte, wurde ihr jedoch wieder bewusst, wegen wem sie sich so fürchtete. Und diese Furcht war ohne Zweifel gerechtfertigt. Doch wie oft hatte Lecter schon seine Spielchen mit ihr gespielt und war doch weit, weit weg von ihr. Aber sie konnte sich nie sicher sein und das zehrte an ihr. Die Angst hatte sich bereits tief in ihr festgesetzt und würde sich erst wieder lösen, wenn Lecter hinter einer dicken Glasscheibe saß oder tot war. Das hoffte sie zumindest. Sie stand nun vor dem Telefon. Wieder war sie in der gleichen Situation wie am Abend zuvor.
    „Hoffentlich wieder Crawford oder die Kollegen“, dachte sie bei sich. Sie hasste es, an ein Telefon zu gehen und nicht zu wissen, wer am anderen Ende der Leitung war. Langsam führte sie den Hörer an ihr Ohr und hauchte wie am Vorabend ein leises „Ja?“ in den Lautsprecher. Eigentlich hatte sie sicherer klingen wollen, doch ihre Stimme versagte. In der Leitung war es still. Im selben Moment, als das Gefühl der Angst erneut in ihr aufzusteigen begann, ertönte die ihr nur allzu bekannte Stimme von der anderen Seite der Leitung, die ihr sofort einen erneuten Schauer über den Rücken jagte: „Guten Abend, Clarice.“


    In der Dienststelle der Autobahnpolizei fiel Dieter Bonrath einen Moment später beinahe von seinem Stuhl, als er erkannt hatte, mit wem Clarice Starling da telefonierte. Er war diese Nacht eingeteilt worden, zusammen mit Jenny im kleinen, stickigen Technik-Raum des Reviers die angezapfte Telefonleitung in Starlings Hotelzimmer zu überwachen und sofort Meldung zu machen, falls sich etwas rührte. Die Aufnahme des Gesprächs hatte sich automatisch aktiviert, als die FBI-Agentin den Hörer abgenommen hatte. Nachdem sie dann ein geschocktes "Dr. Lecter!" in die Leitung geflüstert hatte, sprang Dieter sofort auf und lief hinaus in den Gang. „Jenny! Er ist dran!“, rief er durch das ganze Büro. Jenny, die gerade dabei war, Kaffee zu kochen, warf die Kanne ins Spülbecken und rannte zum Telefon auf ihrem Schreibtisch. Hecktisch wählte sie Semirs Handynummer.


    Die beiden Hauptkommissare waren gerade auf dem Weg nach Hause. Heute war Semir an der Reihe, seinen Partner zu Hause abzuliefern. „Wenn du willst, kannst du auch bei mir pennen.“, bot Ben ihm an. „Och, lass mal. Bin ganz froh, wenn ich mal abends meine Ruhe hab.“, grinste Semir, als sein Handy in der Freisprecheinrichtung des BMWs zu klingeln begann. Sofort drückte er auf ein Knöpfchen am Lenkrad: „Ja?“ Die aufgeregte Stimme von Jenny meldete sich: „Lecter telefoniert gerade mit der Starling!“ Sie schrie beinahe. Ben und Semir rissen die Augen auf. „Ok, alles klar.“ Augenblicklich riss Semir das Lenkrad herum und zog die Handbremse. Mit quietschenden Reifen drehte sich der BMW um 180 Grad und setzte sich augenblicklich wieder nach vorne in Bewegung, als Semir das Gaspedal voll durchtrat. Die Räder drehten durch und die Reifen qualmten. Was war nun zu tun? Mit erhobener Stimme, aber trotzdem klarem Kopf rief Ben, während er die Sonnenblende herunterklappte und das Blaulicht anschaltete: „Ok Jenny, wir sind auf dem Weg zum Hotel. Vielleicht ist er in der Nähe, während er mit ihr telefoniert. Würde jedenfalls zu ihm passen. Ihr versucht, den Anruf zurückzuverfolgen und gebt uns sofort Bescheid, wenn ihr was wisst, ok?“ „Ok“, kam sofort aus dem Lautsprecher zurück: „Sobald es was neues gibt oder wir seinen Aufenthaltsort wissen, sagen wir es euch. Aber woher sollte er denn wissen, in welchem Hotel sie ist?“ „Keine Ahnung, aber bei dem weiß man nie!“, schaltete Semir sich ein. „Und wenn nicht, dann unterhalten wir uns eben gleich mit der Starling über ihr Gespräch mit ihm. Schaden kann’s sicher nicht!“ „Alles klar.“, beendete Jenny das Gespräch. Dann rannte sie zurück zu Bonrath, während Ben und Semir sich mit Vollgas auf den Weg in die Kölner Innenstadt machten.


    ...

  • „Dr. Lecter!“, hauchte Clarice Starling in die Sprechmuschel. „Sie scheinen viel beschäftigt zu sein, wenn Sie jetzt erst Feierabend haben. Ich habe schon mehrmals versucht, sie zu erreichen.“ Hannibal Lecter klang so eigenartig kalt und gleichzeitig beängstigend freundlich, wie immer. In seiner Stimme schwebte ein ironischer, leicht vorwurfsvoll scheinender Unterton mit. Er wusste, dass er ihr mit seinem Wissen, dass sie gerade erst nach Hause gekommen war, Angst machte. Tatsächlich schaute sie sich beängstigt im Zimmer um. Hatte Lecter wirklich schon mehrmals angerufen oder hatte er sie beobachtet? Und woher zum Teufel wusste er ihr Hotel und ihre Nummer? Er fuhr fort: „Sagen Sie, haben Sie meinen Brief erhalten?“ Sie schluckte kurz und warf einen Blick auf den am Boden liegenden Umschlag: „Ich ähm… bin noch nicht dazugekommen.“ Sie wusste, wie blöd sich das anhörte. „Sie waren doch nicht etwa abgelenkt, oder doch?“ Sie spürte, wie er seine Überlegenheit genoss. Sie musste versuchen, aus dem Gespräch etwas Nützliches herauszuziehen. „Wo sind Sie, Dr. Lecter?“, fragte sie mit gedämpfter Stimme, obwohl sie keine ernste Antwort erwartete. Aber wenigstens konnte Sie so versuchen, das Thema zu wechseln. Doch er ging nicht darauf ein: „Sagen Sie, wird ihr Telefon schon abgehört oder wälzen sich die deutschen Behörden noch in ihrem erbärmlichen Sumpf aus Bürokratie, die es vermag, sämtliche ihrer Tugenden wie die Pünktlichkeit auszustechen?“ Sie überlegte kurz. Er wusste es wahrscheinlich bereits sowieso. Und er wusste, dass es sinnlos sein würde. „Ach Clarice, merken Sie nicht, wie sich Ihre Denkpausen auswirken? Sie verraten so mehr, als wenn Sie schweigen. Ich freue mich schon darauf, mit Ihnen wieder ein Gespräch unter vier Augen zu führen – vielleicht schon bald.“ Die Unruhe in ihr wuchs. „Wo sind Sie, Dr. Lecter?“, wiederholte sie ihre Frage diesmal nachdrücklicher. „Erwarten Sie eine ernsthafte Antwort von mir?“ Sein Grinsen war durch das Telefon zu spüren. „Ja!“, versuchte sie so bestimmt wie möglich hervorzubringen. „Kluges Mädchen.“, kam es ruhig zurück. Im selben Moment wusste Clarice Starling, dass irgendetwas nicht stimmte. Eine Bewegung in ihren Augenwinkeln. Sie riss ihren Kopf herum und starrte zum Fenster. Die Lichter der Stadt, die von der Straße her durch die zugezogenen Vorhänge und drangen, wurden von einem dunklen Schatten verdeckt. Eine Sekunde schien ihr Herz auszusetzen. Vor Schreck ließ sie den Hörer fallen und warf die Blumenvase auf dem Nachttisch um. Durch die Scheibe war ein erneutes, gedämpftes: „Guten Abend, Clarice.“ zu hören. Sie verließen ihre Kräfte. Wie gelähmt torkelte Sie zurück an die gegenüber dem Fenster liegende Wand des Zimmers, wo sich auch die Zimmertür befand. Geschockt presste sie ihren Körper gegen die kalte Wand. Wie war er an das Fenster gekommen? Mit einem quietschenden Geräusch schwang langsam das Fenster auf. Sie war unfähig sich zu bewegen und zitterte am ganzen Körper. Warum um Himmels Willen war das Fenster nur angelehnt gewesen? Da die Vorhänge bisher zugezogen waren, hatte sie nichts davon bemerkt. Wahrscheinlich hatte Lecter das Fenster bereits geöffnet, als er im Lauf des Tages in das Zimmer eingedrungen war und den Brief platziert hatte. Langsam wurden die Vorhänge zurückgezogen und der Kannibale kam zum Vorschein. Clarice Starling verdrückte verzweifelt eine Träne. Hannibal Lecter stand ihr nun kerzengerade im Zimmer gegenüber und blickte sie mit starrem Blick und einem leichten, gehässigen Grinsen auf dem Gesicht aus ein paar Metern Entfernung an. „Vorbildlich, die deutschen Handwerker, nicht wahr?“, kam es hämisch von ihm: „Allerdings, nehmen Sie sich doch nächstes Mal ein Zimmer weiter unten. Das Klettern auf diesen Baugerüsten kann sehr anstrengend sein.“ „Oh Gott!“, dachte Starling bei sich. Wie konnte sie nur in einem Hotel landen, wo Reparaturarbeiten durchgeführt wurden, für die ein Baugerüst notwendig war? Sie brauchte etwas, um sich verteidigen zu können. Ihre Waffe! Ein schneller Griff an ihre Seite. Sie spürte das Lederholster, doch - es war leer. Mit einem hektischen Blick vergewisserte sie sich. Fassungslos sah sie sich im Zimmer um. Hannibal Lecter beobachtete sie ruhig dabei. Da erblickte sie die schwarze Pistole. Als sie ans Telefon gegangen war, hatte sie sie gedankenverloren auf das Bett gelegt, wo sie jetzt – etwa 5 Schritte von ihr entfernt – lag. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie Lecter an. Der grinste nur und schnalzte mit den Zunge: „Zzz, Sie wollten doch nicht etwa auf mich schießen?“ Wieder schwang in seiner Stimme ein ironisch vorwurfsvoller Ton mit. Sollte sie es wagen, nach der Pistole zu hechten? Doch Lecter stand etwa gleich weit vom Bett entfernt, wie sie. Wenn sie die Waffe nicht zuerst erreichen würde, wäre das vielleicht ihr Tod. Wo blieben nur die Kollegen? Waren Sie überhaupt auf dem Weg? Sie mussten doch bemerkt haben, dass Lecter nun bei ihr war! Oder nicht?


    Mit fast 150 Stundenkilometern näherten sich Ben und Semir der Kölner Innenstadt. Mit einem nervösen Blick auf die Uhr rechnete Ben in Gedanken nach, wie lange Clarice nun schon mit Lecter telefonieren musste. Da ertönte wieder Semirs Klingelton. Sofort nahm er den Anruf entgegen. „Semir, da stimmt irgendwas nicht! In der Leitung war ein Lärm, wie wenn sie den Hörer fallen gelassen hätte. Jetzt sind ab und zu leise Stimmen zu hören. Ich glaube, er ist bei ihr.“ Jennys Stimme klang besorgt. Ben stieß einen Fluch aus, während Semir einen Gang zurückschaltete und erneut das Gaspedal voll durchtrat. Jetzt ging es um Leben und Tod.


    ...

  • „Dr. Lecter, mein Telefon wird abgehört. Die Kollegen wissen, dass Sie hier sind. Sie müssen verschwinden!“ Lecter trat langsam ein paar Schritte näher. Mit stechendem Blick sah er Clarice in die Augen. Nervös beobachtete sie, wie er sich ihrer Waffe näherte, die noch immer auf dem Bett lag. Jetzt hätte sie keine Chance mehr, die Waffe vor ihm zu erreichen. Doch er schenkte der Pistole keine Aufmerksamkeit. Er machte einen Bogen um das Bett und ging weiter andächtigen Schrittes auf die FBI-Agentin zu. Er ließ den Blick keine Sekunde von ihr. Er zwinkerte nicht einmal. „Dr. Lecter!“ Sie wollte ihn in ein Gespräch verwickeln, doch ihr Atem stockte, ihre Stimme versagte. Er stand nun einen Schritt von ihr entfernt und starrte ihr in die Augen. Mit gespreizten Fingern presste sie ihre Hände an die Wand, gegen die sie auch ihren ganzen Körper drückte. Langsam hob Lecter seinen Arm und legte seine Hand neben Starlings Kopf ebenfalls daran. Ihr Kopf war nun nur wenige Zentimeter von seinem entfernt. Sie konnte seinen ruhigen Atem spüren, während er sie wortlos betrachtete. Dann hob er seinen zweiten Arm und hielt ihn ihr direkt vor ihr Gesicht. Sie sah die Stelle, wo er sich vor einigen Jahren die Hand abgehackt hatte, um sich von ihren Handschellen zu befreien. Wollte er sich jetzt dafür rächen? Man wusste nie, was in ihm vorging. „Erinnern Sie sich?“, grinste er sie an. Sie antwortete nicht. Sie konnte nicht. „Sie müssen gehen.“, brachte Sie schließlich gequält hervor.


    Mit gezogener Handbremse driftete der silberne BMW um eine Kurve. „Die nächste rechts.“, sagte Ben bestimmt. „Sicher?“, fragte Semir mit zweifelndem Blick. „Geradeaus ist Baustelle. Das ist ne Abkürzung.“, versicherte sein Partner, während er den Schlitten seiner Dienstwaffe zurückzog. „Na gut“, gab Semir zurück und jagte den Wagen mit quietschenden Reifen um die nächste Kurve. „Da vorne ist es!“, zeigte er, als das Hotel zum Vorschein kam.


    Hannibal Lecter schien einen Moment abzuwägen. „Nun denn.“ Er schien einen Entschluss gefasst zu haben. Von draußen drang das Geräusch quietschender Reifen in das Zimmer. „Deutsche Pünktlichkeit. Leider Gottes, muss ich Sie verlassen.“ Er öffnete seinen Mund. Augenblicklich fuhr Clarice erschrocken zusammen, als sie Lecters weiße Zähne direkt vor ihrem Gesicht erblickte. Sein geöffneter Mund verwandelte sich in sein hämisches Grinsen zurück. Er drückte ihr einen kurzen Kuss auf die Lippen: „Ich freue mich schon auf unser nächstes Treffen – ohne Zuhörer.“ Er warf einen abschätzigen Blick in Richtung des Telefons. Dann drehte er sich um und lief in Richtung des Fensters zurück. Clarice Starling war starr vor Schreck und rührte sich keinen Millimeter. Als er am Bett vorbeikam, hob er ihre Pistole auf. Lächelnd drehte er sich noch einmal zu ihr um: „Damit sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Schusswaffen sind etwas für Feiglinge, wissen Sie.“ Dann steckte er sie ein und stieg für sein Alter erstaunlich geschmeidig aus dem geöffneten Fenster. Einen Moment später hatte ihn die Nacht verschluckt.


    Noch immer völlig regungslos stand Clarice Starling da und starrte auf das Fenster, vor dem die Vorhänge langsam im Nachtwind wehten. Langsam sank sie auf den Boden. Jetzt sitzend an der Wand lehnend erblickte den Schein von Blaulichtern, die durch das Fenster drangen und sich im Zimmer spiegelten. Im selben Moment krachte die Zimmertür neben ihr auf und Ben Jäger stürzte zusammen mit Semir Gerkhan herein. Beide hatten ihre Dienstwaffen im Anschlag. Als Ben sie erblickte, wie sie regungslos an der Wand lehnte, ging er neben ihr in die Hocke und fragte ein leises „Alles klar?“ während sein Partner das Zimmer sicherte und zum offenen Fenster lief. Er streckte die Waffe durch das Fenster nach draußen und blickte in beide Richtungen. Von Hannibal Lecter keine Spur. Wortlos schaute er noch in das Bad und steckte dann mit gestresstem Blick seine Pistole weg. Lecter war entkommen.


    ...

  • „Was war los?“, fragte Semir die noch immer am Boden kauernde Agentin. „Miss Starling?“, fragte er nochmal nachdrücklicher, als er keine Reaktion von ihr vernahm. „Er ist weg.“, presste sie schließlich hervor. „Ja, das sehe ich.“ Seine Stimme klang etwas vorwurfsvoll. Ben sah von der FBI-Agentin, neben der er hockte, zu seinem Partner auf und gab ihm ein kurzes Zeichen, sich etwas zu beruhigen. Genervt wandte Semir sich von den beiden ab. Es machte ihn rasend, dass Lecter so knapp entkommen war, auch wenn er wusste, dass Starling wahrscheinlich nichts dafür konnte. „Wo ist ihre Waffe?“, fragte Ben vorsichtig die geschockte Polizistin neben ihm, als er das leere Holster erblickte. „Er hat sie. Ich…“ Sie brach ab und schüttelte verzweifelt den Kopf. „Puh.“ Was hätte Ben sagen sollen? Jetzt hatten sie auf jeden Fall ein Problem. Als Semir mitbekommen hatte, dass nun auch noch Starlings Dienstwaffe fehlte, ließ er seiner Wut freien Lauf: „Na super! Jetzt ist der Psycho nicht nur weg, sondern hat jetzt auch noch ne Schusswaffe! Und von wem?? Von unserer Profi-FBI-Agentin! Was lernt ihr eigentlich in Amerika?“ Er brauchte Luft. Voller Wut verließ er das Zimmer und knallte er die Tür zu. Ben wandte sich wieder zu der Agentin: „Keine Sorge, der beruhigt sich schon wieder. Er ist nur etwas gestresst wegen der ganzen Sache.“ „Ich weiß, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich hätte…“ „Schon ok.“, versuchte Ben sie zu beruhigen. Vom Gang drangen durch die geschlossene Tür Semirs laute Anweisungen herein. Offenbar informierte er die Zentrale per Handy über die Lage. Kurz darauf ging die Tür wieder auf und Semir kam mit ein paar Kollegen wieder herein. „Ringfahndung läuft.“, sagte er kurz: „Hoffen wir für uns alle, dass sie den Typen noch schnappen, bevor er auch noch rumballern anfängt.“ „Das würde er nicht tun. Das entspricht nicht seiner Art.“, meldete sich Starling wieder zu Wort. „Aha, aber darauf verzichten wollte er auch nicht?“ Sie bemerkte den vorwurfsvollen Ton in der Stimme des genervten Hauptkommissars und schwieg. „Der Typ hat einen an der Erbse, woher wollen sie denn wissen, dass er nicht los geht und sich sein Abendessen jagt?“ Semir redete sich förmlich in Rage. Starling stöhnte: „Er sagte, Schusswaffen sind etwas für Feiglinge.“ „Na dann!! Dann ist ja alles klar. Wissen Sie was, dann gehen wir doch einfach heim und schlafen ne Runde!“ Er konnte die Aussagen der FBI-Agentin nicht nachvollziehen. Ben flüsterte ihm ein leises „Mann, Semir!“ zu. Er konnte sich vorstellen, wie es in der Polizistin aussehen musste. Für Semir war es einfach nur eine Katastrophe, dass Lecter mit einer Waffe entkommen konnte und nun immer noch dort draußen herumlief.


    Eine Stunde später befanden sich Ben und Semir im Technik-Raum der Autobahn-Dienststelle und hörten sich die Tonbandaufnahmen von Starlings Telefongespräch mit Lecter an, während die FBI-Agentin im Büro der Kommissare einen Bericht zum Verschwinden ihrer Dienstwaffe schrieb. Es war bereits spät nachts, doch die beiden lauschten gespannt jedem Wort. Zum ersten Mal hörten sie die Stimme Lecters. Sie klang so sonderbar, dass es den Kommissaren eiskalt den Rücken hinunter lief. Sie kamen an die Stelle, als Starling offenbar den Hörer fallen gelassen hatte. Wie gebannt standen Ben und Semir da und erwarteten gespannt, was als nächstes kommen würde. Die Stimmen waren jetzt nur noch gedämpft zu hören, aber man verstand bei genauem Hinhören jedes Wort: „Guten Abend, Clarice.“ Eine Pause. „Vorbildlich, die deutschen Handwerker, nicht wahr?“ „Das Arschloch macht sich auch noch über uns Deutsche lustig!“, fing Ben zu schimpfen an. Diesmal war es Semir, der mit einem kurzen „Pssst“ beschwichtigend die Hand hob. Sie lauschten weiter dem Gespräch. Sie spürten die knisternde Spannung, die in der Luft lag. Dann ein verzweifelter Satz von Starling: „Dr. Lecter, mein Telefon wird abgehört. Die Kollegen wissen, dass Sie hier sind. Sie müssen verschwinden!“ Den Kommissaren klappte beinahe die Kinnlade herunter. „Sag mal ist die bescheutert??“, schrie Semir herum. „Die kann dem doch nicht einfach sagen, dass wir auf dem Weg sind!! Die warnt den Kerl, damit er abhauen kann!“ „Naja…“, versuchte Ben das Ganze etwas zu relativieren, da er die Angst in der Stimme der FBI-Agentin gehört hatte. Trotzdem musste er zugeben, dass sie sich nicht gerade geschickt angestellt hatte – auch wenn Hannibal Lecter vor ihr gestanden hatte. Er begann gerade einen neuen Beruhigungsversuch, da knallte Semir schon die Tür zu und lief im Stechschritt in sein Büro.


    Clarice Starling sah von ihrem Bericht auf, als er wütend die Bürotür aufriss und in das Zimmer kam: „Sagen Sie mal, was soll das eigentlich?“, stellte er sie zur Rede. „Sie wissen, dass ihr Telefon abgehört wird und dann sagen sie ihm das?? Wir hätten ihn schnappen können, wenn Sie ihn hingehalten hätten!“ Zornig schlug er gegen den Türrahmen. „Ich wollte nicht…!“, fing Starling verzweifelt an, sich zu rechtfertigen. „Sie haben’s versaut!! Hätten Sie etwas mehr Zeit geschunden, säße Lecter jetzt bereits im Flieger nach Chicago und Sie auch!“ Von dem lauten Geschrei kam auch Kim Krüger in das Büro. „Was ist denn hier los?“, fragte sie. Als sie von den Ereignissen im Hotel erfahren hatte, war sie auch nochmal zur Dienststelle gefahren. „Unsere FBI-Unterstützung hat Lecter die Flucht ermöglicht!“, erklärte Semir feindselig. Kim Krüger starrte wortlos mit fragendem Blick auf die Amerikanerin. Dann sprang Starling von ihrem Stuhl auf und schrie: „Jetzt sage ich Ihnen mal was! Erstens sollten Sie sich einmal fragen, wie es sein kann, dass man mich in ein Hotel schickt, wo ein Baugerüst davor steht! Ich hätte drauf gehen können! Und zweitens stand genau wegen diesem Fehler völlig überraschend dieses Monster vor mir! Ein Monster, das jahrelang Angst und Schrecken in meinem Leben verbreitet hat! Und jetzt ist er plötzlich in meinem Hotelzimmer und kommt auf mich zu! Was hätten Sie denn da getan?? Ich wollte einfach nur, dass er verschwindet. Wer weiß, auf was für Gedanken er gekommen wäre? Da war es mir ehrlich gesagt ehrlich gesagt scheißegal, ob er entwischt oder nicht! Hauptsache er lässt mich in Ruhe!“ „Ach hören Sie doch auf! Wir können nicht über alle Reparaturmaßnahmen an jedem beschissenen Hotel Bescheid wissen! Außerdem kenne ich Ihre Akte! Sie haben so oft mit Lecter zu tun gehabt, wie kein anderer Mensch auf der Welt! Er hat Ihnen letztes Mal nichts angetan und das hätte er wahrscheinlich auch diesmal nicht!“ Kim Krüger schaute fassungslos zwischen den beiden streitenden Polizisten hin und her. Was für eine Akte hatte Semir gelesen? Doch Starling schenkte dem keine Aufmerksamkeit. Wütend gab sie zurück: „Woher wollen Sie das wissen Herr Gerkhan?? Wenn Sie in einem Käfig mit einem hungrigen Löwen sind und er sie das erste Mal verschont – wie sicher sind sie sich dann, dass er es auch ein zweites Mal tut??“ Nun war Stille im Büro.


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