Wenn Freundschaft zerbricht [Fortsetzung von "Sternenhimmel"]

  • Ben war erst einmal sprachlos, nachdem Semir ihm diese Worte an den Kopf geworfen hatte. Doch dann stieg auch in ihm die Wut auf. Sie standen hier mitten im Nirgendwo nach einem missglücktem Waffendeal zwischen mehreren Toten und er musste sich solche idiotischen Vorhaltungen anhören? „Dann ist ja gut, dann brauche ich mich jetzt wohl nur noch um mich selbst zu kümmern, oder was?“ gab Ben giftig zurück. Doch eigentlich hatte er etwas anderes sagen wollen. Dass er sich Sorgen um seinen Freund gemacht hatte. Dass er mit Susanne hierher gekommen war, um ihm und Andrea zu helfen und beizustehen, um ihm zu zeigen, dass sein Partner auch in schwierigen Situationen immer für ihn da war. Doch Ben brachte es in dieser Situation einfach nicht fertig, auch wenn er wusste, dass es falsch war. Doch so, wie Semir reagierte, konnte er es einfach nicht. Er hatte eine Menge auf sich genommen und hatte wenigstens etwas Dankbarkeit erwartet. Stattdessen behandelte ihn Semir so… so…. Ben fiel einfach kein passendes Wort dafür ein, unfair traf es wahrscheinlich noch am besten.
    Ben ahnte nicht, dass Semir mit all dem, was hier geschah und auch schon passiert war einfach völlig überfordert war. Zudem hatte er Angst, dass jemand, der ihm etwas bedeutete, verletzt wurde. Und die Tatsache, dass neben seiner Frau und Tochter und auch noch Ben und Susanne hier waren, machte das alles für ihn noch schwerer. Er hatte versucht, diese Gefühle so weit wie möglich zurück zu drängen, um überhaupt noch handlungsfähig zu sein, doch leider hatte das auch zur Folge, dass er sich jetzt wie der letzte Idiot benahm. Er konnte das Ben alles nicht sagen, denn im Augenblick schaffte es diese Erkenntnis noch nicht an die Oberfläche. Das einzige, was Semir bewusst wahrnahm, war die Tatsache, dass er jetzt neben Andrea und Aida jetzt auch noch für Ben und Susanne verantwortlich war, was alles ungleich viel schwerer machte. Und mit Ben würde es nicht einfach werden, denn der sah ihn ziemlich sauer an.
    „Dann mache ich mich wohl besser allein auf den Weg, oder wie?“ fragte Ben ihn in diesem Moment provozierend. „Keine schlechte Idee“, gab Semir zurück, noch bevor er überhaupt darüber nachgedacht hatte, doch er wollte einfach nur, dass Ben sich endlich aus der Schusslinie brachte „Gut“, antwortete Ben knapp, drehte sich rum und ging los, auch wenn er überhaupt keine Ahnung hatte, welche Richtung er einschlagen sollte. Hauptsache erst einmal weg von hier. Vielleicht hätte er sich doch nicht einmischen sollen, vielleicht wäre Semir auch allein zu recht gekommen, vielleicht stieg durch seine Anwesenheit wirklich das Risiko… Doch das waren einfach zu viele ‚vielleicht’, er war jetzt hier und sie würden das zusammen durchstehen. Als er sich schließlich umdrehen wollte, um zu Semir zurück zu gehen, war erneut ein Motorengeräusch zu vernehmen und der Wagen, der eben den Treffpunkt verlassen hatte, kehrte in einem rasanten Tempo zurück. Er bremste scharf und drei Männer sprangen heraus, jeder mit einer Waffe im Anschlag. Weder Ben noch Semir hatten die Gelegenheit, nach den Maschinengewehren zu greifen, die sie vorher in der Hand gehabt und dann achtlos zur Seite gelegt hatten.
    Einer der Typen schrie etwas, was Ben nicht verstand; vorsichtshalber hob er die Hände, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war und keine Gefahr darstellte. Semir hingegen schien eine Antwort zu geben. Doch dem Mann schien nicht zu gefallen, was er hörte. Er ging auf Semir zu und als er auf diesem Weg bei Ben vorbeikam, holte er aus und verpasste ihm einen kurzen, aber heftigen Schlag gegen die Schläfe. Ben hatte zu den beiden anderen Männern gesehen, er hatte mit einem solchen Angriff nicht gerechnet und ging mit einem Stöhnen zu Boden. Semirs Aufschrei nahm er gar nicht mehr wahr.

  • „Wo ist es?“ fragte der Mann, als er bei Semir angekommen war und sich drohend vor ihm aufgebaut hatte. „Ich habe keine Ahnung, wovon Sie reden“, entgegnete Semir, der wirklich nicht wusste, worum es ging. Er hatte zwar gesehen, dass etwas ausgetauscht worden war und er nahm an, dass es sich dabei um Drogen gehandelt hatte, aber er war sich nicht sicher. Anscheinend hatte der Mann mehr erwartet. „Du wirst mit uns kommen und es uns zeigen“, bestimmte sein Gegenüber und wies mit der Waffe auf seinen Wagen. Semir sah erst einmal keine andere Möglichkeit, als mit ihm mitzugehen. Als sie an Ben vorbei gingen, konnte er nur erkennen, dass sein Partner anscheinend bewusstlos war. Ein Rinnsal Blut lief über seine Stirn und tropfte auf den Boden. Er wollte sich zu ihm beugen, doch sofort spürte er den Lauf der Waffe in seinem Rücken. „Mach schon“, hörte er den Mann drohend sagen, also ging er weiter und stieg in den Wagen, der sofort zügig losfuhr. Sein Angreifer schien sich damit zufrieden geben, dass Ben jetzt keine Gefahr für ihn darstellte, Semir wollte nicht riskieren, dass Ben erschossen wurde, nur weil er nicht tat, was man von ihm verlangte. Er hatte sowieso schon verdammt viel Glück gehabt, dass er nur niedergeschlagen und nicht getötet worden war. Semir konnte nur hoffen, dass Ben allein zu Recht kam, auch wenn er sich nicht sicher war, ob sein Partner den Weg zurück finden konnte, er kannte sich hier ja gar nicht aus. Während Semir diesen Gedanken nachhing und gleichzeitig seine Chancen überschlug, selbst mit heiler Haut hier raus zu kommen, klingelte das Satellitentelefon seines Entführers. Dieser führte mit leisen Worten ein kurzes Gespräch, Semir konnte kein Wort verstehen, doch der Mann schien zufrieden zu sein. Danach wendete er sich zu Semir. „Wie haben das Lager gefunden, wir brauchen dich jetzt nicht mehr.“ Semir wurde bei diesen Worten heiß und kalt zugleich. Wenn sie sich keine Hilfe mehr von ihm erhofften, war er nutzlos geworden. Bedeutete das für ihn das Ende? Aber sie hatten auch Ben am Leben gelassen, hatte auch er diese Chance? Der Wagen bremste und der Kerl vom Beifahrersitz bedeutete ihm, auszusteigen. Er konnte nichts anderes tun, als dieser Aufforderung zu folgen und machte sich auf das Schlimmste gefasst, auch wenn man sich auf so etwas eigentlich niemals wirklich vorbereiten konnte. Er dachte an Andrea und Aida, er hätte sie so gerne wieder gesehen.
    „Wir haben uns im Lager umgesehen. Es ist alles da, was wir bezahlt haben. Ich nehme an, dass du das Familienunternehmen nun übernehmen wirst. Wir werden uns bei dir melden.“ Mit diesen Worten stieg er wieder ein, der Wagen fuhr los und zurück blieb ein völlig irritierter und perplexer Semir. Was waren das nur für Menschen? Erst erschossen sie kaltblütig ihre ‚Geschäftspartner’ und jetzt so etwas? Er konnte das einfach nicht verstehen. Aber vielleicht hatte Serhat ja das Gleiche versucht und hatte einfach nur die schlechteren Karten gehabt. Semir hatte fest damit gerechnet, ebenso wie sein Cousin zu enden. Aber er hatte sich geirrt, hier schienen die Uhren anders zu gehen. Er war am Leben und das war alles, was zählte. Und jetzt musste er so schnell wie möglich zu Ben zurück. Er orientierte sich kurz und rannte dann los.


    In der Zwischenzeit war Ben wieder zu sich gekommen. Zuerst wusste er gar nicht mehr, was passiert war und warum er am Boden lag, doch er spürte etwas warmes, das an seiner Stirn entlang lief. Er zuckte zusammen, als seine Finger die Platzwunde berührten, doch wenigstens war ihm so wieder eingefallen, was geschehen war. Sein Kopf tat zwar weh, aber alles in allem konnte er froh sein, noch am Leben zu sein. Der Typ hätte ihn auch einfach abknallen können. Er hatte sehr viel Glück gehabt, nur mit Kopfschmerzen davon gekommen zu sein. Er hoffte nur inständig, dass es Semir auch so erging. Aber die Kerle schienen etwas von ihm gewollt zu haben und wenn Semir clever war, würde er es schaffen, sich irgendwie da raus zu winden, da war sich Ben ganz sicher. Er musste einfach noch am Leben sein, denn sonst hätte er doch auch hier liegen müssen, wahrscheinlich hatten sie ihn mitgenommen.

  • Ben setzte sich auf und wartete, bis der Schwindel, der sich bei dieser Bewegung sogleich eingestellt hatte, wieder etwas nachließ. Schließlich schaffte er es, ganz aufzustehen. Langsam ging er zu dem Wagen, mit dem Serhat her gekommen war. Doch nicht nur, dass die Reifen zerschossen waren, auch die Motorhaube zierten diverse Einschusslöcher und der Qualm, der immer noch aufstieg, waren ein deutliches Zeichen dafür, dass hier nichts mehr zu machen war. Wenn er von hier weg wollte, musste er es tatsächlich zu Fuß versuchen, auch wenn er keine Ahnung hatte, wie er das schaffen sollte, doch was blieb ihm anderes übrig.
    Er versuchte, anhand der Reifenspuren heraus zu finden, woher sie gekommen waren. Leider waren diese nur mehr zu erahnen, als tatsächlich zu sehen, aber irgendwie musste er ja zu einer Entscheidung kommen. Bevor er schließlich losging, sah er bei dem Fahrzeug noch nach, ob nicht irgendwo Wasser zu finden war, denn die Sonne schien unbarmherzig vom wolkenlosen Himmel auf ihn herab, doch er hatte kein Glück. Ben versuchte, sich einzureden, dass er den Weg schon finden würde, doch er war sich keineswegs sicher, dass ihm das gelingen würde. Ehrlich gesagt hatte er diesbezüglich sogar große Zweifel. Er versuchte so gut es ging, seine aufsteigende Panik zu unterdrücken, denn die brachte ihn auch nicht weiter, vielmehr hinderte sie daran, klar zu denken und das konnte er in dieser Einöde als allerletztes gebrauchen. Hinzu kamen jedoch auch noch die Sorgen, die er sich um Semir machte. Er hatte keine Ahnung, was es war, das die Kerle von ihm wollten und was sie mit ihm machen würden, wenn sie es bekommen hatten, oder wenn sie feststellten, dass Semir ja gar nichts wusste. Doch Ben hatte keine Ahnung, wohin sie seinen Freund bringen würden, seine einzige Chance bestand jetzt darin, den Weg zurück zu finden und Hilfe zu organisieren, auch wenn er nicht wirklich wusste, wie diese aussehen könnte. Doch darüber konnte er sich auch noch Gedanken machen, wenn er es erst einmal von hier weg geschafft hatte. Nicht einmal eine Waffe war zurückgelassen worden, so dass er sich schließlich unbewaffnet auf den Weg machte und nur hoffen konnte, dass ihn dieser zu seinem Ziel bringen würde.



    Semir war schon nach kurzer Zeit völlig außer Atem, doch die Sorge um Ben trieb ihn an. Was hatte er sich nur dabei gedacht, ihn so anzufahren? Doch tief in seinem Inneren wusste er die Antwort. Er war nicht wirklich wütend auf seinen Partner gewesen, auch wenn dessen Kommentar etwas daneben gewesen war. Seine Aggressivität war einfach nur der Ausdruck dafür, dass er sich so hilflos fühlte, gleichzeitig aber auch verantwortlich für Ben, so wie er es immer tat, auch wenn das in letzter Zeit etwas zu sehr in den Hintergrund getreten war. Semir hatte nicht gewollt, dass auch noch Ben mit in diese Sache hineingezogen wurde, warum hatte er es nicht geschafft, ihm das einfach zu sagen? Es war schon schlimm genug gewesen, dass Serhat seine Familie bedroht hatte; zwar hatte er das nicht auf direktem Wege getan, aber es war deutlich zwischen den Zeilen heraus zu hören gewesen, dass Serhat nicht davor zurück geschreckt wäre, Andrea oder Aida etwas anzutun, wenn Semir sich geweigert hätte, seinen Cousin zu unterstützen. Obwohl, soviel hatte er dann letztendlich gar nicht gemacht, er fragte sich sogar, warum Serhat ihn überhaupt mitgenommen hatte. Vielleicht hatte es einfach dazu gedient, die Gruppe zu vergrößern und somit mehr Macht zu demonstrieren? Bei den meisten Treffen, bei denen er dabei gewesen war, hatte anscheinend seine bloße Anwesenheit für eine gewisse Spannung gesorgt. Semir nahm an, dass Serhat ihm einfach eine gewisse Legende verpasst hatte, um seine ‚Geschäftspartner’ einzuschüchtern. Oder aber hatte Serhat gehofft, durch Semir auch Fuß in Deutschland fassen zu können? War er deswegen auch so freundlich zu ihm und Ben gewesen, weil er gehofft hatte, durch sie und die Firma mit seinem ‚Geschäft’ expandieren zu können? Semir durchlief bei diesem Gedanken ein eiskalter Schauer, das war wahrscheinlich wirklich der Grund für Serhats Interesse an ihm gewesen. Wie hatte er so naiv sein können, zu glauben, dass nach einer Aktion alles erledigt gewesen wäre?

  • Wenigstens brauchte er sich jetzt keine direkten Sorgen mehr um seine Familie zu machen. Serhat war tot und es war nicht anzunehmen, dass die anderen es auf sie abgesehen hatten. Die schienen zwar davon überzeugt zu sein, dass er mit dem weitermachen würde, was sein Cousin hier aufgezogen hatte, aber Semir nahm an, dass sie ihm nicht nach Deutschland folgen würden, sondern sich hier anders organisieren würden, wenn er erst einmal weg war. Semir verstand einfach nicht, was in den Köpfen dieser Leute vor sich ging, aber das war ihm letztendlich auch egal, er würde nur froh sein, wenn er alles hinter sich gelassen hätte, auch wenn es ihm sehr gegen den Strich ging, diese Verbrecher einfach laufen zu lassen. Doch er konnte hier nichts ausrichten, außer der hiesigen Polizei alles zu berichten und hoffen, dass diese ihre Arbeit genau so gewissenhaft, wie er es sonst auch tat, verrichten würde. Er selbst musste seine Familie schützen und das bedeutete, dass er so schnell wie möglich von hier verschwinden musste.
    Auch seine Freunde wollten sicher lieber heute als morgen nach Hause fliegen. Ben war ja mit Susanne gekommen, die wohl inzwischen schon mit Andrea und Aida in der Hauptstadt auf sie wartete. Irgendwie hatte Andrea es geschafft, Ben zu benachrichtigen und der hatte einfach alles stehen und liegen lassen, um zu ihm zu kommen. Und wie wurde es ihm gedankt? Er wurde angemeckert und musste sich Vorwürfe gefallen lassen. Semir seufzte laut. Was war nur los mit ihm? Wenn er Ben fand, würde er sich zuallererst bei ihm entschuldigen, auch wenn ihm so etwas immer sehr schwer fiel, doch hierzu gab es keine Alternative. Auch wenn sein Partner ihn wahrscheinlich anmaulen würde, würde er die Entschuldigung doch hoffentlich auch annehmen. Immerhin war er zu recht sauer auf Semir. Warum hatte er nicht einfach schon zu Hause mit Ben geredet, dann hätte er ihm auch erzählen können, dass er schon länger mit Serhat in Kontakt gestanden hatte. Nur wegen ihm war er schließlich überhaupt hierher geflogen. Als Kinder hatten die beiden viel Zeit miteinander verbracht und auch so manche Dummheit angestellt. Es war damals eine schöne unbeschwerte Zeit gewesen, zumindest hatte Semir es damals so empfunden. Und er hatte sich nichts mehr gewünscht, als sich wieder in diese Zeit hinein zu versetzten, nachdem er sich zu Hause so ungerecht behandelt gefühlt hatte. Doch es war ein großer Fehler gewesen. Die Dinge änderten sich nun einmal und wenn Semir noch einmal genau an die vergangene Zeit mit Serhat dachte, musste er sich eingestehen, dass sein Cousin schon damals einen gewissen Hang zur Gewalttätigkeit gehabt hatte. Semir hatte jedoch nie darunter leiden müssen, schließlich gehörte er zur Familie. Wahrscheinlich hatte er es deswegen vergessen und so diese Zeit immer mehr idealisiert.
    Als Serhat ihn vor einigen Monaten per Mail kontaktiert hatte, hatte er dies wahrscheinlich nur aus dem Grund getan, um sein Geschäft erweitern zu können und auf wen konnte man sich bei so etwas verlassen, wenn nicht auf die Familie. Doch Semir hatte sich einfach nur gefreut, etwas von seinem Cousin zu hören. Glücklicherweise hatte er ihm nie erzählt, dass er zur Polizei gegangen war, was sich hier als sein Glück erwiesen hatte. Schon seine Familie in Deutschland hatte ein Problem damit gehabt, vor allem, weil er ja bei der deutschen Polizei gelandet war. Er wollte das wiederauflebende Verhältnis zu Serhat nicht damit belasten, also hatte er das mit der Firma von Bens Vater erzählt, er hatte ja nicht ahnen können, welchen Gefallen er Serhat damit getan hatte, nachdem dieser angenommen hatte, Semir wäre im Im- und Exportgeschäft tätig.
    Aber schon kurz, nachdem sie hier angekommen waren, hatte Serhat sein wahres Gesicht gezeigt. Er hatte Andrea und Aida nicht direkt bedroht, aber er hatte Semir unterschwellig sehr deutlich gemacht, dass es für alle wesentlich gesünder wäre, sich seinem Willen zu beugen. Da Semir hier fremd war und er nicht wusste, wem er hätte trauen können, war ihm gar keine andere Wahl geblieben, als mit zu machen. Die Tatsache, dass er die ganze Zeit mit Serhat und seinen Leuten unterwegs gewesen war, hatte nur dem Zweck gedient, dass sein Cousin ihn im Auge behalten konnte. Und als dann die Übergabe kurz bevor gestanden hatte, war auf einmal Ben aufgetaucht.

    Einmal editiert, zuletzt von Danara ()

  • Semir war zuerst völlig perplex gewesen, doch dann war er sehr wütend geworden, was im Nachhinein betrachtet eigentlich ziemlich idiotisch gewesen war. Doch warum musste sich Ben auch überall einmischen? Zu diesem Zeitpunkt war sich Semir noch ganz sicher gewesen, dass er alles alleine gut in den Griff bekommen würde und hatte Bens Anwesenheit eher als Belastung als eine Hilfe empfunden. Doch inzwischen bereute er diese Reaktion und wollte jetzt nichts anderes als seinen Freund zu finden und sich persönlich bei ihm zu entschuldigen.
    Endlich hatte er es geschafft und war wieder am Ort des Geschehens angekommen. Er sah sich genau um, doch er konnte Ben nirgends entdecken. Er war sich sicher, die Stelle gefunden zu haben, an der Ben gelegen haben musste. Dort war auch Blut gewesen, eine Tatsache, die seine Sorge nicht kleiner werden ließ. Allerdings stimmte es ihn etwas hoffnungsvoll, dass sein Partner nicht mehr hier war, denn das hieß, dass Ben diesen Ort aus eigener Kraft hatte verlassen können. Zumindest hoffte er das, aber wer sonst sollte noch hier gewesen sein, obwohl er hier inzwischen mit allem rechnete. Er würde also weiterhin sehr vorsichtig sein müssen. Er stellte ebenso wie sein Partner fest, dass der Wagen nicht mehr fahrtüchtig war. Also musste Ben zu Fuß unterwegs sein. Angestrengt suchte Semir den Boden ab, doch es war schwer, Spuren zu erkennen. Nach kurzer Zeit wurde er jedoch fündig. Zwar konnte er nicht mit Sicherheit sagen, ob das Bens Fußabdrücke waren, doch immerhin hatte er jetzt einen Anhaltspunkt, in welche Richtung er gehen musste, bevor der Boden so steinig wurde, dass man keine Spuren mehr erkennen konnte. Also machte er sich auf den Weg.
    Nachdem er eine Weile gelaufen war, wurde das Gelände immer schroffer. Der Weg wurde zu einem Pfad, der sich zwischen Felsspalten hindurch schlängelte. Dies war mit Sicherheit nicht der Weg, auf dem sie hergekommen waren, aber da an den Steinen Markierungen angebracht waren, schien dieser Weg zumindest irgendwo hin zu führen. Ben hatte wahrscheinlich den gleichen Gedanken wie er gehabt, sonst hätte er ihm ja schon wieder entgegen kommen müssen. Die Möglichkeit, dass Ben einen anderen Weg eingeschlagen haben könnte, ignorierte er; er musste seinen Partner einfach finden! Der Pfad wurde immer unübersichtlicher, hier und da ragten teilweise ausgedörrte Sträucher zwischen den Felsen hervor, die Semir zur Seite schieben musste.
    Er war ziemlich konzentriert darauf, nicht zu stolpern, nur deswegen bemerkte er den Schatten halbrechts vor sich nicht. Und als ihn ein dicker Ast mit voller Wucht an den Schienenbeinen traf, war es schon zu spät. Mit einem lauten Aufschrei ging er in die Knie, um sich dann doch so schnell und schwungvoll wie möglich in die Richtung seines Angreifers zu werfen. Dabei ignorierte er die Tatsache, dass vor seinen Augen bunte Sterne tanzten. Er riss den Mann von den Beinen, woraufhin beide zu Boden fielen und ein Stück einen Abhang hinunter rutschten. Dabei wurde eine Menge Staub aufgewirbelt und Semir musste die Augen schließen um davon nicht zu viel abzubekommen. Währenddessen versuchte er dennoch, weitere Treffer zu landen, was ihm auch ganz gut gelang. Er traf mit der Faust in die Bauchgegend und er war sich sicher, mit seinem Ellebogen den Kopf seines Kontrahenten erwischt zu haben. Am Ende des Abhangs rutschte er ein Stückchen von seinem Gegner weg und konnte so die Gelegenheit nutzen, um auf die Beine zu kommen. Er drehte sich rum, um feststellen zu können, wer ihm aufgelauert hatte. Doch trotz der Versuche, es zu verhindern, hatte er reichlich Sand in die Augen bekommen und konnte so nicht erkennen, wer ihm da gegenüber stand, doch der Mann hatte anscheinend mit der gleichen Problemen zu kämpfen wie er selbst, denn auch er fuhr sich mit der einen Hand über die Augen und mit der anderen Hand schien er nach Semir zu tasten.

  • Also ergriff Semir die Gelegenheit, eine bessere Chance würde er wohl kaum bekommen. Er startete erneut einen Angriff, indem er nach vorne sprang und seinen Gegner wieder von den Beinen riss. Dieser schien noch keinen sicheren Stand gehabt zu haben, wie Semir schnell triumphierend bemerkte. Sein Eindruck, dass er einige Treffer gelandet hatte, hatte ihn anscheinend nicht getäuscht, denn die Gegenwehr des Mannes hatte deutlich nachgelassen. Doch Semir wollte kein Risiko eingehen und so griff er nach dem Arm seines Gegenübers und verdrehte ihm diesen auf den Rücken. Doch er hatte die Hand nicht ganz richtig zu packen bekommen, deshalb umklammerte er nur die Finger, diese dafür aber umso heftiger, um zu verhindern, dass sich der Mann doch wieder aus seinem Griff wand. Er bog die Finger mit aller Kraft nach hinten und dann konnte er spüren und auch hören, wie anscheinend die Knochen brachen. Es war kein schönes Geräusch und machte Semir in diesem Moment die Brutalität seines Vorgehens bewusst. Er erschrak über sich selbst, als ihm klar wurde, was er gerade getan hatte. Was war nur los mit ihm, dass er so die Kontrolle über sich verlor? Es gab doch auch andere Möglichkeiten, jemanden kampfunfähig zu machen, er sollte es besser wissen. Semir lockerte seinen Griff, ohne jedoch die Hand loszulassen und trat einen Schritt zurück. Doch sein Gegner schien es aufgegeben haben, sich wehren zu wollen.




    Es war heiß und Ben hatte das Gefühl, dass die Luft immer staubiger wurde. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet und er brauchte dringend etwas zu trinken, aber hier war weit und breit keine Menschenseele zu entdecken, noch irgendeine Art von Behausung. Zudem hatte er keine Ahnung, ob er auf dem richtigen Weg war, er konnte nur hoffen, dass er die richtige Wahl getroffen hatte, sonst spazierte er wahrscheinlich geradewegs in sein Verderben. In seinem Kopf pochte und hämmerte es und so langsam bekam er Probleme damit, seine Umgebung klar erkennen zu können. Am liebsten hätte er eine Pause gemacht, aber er war sich nicht sicher, ob sich dann wieder aufraffen könnte, weiter zu gehen. Und hier draußen einfach so zu verrecken war das Letzte, was er sich vorstellen wollte. Außerdem war er sich nicht sicher, ob die Kerle, die das Blutbad angerichtet hatten, ihm nicht doch folgen würden. Warum sie ihn nicht gleich getötet hatten, war ihm auch nicht ganz klar, vielleicht hatten sie auch angenommen, die Natur würde das für sie schon erledigen. Letztendlich konnte ihm der Grund egal sein, er musste die Chance jedenfalls nutzen und so setzte er einfach nur einen Fuß vor den anderen und hoffte dabei inständig, dass es auch Semir gelungen war, zu fliehen. Ihn hatten sie anscheinend noch gebraucht, sonst hätten sie ihn nicht mitgenommen, Ben hoffte nur, dass Semir das Beste daraus gemacht hatte.

  • Der Weg war inzwischen hügeliger und steiniger geworden, aber auch die Vegetation hatte zugenommen, so dass Ben etwas optimistischer gestimmt wurde, bald bewohntes Gebiet zu erreichen. Er blieb kurz stehen und drehte sich um, um abschätzen zu können, welche Strecke er schon zurückgelegt hatte und erschrak, als er dabei entdeckte, dass es doch jemanden gab, der ihn verfolgte. Aber vielleicht hatte dieser einfach nur auf gut Glück die gleiche Richtung eingeschlagen, denn Ben hatte nicht den Eindruck, dass er schon entdeckt worden war. So war wenigstens im Vorteil. Ihm war zwar nicht klar, warum man ihn erst hatte liegen lassen, um ihn dann doch noch zu verfolgen, aber wer wusste schon, was in den Köpfen dieser Leute vor sich ging.
    Er sah sich nach etwas um, was er als Waffe verwenden konnte, denn bald würde ihn der Mann eingeholt haben, er schien noch wesentlich besser zu Fuß zu sein als Ben. Sein Blick fiel auf einen Ast, der hoffentlich nicht zu morsch sein würde. Er griff danach und ging hinter einem Felsvorsprung in Deckung. Entgegen seiner Vermutung musste er doch noch eine ganze Weile warten. Gerade als er sich zu fragen begann, ob nicht doch besser weiter gegangen wäre, hörte er Schritte, die sich ihm näherten. Als er glaubte, sie ganz nah bei sich zu hören, lehnte er sich vorsichtig nach vorne und bekam zwei Schienbeine zu sehen. Er zögerte nicht und machte einen Satz nach vorne, währenddessen er ausholte, um seinem Verfolger den Ast mit voller Wucht vor die Beine zu schlagen. Mit einem Schrei ging dieser zu Boden, um sich seinerseits jedoch direkt wieder auf Ben zu stürzen, der von seinem eigenen Schwung getragen auch mehr auf dem Boden kniete als stand. Mit diesem schnellen Gegenangriff hatte Ben nicht gerechnet, alles ging so schnell, dass er nicht einmal richtig erkennen konnte, wie groß sein Gegenüber war, geschweige denn, wie er aussah.



    Von der Wucht des Stoßes herumgerissen, rutschen beide einen kleinen Abhang hinunter, der sich neben dem Felsvorsprung, den Ben als Deckung genutzt hatte, befand. Dabei wurde eine Menge Staub aufgewirbelt und Ben konnte nicht verhindern, dass ihm einiges davon in die Augen geriet, während er versuchte, seinen Sturz etwas abzufangen und vor allem, sich zu orientieren. Seinen Gegner schien das alles überhaupt nicht zu kümmern, denn er teilte kräftig aus. Obwohl auch er nicht viel sehen können musste, traf er leider viel zu gut. Den ersten Schlag in den Bauch konnte Ben noch ganz gut abfangen, seine Muskeln waren sowieso schon sehr angespannt, aber als dann noch ein Ellebogen vor seinem Kopf landete, hatte er das Gefühl, kurzfristig weggetreten zu sein, als sich der Schmerz dieses Schlages zu den schon vorhandenen gesellte. Er konnte sich nämlich nicht daran erinnern, wie er auf dem Boden aufgekommen war, trotzdem versuchte er sofort wieder auf die Beine zu kommen. Mit der einen Hand versuchte er, den Staub aus den Augen zu bekommen, um endlich wieder zumindest halbwegs klare Sicht zu bekommen, mit der anderen tastete er in die Richtung seines Kontrahenten. Das stellte sich jedoch als eine sehr schlechte Idee heraus, denn plötzlich wurde sein Arm gepackt und auf den Rücken gedreht. Dann jedoch schien sich der Griff zu lockern, Ben wollte gerade versuchen, sich los zu winden, doch der Mann hatte seine Finger zu fassen bekommen und verdrehte diese mit aller Gewalt nach hinten.
    Ben hörte zuerst das Knacken, als seine Knochen brachen, erst dann setze der Schmerz ein. Er stöhnte auf und ging auf die Knie. Es war vorbei, er hatte keine Chance mehr, jetzt konnte er nur noch auf Gnade hoffen. „Okay, ich gebe auf“, keuchte er angestrengt.

  • Doch was dann geschah, war seltsam. Ben hatte mindestens mit noch einem weiteren Schlag oder gar Tritt gerechnet, der ihn vollends kampfunfähig machen würde, doch nichts dergleichen geschah. Im Gegenteil; sein Angreifer lockerte erst seinen Griff, ließ ihn dann los und trat einen Schritt zurück. War Ben im ersten Augenblick erleichtert über diese Tatsache, so überkam ihn danach doch die Angst. War der Mann zur Seite getreten, um seine Waffe zu ziehen, damit er dem Ganzen so ein schnelles Ende bereiten konnte? Ben drehte den Kopf in die Richtung, aus der er das Schlimmste erwartete. Er versuchte, seinen Blick so gut es schon wieder ging auf seinen Gegner zu fokussieren, denn wenn er schon sterben musste, dann wollte wenigstens wissen, wer ihn in den Tod schicken würde. Doch der hatte weder eine Waffe gezogen, noch machte er irgendwelche Anstalten, ihn erneut anzugreifen. Ben glaubte, seinen Augen nicht zu trauen, als er endlich erkannte, wer da vor ihm stand.


    „Okay, ich gebe auf“, hörte Semir seinen Gegner stöhnen. Zuerst konnte er es gar nicht glauben, doch es war tatsächlich so, auch wenn er mit dieser Stimme am allerwenigsten gerechnet hatte. Warum hatte er ihn nicht schon eher erkannt? Mit einem Mal wurde ihm bewusst, was er seinem Partner gerade angetan hatte. Sofort ließ er Ben los und trat einen weiteren Schritt zurück. Zu mehr war er im Moment nicht in der Lage, er war auch nicht fähig, irgendeinen Ton raus zu bringen. Er konnte nur dabei zusehen, wie Ben auf die Seite fiel und sich schließlich zu ihm rumdrehte. Und dann sah er ihn an. Semir konnte erkennen, dass auch Ben erst in diesem Augenblick begriff, mit wem er es hier zu tun hatte. „Semir?“ hörte er ihn ungläubig flüstern. Als er seinen Namen hörte, fiel endlich die Starre von ihm ab und mit wenigen schnellen Schritten war er bei Ben und ging neben ihm auf die Knie.


    „Hey Partner, komm, ich helfe dir hoch“, sagte er und stützte Ben, damit der wieder auf die Beine kam. Langsam geleitete er ihn zu einem Felsbrocken, wo Ben sich erst mal setzten musste, denn er hatte das Gefühl, Pudding in den Beinen zu haben. Er war froh, dass Semir ihm half. Nun saß er erst einmal mit geschlossenen Augen auf dem Stein und versuchte als allererstes wieder ruhig zu atmen. Die Kopfschmerzen reduzierten sich so auch langsam auf ein erträgliches Maß, doch was seine Hand betraf, sah die Sache anders aus. Er war nicht in der Lage, seine Finger auch nur einen Millimeter zu bewegen. Sein einziger Trost, wenn man das so nennen konnte, war der Umstand, dass es die linke Hand war, auf die er als Rechtshänder eher verzichten konnte.
    „Geht’s wieder?“ hörte er Semirs besorgte Stimme. Ben öffnete die Augen. „Ja, ja, so einigermaßen“, log er dann. „Was ist mit deiner Hand?“ fragte sein Partner. Ben war sich nicht sicher, inwieweit Semir im Eifer des Gefechts bemerkt hatte, was er angerichtet hatte und so versuchte er, drum rum zu reden. Es brachte nichts, wenn er Semir jetzt ein schlechtes Gewissen verursachte, denn der hatte ihn ja nicht absichtlich verletzt. Sie konnten das später immer noch klären, jetzt war es erst mal wichtiger, dass sie von hier weg kamen. „Na ja, Gitarre spielen ist jetzt eher schlecht, aber das wäre hier ja sowieso nicht angebracht“, meinte er und versuchte, dabei so locker wie möglich zu klingen. Semir nickte, obwohl er Ben dabei einen sehr skeptischen Blick zuwarf. Er war sich ziemlich sicher, dass er Ben wesentlich mehr Schaden zufügt hatte, als dieser jetzt zugab, doch er fragte nicht weiter nach. Ehrlich gesagt war er froh darüber, dass er sich im Augenblick nicht damit auseinander setzten musste. Er hatte überhaupt Schwierigkeiten damit, das eben Geschehene zu verarbeiten und Ben schien es da ganz genau so zu gehen.
    Also schwiegen beide und ließen so erneut eine Gelegenheit verstreichen, endlich die Dinge zu klären. Doch weder Ben noch Semir waren zu diesem Zeitpunkt in der Lage, wirklich zu begreifen, was soeben geschehen war, aber ihnen erschien das in diesem Moment auch nicht so wichtig. Beide wollten einfach nur noch so schnell wie möglich weg von hier.
    „Komm, lass uns von hier verschwinden“, brach Ben dann das Schweigen, denn so langsam fühlte er sich etwas besser und so setzten sie ihren Weg fort, wenigstens darin waren sie sich einig.

  • Susanne, Andrea und Aida hatten ihren ersten Nachmittag in Ankara hinter sich gebracht. Die Kleine war auf dem Rückweg von diversen Sehenswürdigkeiten eingeschlafen. In diesem Zustand trug Andrea ihre Tochter dann ins Bett, während es sich Susanne auf dem Balkon gemütlich machte. So konnte sie Andreas fragendem Blick wenigstens noch kurz aus dem Weg gehen. Doch sie wusste, dass Andrea nicht locker lassen würde, dafür kannte sie ihre Freundin zu gut.
    Aida schlief tief und fest, so dass Andrea fand, dass nun eine gute Gelegenheit wäre, das Schweigen zu brechen. Susanne hatte jetzt genug Zeit gehabt, um sich zu sammeln. Es war an der Zeit, herauszufinden, was mit ihr nicht stimmte und Andrea wollte ihr helfen.
    „Sag’ mal Susanne, was ist eigentlich los?“ fragte sie so beiläufig wie möglich. „Nichts ist los“, kam jedoch nur zurück, aber der angespannte Ton sprach Bände. „Das fragst du noch?“ fragte Andrea erstaunt. „Es ist auch angesichts der Umstände nicht normal für dich, wie du dich gerade verhältst. Hast du dich mit Ben gestritten?“ wollte sie dann wissen. Das es an Ben liegen könnte, dass Susanne sich so merkwürdig verhielt, war ihr eben erst eingefallen, doch ein Streit mit Ben würde sehr gut zum Verhalten ihrer Freundin passen. Warum war sie nicht schon früher darauf gekommen? Da war doch schon diese merkwürdige Verabschiedung der beiden gewesen oder vielmehr auch nicht, denn Susanne war ja einfach so ins Taxi gestiegen ohne Ben zu beachten. Andrea hatte in dieser Situation andere Dinge im Kopf gehabt, so dass sie das nur am Rande bemerkt hatte, doch jetzt fiel es ihr wieder ein. Da hatte definitiv etwas nicht gestimmt und das hatte nicht nur an Semir und ihr gelegen.
    „Ich möchte immer noch nicht darüber sprechen“, erwiderte Susanne knapp. Andrea sah sie zweifelnd an. „Dich bedrückt doch irgendetwas. Meinst du nicht, es wäre besser, darüber zu reden, satt alles zu verdrängen?“ Susanne sah Andrea zweifelnd an. Eigentlich hatte ihre Freundin Recht, aber Susanne war noch nicht so weit, um das Ganze in Worte zu fassen. Sie musste erst einmal selber damit klar kommen, denn immerhin war gerade ihre bis dahin so sicher geglaubte Welt aus den Fugen geraten. „Ich kann das jetzt noch nicht, lass mir noch etwas mehr Zeit“, antwortete sie deshalb, denn sie wusste, dass Andrea sonst keine Ruhe geben würde. Doch sie hatte sich getäuscht, denn ihre Freundin ließ nicht locker. Zum einen wollte sie Susanne helfen, zum anderen war ihr aber auch alles recht, was sie von ihrer eigenen Situation ablenkte. Sie konnte nicht anders, als weiter nach zu fragen. „Susanne, lass mich dir doch helfen. Ich mache mir Sorgen um dich. So wie du dich verhältst kenne ich dich gar nicht. Bitte Susanne.“ Die Angesprochene atmete tief durch. Ihr war jetzt klar, dass Andrea nicht aufhören würde, bis sie wusste, was los war. Und vielleicht tat es ihr auch gut, ihren Kummer mit jemandem zu teilen.
    „Ben hat mich betrogen, er ist fremd gegangen“, sagte sie also so schnell und knapp wie möglich, nachdem sie endlich dazu durchgedrungen hatte, Andrea ins Vertrauen zu ziehen. Trotzdem war es keine Erleichterung, es machte die ganze Sache nur noch ein Stückchen realer und damit noch schlimmer. Dass Andrea sie jetzt auch noch völlig entgeistert ansah, machte es auch nicht besser. Ihre Freundin konnte einfach nicht fassen, was sie da gerade gehört hatte. Tausend Gedanken schienen gleichzeitig durch ihren Kopf zu schwirren. Ben sollte Susanne betrogen haben? Ben? Das konnte doch gar nicht sein! Wie kam Susanne nur darauf? Hatte es ihr jemand erzählt? Nein, dann wäre sie nicht so überzeugt davon, denn sie schien sich sehr sicher zu sein, dass es so war. Hatte sie es etwa mit eigenen Augen gesehen? Etwas anderes konnte gar nicht möglich sein, sonst würde Susanne bestimmt nicht so heftig reagieren. Es musste hier passiert sein, wahrscheinlich in der Nacht, die Ben alleine hier verbracht hatte. Aber Ben würde so etwas doch nie tun, oder?

  • Sie sah Susanne erneut an. Diese blickte zwar stur gerade aus, doch Andrea blieb der Schmerz und die Tränen in ihren Augen nicht verborgen. Susanne war fest überzeugt von dem, was sie gerade gesagt hatte und sie hatte mit Sicherheit einen guten Grund dafür. So etwas würde sie niemals so daher sagen und schon gar nicht, wenn sie sich nicht völlig sicher wäre, dazu war Susanne viel zu gewissenhaft.
    Andrea merkte, dass sie nach ihrem anfänglichen Unglauben langsam bereit wurde, ihrer Freundin zu glauben, auch wenn es ihr fast unmöglich erscheinen wollte. Doch wie musste es erst Susanne ergehen? Die beiden hatten doch heiraten wollen, wie konnte so etwas nur passieren? Hatte Ben etwa kalte Füße bekommen? Wie waren eigentlich seine vorherigen Beziehungen gelaufen? War er da auch untreu gewesen? Andrea wurde bewusst, dass sie eigentlich kaum etwas über Bens vorherige Freundinnen wusste, sie hatte bis jetzt ja auch keinen Grund gehabt, sich darum Gedanken zu machen. Je länger sie darüber nachdachte, desto besser konnte sie sich vorstellen, dass Ben es mit der Treue vielleicht nicht so genau nehmen könnte, zumindest, wenn man es von außen objektiv betrachtete. Er sah nicht schlecht aus, war finanziell gut gestellt und allein das waren schon zwei wichtige Aspekte, die so manche Frau interessierten. Andrea hielt zwar nichts von dieser Art von Frauen, aber Männer waren da ja anders gestrickt. Und wer wusste schon, ob Ben nicht schon früher so etwas gemacht hatte. Über diese Art von Dingen hatte sie nie nachgedacht, geschweige denn mit Ben oder gar ihrem Mann darüber gesprochen. So etwas war kein Thema, wenn sie mit Semir redete, da gab es genug anderes, über das sie sprachen. Vielleicht tat sie Ben aber auch fürchterlich Unrecht, aber wenn sie Susanne so ansah…. Warum sollte sie an den Worten ihrer Freundin zweifeln?
    Andrea fragte sich, wie sie mit Ben umgehen sollte, wenn sie ihn wieder sah, denn er war ja weiterhin der beste Freund ihres Mannes und er war sofort hergekommen, um ihnen zur Seite zu stehen. Obwohl; das Verhältnis zwischen den beiden hatte in den letzten Wochen auch sehr gelitten. Und sie stand nun einmal eindeutig auf Susannes Seite, zumindest was die Beziehung der zwei anging. Ihre Freundin braucht seelischen Bestand, den sie ihr auf jeden Fall geben würde. Ben musste zusehen, wie er zu Recht kam, immerhin war es seine Schuld, dass Susanne so leiden musste. Aber warum hatte er das getan, er liebte sie doch, wie hatte das passieren können? Irgendwie schien gerade alles auseinander zu brechen und Andrea hatte keine Ahnung, wo das alles hinführen sollte. Sie atmete tief durch und nahm dann einfach nur Susannes Hand. Den Rest des Abends verbrachten sie schweigend.
    Susanne war im Nachhinein doch froh, dass sie sich Andrea anvertraut hatte und vor allem auch darüber, dass diese nicht nach Einzelheiten gefragt hatte. Sie hätte es nicht geschafft, laut auszusprechen, was sie gesehen hatte, sie kämpfte immer noch mit den Bildern in ihrem Kopf, die einfach nicht verschwinden wollten, so sehr sie sich auch bemühte, an etwas anderes zu denken. Und erst nachdem sie sich endlich hingelegt hatte, bemerkte sie, wie erschöpft sie eigentlich war; fast augenblicklich war sie eingeschlafen.
    Trotzdem galt ihr letzter Gedanke noch Ben, sie spürte, dass etwas unwiederbringlich kaputt gegangen war; egal, wie es mit ihnen weitergehen würde, sie hatte das Vertrauen verloren. Doch das klärende Gespräch mit ihm würde warten müssen. Sie war dankbar, dass sie noch Zeit haben würde, sich darauf vorzubereiten. Sie wusste auch noch gar nicht, was sie ihm sagen wollte, es kam darauf an, ob er sie wieder anlügen, oder ob er ihr die Wahrheit sagen würde, wovon sie allerdings nicht ausging, zumindest wenn sie an ihr letztes Gespräch dachte. Obwohl sie sehr verletzt und wütend war, hatte sie auch große Angst vor dieser Konfrontation und vor allem vor dem, wie es danach weitergehen würde.

  • Von all dem ahnten Ben und Semir nichts, während sie versuchten, den Weg zurück in die Stadt zu finden. Inzwischen war es noch wärmer geworden und beide hatten der Hitze kaum etwas entgegen zu setzten. Es wurde für sie immer beschwerlicher, vorwärts zu kommen. Semir war derweil immer unsicherer geworden, ob sie sich auch wirklich für die richtige Richtung entschieden hatten, denn die Landschaft wurde wieder karger und nichts ließ darauf schließen, dass sie bald bewohntes Gebiet erreichen würden. Ein Seitenblick auf Ben verriet ihm, dass es seinem Partner nicht gut ging. Und Semir war ziemlich sicher, dass auch er selbst einen Teil dazu beigetragen hatte. Er fragte sich, ob Ben bei ihrer Prügelei nicht doch mehr abbekommen hatte, als es zugeben wollte. Er war sich sicher, dass er ein Knacken in Bens Hand gehört hatte, aber hieß das wirklich, dass etwas gebrochen war? Aber er konnte sich einfach nicht überwinden, Ben deswegen zu fragen. Wenn er ganz ehrlich zu sich selbst war, war es ihm mehr als unangenehm, hier so schweigend neben Ben her zu laufen, aber dem schien es auch nicht anders zu gehen. Semir hatte sogar den Eindruck, Ben würde jedes Mal zur Seite gucken, wenn er zu ihm rüber sah. Also hatte wohl auch keine Lust auf ein Gespräch.
    Doch Ben wusste einfach nur nicht, was er als erstes sagen sollte. Eigentlich hatte er tausend Fragen auf Lager, die er Semir stellen wollte, aber irgendwie bekam er seine Gedanken nicht in die richtigen Bahnen gelenkt. Auch wie er sich jetzt fühlte, konnte er nicht so genau feststellen. Das einzige, was er sicher wusste war, dass er von seinem Partner ziemlich enttäuscht war. Er hatte einfach gedacht, dass alles anders laufen würde, wenn er erstmal hier wäre. Dass Semir sich zuhause so seltsam verhalten hatte, konnte Ben in gewissem Maße ja noch nachvollziehen. Es war für seinen Freund einfach alles zuviel gewesen, kein Wunder, dass er eine Auszeit gebraucht hatte, Ben wünschte sich das manchmal auch. Vielleicht würde er nach der ganzen Sache hier auch erst mal einen längeren Urlaub einschieben.
    Aber Semir hatte der Abstand noch nicht gereicht, er hatte Ben vielmehr die ganze Zeit das Gefühl gegeben, unerwünscht, oder viel mehr sogar im Weg zu sein. Ben wusste einfach nicht, was er davon halten sollte, er musste mit Semir sprechen, aber er hatte keine Ahnung, wie er das anfangen sollte, ohne dass es wieder in einen Streit ausartete. Wenigstens waren Andrea und Aida in Sicherheit, allein dafür hatte sich der ganze Aufwand gelohnt. Ben war sich sicher, dass Semir und seine Familie nicht so einfach von hier hätten verschwinden können, dafür hatte sich sein Freund viel zu tief in die ganze Sache hineinmanövriert. Aber das schien ihm gar nicht bewusst gewesen zu sein. Aber spätestens jetzt sollte er doch begriffen haben, wie ernst die ganze Sache war. Aber trotzdem schien er sein Schweigen fortsetzen zu wollen. Ben verstand es einfach nicht. Er wusste wirklich nicht, wie es mit ihm und Semir weitergehen sollte. Allerdings hatten sie in ihrer aktuellen Situation auch andere Probleme zu lösen. Waren sie eigentlich in die richtige Richtung unterwegs?



    „Sieh mal da vorn!“ schreckte ihn auf einmal Semirs Stimme aus seinen Gedanken. Bens Blick folgte dem ausgestreckten Zeigefinger seines Partners und sah ein kleines Haus, welches sich eng an einen Hügel drückte. Es war zwar noch nicht die Stadt aber wenigstens ein Anfang von Zivilisation. Vorsichtig näherten sich die beiden dem Domizil, als sich dessen Tür öffnete und eine Person heraus trat.

  • Ben blinzelte zweimal, doch seine Augen schienen ihm tatsächlich keinen Streich zu spielen, es handelte eindeutig um Layla, die die beiden Männer jetzt auch ihrerseits zu erkennen schien. Ihre Mine verriet Erstaunen und Ungläubigkeit, anscheinend hatte sie nicht damit gerechnet, einen von ihnen noch einmal wieder zu sehen, geschweige denn gleich beide auf einmal. Sie trat ihnen einige Schritte entgegen. „Wie kommt ihr denn hier her?“ fragte sie verwundert und doch meinte Ben erkennen zu können, dass sie freudig überrascht war.
    Seltsamerweise war auch er froh, sie zu sehen. Endlich begegneten sie jemandem, der ihnen wohl gesonnen war, das konnten sie jetzt wirklich gut gebrauchen. Und so unbefangen, wie sie auf ihn zugegangen war, war Ben sich sicher, dass sie ihre letzte „Begegnung“ ad acta gelegt hatte, was ihn sehr erleichterte, denn sonst wäre es hier deutlich schwieriger für ihn geworden.
    „Lange Geschichte“, wich Semir einer Antwort aus. „Wir müssen schnellstmöglich weg von hier, in welcher Richtung geht es zur Stadt?“ fragte er. „Der Weg beginnt hinter meinem Haus, es ist zwar nicht mehr weit, aber wollte ihr nicht erst mal kurz reinkommen? Ihr seht ehrlich gesagt ziemlich fertig aus.“ Ben nickte, er hatte tatsächlich nichts gegen eine Pause einzuwenden, denn er sah nicht nur so aus, er fühlte auch ziemlich erschlagen. Doch Semir schüttelte den Kopf. „Nein, ich muss noch irgendwie an meine Sachen kommen und dann will ich einfach nur weg.“ Er machte einen Schritt in die von Layla angegebene Richtung, doch nun schüttelte Ben seinerseits den Kopf. „Ich glaube, ich brauche eine kurze Auszeit“, sagte er. Vielleicht konnte er dann in Ruhe mit Semir reden, der jetzt zu überlegen schien, was er machen sollte. Doch mit seiner Entscheidung hatte Ben nicht gerechnet, denn er sagte: „Gut, dann bleib du noch kurz hier, ich geh’ schon mal vor, wir treffen uns dann direkt am Flughafen, du musst ja nichts mehr abholen, oder?“ Ben nickte nur, dass Semir einfach so gehen wollte, traf ihn zwar sehr, aber er hatte einfach keine Kraft und so langsam auch keine Lust mehr auf Diskussionen. Er hielt es eigentlich für keine gute Idee, dass sie sich trennten, aber wenn Semir das unbedingt so haben wollte; bitte!
    Er merkte, dass ein Teil von ihm auch ziemlich sauer auf Semir wurde, doch den trieb es einfach nur vorwärts, er wollte so schnell wie möglich in Richtung seiner Familie und dann weg von hier. Wer wusste schon, was noch alles schief gehen konnte! Ben hob also nur kurz die Hand zum Gruß, er würde dann im Flieger mit seinem Partner sprechen, da konnte er ihm dann nicht mehr aus dem Weg gehen. Semir deutete dies als Abschiedsgeste, nickte ihm noch einmal kurz zu, drehte sich um und war nach wenigen Schritten hinter dem Haus verschwunden.
    Laylas Blick wirkte auch skeptisch, als Semir ohne weitere Worte verschwand, doch dann lächelte sie Ben an. „Na dann komm erst mal rein.“ Sie wies mit einladender Geste auf ihre Haustür. Langsam setzte sich Ben in Bewegung. Er spürte immer mehr, wie sehr ihm das alles hier körperlich zusetzte, auch wenn er das eigentlich nicht zugeben wollte. Aber Semir hatte vorhin einige Treffer gelandet, von seinen Fingern mal ganz zu schweigen. Ben war sich sicher, dass zumindest zwei gebrochen waren. Zwar machte er Semir nicht direkt einen Vorwurf, denn er hatte seinen Partner selber auch nicht erkannt. Aber was blieb, war die Tatsache, dass sein Partner ihn nicht unerheblich verletzt hatte. Ben war sich allerdings nicht sicher, ob Semir überhaupt bemerkt hatte, was er angerichtet hatte. Aber dann hätte er sich doch entschuldigt, oder? Konnte es denn sein, dass man es nicht merkte, wenn man jemandem die Knochen brach?
    Während Ben so nachgrübelte und dabei auch wieder mehr Kopfschmerzen bekam, bugsierte ihn Layla auf ihre Couch. Dass es ihm schlecht ging, war definitiv nicht zu übersehen. Im Haus war es etwas kühler als draußen, die Steinmauern hielten die Hitze ganz gut ab, auch die Fensterläden waren zu diesem Zweck geschlossen. Daher war es in dem Raum, der eine Wohnküche mit bequemer Sitzecke, auf der sich Ben gerade befand, relativ dunkel. Nur durch wenige Ritzen drang noch das Sonnenlicht. Ihm war das ganz recht so, sein Kopf tat schon weniger weh. Während er so da saß, merkte er, wie die Anspannung langsam von ihm abfiel und er unglaublich müde wurde. Hätte seine Hand nicht so wehgetan, wäre er wahrscheinlich augenblicklich eingeschlafen.

  • „Hast du dich verletzt?“ fragte Layla, nachdem sie ein Glas Wasser vor ihm abgestellt und sich zu ihm gesetzt hatte. Zudem musterte sie ihn von oben bis unten. Was sie sah, gefiel ihr ganz und gar nicht. „Ja, meine Hand“, antwortete Ben, nachdem er das Glas in einem Zug geleert hatte. „Ich glaube, es ist etwas gebrochen“, fügte er dann noch hinzu. „Hm, du hast wohl recht, sieht ganz so aus“, meinte Layla nach einem Blick auf seine Finger. „Ich hole etwas Eis, damit können wir sie wenigstens etwas kühlen. Aber das sollte sich auch noch ein Arzt ansehen.“ Ben nickte und sie stand auf, um zum Kühlschrank zu gehen. Dort packte sie einige Eiswürfel in ein Handtuch. Dann griff sie noch in eine Schublade und nahm ein paar Tabletten heraus. Mit diesen in der einen und dem Eisbeutel in der anderen Hand ging sie zu Ben zurück. „Hier, davon kannst du auch welche nehmen, die sollten gegen die Schmerzen helfen.“ Ben nickte ergeben. Eigentlich schluckte er äußerst ungern irgendein Zeug, von dem er nicht genau wusste, worum es sich handelte, aber zum einen vertraute er Layla, sie hatte ihm bisher schließlich immer geholfen und zum anderen war ihm Moment auch fast alles egal, Hauptsache, die Schmerzen wurden endlich weniger. Er musste ziemlich die Zähne zusammenbeißen, als Layla den Eisbeutel auf seine Hand legte, doch drang langsam die Kälte durch das Tuch und entfaltete in Kombination mit den Tabletten ihre Wirkung.
    Layla hatte inzwischen neben ihn gesetzt, sagte aber nichts, wofür ihr Ben sehr dankbar war. Er schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Es tat gut, einfach mal in Ruhe da zu sitzen und an nichts zu denken, langsam schaffte er es sogar, sich etwas zu entspannen…


    Als er die Augen wieder öffnete, stellte er als erstes fest, dass irgendetwas anders war. Zuerst konnte er nicht genau sagen, was es war, doch dann fiel ihm auf, was fehlte. Dort wo vorher noch die Sonne durch die Ritzen geschienen hatte, war jetzt alles schwarz. Das Licht, das den Raum inzwischen erhellte, kam inzwischen ausschließlich von mehreren Lampen. Und wenn es draußen jetzt dunkel war, konnte das nur bedeuten, dass es inzwischen Abend geworden sein musste. Er war also tatsächlich eingeschlafen. Und hatte somit also seinen Flug verpasst. Von dieser Erkenntnis nun endgültig wach geworden, richtete Ben sich ruckartig aus der halb liegenden Position, in die er beim Schlafen unbemerkt gerutscht war, auf und bemerkte erst jetzt, dass Layla inzwischen in der Küchenzeile hantierte. Ein angenehmer Geruch hatte sich in dem Zimmer ausgebreitet. „Warum hast mich nicht geweckt?“ fragte er vorwurfsvoll das erste, was ihm einfiel. Er musste sich regelrecht dazu zwingen, nicht an die Konsequenzen zu denken, die sein Fernbleiben vom Flughafen nach sich ziehen könnten. „Weil du so fix und fertig warst, dass ich gar keine Chance hatte, dich wach zu kriegen“, kam es etwas frostig von Layla zurück. Betreten blickte Ben zu Boden. Etwas mehr Höflichkeit wäre definitiv angebracht gewesen, vor allem wenn man bedachte, was sie alles schon für ihn getan hatte und auch gerade noch tat. Sie konnte ja nicht wissen, welche Folgen sein Nichterscheinen am Flughafen gehabt haben könnte. Hoffentlich war Semir nicht allzu sauer gewesen! „Hör mal, es tut mir leid, ich wollte nicht…“ begann er, doch Layla winkte ab. „Ist schon gut“, meinte sie nur. „Es ist nur, ich weiß nicht, was mit Semir ist“, versuchte Ben eine Erklärung. „Aber so wie er im Moment drauf ist, vermute ich mal, dass er alleine geflogen ist, zumindest, wenn alles glatt gegangen ist. Ist ja auch verständlich, er will sicher so schnell wie möglich zurück zu seiner Frau und seiner Tochter.“
    Layla seufzte. „Es tut mir leid, dass du Schwierigkeiten mit deinem Freund hast, aber ehrlich gesagt bin ich ganz froh, dass du noch da bist.“ Dass sie zum Flughafen gegangen war und Semir gesagt hatte, dass Ben nicht kommen würde und er schon alleine fliegen solle, verschwieg sie ihrem Gast. Es war wichtig für sie, ihn allein hier zu haben und in Ruhe mit ihm sprechen zu können. Das mit seinem Freund würde sich schon wieder einrenken, auch wenn der ziemlich enttäuscht und auch wütend auf die Tatsache reagiert hatte, dass Ben seine Pause noch ausdehnen wollte. So ganz entsprach das zwar nicht der Wahrheit, aber richtig gelogen war es auch nicht, Ben hatte es wirklich nötig, sich zu erholen.

  • Fragend sah Ben sie an, er hatte keine Ahnung, worauf das hinaus laufen sollte. „Es ist so“, begann sie ihre Erklärung. „Ich habe ein wenig rum gefragt, es ist ja einiges passiert, die Dinge werden sich hier ändern und es ist… also, eigentlich ist es ziemlich kompliziert zu erklären, um es kurz zu machen: ich kann nicht mehr hier bleiben.“
    Ben war zwar immer noch nicht klar, was er damit zu tun hatte, doch das sollte er nun erfahren. „Ich würde gerne mit dir kommen. Ich habe schließlich schon einmal in Deutschland gelebt und könnte mir ganz gut vorstellen, dort wieder Fuß zu fassen.“ Fragend sah sie ihn an. Wie genau sie in die ganze Sache hier vor Ort verwickelt war und warum sie wirklich von hier verschwinden wollte, brauchte Ben nicht zu wissen, sie wollte nicht riskieren, dass er ihre Bitte ablehnen würde. Aber der schien sich mit ihrer Erklärung zufrieden zu geben, denn er nickte.
    Ben nahm an, dass Layla so etwas wie Schutzgeld an Serhat gezahlt hatte. Das würde auch erklären, warum sie zugelassen hatte, dass er sich mit seinen Leuten bei ihr getroffen hatte. Andererseits musste das für Layla auch tatsächlich eine Art Schutz gewesen sein, denn Ben hatte schließlich am eigenen Leib erfahren, dass es genügend andere Leute hier gab, die keine Skrupel hatten, ihren Willen durchzusetzen. Und das konnte für eine allein stehende Frau wie Layla in dieser Gegend schon recht gefährlich werden. Jetzt, da Serhat nicht mehr da war, würden sich die Strukturen hier ändern, jemand anders würde seinen Platz einnehmen und davor schien Layla Angst zu haben, was er nur allzu gut verstehen konnte. Ebenso hatte er Verständnis dafür, dass sie hier noch nicht darüber reden wollte, vielleicht würde sie sich ihm anvertrauen, wenn sie erst einmal hier raus wären. Eventuell konnten er und Semir dann mit ihrer Hilfe auch etwas gegen diese Dealer hier unternehmen, sie hatte bestimmt einiges mitbekommen. Ben war sich aber sicher, dass sie selber nicht mit in diese Geschäfte verwickelt gewesen war, sonst hätte sie sich ganz anders verhalten müssen. Er hatte genug Erfahrung, um so etwas abschätzen zu können.
    Er überlegte noch kurz, doch dann hatte er sich auch schon entschieden. Natürlich würde er sie mitnehmen, wenn sie das wollte. Genau genommen war das sogar das Mindeste, was er tun konnte, immerhin hatte sie ihm zweimal sehr geholfen. Dass er wegen des verpassten Fluges wahrscheinlich ziemlichen Stress mit Semir und womöglich auch mit Susanne bekommen würde, war nicht ihre Schuld. Und einfach nur mit ihr nach Deutschland zu fliegen, war schließlich auch keine große Sache. „Na klar, kein Problem“, antwortete er also. In seinem Hinterkopf keimte sogar der Gedanke auf, dass es in der Firma seines Vaters womöglich einen passenden Job für Layla geben könnte. Da sie die Bar alleine geführt hatte, kannte sie sich vielleicht sogar mit Buchhaltung aus und dann war sie dort genau richtig. Er wusste zwar, dass er sich mit diesen Gedankengängen weit aus dem Fenster lehnte, aber eigentlich macht es ihm sogar Spaß. Vielleicht lag es auch daran, dass er hier endlich mal jemanden vor sich hatte, der seine Hilfe annahm, ja sogar darum gebeten hatte. Und Ben war schon immer jemand gewesen, der gerne half. Das war damals auch ein Beweggrund gewesen, überhaupt zur Polizei zu gehen.
    „Gut, danke“, antwortete sie erleichtert. „Dann lass uns jetzt was essen. Und morgen lassen wir das alles hier hinter uns.“

  • Inzwischen hatte sie den Tisch gedeckt und Ben hatte bemerkt, welchen Hunger er hatte. Die beiden verbrachten einen relativ entspannten Abend mit vielen Gesprächsthemen, unter anderem berichtete Ben von seiner Odyssey mit Semir durch die öde Landschaft; auch was bei ihrem Zusammentreffen passiert war, verschwieg er nicht. Es tat gut, endlich mal darüber zu reden. Im Gegenzug erfuhr Ben einiges aus Laylas Vergangenheit und ihrer Zeit in Deutschland, so dass er immer sicherer wurde, was seinen Plan anging. Eins war jedenfalls klar: die Arbeit, die sie hier verrichtet hatte, war weit unter ihrem Level gewesen. Die Bar hatte früher ihrem Vater gehört und nach seinem Tod hatte der Rest der Familie sie unter Druck gesetzt, hierher zurück zu kehren und das alles hier weiter zu führen. Kein Wunder, dass sie jetzt die Chance ergreifen wollte, um wieder nach Deutschland zurück zu kehren. Sie hatte dort noch Freunde, so dass sie auch nicht allein da stehen würde.
    In stillem Einverständnis zog sich Layla schließlich in ihr Schlafzimmer zurück und Ben bezog erneut Position auf der Couch, auf der er es sich vorhin schon gemütlich gemacht hatte. Um eine ruhige Nacht verbringen zu können, hatte er noch eine Tablette genommen. Zuhause musste er so bald wie möglich zum Arzt gehen, bis dahin musste er eben mit einer Hand auskommen. Er hätte gerne noch Susanne angerufen bevor er einschlief, doch er saß hier in einem absoluten Funkloch und die Leitungen, an die das Festnetz angeschlossen war, waren defekt, was hier leider keine Seltenheit war. Er tröstete sich mit dem Gedanken, dass Susanne gut bei Andrea und inzwischen wohl auch bei Semir aufgehoben war.



    „Ähem“, räusperte sich Susanne nach einer Weile, während sich Semir und Andrea immer noch in den Armen lagen. Sie gönnte ihrer Freundin zwar das Wiedersehen mit ihrem Mann, doch so langsam konnte sie ihre Nervosität über die Tatsache, dass Semir alleine hier angekommen war, nicht mehr verbergen. Etwas Schlimmes konnte doch aber nicht passiert sein; dann hätte Semir doch anders auf ihre Anwesenheit reagieren müssen, oder? Andrea sah zu Susanne und stupste ihren Mann kurz an. Der drehte zwar nur seinen Kopf zu ihr, ohne seine Frau loszulassen, doch das reichte ja. „Wo ist Ben?“ fragte Susanne nur.
    „Er ist bei Layla geblieben; du weißt schon, die Frau aus der Bar“, antwortete Semir erst einmal nur. An Susannes Gesichtsausdruck war nur allzu deutlich zu erkennen, dass sie mit einer solchen Antwort nicht gerechnet hatte. Und wenn Semir ehrlich war, wurde diese der Situation auch nicht wirklich gerecht. Er war zuerst zwar ziemlich sauer auf Ben gewesen, aber nachdem das Flugzeug abgehoben hatte, hatte er es auch schon fast wieder bereut, sich ohne seinen Partner auf den Weg nach Ankara gemacht zu haben. Ben hatte in kurzer Zeit viel mitgemacht, warum hatte er ihm diese Pause nicht einfach gegönnt? Aber er hatte eben so schnell wie möglich zu Andrea und Aida zurückkehren wollen. Und zurück nach Deutschland würden sie sicher alle gemeinsam fliegen.
    Doch jetzt klang es ja fast so, als hätte Ben ein Verhältnis mit dieser Frau begonnen. Er konnte nicht wissen, dass Susanne genau dies vermutete und ihren Verdacht nun bestätigt sah. Vielleicht hätte Semir dann andere Worte gewählt, aber an der Situation hätte das auch nichts geändert. Er hatte die Wahrheit gesagt. Ein bisschen hatte er sich schon gewundert, dass Ben bei Layla geblieben war. Eigentlich hatte er doch auch so schnell wie möglich nach Hause gewollt. Und so toll war diese Frau doch auch nicht gewesen, aber vielleicht hatte Semir da ja auch was verpasst. Eigentlich hatte er jetzt nicht die Geduld dafür, sich damit auseinander zu setzten, aber irgendetwas musste er Susanne jetzt noch sagen.

  • Semir ließ Andrea los, ging zu Susanne und dirigierte sie zum Sofa, auf das sie sich dann setzten. Er atmete kurz durch und begann seine Erklärung. „Das ist eine ziemlich lange Geschichte, aber um es kurz zu machen, muss ich leider zugeben, dass wir uns wieder in ein ziemliches Schlamassel geritten haben.“ Von der Schießerei wollte er vor seiner Familie nichts berichten und so sparte er diesen Teil der Geschichte erst einmal aus. „Das alles im Einzelnen zu erklären, würde jetzt zu weit führen, jedenfalls standen wir am Ende allein in der Pampa. Na ja und auf dem Weg zurück in die Stadt sind wir dann an Laylas Haus vorbeigekommen. Sie war auch dort und hat uns vorgeschlagen, bei ihr zu bleiben, aber ich wollte weiter. Ben war allerdings ziemlich k.o. und so hat er ihr Angebot angenommen. Eigentlich hatten wir abgesprochen, uns dann später am Flughafen zu treffen, aber dann ist nur Layla aufgetaucht und hat mir Bescheid gesagt, dass Ben noch etwas bei ihr bleibt.“ Semir machte eine kurze Pause. Er hatte das Gefühl, dass er noch etwas sagen müsste. „Ich denke mal, er wird morgen nachkommen“, war dann aber nur einzige, was ihm noch einfiel.
    Ihm war klar, dass diese Erklärung wahrscheinlich mehr Fragen aufwarf, als sie beantwortete. Er wusste auch nicht genau, warum er verschwieg, wie Ben und er aufeinander getroffen waren und vor allem, welche Folgen das für Ben gehabt hatte. Wenn man nur nach seinen Worten ging, stand Ben im Augenblick nicht gut da, es wunderte ihn, dass Susanne das alles schweigend so hinnahm. Es musste noch irgendetwas anderes passiert sein, von dem er noch nichts wusste. Und auch wenn er daran dachte, was er mit Ben und wahrscheinlich dessen Hand gemacht hatte, regte sich doch so langsam wieder sein schlechtes Gewissen, auch wenn er in der Situation nicht erkannt hatte, dass er seinen Partner vor sich hatte. Doch er zwang sich, diese Gedanken beiseite zu schieben, dafür fehlten ihm im Augenblick einfach die Nerven. Tief in seinem Inneren wusste er genau, dass er sich Ben gegenüber unfair verhielt, aber nach all dem, was er in der letzten Zeit erlebt hatte, wollte er jetzt einfach nur noch seine Familie in Sicherheit wissen und endlich wieder zur Ruhe kommen. Zudem war er sich sicher, dass Ben schon klar kommen würde. Ein Gespräch mit ihm war unumgänglich, das wusste Semir, doch jetzt hatte er andere Dinge zu tun. Immerhin war er Familienvater und hatte hier eine Verantwortung zu tragen, welche er schon viel zu lange vernachlässigt hatte. Und im Augenblick hieß das einfach nur von hier wegzukommen.
    „Wir würden gerne so schnell wie möglich einen Flug zurück nehmen, du willst sicher noch auf Ben warten“, sagte Semir an Susanne gewandt, die bisher geschwiegen hatte. „Nein, ich würde gerne mit euch kommen“, antwortete sie jedoch zu Semirs großer Überraschung. Damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet. Fragend sah er zu seiner Frau, doch die schüttelte nur den Kopf. „Natürlich, ist kein Problem“, antwortete er also und fragte sich erneut, was in dieser kurzen Zeit nur passiert sein konnte.
    Auch Susanne selbst war von ihrer Antwort überrascht gewesen. Noch vor einer Woche hätte sie sich nicht vorstellen können, dass sie einmal so reagieren würde. Aber das Wissen, dass Ben bei dieser Frau geblieben war und Semir allein hatte zurückkehren lassen, hatte ihr sozusagen den Rest gegeben. Sie wollte einfach nur noch weg, auch wenn sie gerne daran geglaubt hätte, dass es für das Ganze eine einfache Erklärung geben müsse. Aber an dieser ganzen Geschichte war nichts einfach! Susanne konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, was in Ben gefahren war, aber seine Taten sprachen eine deutliche Sprache. Vielleicht würde sie besser damit zu Recht kommen, wenn sie in ihrer gewohnten Umgebung war und sich wenigstens diesbezüglich etwas wohler fühlte, denn auch sie wollte nur noch so schnell wie möglich weg von hier. Und Semir hatte Recht. Ben würde schon klar kommen.


    Vielleicht hätte Susanne sich anders entschieden, wenn Semir ihr erzählt hätte, warum genau Ben diese Pause gebraucht hatte und was zwischen ihm und Ben vorgefallen war. Oder wenn sie beide gewusst hätten, das Layla ohne Bens Einverständnis gehandelt hatte. Susanne und auch Semir hatten sich im Nachhinein oft gefragt, ob auch alles so schlimm geworden wäre, wenn sie in dieser Situation auf Ben gewartet hätten und mit ihm zusammen zurückgekehrt wären.

  • So jedoch ging Susanne in ihr Zimmer, um ihre Sachen zu holen. Sie überlegte noch kurz, Ben eine Nachricht zu hinterlassen, entschied sich jedoch dagegen. Er würde ja merken, dass sie nicht mehr da war und sich denken können, dass sie mit Semir und Andrea gegangen war. Sie fragte sich, wie er wohl reagieren würde, wenn er das feststellte, aber er konnte sich ja von Layla trösten lassen, wenn er ein Problem damit hatte. Während sie so nachdachte und die Kleinigkeiten zusammensuchte, liefen ihr die Tränen über das Gesicht. Sie hatten doch heiraten wollen, was war nur passiert? Hatte Ben so große Angst vor einer festen Bindung, dass er jetzt diesen Weg wählte, um ihr das deutlich zu machen? So etwas hatte sie nicht verdient, warum hatte er nicht einfach mit ihr geredet?
    Diese und noch viele andere Gedanken gingen Susanne durch den Kopf, während sie einige Stunden später mit Semir, Andrea und Aida in einem Flugzeug in Richtung Heimat saß. Der Flugpreis war zwar exorbitant hoch gewesen, und Semir hatte sehr geschluckt, als er diesen gehört hatte, aber schnell von hier wegzukommen, war ihm das wert gewesen. Eigentlich wäre er richtiger gewesen, wenn sie auf Ben gewartet hätten, aber Semir hatte einfach zu große Angst gehabt, dass seiner Frau und vor allem seiner Tochter noch etwas hätte passieren können; immerhin hatte Serhat gewusst, in welchem Hotel sie abgestiegen waren und wer wusste schon, wem er das noch gesagt hatte. Und Ben würde schon nichts passieren, er hatte Layla an seiner Seite; die kannte sich hier aus und würde ihn schon an den Gefahren vorbei schleusen. Semir wusste, dass sie ihm wirklich helfen würde, er hatte sie oft in der Bar beobachtet und war sich sicher, dass sie nichts mit diesen Verbrechern zu schaffen hatte.


    Zuhause angekommen bot Andrea Susanne an, erst mal bei ihnen zu bleiben. Semir war damit zwar nicht so ganz glücklich, aber er sah auch ein, dass Susanne jetzt nicht allein bleiben sollte. Andrea hatte ihm alles erzählt, was zwischen Ben und Susanne, und vor allem zwischen Ben und Layla vorgefallen war, auch wenn Semir das nicht so recht glauben konnte. Hätte Ben dann nicht anders reagieren müssen, als sie an Laylas Haus angekommen waren? Er war zwar dort geblieben, aber Semir glaubte inzwischen eher, dass dies an Bens schlechter körperlicher Verfassung gelegen hatte, als an einem Verhältnis mit Layla. Aber da er über sein Zusammentreffen mit Ben nichts erzählt hatte, konnte er nichts dazu sagen. Und schließlich hatte Susanne mit eigenen Augen gesehen, dass Ben und Layla das Bett geteilt hatten. Also schien an der Geschichte doch etwas dran zu sein, obwohl es eigentlich nicht glauben konnte.
    Also blieb Susanne erst einmal bei den Gerkhans. Semirs Urlaub dauerte noch ein paar Tage und er hatte vor, diesen auch noch voll auszukosten. Susanne schien es auch nicht eilig zu haben, wieder im Büro zu erscheinen und so blieb für alle genug Zeit, um sich wenigstens etwas zu erholen. Semir hatte inzwischen auch die offizielle Benachrichtigung erhalten, dass die Anklage gegen ihn fallen gelassen worden war und er seinen Dienst ganz normal wieder aufnehmen konnte. Doch nichts war normal, dann sie hatten immer noch nichts von Ben gehört. Über sein Handy war er nicht zu erreichen und auch er hatte sich nicht gemeldet.


    Nach einem Tag wollte Susanne dann doch wieder nach Hause, auch wenn sie Angst davor hatte. Sie konnte sich selber nicht genau erklären, aber sie ahnte, dass Ben wieder dort sei, irgendwie hatte sie so ein Gefühl und sie konnte ihm ja nicht ewig aus dem Weg gehen. Sie bat Semir und Andrea, sie dorthin zu begleiten. Nachdem sie Aida am Morgen des zweiten Tages im Kindergarten abgeliefert hatten, machten sie sich gemeinsam auf den Weg.
    Vor dem Haus angekommen machte Semir den Motor aus und blickte auf die Rückbank, auf der Susanne Platz genommen hatte. „Es wäre mir lieber, wenn ihr mich begleiten würdet“, sagte sie leise. Wahrscheinlich wäre es besser, wenn sie allein mit Ben reden würde, aber sie fühlte sich im Augenblick nicht in der Lage dazu. Sie hatte in den letzten Tagen immer wieder darüber nachgegrübelt, wie es eigentlich zu all dem gekommen war, aber sie wusste es einfach nicht. Ihr war nur klar, dass sie jetzt mit Ben sprechen musste.
    Inzwischen hatte sie auch bemerkt, dass Semir anscheinend auch noch etwas mit Ben zu klären hatte, da war es vielleicht doch gar nicht so schlecht, wenn sie zusammen zu ihm gingen.

  • Als sie vor der Wohnungstür standen, zögerte Susanne noch einen Moment. Sie überlegte sogar, ob sie klingeln sollte. Nein, das war Blödsinn entschied sie dann, es war inzwischen schließlich genau so ihre Wohnung geworden. Vielleicht war Ben ja doch nicht da. Aber wo sollte er sonst sein? Genau so groß wie ihre Angst vor einem Zusammentreffen war, waren die Sorgen, die sie sich machen würde, wenn er nicht hier wäre. Sie war froh, dass sie nicht allein war.
    Aber ihre Gedanken erwiesen sich als unbegründet, denn nachdem sie die Tür geöffnet hatte, vernahm sie mehrere Stimmen aus Richtung des Wohnzimmers. Eine davon war definitiv von Ben. In Susanne machte sich zum Teil Erleichterung breit, doch kurz darauf kam ihre Wut zurück, die sich noch steigerte. Was fiel ihm ein, einfach hier aufzutauchen und sich nicht bei ihr zu melden? Sie musste sich sehr zusammenreißen, um nicht sofort ins Wohnzimmer zu stürzen. Überrascht stellte sie dann fest, dass anscheinend auch Bens Vater da war, was hatte der hier zu suchen? Die dritte Stimme war eine weibliche, die Susanne zuerst nicht zuordnen konnte und ihr Verstand weigerte sich, die Vermutung, die ihr Bauchgefühl hegte, an die Oberfläche kommen zu lassen. Doch diese Verdrängung funktionierte nur kurz, denn als sie mit Andrea und Semir im Schlepptau den Raum betrat, musste sie sich der Tatsache stellen, dass es sich bei der Frau, die ziemlich dicht neben Ben auf der Couch saß, um Layla handelte. Beide schienen recht gute Laune zu haben, auch Bens Vater sah zufrieden aus. Dieser Anblick war zuviel für Susanne. „Stellst du deinem Vater seine neue Schwiegertochter vor?“ fragte sie, bevor irgendjemand etwas anderes sagen konnte.
    Schlagartig änderte sich die Stimmung im Raum. Bens Vater sah seinen Sohn fragend an und schien gar nicht zu verstehen, was auf einmal hier passierte. Im ersten Moment hatte er sich sehr gefreut, Susanne zu treffen, aber dann hatte er den Ausdruck in ihren Augen gesehen und ihre Frage hatte ihm sehr deutlich vor Augen geführt, dass einiges passiert sein musste, von dem er keine Ahnung hatte. Allerdings hatte er nicht den Eindruck, dass zwischen seinem Sohn und der Frau, die sich für einen Job in seinem Unternehmen vorstellte, mehr als eine Art Freundschaft bestehen sollte. Bis jetzt war er auch dazu geneigt gewesen, diesem Wunsch nachzukommen. Sie schien qualifiziert dafür zu sein, um in seiner Logistikabteilung zu arbeiten. Außerdem hatte Ben ihn noch nie um so etwas gebeten und warum sollte er seinem Sohn diese Bitte abschlagen? Er freute sich vielmehr darüber, dass Ben sich endlich einmal seiner Firma zuwandte. Er würde zwar nie jemanden nur so einstellen, aber wenn Frau Aktan noch schriftlich ihre Qualifizierungen nachreichte, die sie ohne Zweifel zu haben schien, sah er in dieser Geschäftsbeziehung kein Problem. Doch ein solches schien sich gerade im privaten Bereich anzubahnen, vielleicht sollte er doch besser die Finger davon lassen.
    „Was macht ihr denn hier?“ fragte Ben verblüfft, ohne auf Susannes Frage einzugehen. Mit ihr hatte er irgendwann schon gerechnet, aber dass sie direkt Verstärkung mitgebracht hatte, verstand er nicht. Er hatte gehofft, allein mit ihr reden zu können, wenn sie sich wieder beruhigt hatte. Immerhin war sie ohne eine Nachricht zu hinterlassen verschwunden. Das war ehrlich gesagt auch der Grund gewesen, warum er sich für die Funkstille seinerseits entschieden hatte. Sie hatte sich ja auch schon bei ihrer Verabschiedung am Taxi so komisch verhalten. Irgendwie hatte er das Gefühl gehabt, dass er für etwas bestraft werden sollte, das er gar nicht getan hatte und deswegen wollte er diesmal nicht derjenige sein, der hinter ihr her lief.
    Gut, dass Semir und Andrea so schnell wie möglich abreisen würden, war ihm klar gewesen, auch wenn es ihn enttäuscht hatte, dass sie nicht einmal einen Tag auf ihn gewartet hatten. Aber dass Susanne auch weg gewesen war, als er ins Hotel zurückgekehrt war, hatte ihn ziemlich getroffen. Sie hatte ihm nicht mal eine Nachricht hinterlassen, er hatte vom Potier erfahren, dass sie abgereist war. Dieser hatte ihm auch gesagt, dass es allen vieren gut gegangen war, auch hier war kein Grund darin zu finden, dass sie ihn alleine in der Türkei hatten sitzen lassen. Zwar hatte er schon bei ihrem Zusammentreffen mit Andrea gemerkt, dass etwas nicht stimmte, aber er hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Ahnung gehabt, was los sein könnte. Wenigstens dieses Rätsel war jetzt gelöst, auch wenn er nicht verstand, wie sie darauf kam, dass er etwas mit Layla hatte. Susanne war doch sonst nicht so eifersüchtig, warum reagierte sie jetzt so aggressiv? Aber das ließ sich doch bestimmt jetzt klären.

  • Von Susanne kam keine Antwort auf seine Frage und auch die anderen schwiegen. Anscheinend traute sich niemand, jetzt etwas zu sagen, alle schienen darauf zu warten, wie Ben weiter reagieren würde. „Können wir kurz mal in Ruhe reden?“ fragte er in so neutralem Ton wie es ihm möglich war, an Susanne gewandt. „Ich wüsste nicht, was es da noch zu sagen gäbe“, antwortete diese bissiger, als sie eigentlich beabsichtigt hatte, denn eigentlich war sie ja hergekommen, um genau das zu tun.
    „Ich glaube, es ist besser, wenn ich mich erst einmal verabschiede.“ Mit diesen Worten erhob sich Konrad Jäger. „Papa, ich…“, begann Ben, doch Konrad meinte: „Klärt das erst mal unter euch, ich möchte da nicht mit rein gezogen werden. Melde dich bei mir, wenn ihr alles geregelt habt, dabei kann ich euch sowieso nicht helfen.“ Er wandte sich an Layla. „Kommen Sie doch zu mir ins Büro, wenn Sie alle Unterlagen beisammen haben, wir setzen dann einen Vertrag auf.“ Ob er das wirklich tun würde, wusste er zwar noch nicht, aber so war es jetzt die eleganteste Möglichkeit, sich zu verabschieden. Layla nickte nur. Konrad klopfte Ben noch kurz auf die Schulter und verschwand dann Richtung Wohnungstür. ‚Na das ist bis jetzt ja prima gelaufen’ dachte Ben ironisch.
    „Vielleicht kann ich ja weiterhelfen“, kam es nun von Layla. „Ha!“ lachte Susanne kurz auf. „Das glaube ich kaum.“ Ben sah kurz zu Layla und schüttelte den Kopf. Ihm war klar, dass sie nur helfen wollte, doch damit machte sie alles nur noch schlimmer. Und wenn er Susanne so ansah und auch die vorwurfsvollen Blick von Semir und vor allem die von Andrea auf sich spürte, bekam er es langsam mit der Angst zu tun. Vielleicht hätte er doch seinen Stolz hinunterschlucken und sich eher bei Susanne melden sollen. Sie schien warum auch immer fest davon überzeugt zu sein, dass er sie mit Layla betrügen würde. Und die Tatsache, dass diese jetzt bei ihm war und dann auch noch zusammen mit ihm und seinem Vater in der Wohnung saß, bestätigte ihre Vermutung sicherlich noch. Wenn man es nur von außen betrachtete konnte man durchaus auf diesen Gedanken kommen, dass musste Ben sich eingestehen.
    Außerdem schwante ihm noch etwas anderes. Konnte es sein, dass Susanne in der Türkei gesehen hatte, dass Layla bei ihm im Bett gelegen hatte? Sie war an diesem Morgen doch das erste Mal so komisch gewesen. Natürlich! So musste es gewesen sein. Und sie hatte ihn auch noch gefragt, ob irgendetwas gewesen sei und er Idiot hatte nein gesagt. Doch da hatten Andrea und Aida neben ihm gestanden, wie hätte er das, was geschehen war, in wenigen Worten vor allem vor dem Kind erklären sollen. Doch das wäre definitiv der richtige Zeitpunkt gewesen. Innerlich verpasste Ben sich eine Ohrfeige dafür, aber das half ihm jetzt auch nicht weiter. Dann fiel ihm noch ein, dass Layla ihn umarmt hatte, als das Taxi noch in Sichtweite gewesen war. Susanne musste das auch gesehen und die falschen Schlüsse daraus gezogen haben. Aus dieser Sichtweise betrachtet, ergab ihr Verhalten für ihn jetzt auch einen Sinn. Warum war ihm das nicht eher eingefallen? Er musste ihr dringend erklären, dass sie mit ihrem Verdacht völlig falsch lag. Verdammt, warum hatte er sie nicht einfach angerufen?
    „Susanne, du hast da einiges missverstanden, ich würde es dir wirklich gerne erklären, bitte“, versuchte es Ben noch einmal und machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Den Satz, dass alles nicht so war, wie es den Anschein hatte, sparte er sich, denn das klang nun wirklich zu platt, auch wenn es die Wahrheit war. Doch Susanne wich vor ihm zurück. Ben wollte erneut zum Sprechen ansetzen, doch in diesem Moment schellte es an der Tür. „Erwartest du noch eine Freundin?“ fragte Susanne, doch Ben schüttelte den Kopf. Was hatte er da nur angerichtet?

  • „Ich geh’ schon“, beeilte sich Andrea zu sagen. Sie war froh, der Situation kurz entfliehen zu können, doch nachdem sie die Tür geöffnet hatte, wünschte sie sich sogleich wieder, es nicht getan zu haben. Sie hatte nicht gedacht, dass sie diese Gesichter noch einmal wieder sehen würde, sie hatte gehofft, dieses Kapitel hinter sich gelassen zu haben, doch es waren Cemal und Ekim, die Freunde, nein, vielmehr die Komplizen von Serhat, die nicht bei dem missglückten Drogendeal dabei gewesen waren und sie jetzt zurück ins Wohnzimmer drängten, dabei ihre Waffen zogen und diese auch entsicherten.
    Ben und Susanne hatten sich noch nicht von der Stelle gerührt und auch Layla saß noch auf ihrem Platz. Semir hatte sich zu Andrea umgedreht und starrte sie entsetzt an. Cemal stieß Andrea in Semirs Richtung. Sie stolperte und wäre gestürzt, wenn ihr Mann sie nicht aufgefangen hätte. „Verdammt, was wollt ihr von mir?“ fluchte Semir, noch ehe er überlegen konnte, ob er sich so etwas in dieser Situation erlauben konnte. Nahm das denn nie ein Ende? Cemal lächelte ihn kalt an. „Keine Sorge, mir dir sind wir fertig.“ Seine Waffe schwenkte in Laylas Richtung. „Aber sie hat etwas mitgenommen, das uns gehört. Das hätten wir jetzt gerne zurück. Also, wo ist es?“
    Laylas Gesichtsausdruck ließ nicht daraus schließen, dass sie wusste, wovon er sprach, doch zu Überraschung aller Anwesenden antwortete sie: „Ich habe es nicht hier.“ „Dann wirst du es jetzt holen“, befahl Cemal. „Ich und die da werden dich begleiten.“ Seine ausgestreckte Waffe deutet unmissverständlich auf Susanne, die ihn nur schockiert anstarrte. Sie konnte ebenso wenig wie die anderen begreifen, was hier gerade vor sich ging.
    „Auf gar keinen Fall!“ kam es energisch von Ben, der als erster seine Fassung wieder gewonnen hatte. Zu seiner Überraschung funkelte ihn Susanne trotz ihrer Angst wütend an. Ben brauchte einen Moment, bis er begriff, woran sie dachte und langsam begann er, sich auch über ihr Misstrauen zu ärgern. Hatte er ihr denn jemals einen Grund gegeben, an seiner Treue zu zweifeln? Warum vertraute sie ihm nicht mehr? Er hatte doch wirklich nichts getan, dass er es verdient hätte, so behandelt zu werden. Und doch musste er sie jetzt beschützen, auch wenn er sie am liebsten angeschrien hätte. „Susanne, ich will nicht, dass du mit ihr gehst“, sagte er. „Wieso, hast du Angst, sie könnte mir erzählen, was zwischen euch läuft?“ fragte Susanne, die einfach nicht anders konnte, da ihre Gedanken nur noch um dieses Thema kreisten, so dass sie alles andere um sich herum kaum wahrnahm. Ben hingegen war fassungslos. Begriff sie denn gar nicht, in welche Gefahr sie sich brachte?
    Cemal grinste. „Na das klingt ja spannend. Schade, dass wir nicht bleiben können.“ Er warf Layla ein paar Kabelbinder zu. „Für den da und die Frau.“ Er deutete auf Semir und Andrea. „An die Heizung.“ Layla erhob sich und ging zu Semir und Andrea, die ihr widerstandslos folgten. Semir sah im Augenblick keine Möglichkeit einzugreifen, ohne die anderen und vor allem seine Frau zu gefährden. Ihnen würde schon was einfallen, wenn nur einer der beiden hier blieb. Doch auf Bens Mithilfe konnte er auch nicht bauen, der hatte im Moment andere Probleme. Doch die hatte er sich anscheinend selbst eingebrockt, Semir war nur ebenso fassungslos wie seine Frau, dass er jetzt auch wieder in diese Sache mit hineingezogen wurde. Dass Ben diese Schwierigkeiten letztendlich deswegen hatte, weil er ihm hatte helfen wollen, fiel Semir in dieser Situation nicht ein. Er hoffte nur, dass Susanne endlich aufhören würde, sich so aufzuführen. Selbst wenn sie Recht hatte, war ein solches Verhalten einfach nur gefährlich. Im Moment schienen die beiden Eindringlinge Spaß an dieser Konstellation zu haben, aber das konnte sich schnell ändern. Ben musste endlich was unternehmen, sonst würde er sich doch einmischen müssen.

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