Erinnerung stirbt nie

  • Schnelle Schritte. Sie klangen fast panisch. Ben und Semir verlagerten ihre Konzentration von der Tür, neben der sie standen, auf das Foyer, in dem sie sich befanden. Die Schritte kamen immer näher. Gleich konnte die Person um die Ecke gelaufen kommen. Ben nickte Semir zu und richtete seine Waffe nun in die Richtung, aus der die Schritte kamen. Semir verharrte weiter in seiner Position. Je näher die Schritte kamen, desto besser war es möglich, sich ein Bild von der Person zu machen, die sie verursachte. Etwas störte Ben aber an diesen Schritten. Sie klackten schnell und hektisch auf dem Boden. Das konnten nicht die Schritte eines Mannes sein. Die Schuhe hörten sich immer mehr nach Stöckelschuhen an. „Nein, bitte nicht! Jetzt keine unbeteiligte Person!“, dachte Ben. Unsicher schaute er zu Semir. Auch er schien irritiert. Die endgültige Sicherheit hatten sie nicht. Wer weiß, zu welchen Tricks diese Terroristen griffen, um die Polizei zu täuschen und zu überraschen. Ben hatte die Verantwortung für alles, was aus seiner Richtung kam. Er hatte mit seiner Reaktion nicht nur sich selbst, sondern auch Semir zu schützen. Bei ihm lag die Entscheidung, auf die Person zu schießen oder nicht, sobald sie um die Ecke gelaufen kam. Nur im Bruchteil einer Sekunde entschied sich womöglich, wer einen Augenblick später verletzt oder tot auf dem Boden lag. Der Schweiß stand Ben auf der Stirn, doch er wagte es nicht, ihn wegzuwischen. Gleich würde die Person um die Ecke kommen. Die Schritte kamen näher und näher. Semir verließ sich voll auf seinen Partner, trotzdem war der psychische Stress für die beiden kaum auszuhalten. Das anhaltende, nahezu monotone Tack Tack Tack der Schritte machte sie fast wahnsinnig. Bens Finger zitterte auf dem Abzug. Es konnte nur noch wenige Sekunden dauern, dann würde sich zeigen, ob die auf sie zukommende Person Freund oder Feind war. Tack. Gleich. Tack. Jetzt. Tack. Plötzlich war sie da. Ben zuckte zusammen, verlor aber nicht die Kontrolle über seinen Finger am Abzug. Die Frau rannte erschrocken um die Ecke und stand nun vor den Kommissaren. Fassungslos starrte sie in die Mündung von Bens Pistole. Sie schrie auf. Dann überschlugen sich die Ereignisse. Ben konnte gerade noch schreien: „Keine Angst! Polizei!“ Er nahm die Waffe herunter. In diesem Moment ertönten Schüsse von hinter der Tür. Semir fuhr zusammen. Dann schwang die Tür auf. Als Yildrim und Al-Arda aus dem Technik-Raum stürzten und sie plötzlich so nah an den Kommissaren vorbeirannten, kam es ihnen ganz unwirklich vor. Starr vor Schreck verstrich eine wertvolle Sekunde. Die Terroristen registrierten die drei Personen, die ihnen im Weg standen und rissen ihre Pistolen hoch. Reflexartig tat Semir es ihnen gleich. Ben hechtete auf die erschrockene Frau zu, die unabsichtlich in die Szene hineingeschlittert war. Er riss sie zu Boden, gerade als die ersten Schüsse ertönten und die Kugeln knapp über ihnen in die Wand einschlugen und eine Fensterscheibe durchschlugen. Al-Arda zielte erneut – da die nächsten Schüsse. Im letzten Moment hatte Semir eine Salve in Richtung der Terroristen abgefeuert. Al-Arda kippte rückwärts um und schlug dumpf auf dem Boden auf. Er regte sich nicht mehr. Yildrim war nach wie vor in Bewegung, um zu entkommen. Sein Komplize hatte es nicht geschafft. Doch er ließ sich nicht von seinem Plan abbringen. Während er rannte, feuerte er rückwärts auf Semir, der sich jedoch rechtzeitig hinter einen Vorsprung werfen konnte. Vergeblich versuchte er, Yildrim danach noch zu treffen, doch er war schon um die Ecke verschwunden, um die die bis dahin unbeteiligte Frau eine halbe Minute zuvor gekommen war. Auch Ben richtete sich wieder auf und schoss noch auf den flüchtenden Terroristen – ohne Erfolg.
    Dann krachte erneut die Tür auf und Ben riss erschrocken die Waffe herum. Doch es waren nur die SEK-Beamten, die die Terroristen entdeckt hatten. Ben deutete mit einer Mischung aus Erleichterung und Hektik in die Richtung, in die Yildrim verschwunden war. Sofort setzten sich mehrere der Männer in Bewegung und auch Semir rappelte sich auf und folgte ihnen. Ben wandte sich zu der noch geschockt am Boden liegenden Frau: „Alles klar bei Ihnen?“ Sie nickte. Gerade als Ben sich aufmachen wollte, den anderen zu folgen, rief einer der dagebliebenen SEK-Beamten: „Herr Jäger, das sollten Sie sich mal ansehen!“ Er deutete in den Technik-Raum.


    ...

  • „Ach du Scheiße!“ Es war nicht das erste Mal, dass Ben das zu Gesicht bekam, was vor ihm, befestigt an einem Schaltkasten, zum Vorschein kam. Die rote LED-Anzeige sprang ihm direkt ins Auge: 17min 33sek. Und sie zählte rückwärts. „Rufen Sie sofort das Sprengkommando und sorgen Sie für die endgültige Evakuierung des Gebäudes!“, forderte Ben den neben ihm stehenden Beamten auf, der sich daraufhin sofort in Bewegung setzte und nach draußen lief. Ben kniete sich auf den Boden und betrachtete die Apparatur genauer, die nun genau in seiner Augenhöhe war. Er hatte keine große Ahnung von Bomben – nicht einmal von Elektrik. Ihm reichte es, wenn er wusste, wie viel Watt sein Gitarrenverstärker hatte und wo er was einstecken musste, damit er einen guten Sound zu hören bekam. Trotz allem wusste er, dass die Zeit knapp werden würde. Das Bombenkommando war nicht mal eben so einfach herzubekommen, wie eine einfache Streife. Ihm blieb also nichts anderes übrig, als sich dieses Höllengerät zumindest für den Fall der Fälle einmal anzusehen. Von der LED-Anzeige führte ein Kabel weg zu einem schwarzen Kästchen, das wiederum an mehreren weißlichen Stangen hing, die für ihn wie Knetmasse aussahen. Aber er hatte dieses Zeug schon öfters gesehen und wusste, dass es leider mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit keine Knetmasse war. In Blochs Wohnung war es das auch nicht gewesen.
    Er senkte seinen Kopf, um das schwarze Kästchen, das so aussah, als würde es die Funktion des Zünders übernehmen, von allen Seiten betrachten zu können. Es schien der einzige Anhaltspunkt zu sein, mit dem man dem Innenleben dieses Dings näher kommen konnte. Aber leider konnte man ja nicht ins Innere der Hülle sehen. Die Anzeige war nun bei 15min angelangt. Wie weit mochte man wohl mittlerweile mit der Evakuierung des ganzen Gebäudes sein? Und wie ging es Semir?


    Dieser hatte den Musical-Dome vor einer Minute über einen Nebeneingang verlassen, durch den Yildrim geflüchtet war. Die SEK-Beamten unterstützen Semir teils bei der Verfolgung zu Fuß, andere waren zu den Fahrzeugen geeilt. Eigentlich hatte Yildrim keine Chance. Die ganze Gegend war voll von Polizisten, die nur auf ihn warteten. Doch nur zu schnell wurde Semir wieder bewusst, dass Yildrim nicht zögerte, sich den Weg auch frei zu schießen. Ein paar Kollegen konnten sich noch im letzten Moment hinter Mauern oder herumstehende Fahrzeuge werfen, um nicht getroffen zu werden. Semir erwiderte das Feuer, doch im Rennen war es ihm nicht möglich, den Terroristen zu treffen. Dieser war schnell und wendig und würde sofort verschwinden, wenn Semir stehen bleiben würde, um besser zielen zu können. Gerade schlug Yildrim einen Haken und rannte in einen schmalen Weg in Richtung Rheinpromenade, als ihm einige Polizeiwagen entgegen kamen. Die SEK-Männer hinter Semir wurden immer weniger. Sie versuchten sicher, Yildrim den Weg abzuschneiden oder ihn anderweitig zu überraschen. Bisher erfolglos. Er schlug immer wieder andere Richtungen ein und schlängelte sich nun durch eine Baustelle südlich des Musical-Domes. Doch Semir blieb an ihm dran. Gerade begab sich der Flüchtende wieder auf freies Gelände, als auch schon Schüsse aus automatischen Waffen ertönten. Das SEK hatte ihn gesichtet. Geduckt und wild um sich schießend rannte Yildrim auf die Straße direkt vor ein fahrendes Auto, das gerade noch vor ihm zum stehen kam. Sofort riss er die Fahrertür auf und zog den Fahrer, der panisch die Hände hochgerissen hatte, aus dem Wagen auf die Straße. Dann stieg er selbst in den Wagen und trat das Gaspedal durch. Umgehend wurde die Heckscheibe von Kugeln durchschlagen, doch Yildrim selbst wurde nicht getroffen und fuhr weiter. Semir konnte es nicht fassen. Fast wäre er hinter dem Flüchtenden in die Schusslinie gerannt, konnte aber noch rechtzeitig abbremsen. Ohne zu zögern sah er sich nach einem Wagen um, mit dem er die Verfolgung aufnehmen konnte. Er rannte zu einem der herumstehenden Streifenwagen, warf sich hinein und setzte den Untersatz ebenfalls mit quietschenden Reifen in Bewegung. Er griff zum Funkgerät und gab durch: „Cobra 11 an alle Einheiten, Zielperson flieht jetzt in nördlicher Richtung in einem grünen Toyota am Konrad-Adenauer-Ufer. Errichtet Straßensperren!“ Er warf das Funkgerät weg auf den Beifahrersitz. Sein Blick klebte starr an dem vor ihm fahrenden Toyota. Die Straße war sein Revier…


    ...

  • Ben war währenddessen immer noch in die Untersuchung des gefährlichen Geräts vor ihm beschäftigt. Der Schweiß tropfte ihm nach wie vor von der Stirn. Diesmal versuchte er provisorisch, ihn mit seinem Ärmel wegzuwischen – noch hatte er ja dazu Zeit. Nämlich noch genau 9min 56sek. „Verdammt, wo bleibt das Sprengkommando??“, schrie er aus dem Raum, bekam aber keine Antwort. Er fühlte sich allein gelassen. Er wusste nicht so recht, was er tun sollte. Er fühlte sich jetzt verantwortlich für diese Bombe. Solange noch Leute in diesem riesigen Gebäude waren und die Spezialisten noch nicht eingetroffen waren, wollte er diesen Ort nicht verlassen. Doch auf der anderen Seite konnte er nicht viel tun. Seinen aufkommenden Aktionismus unterdrückte er mit sinnlosem Betrachten der Bombe. Was wollte er schon finden? Und selbst wenn er etwas finden würde, er wüsste nicht, wie er es zu seinem Vorteil nutzen sollte. Doch er zwang sich, noch hier zu bleiben. Abhauen konnte er immer noch, wenn die Zeit zu eng wurde. Sollte er einfach das Kabel durchschneiden, das zur Zeitanzeige führte? Nein. Das war auch nur einer der Gedanken, die er dem Gefühl verdankte, irgendetwas tun zu MÜSSEN. „Nein! Wer weiß, was passiert, wenn ich das mache. Noch mache ich hier gar nichts!“, versuchte er sich einzureden und schloss die Augen. Er atmete tief durch, doch es löste seine Anspannung nicht. Er spürte jeden Knochen in seinem Körper. Langsam ließ er sich auf den kalten Boden sacken und lehnte sich nach hinten. Ganz flach und ausgestreckt lag er nun da und starrte an die Decke. Auch sein Hinlegen schien nicht zu helfen, sich zu beruhigen. „Ruhig… Ruhig… Noch habe ich etwas Zeit… Das Bombenkommando kommt gleich… Ansonsten…“ Tja, was wollte er tun, wenn die Zeit nicht ausreichte? Er setzte sich ein Ultimatum. „Wenn die Uhr noch 1min anzeigt, dann hau ich ab. Ohne wenn und aber.“ Noch am Boden liegend wandte seinen Blick zu der etwa einen Meter über ihm befestigten Bombe, im Begriff sich aufzurichten und sich die aktuelle Zeitanzeige anzusehen. Doch da fiel sein Blick auf einen kleinen Knopf auf der Unterseite des schwarzen Kästchens…


    Zur gleichen Zeit bekam Semir über Funk mitgeteilt, dass die Kollegen Straßensperren auf der Strecke errichtet hatten. Yildrim saß in der Falle. Rechts von ihm lag nur der Rhein, und alle nach links abbiegenden Straßen waren gesperrt worden. Diesmal hatte sich das riesige Polizeiaufgebot wirklich gelohnt. Es erfüllte Semir mit einem hämischen Triumpfgefühl, dass er das Ende von Yildrims Weg kannte: In etwa einem Kilometer würde die Flucht zu Ende sein. Und der über die leeren Kölner Straßen rasende Terrorist schien davon noch nichts zu ahnen. Er fuhr auf die Endstation zu…


    Ben richtete sich auf und bückte sich tief nach unten. Nun drehte er seinen Kopf und konnte nun ganz deutlich den kleinen Knopf erkennen, den er niemals entdeckt hätte, wenn er sich nicht auf den Boden gelegt hätte. Doch nun stellte sich eine neue Frage: Wozu war der Knopf da? Schaltete er die Bombe wirklich aus? Oder war es ein Trick und die Bombe zündete am Ende sofort? Verzweifelt wischte Ben sich über sein feuchtes Gesicht. Er war in der Zwickmühle… Hoffentlich kam das Bombenkommando bald und er konnte schleunigst von hier verschwinden. Die Uhr zeigte 6min 12sek.


    Die Rheinpromenade machte eine langgezogene Rechtskurve. Der Straßenverlauf war teilweise durch Bäume entlang des Ufers verdeckt. Mit unverändert starrem Blick verfolgte Semir den gestohlenen Wagen. „So mein Freund…“, knurrte er, als schließlich in der Ferne die blitzenden Blaulichter der Polizeiwagen sichtbar wurden. Die Straße war dicht. Semir ließ sich in seinem ausgeliehenen Streifenwagen ein Stück weiter zurückfallen. Obwohl er wusste, dass ihn niemand hören konnte, schrie er siegessicher nach vorne: „So, wie wär’s jetzt mal mit anhalten???“ Doch noch verminderte Yildrim sein Tempo nicht im Geringsten…


    Noch 4min 06sek. Ben wurde immer unruhiger – falls das überhaupt noch möglich war. Verzweifelt stand er schon im Türrahmen des Technikraums, in dem sich die Bombe befand, und hoffte inständig auf das Auffliegen der Eingangstür und das erlösende „Das Bombenkommando ist da!“
    Immer wieder rannten schweißgebadete Polizisten den Gang entlang, immer wieder mit einzelnen Personen, die aus noch im Gebäude gewesen waren. Das alles machte die Situation noch viel schlimmer. Wenn Ben sicher gewusst hätte, dass das Gebäude jetzt leer war, dann hätte er auch verschwinden können. Aber so ging es nicht nur um die Erhaltung eines der bekanntesten Kölner Gebäude, das so oft zusammen mit dem Dom und der Hohenzollernbrücke auf Bildern zu sehen war, sondern auch um Menschenleben. Nein. Ben musste bleiben – und wenn er das Ding selbst entschärfen müsste. Er schielte zu dem Knopf…


    Die Straßensperre kam immer näher. Was hatte Yildrim vor? Wollte er in die querstehenden Autos rasen? Die Polizisten hatten bereits ihre Waffen gezogen und zielten in der Deckung ihrer Einsatzwagen auf das heran rauschende Fahrzeug. Sie betrachteten sich unsicher. Dann hob einer der Beamten die Hand und sprach in sein Funkgerät den Befehl: „Feuerfreigabe erteilt!“ Über der Szene schwebte nun ein Polizeihubschrauber. Winter beobachtete mit einem Fernglas von dort aus das Geschehen. „Der wird doch nicht…“
    Der erste Schuss fiel.


    ...

  • Die Kugel schlug in der Stoßstange des Toyotas ein. Gleich darauf wurde der Wagen von weiteren Geschossen durchlöchert. Dann rauchten die Reifen. Waren sie getroffen worden? Das wäre das Ende der Flucht gewesen. Nein. Yildrim hatte die Handbremse gezogen. Der Wagen drehte sich. Er schleuderte um 180 Grad und stand nun in der Gegenrichtung still – eingehüllt in eine Rauchschwade. Die Schüsse verstummten einen Moment. Auch Semir hatte angehalten. In etwa 200 Metern Entfernung standen sich sein Wagen und der von Yildrim gegenüber. Die beiden Gegner sahen sich durch ihre Windschutzscheiben an. Semir ahnte, was nun kommen würde. Er zog seine Dienstwaffe aus dem Holster und zog den Schlitten mit einer gekonnten Bewegung am Lenkrad entlang. Dann ließ er den Motor aufheulen. Er war bereit. Yildrim gab Gas. Fast im gleichen Moment trat auch er das Gaspedal durch. Immer schneller rasten die Fahrzeuge frontal aufeinander zu. „Mal sehen, wer die stärkeren Nerven hat…“, dachte Semir – seinen Blick starr auf das immer schneller auf ihn zukommende Auto gerichtet. Auf dieses Duell hatte er gewartet. Winter beobachtete weiterhin fassungslos das Geschehen von oben, einige Beamten waren in ihre Wagen gesprungen und fuhren Yildrim hinterher. Doch er würde nicht mehr zu stoppen sein – nicht bevor die beiden Fahrzeuge sich treffen würden. Es sei denn einer der beiden Fahrer gab nach. Semir war sich dessen bewusst. „Ich weich‘ nicht aus…“, zischte er mit zusammengebissenen Zähnen. Aber auch Yildrim schien nicht nachgeben zu wollen. Sie kamen sich immer näher. Langsam begann es in Semirs Kopf zu arbeiten. Er würde nicht nachgeben – so viel war sicher. Trotzdem wurde es ihm langsam mulmig zu Mute, wie er sah, dass der auf ihn zukommende Wagen immer größer und größer wurde. Er begann, die beiden Geschwindigkeiten der Fahrzeuge zu überschlagen und zusammenzuzählen. Bei einem Aufprall mit dieser Geschwindigkeit half auch kein Airbag mehr. Waren das seine letzten Sekunden? Verkrampft hielt er das Lenkrad fest. Er suchte den Blickkontakt zu Yildrim. Beide starrten sich an. Immer fester gruben sich die Hände ins Lenkrad. Die Knöchel traten schon weiß hervor. Semir unterdrückte einen Schrei, als die Wagen sich fast erreicht hatten. Er schloss die Augen…



    Wie ein Tiger im Käfig schlich Ben nervös durch den kleinen Raum. Wieder schrie er aus der Tür hinaus: „Wo bleibt das Bombenkommando??“ Seine Stimme überschlug sich. „Unterwegs!“, rief ein auf dem Gang vorbeieilender Streifenpolizist. Ben wusste nicht, ob er sich über die Antwort aufregen sollte oder freuen sollte, dass er überhaupt eine Antwort bekommen hatte. Schließlich überwog wieder die Verzweiflung: „Natürlich… natürlich sind die unterwegs!“, flüsterte er vor sich hin. Wieder blickte er auf die Zeitanzeige: Noch 2:59. Langsam wurde es eng. Er lief aus dem Raum hinaus und blickte durch eines der großen Glasfenster. Überall war Polizei vor dem Gebäude, aber nirgends die Männer mit den Helmen und dicken, feuerfesten Schutzanzügen. „Die würden ihnen auch nichts bringen, wenn das Scheißding hochgeht…“, dachte Ben resigniert. Trotzdem: Egal wie – langsam wurde es Zeit zu handeln…


    Fest das Lenkrad umklammert erwartete Semir den Aufprall. Würde überhaupt noch etwas spüren? Er nahm nur das Motorengeräusch um sich wahr. Es wurde lauter und lauter. Gleich würde es vorbei sein. Doch dann quietschten Reifen kurz und etwas schoss an seinem Wagen vorbei. Er riss die Augen auf. Yildrim hatte das Lenkrad herumgerissen und war ihm so ausgewichen. Semir konnte ihn im Rückspiegel sehen und riss dann sofort ebenfalls das Lenkrad herum. Er zog die Handbremse und trat im perfekten Moment das Gaspedal wieder durch. Sein Wagen kam nicht zum Stillstand. Das Heck schleuderte herum und sofort übertrug sich die ganze Kraft des Autos wieder auf die Straße. Wieder qualmte es stark und die bereits knapp hinter Semir fahrenden Polizeiautos verschwanden kurzzeitig in dem weißen Rauch. „Cobra 11 an alle Einheiten! Flüchtiger ist jetzt wieder in der Gegenrichtung unterwegs. Ist alles dicht?“, schrie Semir mehr in das Funkgerät, als dass er es sagte. Er war noch immer voll von Adrenalin. Sofort kam die Antwort: „Ja, alles dicht. Der hat keine Chance.“ Zufrieden beschleunigte Semir weiter und schloss so mit seinem relativ neuen Streifenwagen rasch wieder auf Yildrims Toyota auf. Diesmal mit ordentlich Rückendeckung von hinten raste die Kolonne nun wieder in Richtung Süden auf den Musical-Dome und die große Eisenbahnbrücke über den Rhein zu. So eine Aktion wie eben war somit nicht mehr möglich. Und das wusste Yildrim. In etwa 2 Minuten würden sie wieder dort angekommen sein, wo die Flucht begonnen hatte. Und da alle Seitenstraßen sowieso dicht waren, würde sie spätestens dort auch enden…


    ...

  • Die zwei Minuten, die die Flucht von Yildrim voraussichtlich noch dauern würde, blieben Ben noch, um aus dem Musical-Dome zu verschwinden oder etwas zu unternehmen. „Verdammt, bewegt euren Arsch her!“, dachte Ben, jetzt wieder vor der Bombe kniend. Er zählte die Sekunden mit. Er glaubte nicht mehr so richtig daran, dass es das Bombenkommando noch rechtzeitig herschaffen würde. Sollte er das Schicksal dieser Kölner Attraktion nun einfach so laufen lassen und sich selbst überlassen? „Verdammt, was mache ich hier eigentlich noch?“, schüttelte er seinen Kopf. Doch irgendetwas hielt ihn zurück. War es das Wissen, dass das Gebäude zerstört werden würde, wenn er nichts tat? Oder war es die Unsicherheit, ob wirklich alle Menschen draußen waren? Oder war es am Ende doch die Verlockung des Knopfes, der in ihm immer noch die Hoffnung aufkeimen ließ, dass sich dieses Teufelsding einfach so ausschalten lassen würde? Auf der anderen Seite hatte er noch nie eine Bombe gesehen, die man einfach so per Knopfdruck ausschalten konnte. Aber technisch war es sicher möglich… Und schließlich war der Knopf gut versteckt. Vielleicht hatten die Terroristen damit gerechnet, dass eh niemand mehr die Bombe finden würde, und falls doch, niemand in der Hektik den Knopf finden würde. Noch 1 Minute. Jetzt oder nie. Laufen oder drücken?


    Vor Yildrim tauchte rechts der Musical-Dome auf und frontal vor ihm die Eisenbahnbrücke. Die vielen Blaulichter blendeten bereits jetzt. „Cobra 11 an alle: Wir sind jetzt gleich da. Wir müssten die Hohenzollernbrücke in der nächsten Minute erreichen!“ „Verstanden. Straßensperre ist unter der Brücke errichtet. Der kommt da nicht durch.“ Die Polizei war sich siegessicher. Doch Yildrim raste wie vorher mit unveränderter Geschwindigkeit weiter. Er musste doch merken, dass er kleine Chance mehr hatte! Doch das Unbehagen stieg wieder in Semir an. Er schaltete einen Gang zurück und trat das Gaspedal durch. Sein Wagen beschleunigte. Er verließ den Windschatten von Yildrims Toyota und versuchte neben ihn zu fahren. Was hatte der Terrorrist diesmal vor?


    Ben hatte seinen Finger auf den Knopf gelegt. Er konnte nicht einfach abhauen. Er musste etwas tun. Er atmete tief durch. Die Uhr zeigte noch 45sek. Jetzt war es sowieso egal. Er schloss die Augen und drückte den Knopf. „HALT!!“, schrie plötzlich eine Stimme hinter ihm. Er fuhr zusammen und hielt den Knopf gedrückt. „NICHT LOSLASSEN!“, schrie die hinter Ben aufgetauchte ältere Männerstimme. Ben drehte sich um, seinen Finger fest auf den Knopf gepresst. Der Mann trug die bekannte Schutzkleidung und einen schweren Helm. Hinter ihm ein weiterer Mann in der selben Montur. Das Bombenkommando. „Das könnte eine Sprengfalle sein! Lassen Sie sehen.“, fuhr der Mann etwas ruhiger fort. In Ben stieg erneut eine Mischung aus Wut und Verzweiflung hoch: „Ähm, hätten Sie nicht noch ein bisschen später kommen können?“, fragte er sarkastisch. Der Mann antwortete nicht. Er war bereits darin vertieft, den Deckel des schwarzen Kästchens mit einem elektrischen Schraubenzieher zu öffnen. Hatte der Mann Nerven… Noch 26 Sekunden. Mit einer Seelenruhe aber trotzdem rasend schnell öffneten die Männer das Kästchen und sahen sich das Innenleben der Bombe an. Ben wendete sich ab. Diesen Job würde er niemals machen können… Wie konnte man in dieser Situation nur so ruhig bleiben? Er hielt immer noch mit seinem Zeigefinger den Knopf an der Unterseite des Kästchens gedrückt, während die Männer sich von oben an die Arbeit machten. Noch 20 Sekunden. Sein Arm schmerzte bereits. „Kann ich den Knopf loslassen oder was?“, fragte er verkrampft. „Bloß nicht.“, sagte der ältere Mann ruhig aber bestimmt. Er war voll in die Arbeit vertieft, während er sprach: „Dieser Knopf führt zu einem kollabierenden Stromkreis und die Bombe zündet. Klassischer Köder...“ Er schaute kurz zu Ben und wandte sich dann knapp an seinen Kollegen: „Spannungsmesser.“ Ben verließ seine Stimme. „Aha. Schaffen Sie es? Ich will Sie ja nicht beunruhigen, aber wir haben noch genau 11 Sekunden.“ Der Mann antwortete nicht. Er hatte den Spannungsmesser an ein Kabel im Inneren der Bombe gehängt. „Wird knapp.“, sagte er ernst…


    Yildrim raste weiter mit atemberaubender Geschwindigkeit auf die Straßensperre unter der Eisenbahnbrücke zu. In wenigen Sekunden würde er sie erreicht haben. Er musste bremsen. Semir war nun fast auf gleicher Höhe. Für ihn wurde es auch langsam Zeit. Er sah hinüber in das Fenster. Was er sah, war das Schlimmste, was er befürchtet hatte. Yildrim saß mit geschlossenen Augen im Wagen. Er hatte die Hände vom Lenkrad genommen und weit ausgebreitet. Er wollte sein Leben beenden. „NEIN!“, schrie Semir. Er tippte die Bremse an. Sein Wagen fiel sofort zurück. Dann riss er das Lenkrad herum. Mit einem Krach traf er mit seiner rechten vorderen Seite das Heck des gestohlenen Toyotas. Augenblicklich brach der Wagen aus und begann zu schleudern. Selbst wenn Yildrim gewollt hätte – er hätte keine Chance mehr, die Kontrolle über das Auto zu behalten. Es war zu spät. Mit einer enormen Geschwindigkeit drehte sich das Auto nach vorne. Semir machte eine Vollbremsung und rutschte ebenfalls noch geradeaus weiter. „Ach du…“ Weiter kam Semir nicht. Der Toyota war vor seinen Augen in ein Bushaltestellenhäuschen gekracht und war abgehoben. Bei diesem Tempo war die Haltestelle sofort zerstört. Immer weiter flog der Toyota nach vorne und schraubte sich immer höher in der Luft. Semir blickte ihm aus dem Streifenwagen nach. Polizisten an der Straßensperre rannten um ihr Leben, Autoteile und Scherben flogen durch die Luft und ergossen sich über die unter der Brücke stehenden Polizeiwagen. „Oh Scheiße!“ Semir kniff die Augen zusammen, als er fassungslos seine Tür aufriss, ausstieg und in die Sonne sah. Das Auto flog genau auf die Hohenzollernbrücke. Und dort kam gerade ein Zug…


    9 Sekunden. „Was machen sie denn da?“, schrie Ben verzweifelt, noch immer mit seinem Finger auf dem tödlichen Knopf. Er bekam keine Antwort. Der Mann blickte nur auf die Anzeige des Spannungsmessers. Noch 5 Sekunden. „Alles klar.“, sagte er dann schnell und griff in seine Tasche. Nun wurden auch seine Bewegungen hektisch. Sollte das Ben eher beruhigen oder noch mehr verängstigen? Er wandte sich ab. Er wollte die Zeit nicht mehr sehen, die nun bei 5sek angekommen war. Er konzentrierte sich nur auf seine Hand, die er schmerzend und verkrampft auf den Knopf presste. Gleich würde es vorbei sein. Er würde nichts spüren. Etwas klackte…


    ...

  • Stille. Ben hatte sein Gesicht in seinem Ellenbogen vergraben und hörte nur sein tiefes, erschöpftes Atmen. So saß er ein paar Sekunden, bis er eine Bewegung des Körpers neben sich wahrnahm. Langsam blickte er auf. „Sie können den Knopf jetzt loslassen“, schnaufte der alte Mann erschöpft aus. Er hatte seinen Helm abgenommen und sich auf den kalten Boden gesetzt. Er lehnte an der Wand. Ben ließ seinen Arm fallen. Was für eine Erleichterung. Ein Blick auf die Bombe gab Gewissheit: Sie war aus. Der Spezialist hatte in letzter Sekunde das richtige Kabel im Inneren der Bombe durchtrennt. Das Klacken, das Ben hörte, war die Zange gewesen, die der Bombe das Ende bereitet hatte.
    Die ganze Anspannung in Bens Körper löste sich. Er wischte sich nochmals den Schweiß aus dem Gesicht. Er betrachtete den alten Sprengstoffspezialisten eine Weile, der sich während der ganzen Aktion keine Anspannung hatte anmerken lassen und nun neben seinem Assistenten am Boden saß. Die wievielte Bombe mochte das wohl für ihn gewesen sein? Das Alter des Mannes ließ auf eine Menge Erfahrung schließen. Die weißen Haare klebten an seiner Stirn. Der Mann musste Nerven wie Drahtseile haben, wenn er diese Arbeit so lange gemacht hatte. Bald würde er in Rente sein und auf ein aufregendes Leben zurückblicken.
    Bens Gedanken verflogen. Am liebsten würde er so noch ewig sitzen bleiben. Aber was war mit Semir?


    Der Toyota senkte sich immer weiter. Dann schlug er auf. Wie befürchtet war er genau auf den Gleisen gelandet, auf denen nun der Zug heran rauschte. Der riesige Krach des Aufpralls vermischte sich beinahe übergangslos mit dem noch größeren und extremeren Knall des Zusammenstoßes zwischen dem Autowrack und dem Zug. Es waren gewaltige Kräfte, die hier wirkten. Überall flogen Metallteile durch die Gegend, während der bremsende Zug den völlig zerstörten Wagen vor sich her schob. Als er endlich zu stehen kam, war von dem Auto nicht mehr viel übrig. Langsam verstummte das Geräusch von sich verformendem Metall und splitterndem Glas. Semir wandte sich ab. Er konnte nichts mehr tun. Er stand hier unten und die Brücke war mehrere Meter über ihm. Polizisten liefen durch die Gegend und beorderten Feuerwehr und Krankenwagen, während er langsam die Straße hinunter trottete. Über ihm ratterte der Hubschrauber.



    Zwei Stunden später standen die beiden Kommissare gemeinsam beim Essen an einer Pommes-Bude am Rhein-Ufer. Über ihnen ging langsam die Sonne unter, die die Umrisse des hell erleuchteten Kölner Doms, der großen Eisenbahnbrücke und des blau leuchtenden Musical-Domes in ein tiefes Rot tauchte.
    Sie genossen die Aussicht auf den Rhein, in dem sich die vielen Lichter der Stadt spiegelten. Die kühle Luft und der leichte Wind mischten sich mit dem Duft von Pommes-rot-weiß. Herrlich. Schweigend genossen die beiden Freunde die Ruhe und erholten sich von diesem anstrengenden Tag. Als Semirs Handy klingelte und er sich glücklich bei Andrea meldete, schob sich Ben gerade genüsslich noch ein paar Pommes von Semirs Pappteller in den Mund. Doch er ließ es geschehen und wandte sich mit den Worten ab: „Echt, wir sind im Fernsehen? Cool, ich schau’s mir dann auf YouTube an… Ja, gib sie mir mal… Hallo mein Schatz, hallo hallo. Na, geht die kleine Lilly jetzt ins Bettchen? Jaaa, der Papa kommt bald.“ Ben schüttelte lächelnd den Kopf, sah kurz zu dem nun in einigen Metern Entfernung stehenden Semir hinüber und leerte sich dann auch den Rest seines Tellers in den Mund. Als sein Partner wenige Minuten später zurückkam, seufzte der nur und ging weiter in Richtung seines Wagens, den er am Straßenrand geparkt hatte.
    „Hat die Chefin nix gesagt, als sie dir deinen zweiten BMW diese Woche übergeben hat?“, rief Ben, während er ihm nachlief und auf der Beifahrerseite einstieg. „Nö, sie war heut ganz nett. Hab ich mir ja auch verdient…“, stichelte Semir zurück. Nach einer kurzen Pause stellte Semir erneut fest: „Mann, ist das ein tolles Auto.“ Er lehnte sich genüsslich in die Ledersitze zurück und grinste über beide Ohren, während er das Lenkrad streichelte. „Na dann pass mal drauf auf und lass ihn dir nicht gleich wieder von irgendwelchen Terroristen zerlegen!“, lachte Ben. Semir grinste zurück: „Ne ne, von denen hab ich jetzt erst mal genug. Er ließ den Motor an. „Na, was machst du heut noch?“, fragte Ben. „Och, ich glaub ich schau noch bei Hotte, Tom und den anderen vorbei. Mach ich jetzt wieder öfters.“ Er lächelte: „Kommst du mit?“


    Semir gab Gas und der BMW fuhr dahin. Das Motorengeräusch war noch lange zu hören, auch als der Wagen mit den zufriedenen Kommissaren bereits im Sonnenuntergang verschwunden war.



    ENDE

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