Wenn Freundschaft zerbricht [Fortsetzung von "Sternenhimmel"]

  • Layla blickte mehrfach ebenso skeptisch in Susannes Richtung, während sie die Kabelbinder befestigte. Da Cemal ihr genau auf die Finger sah, ergab sich keine Möglichkeit, diese locker zu lassen oder sonst etwas an der Befestigung zu drehen. Diese verfluchten Dinger saßen also zu Semirs Leidwesen viel zu fest, um aus eigener Kraft einen Befreiungsversuch zu starten. Sie waren zwar nur aus Plastik, zudem klein und unscheinbar, dabei aber äußerst effektiv. Jetzt lag es erst mal nur an Ben, doch so wie der im Moment aussah, konnte Semir wohl keine Hilfe erwarten.
    Cemal packte Layla am Arm und zog sie in Richtung Tür. Ekim trat zu Susanne, die noch viel zu weit weg von Ben war, als dass er ihr hätte helfen können. „Und du gehst jetzt auch mit“, herrschte er sie an. Susanne blickte erschrocken zu Ben, langsam begann sie den Ernst der Lage zu begreifen. Seine Sorge stieg, doch wenigstens hatte sie jetzt verstanden, dass sie sich anders verhalten musste. Doch es war schon zu spät. Ekim stellte sich vor sie. „Und das ist dafür, damit du dir merkst, dass man mir keine Widerworte gibt“, sagte er kalt lächelnd. Ohne weitere Vorwarnung holte er aus und schlug Susanne mit ganzer Kraft ins Gesicht. Von der unvermittelten Wucht des Schlages völlig überrascht wurde ihr Kopf zur Seite geschleudert und schlug gegen die Wand. Ihr wurde kurz schwarz vor Augen und ihre Beine gaben unter ihr nach.
    „Susanne, nein!“ schrie Ben entsetzt auf. „Du mieser Scheißkerl!“ Ohne einen Augenblick nachzudenken sprang er auf Ekim zu und vergaß dabei völlig, dass Cemal auch nicht weit von ihm entfernt stand. Dieser war ebenso schnell wie Ben. Cemal griff nach ihm und packte zielsicher Bens verletzte Hand. Ein stechender Schmerz fuhr trotz des stabilen Verbandes durch Bens Arm und lenkte ihn kurz so ab, dass es Cemal gelang, seinen Ellebogen schwungvoll in Bens Brustbein zu rammen. Von dieser massiven Wucht gestoppt wurde Ben nach hinten geschleudert und fiel rückwärts zu Boden, denn es gab nichts, an dem er sich hätte festhalten können.


    Susanne hatte sich schon oft über den Glastisch beklagt, der ihrer Meinung nach überhaupt nicht zu den anderen Möbeln passte, aber Ben hing an diesem Einrichtungsgegenstand, da er sich diesem von seinem ersten selbst verdienten Geld gekauft hatte. Für ihn war dieser Tisch immer ein Zeichen für den Beginn seiner Unabhängigkeit gewesen. Doch dies wurde ihm jetzt zum Verhängnis, als er rücklings auf der Tischplatte aufkam, die seinem Gewicht und vor allem dem Schwung, mit dem er fiel, bei weitem nicht gewachsen war. Mit einem lauten Knall zersplitterte sie in tausend kleine Teile und Ben blieb regungslos liegen.


    Einen Moment lang herrschte Stille, dann begann Semir nach seinem Freund zu rufen: „Ben? Ben! Was ist mit dir? Sag doch was, bitte!“ Doch es kam keine Antwort. Mit flehendem Blick wandte er sich an Cemal. „Bitte, Sie müssen mich zu ihm lassen!“ „Ich muss gar nichts“, erwiderte dieser jedoch. „Und jetzt werden wir endlich gehen und besorgen, was ich haben will. Du passt hier auf“, wandte er sich noch an seinen Komplizen. Ekim nickte und Layla war die Angst förmlich ins Gesicht geschrieben. Sie würde nicht wagen, Widerstand zu leisten, sie würde tun, was man von ihr verlangte. Auch Susanne hatte sich inzwischen wieder hoch gerappelt, von ihrer linken Augenbraue floss Blut herab, doch sie bemerkte es nicht. Ihr Blick war nur auf Ben gerichtet, der mit geschlossenen Augen auf den Scherben seiner Unabhängigkeit lag. An beiden Seiten seines Rückens und an den Armen lief Blut entlang und tränkte den hellen Teppichboden. ‚Die Flecken werden wir nie wieder raus kriegen’ dachte Susanne, die völlig neben sich stand und deren Verstand sich trotz des eindeutigen Anblicks weigerte, zu akzeptieren, was gerade passiert war. Sie nahm nicht wahr, dass sie begonnen hatte, zu zittern; Cemal hatte jedoch kein Mitleid mit ihr, packte sie am Arm und zog sie unbarmherzig mit sich. Layla folgte ihnen still. Sie wusste, dass er jetzt so weit war, kurzen Prozess mit ihr zu machen, wenn noch etwas nicht nach Plan lief, oder sie versuchen würde, zu fliehen. Und eine Tote wollte Layla nicht auf ihrem Gewissen haben. Das war auch der einzige Grund, warum Susanne mit ihnen kommen musste. Cemal wusste ganz genau, dass Layla so kooperieren und keine Tricks versuchen würde. Susanne ließ sich einfach mitziehen, sie war nicht mehr in der Lage, eigene Entscheidungen zu treffen.

  • Erst nachdem die beiden Frauen das Haus verlassen hatten und in den Laderaum eines Lieferwagens gestiegen waren, der sich dann auf den Weg zu einem unbekannten Ziel machte, flüsterte sie: „Das ist alles meine Schuld.“ Layla sah Susanne an. „Es ist Cemals und Ekims Schuld, nicht deine“ erwiderte sie. „Auch wenn du dich gerade nicht wirklich clever verhalten hast.“ „Ich weiß“, antwortete Susanne mit erstickter Stimme. „Ich war nur so wütend, weil du und Ben… Ich konnte an nichts anderes mehr denken.“ Layla lachte freudlos auf. „Ich und Ben? Wie kommst du denn auf so einen Blödsinn?“ Mit erneut aufkeimender Wut sah Susanne Layla in die Augen. „Ich hab euch zusammen in Bens Zimmer gesehen, später hast du ihn dann umarmt und dann ist er bei dir geblieben, während Semir alleine zurückgekommen ist…“ zählte Susanne auf. Eigentlich wollte sie darüber, vor allem mit dieser Frau, jetzt am allerwenigsten reden, aber es brach einfach so aus ihr heraus. Doch auch wenn sie wütend war, machte sie sich jetzt doch große Sorgen um Ben. Gefühle ließen sich nun einmal nicht so einfach ausschalten. Es machte sie fast wahnsinnig, nicht zu wissen, was mit ihm geschehen war. Der Knall des zerberstenden Tisches war so laut gewesen, da war so viel Blut gewesen und er hatte sich weder bewegt, noch auf die Rufe von Semir reagiert. Doch es bestand keine Möglichkeit für sie, herauszufinden, was los war, also musste sie sich irgendwie ablenken.
    Layla hingegen sah Susanne nachdenklich an. Auch sie war in Sorge um Ben, aber sie hatte schon schlimmeres gesehen, das würde schon wieder werden. Also konnte sie sich Gedanken über das machen, was Susanne gerade gesagt hatte. Wenn man es so zusammenfasste, machte es durchaus einen Sinn und ihre Schlussfolgerung war zwar verständlich, aber völlig falsch und Layla lag nichts daran, die Beziehung zwischen Ben und Susanne zu sabotieren. Sie mochte ihn zwar, aber als Partner war er von Anfang an nicht für sie in Frage gekommen. „Ich bin in dieser Nacht bei ihm geblieben, weil es ihm nicht gut ging, er hatte zuviel getrunken“, begann sie ihre Erklärung, während Susanne sie ungläubig anstarrte. Ben war also wirklich so betrunken gewesen? Das war doch gar nicht seine Art! „Guck nicht so, er musste mit Serhat und den anderen mithalten, um nicht aufzufallen. Ich hab’ einfach dafür gesorgt, dass er die Nacht gut übersteht, verstehst du? Da war sonst weiter nichts.“ ‚Und wäre bei dem Alkoholkonsum auch gar nicht möglich gewesen’ fügte sie in Gedanken noch hinzu. „Er hat gar nicht gemerkt, dass ich da war.“ Die für Ben recht unangenehme Situation am Morgen danach verschwieg sie an dieser Stelle, sie bedeutete nichts und Ben wäre es wohl nicht recht gewesen, wenn Susanne so davon erfahren hätte. „Und das mit dem Umarmen… Ich hab’ ihn nur begrüßt, so mache ich das nun mal.“
    Susanne konnte erst mal nichts antworten. Es machte Sinn, was Layla sagte, doch restlos überzeugt war sie noch nicht, zu sehr hatte sich bei ihr schon Gedanke festgesetzt, dass Ben sie mit Layla betrogen hatte, immerhin hatte er sie angelogen und da gab es auch noch etwas. „Und warum ist er dann nicht mit Semir gegangen, sonern bei dir geblieben?“ fragte sie, denn dafür fand sie auch jetzt noch keine Erklärung. „Wenn du gesehen hättest, in welchem Zustand die beiden waren, als sie bei mir ankamen, würdest du das mit Sicherheit nicht fragen“, antwortete Layla. „Semir ging es ja noch so einigermaßen, aber Ben… Der hatte zum einen mit seinen Kopfschmerzen zu kämpfen und die gebrochenen Finger haben ihm auch schon ganz schön zu schaffen gemacht. Er hat zwar versucht, sich vor Semir nichts anmerken zu lassen, aber es hat ihm ganz schön wehgetan.“ Fragend sah Susanne Layla an, sie verstand nicht, was das zu bedeuten hatte. „Hast du den Verband nicht bemerkt?“ fragte Layla. Susanne dachte kurz nach und so darauf aufmerksam gemacht, meinte sie tatsächlich, sich an etwas weißes zu erinnern, was an Bens Hand gewesen war, doch sie hatte nicht weiter darauf geachtet. „Was ist passiert?“ wollte sie wissen. „Er hat sich mit Semir geprügelt und der war dabei nicht gerade zimperlich.“ „Nein, das kann nicht sein, das glaube ich nicht!“ fuhr Susanne Layla an.

  • Doch diese zuckte nur mit den Schultern. „Ich weiß nur, was Ben mir erzählt hat. Und warum sollte er sich so eine Geschichte ausdenken? Außerdem, wenn ich an die Stimmung zurückdenke, die zwischen den beiden geherrscht hat, kann ich mir sehr gut vorstellen, das es tatsächlich so gewesen ist.“ Susanne wurde nachdenklich und schwieg erst einmal. Auch ihr war Semirs Laune nicht entgangen. Auch wenn es ihr überhaupt nicht gefiel, schien Layla die Wahrheit zu sagen. Aber warum in alles in der Welt hatte Semir seinem Freund so etwas angetan?
    „Na ja, nachdem Semir dann weg war, habe ich mich um Ben gekümmert, er brauchte dringend eine Pause“, fuhr Layla schließlich fort. „Leider muss ich gestehen, dass er ziemlich sauer war, als er festgestellt hat, dass ich ihn wegen des Fluges nicht geweckt habe. Während er geschlafen hat, bin ich zu Semir gegangen und habe ihm gesagt, dass Ben nicht kommen wird. Ich muss allerdings zugeben, dass ich Ben nichts davon gesagt habe. Da war ich ehrlich gesagt ziemlich egoistisch. Ich hatte ja keine Ahnung, dass das solche Wellen schlagen würde. Jedenfalls habe ich Ben gebeten, mich mit nach Deutschland zu nehmen und als er sich dann wieder beruhigt hatte, war er damit einverstanden. Nachdem was alles passiert ist, konnte ich dort nicht mehr bleiben. Und falls es dich interessiert; wir hatten beide in Ankara übrigens ein Einzelzimmer und hier wohne ich auch im Hotel. Ben wollte dann sehen, ob ich vielleicht in der Firma seines Vaters unterkommen könnte, ich habe nämlich in Deutschland Buchhaltung gelernt. Ich glaube, er hatte mir gegenüber ein schlechtes Gewissen, weil er so unfreundlich gewesen war, obwohl ich ihm eigentlich immer nur geholfen habe. Jedenfalls waren wir gerade dabei, mit seinem Vater die Einzelheiten zu besprechen, als ihr reingeplatzt seid.“ Layla schwieg. Sie hatte alles gesagt, was notwendig gewesen war. Dass sie auf ihrem Weg nach Deutschland zu ihrer Absicherung noch einen USB Stick mitgenommen hatte, auf dem sämtliche Drogendeals mit Informationen zu Käufer, Verkäufer und Ware gespeichert waren und was sie wirklich mit Serhat zu tun gehabt hatte, mussten weder Susanne noch die anderen erfahren. Layla hatte in ihrer Funktion als Inhaberin der Bar zudem nicht nur beobachtet, sondern auch andere Dinge in Erfahrung gebracht. Doch Cemal wusste es und das war schlimm genug. Layla hoffte nur, dass sie irgendwie heil aus dieser Sache rauskommen würde, denn sie würde gerne in Konrad Jägers Firma arbeiten und sich hier ein neues Leben aufbauen. Aber ob er sie nach dieser ganzen Sache überhaupt noch nehmen würde, wusste sie nicht.
    Susanne war während Laylas Erklärung immer blasser geworden. In ihrem Kopf überschlugen sich die Gedanken, doch sie konnte keinen davon richtig fassen. Allein die Tatsache, dass sie Ben fürchterlich Unrecht getan hatte, kehrte in einer Art Gedankenschleife immer wieder. Doch dazu kam auch die Frage, warum er ihr nichts gesagt hatte? Dass er in der Türkei geschwiegen hatte, konnte sie jetzt nachvollziehen, Ben hatte wahrscheinlich so sehr mit sich selbst zu tun gehabt, dass er ihr noch nichts hatte sagen können, auch wenn sie sich das gewünscht hätte. Sie selbst hätte wohl nicht anders gehandelt, wenn sie so viel in so kurzer Zeit erlebt hätte. Doch spätestens hier hätte sie dann von ihm erwartet, dass er sich gemeldet hätte. Es wäre doch kein Problem gewesen, wenigstens ein kurzes Lebenszeichen von sich zu geben. War das denn zuviel verlangt?
    Doch während sie so nachgrübelte, keimte in ihrem Inneren ein furchtbarer Gedanke auf. Zuerst versuchte sie, diesen mit aller Macht zu verdrängen, doch er rückte immer mehr in ihr Bewusstsein. War der Grund für Bens Schweigen etwa darin zu suchen, dass er sich einfach nicht bei ihr melden wollte, weil er genug von ihr hatte? Hatte sie ihn mit ihrem Verhalten so sehr verletzt, dass er nicht mehr mit ihr zusammen sein wollte? Nein, das konnte nicht sein, oder? Doch wenn sie ehrlich war; ihr hätte es sehr zu denken gegeben, wenn Ben ihr so wenig Vertrauen entgegen gebracht hätte, wie sie es getan hatte. Die Umstände, unter denen alles passiert war, waren keine Entschuldigung für ihr Verhalten. Warum hatte sie nicht einfach mit ihm geredet? Sie musste das schleunigst nachholen, um ihre Beziehung noch zu retten! Wann kam sie endlich hier raus?

  • Ben lag immer noch regungslos da und rührte sich nicht. Andrea liefen Tränen über die Wangen und Semir rief immer wieder leise den Namen seines Partners, doch es kam keine Reaktion. Das einzige, was sich bewegte, war ein steter Blutstrom, der immer weiter in den Teppichboden hinein sickerte. Ekim hatte sich in die Küche verzogen und war dabei, den Kühlschrank zu plündern. Um seine Gefangenen brauchte er sich keine Gedanken zu machen, der eine war ausgeschaltet, die anderen sicher verschnürt. Wenn er denn schon zum Warten verdammt war, wollte er es sich wenigstens gut gehen lassen. Außerdem brauchte er hier sich nicht das Gejammer anhören. Ja, hier ließ es sich aushalten!
    Wäre Ekim im Wohnzimmer geblieben, hätte er allerdings gesehen, dass Ben langsam die Augen öffnete. Da sein Gesicht von Semir abgewandt war, konnte der es auch nicht erkennen, was ihn allerdings nicht davon abhielt, weiterhin unablässig auf Ben einzureden. Vielleicht lag es auch an der Dringlichkeit, mit der seine Stimme erklang, dass Ben es geschafft hatte, sich wieder ins Bewusstsein zu kämpfen. „Ben? Hey Partner, komm schon, lass uns hier nicht hängen, hörst du? Ben? Ben!“ Langsam drang der Sinn dieser Worte in das Bewusstsein des Angesprochenen. Zuerst fehlte ihm die Orientierung, doch dann realisierte er, dass er auf dem Boden lag und in diesem Moment begann er auch, die Schmerzen zu spüren. Zahlreiche Splitter hatten sich in seinen Rücken und in seinen linken Arm gebohrt und quittierten jegliche, wenn auch vorsichtige Bewegung mit einem stechenden Pochen, welches sich bis in die Beine ausbreitete. Ben hatte keine Ahnung, wie schwer er verletzt war, aber der Tisch hatte es definitiv hinter sich. Na ja, Susanne hatte ihn schon lange bearbeitet, sich endlich von diesem Teil zu trennen. Ben wunderte sich über sich selbst, warum hatte er nur solche Gedanken? Zumindest konnte es dann wohl nicht so schlimm um ihn stehen, oder doch erst recht? Langsam, unendlich langsam drehte er den Kopf in Richtung, aus der er weiterhin Semirs Stimme vernahm und sah seinen Partner an.
    Semir war unendlich erleichtert, als er feststellte, dass Ben bei Bewusstsein war. Der Anblick seines Partners hatte ihm einen riesengroßen Schrecken eingejagt, umso erleichterter war er jetzt, als er sah, dass Ben in der Lage war, sich zumindest etwas zu bewegen. Er hoffte inständig, dass noch mehr möglich war. „Ben, du musst es schaffen, zu uns zu kommen, wir müssen hier weg“, sagte Semir so eindringlich, wie es ihm möglich war. Er musste aufpassen, dass sein Bewacher nichts mitbekam, sonst wäre alles umsonst.
    Ben versuchte, sich darauf zu konzentrieren, das von ihm verlangte irgendwie zu bewerkstelligen. Er bemerkte, dass Semir und Andrea anscheinend mit Kabelbindern gefesselt waren, aber das hätte ihm auch schon vorher klar sein müssen, sonst hätten die beiden ihn kaum einfach so liegen lassen. Verdammt, er musste sich zusammenreißen, das war doch nicht so schwer! Er drehte noch einmal den Kopf und sah, dass sonst niemand mehr im Raum war. Das bedeutete also, Cemal hatte seine Ankündigung wahr gemacht und Susanne und Layla mitgenommen. Und er hatte nichts dagegen ausrichten können. Verzweiflung machte sich in ihm breit. Er könnte es sich nie verzeihen, wenn Susanne etwas passierte! Er schloss kurz die Augen.
    „Ben, bitte nicht wieder einschlafen, du musst uns helfen!“ vernahm er daraufhin Andreas zittrige Stimme. Sie klang so fertig, dass es an ein Wunder grenzte, dass sie überhaupt noch ein Wort raus brachte. Ben blinzelte und sah in ihre Richtung. „Ich schaff das schon, keine Sorge“, flüsterte er, obwohl ihn ehrlich gesagt schon das Sprechen anstrengte und er keine Ahnung hatte, wie er sein Wort halten sollte. Er versuchte, sich noch einmal die Situation klar zu machen. Er war also mit dem Rücken auf den Glastisch gefallen und dieser war unter dieser Belastung zerborsten. Das bedeutete also, dass die Schmerzen in seinem Rücken wahrscheinlich von Splittern herrührten, die in ihm steckten. Und es würde wehtun, wenn er sich bewegte. War es also besser, es deswegen so schnell wie möglich zu versuchen? Aber eigentlich war er dazu doch gar nicht in der Lage. Doch es musste sein, es lag an ihm, nur konnte seinem Partner und dessen Frau jetzt helfen. Und erst wenn er das geschafft hatte, konnte Semir versuchen, Susanne zu finden.

  • Also konzentrierte sich Ben nur noch auf diesen Gedanken, alles andere versuchte er auszublenden. So vorsichtig wie möglich, versuchte er sich auf die Seite zu drehen. Unter ihm knirschte es, in seinen Ohren war nur noch ein Rauschen zu hören und bunte Sterne tanzten vor seinen Augen. Semir rief ihm etwas zu, doch Ben war nicht in der Lage, den Sinn dieser Worte zu erfassen, er hatte nur noch sein Ziel vor Augen. Wie er es schließlich geschafft hatte, sich aufzurichten, wusste er selbst nicht mehr, als er dann schließlich mehr oder weniger aufrecht dastand. Er registrierte auch nicht Semirs fassungslosen Blick, der auf Bens rechte Hand gerichtet war, mit der er eine große Glasscherbe so fest umklammert hielt, dass das Blut zu Boden tropfte. Zuerst schien Semir nur entsetzt zu sein, doch dann verstand auch er, was Ben damit bezweckte. Er hatte nach der Scherbe gegriffen, während er sich aufgerichtet hatte, denn er wie sonst sollte er Semir von den Fesseln befreien? Ben wagte es nicht, die Scherbe lockerer zu fassen, er hatte Angst, sie zu verlieren, wenn er das tat und er wusste, dass er nicht noch einmal die Kraft aufbringen konnte, eine weitere aufzuheben. Und so musste er es jetzt in Kauf nehmen, dass das Glas tief in seine bisher noch unverletzte Hand schnitt.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit hatte er die kurze Strecke, die ihn von seinen Freunden trennte zurückgelegt, es hatte sich für ihn wie ein Marathon angefühlt. Endlich hatte er sein Ziel erreicht. Er hob die Scherbe in Richtung der Kabelbinder und Semir versuchte, ihm so gut wie möglich zu helfen. Und dann hatten sie es endlich geschafft, Semirs Hände waren frei. Ben blickte auf sein Werk. Semir konnte sich wieder bewegen und den Rest würde er auch noch schaffen. Später konnte sich Ben noch daran erinnern, wie beruhigend er diesen Gedanken gefunden hatte, bevor dann alles um ihn herum schwarz wurde.
    „Verdammt!“ fluchte Semir, als Ben vor seinen Augen zusammenbrach. Er konnte ihn gerade noch so weit auffangen, dass er nicht mit voller Wucht auf dem Boden aufschlug. Vorsichtig bugsierte er seinen Freund in eine Position, von der er annahm, dass sie ihm am wenigsten Schmerzen bereiten würde. Auch wenn die Verletzungen auf den ersten Blick schlimm aussahen und Ben viel Blut auf dem Boden zurückgelassen hatte, schlug sein Puls doch kräftig und regelmäßig und Semir hoffte, dass dies auch so bleiben würde. Nachdem er auch Andrea befreit hatte, bewegte er sich so leise wie möglich in Richtung Küche. Seine Frau kümmerte sich derweil so gut wie möglich um Ben.
    Semir wunderte sich, dass sich der Mann, der sie bewachen sollte, bei dem Lärm, den sie letztendlich doch verursacht hatten, noch nicht hatte blicken lassen, obwohl ihm das natürlich ganz Recht gewesen war. Doch die Erklärung dafür bot sich ihm, als er vorsichtig um die Ecke in die Küche blickte. Ihr Bewacher hatte sich zwei Flaschen Bier aus dem Kühlschrank gegönnt und war dann mit dem Kopf auf den Armen liegend am Tisch eingeschlafen.
    Gegen seinen Willen musste Semir kurz grinsen. So war es wenigstens unproblematisch für ihn, den Kerl auszuschalten, auch wenn er in dieser Situation ehrlich gesagt auch nichts gegen Gewaltanwendung gehabt hätte. Doch so fesselte er den Mann nur mit den restlichen Kabelbindern, die dieser achtlos hatte liegen lassen, nahm dessen Waffe an sich, trat dann einen Schritt zurück und sagte mit lauter Stimme: „Aufwachen, das Nickerchen ist vorbei!“ Daraufhin hob sein Gegenüber den Kopf, blinzelte, riss dann erschrocken die Augen auf und fuhr hoch. Doch dann wurden ihm die Fesseln und die auf ihn gerichtete Waffe bewusst und sein Widerstand erstickte im Keim. Also ließ er sich von Semir ins Wohnzimmer dirigieren, wo dieser ihn ebenso fixierte wie er eben selbst noch gefesselt war, nur mit dem Unterschied, dass Semir auch noch Kabelbinder um die Beine schlang und die Hände gleich doppelt an der Heizung befestigte. Er wollte ganz sicher sein, dass dieser Kerl sich auf keinen Fall befreien konnte.

  • Dann wandte er sich an Andrea. „Kümmerst du dich um Ben? Ich muss versuchen, Susanne und Layla zu finden! Sie wohnt hier bestimmt im Hotel, ich glaube nicht, dass sie einen falschen Namen angegeben hat, so haben sie wahrscheinlich auch Cemal und Ekim gefunden. Wahrscheinlich sind ihr die beiden bis hierher gefolgt, keine Ahnung, warum sie sich Layla nicht schon eher gegriffen haben, aber sie brauchten wohl eine Geisel, mit der sie sie unter Druck setzten konnten. Das hat dann ja auch leider funktioniert. Ich muss so schnell wie möglich herausfinden, in welchem Hotel sie abgestiegen ist, wer weiß, was die Kerle mit ihnen machen, wenn sie haben, was sie wollen!“ Andrea nickte und noch ehe sie etwas sagen konnte, war ihr Mann auch schon verschwunden. Einerseits machte es sie ein kleines bisschen stolz, dass er ihr hier die Verantwortung übertrug, doch andererseits war sie auch unsicher und ehrlich gesagt auch etwas wütend, immerhin war er der Polizist, eigentlich sollte er sich um alles hier kümmern. Doch sie wusste natürlich auch, dass er den anderen so schnell wie möglich hinterher musste um vielleicht etwas Schlimmes zu verhindern. Was das genau sein könnte, darüber wollte sie gar nicht nachdenken. Sie warf noch einen skeptischen Blick auf den Gefangenen, der zwar verächtlich erwidert wurde, doch wenigstens hielt er den Mund. Sie sah noch einmal genau hin, er war wirklich gut verschnürt, so dass nichts passieren würde. Eigentlich war ihr das schon vorher klar gewesen, denn Semir hätte sie sonst niemals allein gelassen. Sie versuchte, die Gedanken an Susanne und Layla zu verdrängen, ihr Mann würde es schon schaffen, alles zum Guten zu wenden, denn so langsam kam wieder der Semir zum Vorschein, den sie so lange vermisst hatte. Dann wandte sich Andrea zum Telefon, es wurde höchste Zeit, dass Ben Hilfe bekam.


    „Keine Sorge, ihm ist bestimmt nichts schlimmes passiert, wenn es so heftig aussieht, ist meist nur halb so wild“, sagte Layla an Susanne gewandt, welche diese Ansprache erst einmal ignorierte, sie wollte kein weiteres Gespräch führen, das vorherige hatte ihr gereicht. „Er ist schließlich hart im Nehmen“, fügte Layla dann noch hinzu. Susanne holte kurz Luft bei dieser Aussage, schwieg jedoch weiter. „Wenn ich so daran denke, was er in der kurzen Zeit, seit der ich ihn kenne, schon alles hat einstecken müssen, ist es schon erstaunlich, dass er noch so gut drauf ist.“ Susanne wusste nicht, was die dazu sagen sollte, das klang alles so, als hätten Ben und Layla doch wesentlich mehr Zeit miteinander verbracht, als sie bis jetzt angenommen hatte. Nachdem, was Layla ihr vorhin erzählt hatte, hatte sie ein wahnsinnig schlechtes Gewissen gehabt, aber inzwischen hatte sie über alles nachgedacht und war dabei durchaus auf Situationen gestoßen, in denen Ben sich auch nicht richtig verhalten hatte. Da war zum einen seine erste Lüge, was die Ereignisse in der Nacht, die er mit Layla verbracht hatte anging. Susanne war weniger von dieser Tatsache enttäuscht, denn Layla hatte ihr eine sowohl sinnvolle als auch glaubhafte Erklärung geliefert, viel mehr davon, dass Ben ihr die Wahrheit verschwiegen hatte. Glaubte er dann, dass sie ihm nicht vertrauen würde? Und zum anderen war es auch ziemlich mies von ihm gewesen, sich nicht zu melden, nachdem er wieder hier gewesen war. Er hätte doch wissen müssen, dass sich alle Sorgen um ihn machen würden. Allerdings fiel ihr dazu auch ein, dass sie selbst ihn in der Türkei hatte sitzen lassen und einfach so mit Semir und Andrea zurückgeflogen war. Verdammt, warum war nur soviel schief gelaufen, eigentlich waren sie sich doch einig gewesen!
    Susanne wollte jetzt nur noch weg von hier und am liebsten erst mal allein sein. Doch wie sie das anstellen sollte, wusste sie wirklich nicht. Sie hatte auch keine Zeit mehr, sich darüber Gedanken zu machen, denn der Transporter hielt an und der Motor verstummte. Sie hörte das Schlagen einer Autotür und Schritte auf dem Asphalt. Sie rechnete damit, dass sich nun die Tür vor ihr öffnen würde, doch es geschah erst einmal nicht. Dann vernahm sie weitere Geräusche von mehreren Fahrzeugen, die dicht neben dem Transporter zu halten schienen. Erneut hörte sie das Schlagen diverser Autotüren und schließlich die erlösenden Worte: „Stehen bleiben, Polizei!“

  • Die nächsten Geräusche konnten weder Susanne noch Layla zuordnen, doch beide sagten kein Wort, sie konnten nur hoffen, dass der Zugriff Erfolg hatte. Dann wurde endlich die Tür geöffnet und Susanne war unendlich erleichtert, als sie in Dieters besorgtes Gesicht blickte. „Mensch Susanne, was macht ihr denn für Sachen!“, sagte dieser, während er ihr aus dem Wagen half. „Wie geht es dir, ist alles in Ordnung?“ Susanne nickte nur, während Dieter auch Layla beim Aussteigen behilflich war. „Wie geht es Ben?“ fragte diese währenddessen sehr zu Susannes Ärger, denn eigentlich war diese Frage eine, die ihr zugestanden hätte. Dieter bemerkte davon jedoch nichts, sondern antwortete mit einem Lächeln: „Keine Sorge, der ist gut versorgt, das wird schon wieder.“
    Skeptisch sah Susanne den großen Polizisten an, doch dessen Mine ließ nicht drauf schließen, dass er die Unwahrheit sagte. „Dieter, kannst du mich bitte zu ihm fahren?“ bat sie ihn, doch der Angesprochene schüttelte bedauernd den Kopf. „Ich soll euch mit aufs Revier bringen, Semir ist auch schon unterwegs, er hat uns über alles informiert, glücklicherweise waren wir mit einigen Kollegen hier in der Nähe, aber wenn die ganzen Formalitäten geregelt sind, bringe ich dich, wohin du willst.“ Das war Susanne zwar nicht recht, aber eigentlich war klar gewesen, dass sie so schnell wie möglich eine Aussage machen musste, denn nur so konnte man Cemal in Haft behalten. Da Layla gerade mit einem anderen Beamten sprach, während Cemal bereits zur Dienststelle gebracht wurde, nutzte Susanne die Chance und ging mit Dieter zu dessen Wagen, so dass ihr eine weitere Fahrt mit Layla erspart blieb. Auch wenn diese nicht an allem schuld war, so personifizierte sie doch für Susanne all das Leid und den Kummer, den sie in der letzten Zeit hatte erdulden müssen und daher war sie froh, wenn sie diese Frau so wenig wie möglich sehen musste.
    Nachdem Susanne dann ihre Aussage zu Protokoll gegeben hatte, ließ sie sich in das Krankenhaus bringen, in welches Ben eingeliefert worden war. Dieter hatte sie leider nicht begleiten können, er wurde ebenso wie Semir noch auf der Dienststelle gebraucht. Sie hatte sich durchgefragt und war dann endlich auf der richtigen Station gelandet. Am Ende des Flures entdeckte sie Andrea und ging auf ihre Freundin zu, die sie erst einmal ohne Worte umarmte. „Sein Vater ist gerade bei ihm“, erklärte Andrea. „Ich habe ihn angerufen.“ Susanne nickte und beschloss, auch zu warten, bis Konrad aus dem Zimmer kam. Sie wollte gerne alleine mit Ben sprechen.
    Glücklicherweise dauerte es nur wenige Minuten, bis sich die Tür öffnete und ein ernst drein blickender Herr Jäger senior aus dem Zimmer trat. Susanne ging zu ihm, um ihn zu begrüßen, was er jedoch nicht erwiderte. Jetzt wurde Susanne doch etwas nervös. „Wie geht es ihm?“ fragte sie. Konrad schüttelte den Kopf. „Nicht gut“, antwortete er kurz angebunden. Dann schwieg er wieder. „Ich werde mal nach ihm sehen“, meinte Susanne und wollte an Konrad vorbei, um in das Zimmer zu gehen, doch bevor sie die Klinke ergreifen konnte, spürte sie die Hand ihres Fast-Schwiegervaters auf ihrem Arm. „Nein“, sagte er energisch. „Wie bitte?“ fragte Susanne erst irritiert und dann auch mit einem Anflug von Zorn. Was erlaubte sich Bens Vater? „Er möchte niemanden sehen“, erklärte dieser jedoch mit etwas sanfterer Stimme. Susanne blickte ihn verständnislos an und ließ die Hand wieder sinken. „Ich habe lange mit ihm gesprochen und halte diese Entscheidung auch für sinnvoll. Er muss jetzt erst einmal zur Ruhe kommen.“ „Aber das gilt doch sicher nicht für mich, ich meine, wir sind doch verlobt“, erinnerte Susanne ihr Gegenüber an ihre Beziehung zu seinem Sohn, doch der schüttelte jetzt wieder energischer den Kopf. Man merkte ihm deutlich an, dass er es als Chef gewohnt war, die Situation zu kontrollieren. „Nein, niemand. Und da ich als sein nächster Angehöriger die Verantwortung trage, ist es auch meine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass seine Wünsche respektiert werden. Es ist besser so.“
    Fassungslos sah Susanne ihn an, doch er hatte ihr unmissverständlich klar gemacht, dass sie nicht an ihm vorbei kommen würde. Aber er konnte ja nicht ewig hier stehen bleiben. Sie würde es später, vielleicht auch erst morgen, wenn sie eine Nacht darüber geschlafen hatte, noch einmal versuchen. „Gut, wenn Sie das so wollen“, entgegnete sie förmlich, denn eigentlich waren sie beide schon beim ‚du’ angelangt gewesen. „Andrea, kommst du?“ wandte sie sich dann an ihre Freundin, die das Geschehen stumm und fassungslos verfolgt hatte. So hatte sie es sich nicht vorgestellt, als sie Bens Vater verständigt hatte. Vielleicht hätte sie damit besser noch gewartet, aber wer konnte schon ahnen, dass sich die Situation so entwickeln würde. Also blieb ihr nichts anderes übrig, als zu nicken und Susanne dann zu folgen.

  • Susanne hatte darauf bestanden, alleine zu Hause zu bleiben, sie brauchte jetzt einfach nur Ruhe, um über alles noch einmal nachdenken zu können. Sie hätte in der Türkei viel souveräner, viel gelassener reagieren müssen. Aber auch im Nachhinein hätte sie in der Situation, als sie Ben Zimmer betreten hatte, sich nicht anders verhalten können. Aber später, da hätte sie ihn einfach fragen können: „Hey, wer war denn die nette Dunkelhaarige in deinem Bett, hast du dich vertan?“ Na ja, so oder zumindest so etwas ähnliches hätte ihr doch einfallen können, sie war doch auch sonst nicht auf den Mund gefallen und vielleicht hätte das die ganze Situation entschärfen können. So hätte sie Ben wahrscheinlich ziemlich in Verlegenheit gebracht, aber er hätte ihr dann gleich erklären können, was los war und es wäre nicht alles so schief gelaufen.
    Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, warum sie sich so ganz anders verhalten hatte, als so mancher es von ihr erwartet hatte. Sie hatte nie jemandem, den sie jetzt kannte erzählt, was sie mit ihrem ersten Freund, den sie erst mit neunzehn kennengelernt hatte, erlebt hatte. Sie war damals bis über beide Ohren in ihn verliebt gewesen und hatte geglaubt, ihm wäre es genau so ergangen. Er war etwas älter als sie gewesen und er hatte verdammt gut ausgesehen, so dass viele Frauen ihn gerne an ihrer Seite gehabt hätten. Anfangs war sie nur mit ihm befreundet gewesen, doch dann hatte es gefunkt, ebenso wie es auch bei ihr und Ben der Fall gewesen war. Sie war dann drei Jahre mit Dirk zusammen gewesen, bis sie endlich gemerkt hatte, dass er sie von Beginn ihrer Beziehung an nach Strich und Faden belogen und betrogen hatte. Auch ihn hatte sie damals mit einer seiner Affären im Bett erwischt und danach hatte sich dann das ganze Ausmaß seiner Untreue vor ihr ausgebreitet.
    Danach war sie sehr lange allein gewesen bis sie es wieder gewagt hatte, eine Beziehung einzugehen. Doch hatte sie sich nie völlig sicher fühlen können, erst bei Ben war das anders gewesen. Aber als sie ihn dann in dieser Situation gesehen hatte, war sofort wieder alles da gewesen; dieses Gefühl, die ganze Zeit nur ausgenutzt und betrogen worden zu sein und zwar genau von dem Menschen, vom man das am wenigsten erwartet hatte.
    Aus diesem Grund hatte sie nicht anders reagieren können, obwohl es so vieles einfacher gemacht hätte. Sie nahm sich fest vor, Ben das alles zu erzählen, wenn sie ihn wieder sehen würde. Sie konnte nur hoffen, dass er es verstehen und ihr verzeihen würde, denn sie wollte ihn um keinen Preis der Welt verlieren. Sie würde von nun an versuchen, alles richtig zu machen.


    Andrea wäre es lieber gewesen, wenn ihre Freundin wieder mit zu ihr und Semir gekommen wäre, aber sie konnte auch gut verstehen, dass Susanne für sich allein sein wollte, ihr wäre es wohl auch so gegangen. Sie nahm sich jedoch fest vor, gleich am nächsten Morgen nach ihr zu sehen, es sollte nicht passieren, dass sie sich zu sehr zurückzog und vor allem sollte sie spüren, dass ihre Freundin für sie da war. Wer wusste schon, wie es mit Ben weitergehen würde. Andrea hätte nie damit gerechnet, dass sich sein Vater so verhalten, geschweige denn so vehement den Kontakt zu Ben unterbinden würde. Vielleicht war das sogar nur seine Entscheidung gewesen und Ben wusste gar nichts davon, sondern wunderte sich vielleicht nur, warum niemand nach ihm sah. Wenn Andrea geahnt hätte, dass es so laufen würde, hätte sie Konrad mit Sicherheit nicht verständigt. Doch im Augenblick konnte sie an der Situation auch nichts ändern.
    Jetzt saß sie mit ihrem Mann auf der Couch und war froh, dass es wenigstens für sie beide wieder annährend normal lief. Sie erzählte ihm ausführlich, was Susanne ihr auf dem Weg aus dem Krankenhaus über die Zeit mit Layla berichtet hatte. Auch davon war vieles neu für sie gewesen, teilweise hatte sie sich nicht vorstellen können, dass alles der Wahrheit entsprach, doch wenn sie während ihres Berichtes ihren Mann ansah, konnte sie an seinem Gesichtsausdruck erkennen, dass nichts davon erfunden gewesen war.

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    Ebenso wie sie selbst war Semir während ihrer Ausführungen immer blasser geworden, er hatte bisher ja nur seine Sicht der Dinge gekannt und als er nun erfuhr, wie es Ben wirklich ergangen und was dieser alles für ihn riskiert hatte, bekam er ein immer schlechteres Gewissen. Warum hatte er das alles nur nicht früher erfahren, er hätte so viele Dinge anders machen können! Aber nein, sein blöder und unsinniger Stolz hatte ihm mal wieder im Weg gestanden und vielleicht war der Preis dafür seine Freundschaft mit Ben. „Da hab ich wohl ganz schön Scheiße gebaut, oder?“ fragte er seine Frau gerade heraus, nachdem sie beide eine Weile geschwiegen und jeder seinen eigenen Gedanken nachgehangen hatte. Andrea sah ihn zweifelnd an. „Wir haben uns bei der ganzen Sache alle nicht mit Ruhm bekleckert und manches ist einfach nur durch Zufall unglücklich gelaufen, da kann niemand etwas für. Und jetzt, wo alles ausgestanden ist, werden wir es doch wohl irgendwie schaffen, alles wieder auf die Reihe zu kriegen.“ Aber wenn sie ehrlich war, konnte sie ihren eigenen Worten nicht richtig glauben und auch Semir war anzusehen, dass er sich nicht vorstellen konnte, dass alles einfach so wieder in Ordnung kommen würde, dazu war einfach zuviel passiert. Auch wenn er es letztendlich geschafft hatte, dafür zu sorgen, dass Cemal gestellt werden konnte, war das nur eine geringe Leistung im Vergleich zu dem, was Ben alles auf sich genommen hatte. Wie hatte er demgegenüber nur so blind sein können? Ob Ben ihm verzeihen würde, dass er sich wie der letzte Idiot verhalten hatte? Aber Semir musste sich ehrlich eingestehen, dass er es Ben nicht verübeln konnte, wenn der sich nun von ihm abwenden würde, er hätte es eigentlich nicht anders verdient. Natürlich hoffte Semir inständig, dass dies nicht passieren würde, aber er musste jetzt einfach abwarten, wie Ben sich entscheiden würde.
    Neben der Frage, wie es mit ihm und Ben weitergehen würde, machte er sich Sorgen um die Beziehung von Susanne und Ben, auch wenn er normalerweise der Letzte war, der über so etwas nachdachte. Vor allem die Tatsache, dass Ben sich nach seiner Rückkehr nach Deutschland nicht bei ihr gemeldet hatte, bereitete ihm Kopfzerbrechen. War zwischen Ben und Layla doch etwas gelaufen? Oder befürchtete er zuviel und Ben wollte erst einmal alles für sich klären, bevor er sich um alles andere kümmerte? Aber es brachte nichts, wenn er darüber nachgrübelte, er würde morgen einfach zu Ben fahren und mit ihm darüber sprechen. Nach einer Nacht Schlaf würde der sich das mit dem Besuch sicher auch schon wieder anders überlegt haben und sein Vater konnte schließlich auch nicht die ganze Zeit vor der Tür stehen.


    Und so machten sich Semir und Andrea am nächsten Morgen direkt auf den Weg ins Krankenhaus. Dort angekommen trafen sie jedoch auf dem Parkplatz auf eine völlig aufgelöste Susanne, was bei beiden sofort die schlimmsten Befürchtungen auslöste. Semirs Herzschlag hatte sich binnen Sekunden um ein Vielfaches erhöht. „Susanne, was ist passiert, ist etwas mit Ben?“ fragte er. „Er ist nicht mehr hier“, antwortete sie nur. „Wie bitte?“ Semir verstand nicht, was sie meinte, Ben konnte doch kaum hier rausspaziert sein, oder war er etwa….
    „Sein Vater hat ihn in eine Privatklinik verlegen lassen, aber er weigert sich, mir zu sagen, wohin! Er meint, Ben solle erst einmal wieder fit werden und dann entscheiden, was er macht.“ Fassungslos sahen Semir und Andrea ihre Freundin an. Zwar war Semir erleichtert, dass es Ben nicht schlechter ging, aber dass man ihn von seinen Freunden und sogar von seiner Verlobten fernhalten wollte, ging eindeutig zu weit! Also sagte er energisch: „Niemand kann einfach so aus einem Krankenhaus verschwinden, ohne dass es Unterlagen darüber gibt. Ich werde also jetzt da rein gehen und herausfinden, wo er steckt, wozu bin ich schließlich Polizist!“ Mit diesen Worten stürmte er in Richtung Klinik.
    Die beiden Frauen warteten schweigend. Andrea wusste einfach nicht, was sie sagen sollte und Susanne erging es genau so. Sie wusste ehrlich gesagt nicht einmal, was sie denken sollte, sie war von der Nachricht, dass Ben für sie unerreichbar sein sollte, so schockiert, dass sie kaum einen klaren Gedanken fassen konnte. Hoffentlich konnte Semir etwas ausrichten! Doch als dieser nach einer Weile zurückkam, verhieß sein Gesichtsausdruck nichts Gutes. „Die wollen mir einfach keine Auskunft geben!“ schimpfte er. „Ich hab’ wirklich alles versucht, glaub’ mir“, sagte er an Susanne gewandt. „Die wollen einen Beschluss, aber den kann ich wirklich nicht besorgen.“ „Dann bleibt uns doch nur der Weg über Konrad“, erwiderte Susanne, obwohl sie immer noch nicht richtig begreifen konnte, was hier geschah. „Aber er wird uns nicht helfen. Er ist felsenfest davon überzeugt, dass Ben uns im Moment nicht gebrauchen kann und ich kann ihm das ehrlich gesagt nicht einmal übel nehmen. Ben ist sein Sohn und er will nur das Beste für ihn.“ Und während sie das sagte, wurde ihr klar, dass ihr nichts anderes übrig bleiben würde, als Bens Wunsch zu respektieren. Zumindest hoffte sie, dass es wirklich sein Wunsch war und nicht der seines Vaters. „Ich denke, ich werde einfach warten.“

  • „Hör mal Susanne, ich kann doch einfach Nachforschungen anstellen, ich werde schon irgendwie rauskriegen, wo er steckt“, bot Semir an. „Nein, ich werde respektieren, dass er allein sein will“, lehnte Susanne das Angebot ab. „Ich habe mich in letzter Zeit ihm gegenüber nicht gerade angemessen verhalten und ich will ihn jetzt nicht unter Druck setzten. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es nun auch nicht an.“ Sie hatte sich Ben gegenüber in letzter Zeit so häufig falsch verhalten, sie wollte jetzt unbedingt alles richtig machen und wenn nun dazu gehörte, ihm diesen Freiraum zu lassen, dann musste sie sich eben zusammenreißen, auch wenn sie natürlich viel lieber zu ihm gegangen wäre.
    Semir nickte, wenn sie es so erklärte, konnte er ihre Entscheidung verstehen. Das würde ihn allerdings trotzdem nicht davon abhalten, Nachforschungen anzustellen, Susanne musste davon ja nichts erfahren.
    Doch auch nachdem er seine üblichen Tricks versucht hatte und auch Hartmuts Hilfe in Anspruch genommen hatte, hatte er keinen Erfolg gehabt. Er hatte zwar herausgefunden, in welcher Klinik Ben gewesen war, aber dort hatte er ihn dann nicht mehr angetroffen; wenigstens wusste er so, dass seinem Partner zumindest körperlich wieder so weit ganz gut ging. Aber danach verlor sich jede Spur von ihm.
    Tatsächlich hatte es für Semir den Anschein, dass Ben einfach wirklich nicht gefunden werden wollte und wenn das tatsächlich so war, dann hatte er sowieso keine Chance ihn aufzuspüren. Vielleicht war Ben ja auch gar nicht mehr in Deutschland, sondern hatte sich den Traum erfüllt, mit dem Motorrad durch Amerika zu fahren. Und nach einiger Zeit des Haderns mit sich selbst hatte Semir sich dann auch dazu durchringen können, diese Entscheidung seines Partners zu akzeptieren. Er hoffte nur inständig, dass Ben sich bald wieder melden würde, denn es gab so einiges, was er ihm zu sagen hatte.




    Doch nun ging das Leben erst einmal ohne Ben weiter und langsam begann alles wieder in normalen Bahnen zu verlaufen; zumindest, wenn man es von außen betrachtete, denn Ben fehlte allen mehr, als sie es vorher für möglich gehalten hatte. Was es schwierig machte, damit umzugehen, dass er nicht war, war die Tatsache, dass niemand wusste, wo er war und vor allem, wie es ihm ging, denn sein Vater schwieg sich weiterhin aus. Immerhin konnten Semir, Andrea und vor allem Susanne sicher sein, dass sein Vater ein wachsames Auge auf ihn haben würde. Susanne hatte Semir gebeten, auch weiterhin nicht nachzuforschen, wo Ben sich befand, sie hatte zu große Angst, damit wieder einen Fehler zu begehen und so schwer es ihr auch fiel; sie akzeptierte seine Entscheidung, erst einmal abzutauchen, denn inzwischen war sie sich sicher, dass diese auch von ihm ausging. Schließlich hatte er sich von seinem Vater noch nie zu etwas überreden lassen, was er nicht wollte.


    Um ihre Gedanken zu ordnen und alles genau verstehen zu können, hatte Susanne begonnen, eine Art Tagebuch zu führen, welches sie in Form von Briefen an Ben schrieb. Sie wusste zwar noch nicht, ob er sie jemals so in dieser geballten Form zu lesen bekommen würde, aber es half ihr, das alles so für ihn zu formulieren, wenn sie schon nicht mit ihm sprechen konnte. Sie schrieb alles auf, was sie erlebt, gefühlt und gedacht hatte. Auch die Dinge, die sie im Nachhinein erfahren hatte, verschwieg sie nicht, konnte sie doch anhand dieser erklären, dass sie jetzt alles in einem anderen Licht sah, und dass es ihr unendlich Leid tat, wie sie sich verhalten hatte. Denn während sie schrieb, begriff sie immer mehr, wie unfair sie Ben gegenüber gewesen war, auch wenn sie nicht verleugnen konnte, dass auch er seinen Teil dazu beigetragen hatte, vor allem was sein Verhalten nach der Rückkehr nach Deutschland anging. Trotzdem konnte sie es verstehen, wahrscheinlich hätte sie selbst auch so gehandelt. Nachdem sie fertig war, überlegte sie lange, was sie mit den vielen Seiten anfangen sollte. Schließlich fasste sie ihren Mut zusammen, packte alles in einen großen Umschlag, um es an die Adresse von Bens Vater zu schicken. Was brachte das Ganze sonst, wenn der, für den es eigentlich bestimmt war, es zu nicht zu lesen bekam. Sie konnte nur hoffen, dass er es verstand und sich dann bei ihr melden würde.

  • Als sie von der Post zurückkam, die glücklicherweise nur ein paar Schritte entfernt war, sonst hätte sie es sich vielleicht noch anders überlegt, stellte sie beim Betreten der Wohnung fest, dass die Tür nicht verschlossen war. Aber eigentlich war sie sich sicher, dass sie den Schlüssel wie immer zweimal gedreht hatte, oder war sie so in Gedanken gewesen, dass sie es tatsächlich einmal vergessen haben sollte? Oder hatte sie es getan und das Ganze hatte einen anderen Grund? Inzwischen hatte sie Geräusche aus dem Wohnzimmer vernommen und sie spürte, wie ihr Herz zu klopfen begann. Doch als sie dann sah, wer dort vor dem Schrank stand, konnte ihre Enttäuschung kaum größer sein.
    „Konrad, was machst du denn hier?“ fragte sie Bens Vater. Der Angesprochene zuckte kurz zusammen und drehte sich dann um. „Susanne? Entschuldige bitte, ich wollte dich nicht erschrecken. Ich hatte angenommen, du wärst länger unterwegs.“ „Was willst du hier?“ fragte Susanne diesen Kommentar ignorierend. „Ich wollte ein paar Sachen holen, die Ben gerne haben wollte“, erklärte er. „Wie geht es ihm, wann kommt er wieder?“ fragte Susanne, die in diesem Moment völlig vergaß, wütend auf Konrad zu sein, zu wichtig war es für sie, endlich ein Lebenszeichen von Ben zu erhalten. Fast schien sich Konrad um eine Antwort winden zu wollen, doch dann atmete er tief durch und sagte: „Er wird nicht wiederkommen. Zumindest nicht in nächster Zeit“, fügte er dann noch einschränkend hinzu, als er Susannes entsetzten Gesichtausdruck sah. Verdammt, er hatte doch einfach nur gehofft, er könne schnell die Sachen besorgen und einer Konfrontation aus dem Weg gehen, aber das war nun gründlich schief gelaufen und wenn er nun schon einmal dabei war, konnte er ihr auch die ganze Wahrheit sagen, auch wenn es nicht gerade viel war, was er im Augenblick wusste.
    „Es geht ihm gut, du musst dir keine Sorgen machen“, erklärte er und versuchte, dabei einen beruhigenden Tonfall anzuschlagen. „Wo ist er?“ fragte Susanne mit zitternder Stimme. „Ich weiß es nicht“, musste Konrad zugeben. „Er hat sich auf unbestimmte Zeit beurlauben lassen und ist mit dem Motorrad weg. Er hat versprochen, sich regelmäßig bei mir zu melden.“ Aufmerksam studierte er Susannes Reaktion und langsam begann sich ein schlechtes Gewissen bei ihm zu regen; ein Gefühl, das er eher selten hatte, doch wenn er sie so ansah, konnte er gar nicht anders fühlen. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, Ben von seinen Freunden fern zu halten, doch er hatte das Gefühl gehabt, es wäre besser für seinen Sohn gewesen und auch der hatte nicht nach ihnen gefragt. Vielleicht hatte er aber auch einfach nur darauf gewartet, dass sie ihn besuchen kamen, aber das hatte Konrad ja zu verhindern gewusst. Plötzlich war er sich überhaupt nicht mehr sicher, ob das eine gute Idee von ihm gewesen war, sich so in das Privatleben von Ben einzumischen. Aber er hatte es doch nur gut gemeint!
    „Raus hier!“ kam es plötzlich energisch von Susanne. „Wie bitte?“ fragte er verdutzt. So einen Tonfall kannte er gar nicht von der sonst so sanft wirkenden Susanne. „Ich will, dass du hier verschwindest, das ist auch meine Wohnung, also verzieh dich endlich!“ Die letzten Worte hatte sie mehr geschrien als gesagt und Konrad so unmissverständlich klar gemacht, dass sie ihn auf keinen Fall weiter hier dulden würde. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zimmer, er wusste, wann er das Feld zu räumen hatte.
    Nachdem Susanne gehört hatte, wie sich die Wohnungstür geöffnet und dann wieder ins Schloss gefallen war, ging sie an der Stelle, an der sie eben noch gestanden hatte, einfach in die Knie. Es war so, als hätte sie einfach keine Energie mehr, um sich noch auf den Beinen halten zu können. Zuerst wusste sie gar nicht, was denken, geschweige denn tun sollte. Doch tief in ihr begann die furchtbare Vermutung aufzukeimen, dass Ben nicht zurückkommen würde. Wie sollte sie nur damit fertig werden?

  • Nachdem sie einige Zeit nur so dagesessen hatte, raffte sie sich auf und machte sich auf den Weg zu Semir und Andrea, denn sie wollte jetzt nicht allein sein. Die beiden waren nicht minder geschockt als Susanne, nachdem diese berichtet hatte, was vorgefallen war. „Ich habe alles falsch gemacht“, flüsterte Susanne und nichts, was Andrea oder auch Semir sagen würden, würde sie von dieser Meinung abbringen können. Und auch Semir fühlte nicht anderes. Was war nun, wenn sich Susannes Vermutung bewahrheiten würde und er seinen Freund und Partner nie wieder sehen würde? Es war gut möglich, dass sie Recht hatte; auf das Geld, das Ben in seinem Job verdiente war er nicht wirklich angewiesen, das würde ihn also kaum dazu veranlassen können, seinen Dienst wieder aufzunehmen. Und andere Gründe gab es für ihn wahrscheinlich auch nicht mehr. Semir war ihm kein guter Freund gewesen, im Gegenteil; er hatte ihn sogar immer wieder weggestoßen, als Ben ihm helfen wollte. Im Nachhinein wusste Semir auch nicht mehr so recht, warum er sich so verhalten hatte. Obwohl, wenn er ehrlich war, hatte sein falscher Stolz schon eine große Rolle gespielt. Er war einfach davon überzeugt gewesen, das alles allein regeln zu können, immerhin war es eine Art Familienangelegenheit gewesen. Doch dann hatte sich alles irgendwie verselbstständigt und er hatte zu oft die falschen Entscheidungen getroffen.
    Und Susanne? Sie hatte Ben immerhin recht schnell unterstellt, dass er sie betrogen hatte, obwohl sie doch eigentlich genau hätte wissen müssen, dass er so etwas niemals tun würde. Ja, die Situation schien eindeutig gewesen zu sein, aber sie hätte einfach genauer hinschauen müssen. Nichts anderes taten sie doch alle auch bei den Fällen, die sie tagtäglich bearbeiteten und wie oft hatten sich dort schon augenscheinliche Tatsachen als falsch herausgestellt. Und genau so hätte auch Semir selbst handeln müssen. Sein Freund hatte nichts anderes tun wollen, als ihm zu helfen und hatte dafür eine Menge riskiert. Doch jetzt war er nicht mehr da und Semir konnte ihm nicht sagen, wie leid ihm das alles tat. Diese Situation war fast noch schlimmer als sich damit abfinden zu müssen, wenn Ben gestorben wäre. Gestorben bei dem Versuch, Susanne zu beschützen. Semir konnte und wollte sich gar nicht vorstellen, was in ihr vorgehen musste, ging es ihm doch auch nicht anders. Das letzte, was Ben für ihn getan hatte, war all seine Kraft zusammen zu nehmen, um ihn von den Fesseln zu befreien.
    Eben so wenig wie Susanne wusste Semir, was er nun tun sollte. Ben war unerreichbar. Sie konnten also gar nichts tun. Sie konnten nur warten. Einfach nur warten.





    Der Fahrtwind blies ihm ins Gesicht und trieb ihm die Tränen in die Augen, zumindest war es das, was er sich einreden konnte. Er hätte seine Sonnenbrille aufsetzten können, um dem entgegen zu wirken, aber dann hätte er diese Ausrede für sich nicht mehr gehabt, also ließ er es sein. War es richtig, was er hier tat? Wusste er überhaupt noch, was richtig war? Und vor allem, wussten es auch die anderen? Das einzige, dessen er sich sicher war, war die Tatsache, dass er eine Auszeit brauchte. Viel lieber wäre er zwar zu seinen Freunden und vor allem zu Susanne zurückgekehrt, doch er konnte unmöglich einfach da wieder anknüpfen, wo sie vor dieser ganzen Sache gestanden hatten. So schwer es ihm auch fiel, er musste erst mal wieder zu sich selbst finden, um alles verarbeiten zu können. Vielleicht hatte er danach die Stärke, den anderen gegenüber zu treten und mit ihnen zu reden. Er war froh, dass er in der letzten Zeit wenigstens seinen Vater an seiner Seite gehabt hatte, denn weder Susanne noch Semir hatten sich bei ihm blicken lassen. Er hatte der Verlegung in die Klinik, die sein Vater vorgeschlagen hatte, nur deswegen zugestimmt, weil sie es dort mit den Besuchszeiten sehr liberal handhabten, auch die Übernachtung eines Besuchers wäre möglich gewesen. Doch es war niemand da gewesen, der ihn hätte besuchen wollen, aber Ben hatte es nicht gewagt, seinen Vater danach zu fragen, er hatte Angst vor der Antwort gehabt. Sein alter Herr hatte ihm versprochen, mit seinen Freunden Kontakt aufzunehmen und ihnen zu sagen, wo er finden war, aber sie hatten ihm mit ihrer Abwesenheit deutlich ihre Gefühle offenbart.
    Vor allem diese Tatsache hatte ihn nachdenklich werden lassen und ihm mehr als deutlich gemacht, dass sich vielleicht grundlegende Dinge ändern würden. Doch er war noch nicht bereit, sich dem jetzt schon zu stellen. Irgendwann würde er zurückkehren müssen, aber noch war es nicht soweit. Erst einmal wollte er nur weg von allem. Er beschleunigte seine Maschine, als er auf die Autobahn fuhr und war bereit, alles hinter sich zu lassen.



    Ende



    Ja, tatsächlich ist diese Geschichte an dieser Stelle wirklich zu Ende, denn Ben muss erst einmal wieder zu sich selbst finden, bevor er wieder den Kotakt zu den anderen suchen kann. Es war eine Geschichte mit vielen Missverständnissen, welche am Ende leider auch dazu geführt haben, dass Ben sich von seinen Freunden verlassen gefühlt (wofür allerdings zum großen Teil sein Vater verantwortlich ist, wobei er dabei doch nur das Beste für seinen Sohn gewollt hat!) und sich erst einmal für die Flucht entschieden hat.
    Ich weiß, dass das hier nicht unbedingt das Ende ist, was ihr von mir erwartet habt, aber etwas anderes hätte einfach nicht gepasst. Aber ich kann euch sagen, dass ich nach wie vor ein Fan von Happy Ends bin, und dass hier noch nicht das endgültige Ende steht.
    Die Fortsetzung ist schon in der Arbeit, es wird mit Sicherheit nicht so lange dauern wie beim letzten Mal, ich kann euch ja mit dieser schlimmen Situation ja nicht so lange hängen lassen. Ich denke mal, dass ich spätestens im August damit anfangen kann, die Kapitel einzustellen. Dann wird es (hoffentlich) sehr spannend, sehr emotional und es wird einige überraschende Wendungen geben. Also bis dahin!

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