Erinnerung stirbt nie

  • So, nachdem ich hier einige eurer Geschichten gelesen habe und davon echt begeistert war, habe ich irgendwie Lust bekommen, sowas selbst auch mal zu versuchen. Ist meine erste Story, also mal sehen, ob sie was wird. :) Viel Spaß!
    *************************************************************************************************************************************************************************************************************************


    Erinnerung stirbt nie


    Ein leicht bewölkter Himmel lag über der Dienststelle der Autobahnpolizei. Zwei Polizisten betraten lächelnd das Gebäude während am Fenster ein großer, ebenfalls lächelnder Streifenpolizist nach draußen auf den Parkplatz blickte. Belustigt schüttelte Dieter Bonrath den Kopf und zog schließlich sich abwendend die Lamellen der Schalosie zu. Dumpf schallte Rockmusik aus dem Inneren eines der Dienstwagen auf dem Parkplatz, auf den er gerade hinausgeschaut hatte. Semir und Ben saßen aufgeregt wie kleine Kinder in dem nagelneuen 3er BMW, den Semir heute das erste Mal seinen Dienstwagen nennen durfte. „Schau dir das mal an!“, rief er begeistert, während er an der Mittelkonsole hantierte. „Das ist der Fahrerlebnisschalter! Wenn man da auf ‚Sport‘ schaltet, gehen die 306 PS auf die Straße wie nix!“ „Ne ne, Semir, der bleibt schön auf ‚Eco Pro‘ eingestellt! Ich sag nur eins: Spritsparen!“ „Ach was! Wenn das Land uns jetzt schon nen 335i spendiert, kümmern die sich doch nicht um den Sprit…“ „Stimmt!“, erwiderte Ben: „Sie sollen mal froh sein, wenn du ihn nicht gleich wieder schrottest, wie den letzten.“ „Bla bla bla“, maulte Semir zurück - immernoch vertieft in die Bedienung des BMWs. „Also ich bleib da mal bei meinem E-Klasse Coupé.“, stichelte Ben weiter, während er sich genüsslich einen belegten Semmel auspackte und hinein biss. Aufgeschreckt von dem Geräusch schrie Semir völlig entgeistert: „HEY!! Untersteh dich, auf die Sitze von meinem neuen Wagen zu krümeln!“ „Mann, du wirst zu so einem Spießer wenn‘s um deine Karre geht, ey!“ Plötzlich unterbrach ein Funkspruch den kleinen Streit: „Zentrale an alle Einheiten. Schlangenlinien fahrender PKW auf der A57 Richtung Köln gemeldet. Jetzt etwa Höhe Ausfahrt Chorweiler.“ „Na dann fahren wir ihn mal ein!“, kündigte Semir grinsend an, doch noch bevor die beiden Hauptkommissare losfahren konnten, sahen sie die Chefin aus der Dienststelle rennen. „Meine Herren! Jenny und Dieter übernehmen das! Sie kommen bitte in mein Büro, ich hab da was Wichtigeres für sie.“ Zuerst leicht enttäuscht, dann aber eher neugierig folgten die beiden ihrer Chefin in ihr Büro. Den in bester Laune vorbeirennenden Jenny und Dieter schenkten sie nur ein müdes Lächeln.


    „Meine Herren, ich versuche es kurz zu machen. Wir haben ein Amtshilfegesuch vom BKA erhalten. Anscheinend soll ein mutmaßlicher Terrorist von einer Spezialeinheit auf seinem Weg von Köln in Richtung holländische Grenze überwacht werden. Das BKA hat aus abgehörten Telefonaten die Information erhalten, dass möglicher Weise ein Treffen mit weiteren Leuten aus Terrorismusszene auf dem Weg dorthin stattfinden könnte. Liefert dieses Treffen Beweise, die die Männer sicher als Terroristen identifizieren, sollen sie alle hochgenommen werden. Allerdings will das BKA zuvor mehr Informationen über mögliche Ziele dieser Typen bekommen – vielleicht sogar Anschläge in Deutschland.
    Ihre Aufgabe dabei wird sein, lediglich als Unterstützung die Umgebung abzusichern, damit es keine Zwischenfälle bei der Aktion gibt. Das BKA will dazu gute Leute, die sich in unserem Abschnitt auskennen.“ Semir kratzte sich dienstbeflissen am Kinn und nickt Ben zu: „Jo, gut. Scheint für uns nix größeres zu werden. Routineaktion wie schön öfters, oder?“ Während Kim Krüger dies mit einem seltsamen Blick bestätigte, der in etwa „Das möchte ich hoffen!“ hätte bedeuten können, schaute Ben eher etwas skeptisch drein: „Na dann hoffen wir mal, dass alles gut geht. Wir wissen ja nur zu gut, was bei dieser Art von Aktionen alles schief gehen kann.“ Doch Semir boxte ihn sofort in die Schulter: „Hey, so kenn ich dich ja gar nicht. Wir halten uns einfach so gut es geht aus der Sache raus. Keine Alleingänge - wie immer. Na? Bei meiner Erfahrung kann da fast nix schief gehen.“ Semir lachte auf und entlockte so auch Ben ein Lächeln, der daraufhin seine skeptischen Gedanken zu verwerfen schien: „Wann geht’s los, Chefin?“ „In einer Stunde. Sie treffen sich draußen auf dem Parkplatz mit dem leitenden Beamten.“, erwiderte sie kurz und fügte hinzu, als sie den entgeisterten und überraschten Blick ihrer besten Männer sah: „Sie wissen doch, wie das bei solchen Aktionen läuft: Strengste Geheimhaltung bis zum Schluss.“ Ben stöhnte sarkastisch: „Jaja, da muss man schon die Drecksarbeit machen, und dann kriegt man noch nicht mal rechtzeitig Bescheid.“ Die beiden Helden erhoben sich von den Stühlen vor dem Schreibtisch der Chefin und verließen das Büro. Bereits auf dem Korridor hörten sie die Chefin ihnen noch hinterher rufen: „Und passen sie ja auf den neuen Wagen auf!“ Sie konnte den bereits aus dem Sichtfeld verschwundenen Ben nur noch rufen hören: „Ich bitte Sie! Hat Semir schon jemals einen Dienstwagen geschrottet?“ Von dem freundschaftlichen Schlag in den Bauch, den er von Semir daraufhin sofort kassierte, verstummte er sofort und machte sich mit seinem Partner wieder auf den Weg nach draußen.


    Zwei Stunden später hatten die beiden Hauptkommissare den Leiter der Aktion, Kriminalrat Winter kennengelernt und mit ihm sämtliche Vorbereitungen für die bevorstehende Observation getroffen. Entgegen ihrer Befürchtung, schien der BKA-Mann keinen arroganten Eindruck zu machen. Das ließ auf eine gute Zusammenarbeit hoffen, bei der man sich nicht wie der letzte Dorfbulle vorkam, der bei dem Einsatz die ganzen Arbeiten zu erledigen hatte, die auch jeder Polizeischüler ohne Probleme hinbekommen hätte. So saßen die beiden Autobahnpolizisten mit ihren Sonnenbrillen also doch recht stolz in ihrem nagelneuen Dienstwagen und beobachteten den Eingang des Wohnhauses, von dem aus in den nächsten Minuten die Fahrt des Terror-Verdächtigen losgehen sollte. Ringsum das Haus waren in Zivil gekleidete Beamte unterwegs. Nicht einmal Semir und Ben konnten erkennen, wer alles ein in den Einsatz involvierter Beamter und wer nur eine unbeteiligte Zivilperson war. Im selben Moment, als Semir dem auf dem Beifahrersitz sitzenden Ben einen verächtlichen Blick zuwarf, als dieser sich ein Sandwich in den Mund schob, trat ein Mann aus dem Wohnhaus. Fast im selben Augenblick ertönte aus dem Funkgerät die Meldung: „Einsatzleitung an alle: Zielperson 1 verlässt Gebäude. Bereit machen zum Folgen. Wagen 1 übernimmt wie besprochen die direkte Position hinter dem Zielfahrzeug, in das der Mann steigt. An der dritten Kreuzung wird gewechselt.“ Wie angekündigt stieg die eigentlich sehr unauffällig scheinende Zielperson, ein junger Mann mit roter Baseballkappe, kurz darauf in einen dunklen Audi. Mit einem gelassenen „Alles klar…“, startete Semir den Motor seines Dienstwagens und begann in einigem Abstand die Verfolgung des Verdächtigen. Die Fahrt verlief ohne besondere Vorkommnisse, der Einsatzleiter ordnete immer wieder Positionswechsel der Verfolgerfahrzeuge an, um sicher zu gehen, dass die Polizisten nicht auffliegen konnten. Auf der Autobahn angekommen klingelte Semirs Handy. „Hallo mein Schatz. Ne, im Moment ist es etwas schlecht, wir haben da mal wieder so ne größere Sache am Laufen. … Ne ne, nix Schlimmes. Ist so ne BKA-Aktion … Ja klar pass ich auf mich auf … Wie immer … Wird schon schief gehen … Ja, ich muss jetzt Schluss machen … Ja, bis heut Abend! … Ja, ich dich auch. Bis dann! Ciao, ciao … Ja, ciao!“ Im selben Moment als er aufgelegt hatte, wusste er, dass Ben neben ihm schon wieder zu grinsen begann, weil er wieder dreimal ‚ciao‘ gesagt hatte. In letzter Zeit machte er das dauernd. Aber Semir konnte sich das nach all den Jahren nicht mehr abgewöhnen und sah auch nicht ein, warum er es tun sollte. Sollte sich sein Partner doch darüber lustig machen.
    Der aufleuchtende Blinker des Audis vor ihm riss ihn aus seinen Gedanken. Der Wagen der Zielperson bog auf den Autohof Eifeltor ab. Sofort machte sich in Semir ein etwas unwohles Gefühl breit. An diesen Rasthof hatte bereits so einiges erlebt, was allerdings schon Jahre zurücklag. Sofort zwang er sich, die aufkommenden Gedanken zu verwerfen und sofort gewann seine Professionalität wieder Oberhand. Im Laufe der Jahre hatte er es geschafft, die vielen Erlebnisse die man als Polizist tagtäglich hat, in eine Schublade zu stecken und diese so gut es ging verschlossen zu halten. Nur ab und zu blitzten an Orten wie diesem Erinnerungen auf, mit denen er sich zumindest im Dienst nicht aufhalten durfte.


    Fortsetzung folgt... :)

  • Der Wagen des Verdächtigen hielt auf einem Parkplatz in der Nähe der Tankstelle an. Die beiden Hauptkommissare wussten, dass nun kritische Momente bevorstanden. Das Verlassen der Autobahn von mehreren Autos nacheinander war etwas auffälliger, als der normale Verkehrsfluss. Doch es war unvermeidbar. Wenigstens ein paar der Überwachungsfahrzeuge mussten der Zielperson in so großem Abstand wie möglich auf den Autohof folgen, der Rest konnte sich in der Nähe in Bereitschaft halten. Umgehend gab Einsatzleiter Winter entsprechende Anweisungen über Funk. In sicherem Abstand hielten auch Semir und Ben ihren Wagen an und beobachteten den weiteren Verlauf der Geschehnisse. Die Zielperson stieg aus, blieb aber an ihrem Auto stehen und sah sich um. Über Funk hörten Semir und Ben, dass einige Beamten aus ihren Wagen aussteigen sollten, um in der Nähe der Zielperson Stellung zu beziehen und eventuelle Gespräche mithören zu können. Die Möglichkeit, mithilfe eines modernen Gerätes zu arbeiten, das Gespräche über eine größere Entfernung hinweg für die Beamten hörbar machen sollte, war nicht möglich. Das laute Treiben auf dem Rastplatz hätte zu viele Geräusche vermischt. Im selben Moment hielt ein schwarzer Geländewagen neben dem geparkten Audi. Zwei südländisch aussehende Männer stiegen aus, sahen sich um und gingen zu der Zielperson hinüber, die immer noch ihre Baseballkappe auf hatte. Entspannt schienen die Personen nicht gerade zu sein. Ben und Semir wurden unruhig. Das war also das geplante Treffen. Jetzt wurde es kritisch. Die Beamten mussten nah genug an die Personen heran kommen, um ein Gespräch mithören zu können, aber gleichzeitig weit genug weg bleiben, um nicht erkannt zu werden.


    Zwei Ermittler näherten sich den Zielpersonen, die bereits angefangen hatten, miteinander zu sprechen. Der Adrenalinspiegel aller Beteiligten stieg an. Die Beamten konnten offenbar noch nichts verstehen, denn sie gingen immer weiter in Richtung der Zielpersonen. Sie vertrauten offensichtlich ihrer Tarnung, da sie wussten, wie wichtig es war, Beweise gegen die Männer zu sammeln. Ben und Semir sahen sich besorgt an. Und auch der Einsatzleiter schien beunruhigt, denn als die Beamten nur noch etwa 10 Meter entfernt waren, zischte er in das Funkgerät: „Was soll das? Bleibt weiter zurück, sonst entdecken sie euch! Dann bringt es auch nichts mehr, dass ihr etwas hören könnt!“ Semir und Ben, die die ganze Szene weiterhin beobachteten, rutschte das Herz bereits in die Hose, als sie sahen, wie einer der Beamten seine Hand zum Ohr bewegte, um den Knopf an seinem Ohrstöpsel zu drücken, der ihm das Antworten auf den Befehl des Einsatzleiters ermöglichen sollte. Da half selbst die beste und unauffälligste Tarnung nichts. Ben, den man im Wagen natürlich nicht hören konnte, knurrte verzweifelt: „Nimm die Hand vom Ohr!“. Auch Semir schaute geschockt zu, wie der Beamte mit der Hand am Ohr, ein kurzes, aber verräterisches „Verstanden“ in das Mikrofon hauchte. Sofort erstarrte einer der Zielpersonen und griff in seine Jackentasche. Reflexartig öffnete Semir die Tür seines Wagens, zog seine Waffe und schrie hinaus: „DECKUNG!!! Polizei, Waffen weg!!!“ Er wusste bereits, dass es ohnehin zu spät war, die Situation zu retten. Auch Einsatzleiter Winter hatte schnell reagiert und in das Funkgerät gebrüllt: „Scheiße! ZUGRIFF!!!“. Für die beiden Beamten, die zu nah an die Zielpersonen heran getreten waren, kam jedoch jede Reaktion zu spät. Sie konnten gerade noch ihre Dienstwaffen ziehen, als sie schon von Kugeln aus der Pistole des Mannes, der sie entdeckt hatte, getroffen wurden. Noch während sie zu Boden sackten, brach auf dem Parkplatz Panik aus. Menschen rannen hysterisch schreiend durch die Gegend, was das erwidern des Feuers unmöglich machte. Bens Rufe „ALLE RUNTER!!! RUNTER!!!“ wurden von dem Geschrei verschluckt. Auch das nun sichtbar gewordene SEK war machtlos. Sie konnten nicht schießen, ohne Unbeteiligte zu gefährden. Diese Chance nutzen die drei Terroristen gnadenlos aus: Sie rannten durch die Menge und schnappten sich zwei Frauen, die es nicht geschafft hatten, sich schnell genug eine Deckung zu suchen. Sofort benutzen sie die beiden als lebende Schutzschilder, während sie ihnen ihre Pistolen an die Schläfe hielten und sie mit sich in das Tankstellengebäude zerrten, das sie mittlerweile erreicht hatten. Während die beiden südländisch wirkenden Männer sehr brutal vorgingen und sich die Geiseln geschnappt hatten, wirkte der junge Mann mit der Baseballkappe etwas überrumpelt und versteckte sich hinter den beiden anderen, bis sie im Inneren der Tankstelle waren. Als die Tür zuschlug wussten alle Beteiligten, dass der Einsatz gründlich schief gelaufen war und sie jetzt erst die wirkliche Herausforderung vor sich hatten: Eine Geiselnahme.


    ...

  • „Das kann doch wohl nicht wahr sein! Die laufen da hin wie Anfänger und versauen monatelange, harte Arbeit!“ Der Zorn des Einsatzleiters schlug immer mehr in Verzweiflung um. Semir versuchte, Winter zu beruhigen, während Ben und er sich die schwarzen, kugelsicheren Westen mit der gelben Aufschrift „Polizei“ anzogen. Sie standen immer noch auf dem mittlerweile abgesperrten Autohof, auf dem die Spannung zu spüren war. SEK-Beamte bezogen Stellung vor der Tankstelle, Bestatter transportierten unter Deckung von weiteren Beamten bereits die Leichen der beiden erschossenen Beamten weg, die für ihren Fehler mit dem Leben bezahlt hatten. Ben blickte zum Himmel. Am Morgen noch leicht bewölkt, zog der Himmel nun immer mehr zu. In der Ferne war bereits leise ein Donnergrollen zu hören.


    Die Luft war schwül - typisch für ein aufkommendes Sommergewitter. Während Semir nun mit Andrea telefonierte um ihr zu sagen, dass es heute wahrscheinlich mal wieder später werden würde, beobachtete Ben skeptisch Winter, der immer noch wild gestikulierend mit einem SEK-Mann sprach. Ben ahnte, was bald kommen würde. Wenn der ebenfalls schon eingetroffene Verhandlungsspezialist nicht bald Kontakt mit den Geiselnehmern aufnehmen konnte, würde Winter den Zugriff befehlen. Alles streng nach Vorschrift. Die Aufklärer hatten herausgefunden, dass die Terroristen höchstwahrscheinlich 4 oder 5 Geiseln in ihrer Gewalt hatten; darunter die beiden Frauen, der Tankstellenbesitzer und ein Unbeteiligter, dessen Golf nun verlassen an der Zapfsäule stand. Ben hatte so ein Gefühl gehabt, dass dieser Tag Probleme mit sich bringen würde und lehnte sich gerade wieder seufzend an den neuen Dienstwagen, als Semir mit gestresstem Blick zu ihm zurückkam. „Alles klar bei dir, Partner?“, fragte Ben. Semir zuckte mit leicht gesenktem Blick die Achseln: „Naja, Andrea ist nicht begeistert, aber was soll man machen. Sollte eigentlich heute die alten Reifen aus der Garage räumen… Muss jetzt halt warten.“ Ben nickte. Ihm war nicht zum Scherzen zu Mute. Er war eher genervt von der ganzen Situation: „Warum müssen wir hier überhaupt noch bleiben? Die wissen und wir wissen, dass das nicht unser Spielplatz ist.“ „Ist doch durchaus üblich, dass auch Beamte aus dem entsprechenden Bezirk bei solchen Sachen vor Ort sind. Außerdem waren wir bei dem Einsatz seit heut Morgen dabei. Die Geiseln können wir jetzt nicht allein lassen. Schließlich sind so vor unseren Augen in die Sache mit reingezogen worden.“, erwiderte Semir. Nach kurzem Zögern fuhr er fort: „Die eine Frau… Sie hat mir noch genau in die Augen gesehen, als sie von den Typen in die Tankstelle gezerrt wurde.“ Er machte eine kurze Pause, bevor er weitersprach: „Ich habe schon mal in die von Todesangst geschockten Augen einer Frau sehen müssen… Eine Sekunde später ist ihr Wagen hochgegangen… Sie war noch drin… Ich… war zu langsam.“ Ben war betroffen: „Warst du allein im Einsatz?“ „Ja“, antwortete Semir: „Mein damaliger Partner, Jan Richter, hat die Autobahnpolizei damals nach einem Undercover-Einsatz verlassen. Hat sich zurück ins ruhigere Diebstahldezernat versetzen lassen. Am selben Tag, als die Frau durch die Bombe in ihrem Wagen umkam, habe ich meinen alten Partner wieder aufgesucht. Er ist dann zurück zur Autobahnpolizei gekommen.“ „Und was macht der jetzt?“, fragte Ben. Er hatte das Gefühl, dass es Semir gut tun könnte, einmal über alles zu sprechen. Er merkte, wie wenig er noch über die Vergangenheit seines Partners wusste. Semir stockte. „Er ist… Er ist bei einem Einsatz umgekommen.“ Er wischte sich eine Träne weg. „Komisch. Ich hab seit damals nicht mehr darüber gesprochen. Ich… Ich war nicht da, als es passierte.“ Ben senkte wieder den Kopf: „War das dieser Chris Ritter, gegen dessen Mörder dieser Flensmann damals aussagen sollte?“, fragte er vorsichtig. Semir schüttelte niedergeschlagen den Kopf: „Nein... Tom Kranich hieß er. Mit ihm habe ich am längsten zusammengearbeitet… Chris Ritter kam bei einem Alleingang um… Einfach wie blind aus der Deckung gerannt…“ Er warf Ben einen verbitterten Blick zu: „Vielleicht verstehst du jetzt, warum ich bei solchen Einzelaktionen immer so reagiere.“ Ben sagte nichts. Er hatte keine Ahnung gehabt, dass Semir bereits so viele Partner verloren hatte. Und die ganze Geschichte kannte er noch nicht einmal… Er nahm sich vor, in Zukunft etwas mehr auf seinen älteren Partner zu hören.


    Der Ruf des Verhandlungsspezialisten riss sie aus ihrer Unterhaltung: „Wir haben Kontakt! Sie haben über Telefon mitgeteilt, dass sie ein Fluchtfahrzeug wollen!“ Sofort kam wieder Leben in die müden Gesichter der Hauptkommissare. Semir wischte sich kurz und energisch über das Gesicht und lief mit Ben zu Winter hinüber. „Was haben sie vor?“ „Das Übliche. Der Wagen mit einer Vorrichtung zum Sprengen der Reifen präpariert und mit Peilsendern für alle Fälle. Wenn möglich, schalten wir sie aber schon beim Einsteigen aus.“ „Wenn das mal gut geht…“, bemerkte Ben heute zum zweiten Mal.


    ...

    Einmal editiert, zuletzt von Alex_1 ()

  • Eine halbe Stunde später war der Fluchtwagen angekommen. Winter ließ sich nochmals alle technischen Möglichkeiten und Tricks am Fahrzeug erklären und alles nochmals überprüfen. Es regnete bereits leicht, als er zusagte, dass alles in Ordnung sei und die Aktion in den nächsten Minuten gestartet werden könne. Und so gab er dem Verhandler die Anweisung, er könne den Geiselnehmern nun Bescheid geben, dass die Aktion in den nächsten Minuten starten könnte und sie auf deren Ok warteten.


    Ben und Semir schauten sich die Szene aus einigen Metern Entfernung an. Ben traute sich nicht, Semir nochmal auf seine Vergangenheit anzusprechen. Jetzt war es Zeit, sich wieder auf die aktuelle Situation zu konzentrieren, die auch ihre ganze Konzentration verlangte. Semir schien ebenfalls konzentriert zu sein. „Warum wollen die kein Geld?“, überlegte er laut. Ben hatte mit solchen Gruppierungen bei seiner Zeit beim LKA schon öfters zu tun gehabt. „Diese Sorte von Überzeugungstätern will kein Geld… Die haben andere Ziele.“ In seiner Stimme schwebte ein bedrohlicher Unterton mit, der Semir zeigte, dass sein Partner diese Typen offenbar ernst nahm.


    Das Gewitter kam näher. Das Grollen des Donners schien zusammen mit dem Regen immer stärker zu werden. Semir schaute wieder zum Himmel. Das Licht der Sonne wurde von finsteren Gewitterwolken verdeckt, was die Umgebung für 16 Uhr bereits relativ dunkel erschienen ließ. Winter gab nun den Befehl, sich bereit zu machen, um den Fluchtwagen jederzeit vor den Eingang fahren zu können: „Ok, alle Einheiten in Position! Es geht los.“ Während eine Einheit nach dem anderen bestätigte und ihre Position einnahm, gingen Ben und Semir hinter einem geparkten Wagen leicht seitlich vom Eingang der Tankstelle in Deckung, wo in wenigen Augenblicken der Fluchtwagen geparkt werden sollte. Plötzlich schaute Semir zu Winter hinüber, verließ dann seine Position und joggte zu dem Einsatzleiter hinüber. „Lassen Sie mich den Fluchtwagen fahren!“ Ben, immer noch in Deckung, fasste sich an die Stirn und murmelte: „Oh Mann, das nennst du also raushalten…“. „Warum das denn, Herr Gerkan?“ „Lassen Sie mich einfach. Vielleicht kann ich noch was im Inneren der Tankstelle erkennen, bevor die Typen rauskommen.“ Winter überlegte kurz und willigte dann ein: „Na gut, die paar Meter bis zum Eingang… Aber sie stellen den Wagen wie gefordert mit laufendem Motor ab. Keine Alleingänge, klar?“ „Klar.“, nickte Semir entschlossen. Seine Haare waren bereits völlig durchnässt und auch von seinem Bart tropfte das Wasser. Winter zuckte gerade von einem Donnerschlag zusammen, als der Verhandlungsspezialist zu ihnen trat und angespannt Bescheid gab: „Ok, sie wollen, dass wir den Fluchtwagen jetzt vorfahren.“ Winter nickte Semir zu und er ging wortlos auf die schwarze Mercedes C-Klasse zu, in die Gangster in wenigen Augenblicken einsteigen sollten. „Falls ihr überhaupt so weit kommt!“, dachte er bei sich. Er warf Ben noch einen Blick zu, der bereits mit gezogener Waffe am Boden kauernd zurück schaute. Er presste kurz die Lippen zusammen, um Semir zu signalisieren, dass er ihm viel Glück wünschte. Der Himmel blitzte auf und fast im selben Moment ließ ein Donnerschlag einige der umstehenden Beamten zusammenfahren. Semir öffnete die Tür des Mercedes und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Als die Tür ins Schloss fiel, konnte er Winter noch in einigen Metern Entfernung in sein Funkgerät sprechen hören. „Es geht los. Ich erteile allen Scharfschützeneinheiten hiermit die Feuerfreigabe nach eigenem Ermessen.“ Beiden Hauptkommissaren lief es eiskalt den Rücken hinunter. Die Scharfschützen entsicherten ihre Waffen und legten ihren Finger auf den Abzug. Semir atmete tief durch und startete den Motor. Langsam rollte der Mercedes los. Das Motorengeräusch wurde vom auf den Asphalt prasselnden Regen völlig verschluckt. Wieder blitze und donnerte es. Dann herrschte auf dem Parkplatz wieder Stille. Nur das Geräusch des Regens war unverändert. Semir hatte seine Zielposition nun fast erreicht. Er musste den Scheibenwischer auf die höchste Stufe einstellen, um etwas sehen zu können. So würde er niemals einen Blick aus dem Seitenfenster ins Innere der Tankstelle werfen können. Langsam ließ er den Wagen ausrollen. Die Beifahrertür war nun auf selber Höhe wie der Eingang, hinter dem die Terroristen wahrscheinlich bereits standen. Wie viele Meter mochten Semir wohl von ihnen trennen? Vielleicht sieben? Oder doch nur fünf? Er hielt an. Der Mercedes hatte seine Position erreicht.


    ...

  • Langsam öffnete Semir die Fahrertür und trat wieder hinaus in die Nässe. Die Tür ließ er offen stehen. Seinen Blick immer in Richtung Tankstelle gerichtet, ging er hinüber auf die Beifahrerseite und öffnete auch diese Türen, um den Geiselnehmern ein schnelles Einsteigen zu ermöglichen.
    Bei jedem seiner Schritte spritzte das Wasser an seinen Beinen hoch. Eigentlich wollte er nur etwas Zeit schinden, um vielleicht doch noch einen Blick zu erhaschen, was im Moment dort drinnen vor sich ging. Doch es war niemand zu sehen. Langsam entfernte er sich nun rückwärts von dem Wagen. Er hob die Hände, obwohl er nicht erwartete, dass die Geiselnehmer schon herauskamen, solange er noch in der Nähe war. Er war nur wenige Meter entfernt, als plötzlich die Eingangstür aufschwang. Doch anders als erwartet waren die langsam in den Regen hinaustretenden Personen nicht als Geiseln und Geiselnehmer erkennbar. Zwei große Feuerdecken, wie sie in jeder Tankstelle zu finden sind, waren den Personen über den Kopf geworfen und bedeckten sie bis zu den Knien. Auf den ersten Blick war nicht einmal erkennbar, wie viele Personen sich genau unter den Decken befanden. Unter den vielen Polizisten auf dem Parkplatz wurde es unruhig. Auch Winter konnte nur hilflos die Szene beobachten. Die Scharfschützen konnten so selbstverständlich nicht schießen. Die Wahrscheinlichkeit, eine Geisel zu treffen, war zu hoch. Auch Semir konnte nur mit erhobenen Armen zusehen, wie sich die Gestalten unter ihren Decken ins Auto bewegten. „Das darf doch nicht wahr sein!“, zischte er leise und blickte einen kurzen Moment zu Ben, dem ebenfalls nichts anderes übrig blieb, als hilflos die Achseln zu zucken und Semir fragend anzusehen. Doch urplötzlich sprang wie aus dem nichts die hintere Tür auf der Fahrerseite auf und eine Frau wurde wenige Meter vor Semir aus dem Wagen geworfen. Beinahe im selben Moment drehten die Reifen des Fluchtwagens durch und der Wagen setzte sich ruckartig in Bewegung. Semir stürzte sofort auf die am Boden liegende Person zu, doch da erklangen schon die Schüsse. Geschockt von dieser plötzlichen Eskalation gingen sofort alle Beamten in Deckung. Die Scharfschützen waren verwirrt von der so unerwartet aus dem Auto gefallenen Person, dem fast im gleichen Moment losgefahrenen Auto und den plötzlichen Schüssen. Alles hatte sich im Bruchteil einer Sekunde abgespielt. Semir hatte sofort reagiert und war in Richtung der Frau gehechtet, die so hilflos am Boden lag. Er warf sich direkt in einen Kugelhagel, der jedoch nicht ihm oder der Frau galt, sondern den neben ihnen stehenden Zapfsäulen der Tankstelle, aus denen augenblicklich Kraftstoff herausspritze. Die skrupellosen Geiselnehmer hatten es aus dem so schnell beschleunigenden Wagen heraus nicht geschafft, genau ihr Ziel zu treffen, nahmen es jedoch ohne Zögern in Kauf, weitere Menschenleben aufs Spiel zu setzen.
    Semir klatschte auf den nassen Boden, und wandte sich sofort zu der am Boden liegenden Frau um, vor die er sich geworfen hatte. Fassungslos starrte er auf die zwei roten Einschüsse in ihrem reglosen Körper. Er war einen Augenblick zu spät gekommen. Immer noch schallten Schüsse über den Autohof. Im selben Moment, als Semir einen Arm an seiner Schulter spürte, der ihn wegzog, schoss ihm eine gewaltige Stichflamme aus Richtung der Zapfsäulen entgegen. „SEMIR! WEG HIER!!“, schrie Ben, eine Hand an Semirs Schulter, in der anderen seine Dienstwaffe, mit der er dem flüchtenden Mercedes hinterher feuerte, aus dem immer noch einzelne Schüsse auf die Zapfsäulen abgegeben wurden. Verzweifelt ließ Semir den reglosen Körper liegen. Im selben Moment, als sich Ben und er ein Stück von dem Brandherd entfernt hatten, explodierte die Tankstelle in einem gewaltigen Feuerball. Die Druckwelle schleuderte die beiden Hauptkommissare ein paar Meter zurück. Unsanft landeten sie in einer großen Wasserlache, die sich auf dem Parkplatz vor der brennenden Tankstelle gebildet hatte. Benommen richtete Ben sich auf. Sofort waren SEK-Beamte und andere Polizisten herangeeilt und bekämpften mit Feuerlöschern den Brand, während andere in das weniger beschädigte Hauptgebäude der Tankstelle eindrangen, um dort nach weiteren Personen zu suchen. Einsatzleiter Winter saß fassungslos an einen Wagen gelehnt im Regen. Er hatte sein Gesicht in den Händen vergraben. Von dem Fluchtwagen war keine Spur mehr.


    Langsam stand Ben auf. „Alles klar bei dir?“, fragte er, während er sein Handy zückte und wählte. Semir richtete sich mit schmerzverzerrter Miene auf, sagte aber nichts. Seine rechte Hand presste er auf seine Rippen. Als er die Hand wegnahm, wurde an seiner Schutzweste ein kleiner Einschuss sichtbar. „Susanne, ich bin‘s.“, meldete sich Ben: „Wir brauchen dringend eine Ringfahndung nach einer schwarzen Mercedes C-Klasse, wahrscheinlich jetzt auf der A4 Richtung Aachen unterwegs. Und macht schnell!“ Er legte auf und sah besorgt zu seinem Partner: „Geht’s? Hat die Weste gehalten? Mann mann, was machst du auch für Sachen…“ Er klopfte ihm leicht auf die Schulter und bemerkte, wie fertig Semir war. Fürsorglich schlug Ben vor: „Naja, lass dich lieber vorsichtshalber untersuchen, wenn der Notarzt da ist. Nicht dass du trotz der Weste ne angeknackste Rippe oder so hast.“ Er atmete tief durch und sah sich das Chaos an. „Was für ein scheiß Tag. Zum Glück haben wir noch den Peilsender.“ Semir blieb wortlos sitzen und sah zu Boden. In ein paar Metern Entfernung fühlte ein Streifenpolizist gerade den Puls der am Boden liegenden Frau. Doch nach ein paar Sekunden gab er auf und stand wieder auf. Er schaute zu Ben und schüttelte kurz den Kopf. Dann ging er weg. Kurz darauf trafen Feuerwehr und mehrere Krankenwagen am Autohof ein. Das SEK hatte im Inneren der Tankstelle zwei Geiseln ausfindig gemacht. Sie waren geknebelt und gefesselt, aber unverletzt. Doch eine Geisel fehlte…


    ...

  • Schweigend saßen Ben und Semir nebeneinander in ihrem Wagen auf dem Weg nach Hause. Sie waren von Winter nach Hause geschickt worden. Der Fluchtwagen war mit Hilfe des Peilsenders eine Stunde nach dem gewaltsamen Ende der Geiselnahme auf einem Waldweg gefunden worden - von den drei Verbrechern keine Spur. Dafür war die letzte Geisel weitgehend unverletzt. Sie war geknebelt und gefesselt im Kofferraum gefunden worden. Es gab im Moment nicht mehr zu tun, als abzuwarten, ob die Fahndung nach den Tätern erfolgreich sein würde. Aber die beiden hatten wenig Hoffnung. Das waren Profis, die sich jetzt nicht mehr so leicht erwischen lassen würden.


    Semir hatte Ben fahren lassen. Er starrte stumm vor sich hin. Ben brach das unangenehme Schweigen: „Was hat der Arzt gesagt?“, und deutete auf Semirs Oberkörper. Semir holte Luft, als würde er sich überwinden, auf Bens Frage zu antworten. „Nix großes. Wahrscheinlich ne geprellte Rippe.“ Er wendete er seinen Kopf ab und sah aus dem Fenster. In der Dämmerung zogen die Wälder und Wiesen entlang der Autobahn an ihnen vorbei. Nach einer Weile startete Ben nochmal einen Versuch: „ Fährt sich gut, dein neuer Wagen.“ Semir antwortete nicht und starrte weiter gedankenverloren aus dem Fenster. „Was ist denn los?“ Ben wurde langsam ungeduldig. Er konnte es nicht mit ansehen, wie Semir so niedergeschlagen war. Ihn hatte der tragische Einsatz auch Kräfte gekostet. Aber für ihn war es klar, dass er ihn abhaken musste, wie jeden anderen Einsatz auch. Mit gesenktem Blick sagte Semir ruhig: „Das hätte nicht passieren dürfen.“ Ben antwortete: „Es ist tragisch. Aber leider können wir nicht jeden retten. Du hast dein Leben für sie aufs Spiel gesetzt. Du hast wirklich alles getan was du konntest.“ Das hatte Semir schon einmal gehört. Und er antwortete wieder das Gleiche wie damals: „Das ist es ja gerade. Man tut was man kann, aber es reicht nicht.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er fort. Er hatte sich entschieden, Ben noch mehr zu erzählen: „Dieser ganze scheiß Tag heute... Im Laufe der Jahre stauen sich Erinnerungen an bestimmte Einsätze und Ereignisse auf. Und irgendwann wird es zu viel. Heute hat sich alles entladen… Zuerst dieser Autohof. Dort hat Andrea mal jemanden erschossen – und mir damit das Leben gerettet. In letzter Sekunde. Aber das allein heute wäre ja noch kein Problem gewesen, schließlich komme ich hier ja jeden Tag vorbei.“ Er pausierte wieder kurz. Er sprach langsam und nachdenklich: „Aber dann dieses drecks Wetter… Solche Wolkenbrüche gibt es nicht oft. Ich kann mich nur noch an zwei Tage erinnern, wo es so geschüttet hat. Einmal als Tom…“ Er schluckte. „ …und dann das letzte Mal als du in diesem verdammten Sarg fast…“ Er brach ab. Die Erinnerung an diesen Tag ließen auch in Ben unangenehme Gefühle wieder hochkommen. Semir fuhr fort: „Tja, und dann heute die Sache mit dieser Frau. Wie damals, als diese Paketdienstfahrerin vor meinen Augen in die Luft gesprengt wurde, hat sie mir noch in die Augen gesehen, bevor sie starb. Wieder komme ich einen verdammten Moment zu spät…“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht, ob ich das noch kann… Es sterben einfach zu viele Menschen. Einer nach dem anderen. Kannst du mir glauben, dass seit ich hier bin 4 Kollegen bei Einsätzen umgekommen sind? Hotte letztes Jahr. Und man kann einfach nichts dagegen tun…“ Ben war schockiert. Semir machte fast den Eindruck, als wolle seinen Beruf an den Nagel hängen. Aber das konnte doch nicht sein Ernst sein?! Sicher, es gab viele Polizisten, die mit den Erlebnissen im Dienst nicht mehr umgehen konnten, aber war das auch bei Semir so? Er hatte zweifellos schon unglaublich viel mitmachen müssen. Trotzdem war dieser Beruf sein Leben… Das Team seine Familie… Nun schwiegen wieder beide.
    An der Dienststelle angekommen fragte Ben: „Schaffst du es, allein heimzufahren? Du weißt ja, mein Mercedes steht hier.“ Semir nickte und stieg aus. Mittlerweile war es dunkel geworden. „Bis morgen, Partner.“, verabschiedete sich Ben. Semir nickte erneut und sah Ben kurz an, bevor er wieder in seinen Wagen stieg und sich dann auf den Heimweg machte.
    Allein blieb Ben noch kurz auf dem Parkplatz der Autobahnpolizei stehen und sah Semirs BMW zu, wie er um die Kurve fuhr und schließlich verschwand. „Was für ein Scheißtag…“, murmelte er, bevor er ebenfalls in seinen Wagen stieg und nach Hause fuhr. Er hoffte, dass der morgige Tag wieder besser werden würde…


    ...

  • Das Einzige was auf den ersten Blick am nächsten Morgen besser war, war das Wetter. Die vom Platzregen am letzten Tag noch nassen Straßen wirkten wie sich langsam verziehende Resteindrücke einer vorangegangenen Schlacht.


    Ben hatte schlecht geschlafen und kam mit keiner guten Laune ins Büro. Daran änderte auch der angenehme Duft seines Coffee-to-go nichts, den er sich wie fast jeden Morgen auf dem Weg zur Dienststelle kaufte. Ein Blick durch die Scheiben verriet ihm, dass Semir noch nicht da war. Trotz seiner leichten Anspannung, die sich daraufhin in ihm breit machte, wünschte er Susanne einen guten Morgen und ging sofort zu seiner Chefin ins Büro. „Morgen, Chefin.“, begrüßte er sie: „Haben Sie was von Semir gehört?“ Kim Krüger sah von ihren Akten auf: „Morgen. Ja, er hat sich heute frei genommen. Ich hab von der Sache gestern gehört, scheint nicht einfach für ihn gewesen zu sein.“ „Ja, antwortete Ben: „Alte Erinnerungen sind in ihm hochgekommen und der Verlauf des Einsatzes war alles andere als gut für seinen angeschlagenen Zustand. Ich werde später mal nach ihm sehen, wenn es Ihnen recht ist.“ „In Ordnung, Ben. Ach, warten Sie noch einen Moment!“, rief ihm seine Chefin nach, als er sich schon zum Gehen gewandt hatte: „Ich habe heute Morgen schon mit Winter gesprochen. Ich habe mit ihm das weitere Vorgehen in diesem Fall besprochen. Er hat zugestimmt, dass die Autobahnpolizei einige Ermittlungsaufgaben und die Überwachung der Autobahnen sowie des Kölner Stadtgebiets übernimmt. Das BKA führt und leitet die Sache aber weiterhin. Er ist bereit, uns Informationen über seine bisherigen Erkenntnisse zu geben und Sie sollen ihn ebenfalls immer auf dem Laufenden halten. Die Akte liegt schon auf Ihrem Schreibtisch.“ „Alles klar, Chefin.“ Er verließ das Büro und ging hinüber in sein eigenes. Dort fing er an, die Akte des BKA zu lesen.


    Währenddessen spazierte Semir allein den Rhein entlang. Er tat dies öfter, wenn er Zeit zum Nachdenken brauchte. Auch er hatte in der Nacht schlecht geschlafen und war schon früh morgens aus dem Haus gegangen. Er hatte nur einmal kurz ein paar Worte mit Andrea gesprochen, die gemerkt hatte, dass ihr Mann etwas Zeit für sich brauchte. Auch sie hatte in den Nachrichten von dem Ausgang des Einsatzes gehört.


    Semir ging weiter die Rheinpromenade entlang und dachte nach. Dann entschied er sich, seit das erste Mal seit ein paar Monaten mal wieder auf den Friedhof zu fahren. Langsam ging er die Gräber entlang, bis er zuerst an das von André Fux gelangte. War das schon lange her… Fast 13 Jahre waren vergangen, seit André bei einem Einsatz auf Mallorca von einer Harpune getroffen aus einem Boot ins Meer gefallen war. Auch wenn seine Leiche nie gefunden wurde, hatte man die Hoffnung schon bald aufgegeben, ihn noch lebend zu finden. Semir ging andächtig mit seinen Händen in den Hosentaschen weiter. Beim Grab von Tom Kranich blieb er wieder stehen. Er betrachtete das vom Wetter schon etwas mitgenommene Bild, das dort stand. Er setzte sich an den Rand des Grabes und nahm es in die Hand. Es zeigte Tom und ihn im Urlaub beim Fischen. Semir verdrückte eine Träne. Nach einer Weile stellte das Bild wieder zurück auf seinen Platz auf dem Grab. Er blieb noch kurz stehen, bis er schließlich seine Hand auf den Grabstein legte und langsam seinen Weg fortsetzte. Am Grab von Chris Ritter blieb er noch einmal stehen. Wenn er an die Szene dachte, wie Chris die Deckung verlassen hatte, um eine Freundin zu retten, vermischten sich die Gefühle der Trauer mit Unverständnis aber auch Ratlosigkeit. Was hätte er an seiner Stelle getan? Ob Chris wusste, dass er für diese Frau sein Leben opfern musste? Hatte Semir nicht gestern auch so gehandelt? Er fand keine Antworten auf diese Fragen. Chris war nie einfach gewesen und auch nach seinem Tod wurde er nicht hundertprozentig schlau aus ihm. Er trottete in Gedanken den Weg zurück. Schon von weitem fiel ihm ein großer Mann mit wenig Haaren auf, wie er an einem Grab stand. Er ging auf ihn zu. Der Mann sah auf und lächelte Semir zu „Na, auch mal wieder hier?“, fragte Dieter Bonrath leicht lächelnd. „Mit Blick auf Hottes Grab antwortete Semir: „Ja, ich hab das mal wieder gebraucht… Und du, hast du heute auch frei?“ „Nein, eigentlich nicht.“, gab Dieter etwas verlegen zurück: „Aber ich komme jeden Tag hier her, gieße die Blumen und zünde eine Kerze für Hotte an. Normalerweise mache ich es nach Feierabend, aber wenn gerade nichts los ist, kann ich das auch mal während der Streife machen. Aber nicht der Chefin weitersagen.“ Er lächelte wieder. „Keine Angst, Dieter. Schön, dass der alte Hotte nicht vergessen wird.“ Zum ersten Mal seit gestern Mittag lächelte nun auch Semir wieder.


    ...

  • „Als die Dreckskerle gemerkt haben, dass sie in der Falle sitzen, haben die das alles ganz minutiös geplant: Zuerst die Decken über die Köpfe, damit wir nicht erkennen, wer Geisel und wer Geiselnehmer ist; dann plötzlich die Frau aus dem Auto werfen, damit die Scharfschützen kurz abgelenkt sind und schließlich die Tankstelle hochjagen, damit wir mit Löschen beschäftigt sind und sie in dem Chaos nicht so schnell verfolgen können. Die Frau war dabei nur Kollateralschaden. Und den Rest haben sie ja dann auch ganz geschickt eingefädelt: Bevor wir überhaupt dazu kommen, den Sender im Wagen anzupeilen, haben die ihn schon lange abgestellt und sind über alle Berge verschwunden… Das gibt’s doch nicht!“ Ben machte seinem Ärger Luft. Er hatte die Akte des BKA mittlerweile gelesen und wusste nun, dass der junge Mann mit der Baseballkappe Jan Bloch, Spitzname „Der Bastler“, hieß. Er war dem BKA ins Auge gefallen, nachdem er mehrmals in den letzten Jahren für mehrere Monate in arabische Länder gereist war. Die Vermutung, dass er dort ein Terror-Camp besucht hatte, konnte bisher nicht bestätigt werden. Der Bundesnachrichtendienst und das BKA hatten jedoch die Überwachung seines Telefons veranlasst und dabei den Telefonanruf abgefangen, der das gestrige Treffen angedeutet hatte. Seine Observation sollte dazu dienen, endgültige Beweise für Blochs terroristische Aktivitäten zu bekommen. Wenigstens die hatte das BKA nun durch sein Verhalten bekommen…


    Es klopfte an der Tür und Kim Krüger streckte den Kopf in sein Büro: „Ben, das BKA führt jetzt die nun genehmigte Hausdurchsuchung bei Bloch durch. Wenn sie wollen, können sie die Kollegen vom BKA dabei unterstützen.“ „In Ordnung. Danke, Chefin.“, gab Ben zurück und schnappte sich seine Jacke.


    Auf dem Weg zu Blochs Wohnung klingelte Bens Handy. „Einstein, was gibt’s?“, meldete er sich, nachdem er Hartmuts Namen auf dem Display gesehen hatte. „Hallo Ben! Ich habe die Spuren an dem Projektil untersucht, die wir aus Semirs Schutzweste und den Zapfsäulen an der Tankstelle gepuhlt haben. Oder das was davon übrig war… Wusstest du, das die nominelle Sprengkraft von explodierendem…“ „Hartmut! Die Kurzfassung bitte! Ist doch nix neues, oder?“ „Jaja, also es handelt sich um 9mm Paraprojektile, wahrscheinlich abgefeuert aus zwei verschiedenen Heckler & Koch P8.“ Ben zögerte kurz, um Hartmut nicht zu unterbrechen, falls er noch etwas hinzufügen wollte: „Ja und? Sind Fingerabdrücke oder so drauf?“ „Nein, wir haben keinerlei daktyloskopische…“ „Ja war das dann alles?? Nichts was uns irgendwie weiterhilft?“, unterbrach ihn Ben erneut. „Naja, also du weißt doch, jede Waffe hinterlässt ihr eigenes individuelles Muster auf den…“ Ben stöhnte hörbar ungeduldig in den Lautsprecher: „Weiiiiß ich!!!“ „Ok, entschuldige.“, setzte Hartmut schnell fort: „Also kurz gesagt: „Die Waffe wurde von Interpol bei einer Schießerei mit Terrorverdächtigen registriert. Das bedeutet, dass die Typen, in der Tankstelle gestern mit ziemlich großer Wahrscheinlichkeit die Selben waren.“ „Naja, ohne Namen bringt uns das natürlich nicht besonders viel. Aber es ist immerhin der endgültige Beweis, dass die Typen wirklich etwas mit Terrorismus zu tun haben und nicht nur anderweitig Dreck am Stecken haben. Ich weiß nur nicht, ob ich mich über diese Nachricht freuen soll… Danke, Hartmut!“ „Kein Problem, bis dann!“, verabschiedeten sich die beiden voneinander.


    Wenige Minuten später war Ben bei Blochs Wohnung angekommen, von der aus die gestrige Aktion gestartet war. Vor dem Haus standen bereits mehrere Streifenwagen. Ben betrat das Gebäude, ging die Treppen hinauf und begegnete noch im Treppenhaus Winter, der ihn begrüßte: „Hallo, Herr Jäger. Den letzten Tag gut überstanden? Das war ja ne ziemliche Scheiße gestern… Tut mir leid, dass die Sache so schief gelaufen ist. Mein Dezernatsleiter macht mir ziemlich Druck von oben. Wer weiß, was die Mistkerle noch vorhaben…“ „Haben Sie denn schon irgendetwas gefunden?“, fragte Ben, ohne auf Winters Entschuldigung einzugehen. Offenbar war es ihm peinlich, dass eine Aktion des BKA so schief gehen konnte. „Die Spurensicherung ist dran. Wir können nur hoffen, dass wir irgendwelche Hinweise auf die Typen finden. Sonst haben wir die paar Erkenntnisse von gestern sehr teuer bezahlt…“ Ben hatte eigentlich keine Lust, dem anscheinend immer mehr in Selbstmitleid verfallenden Winter noch länger zuzuhören. Er setzte sich also in Bewegung, um in der Wohnung auch nach Hinweisen zu suchen, da kam ihm schon einer der Spurensicherungsmitarbeiter entgegen. Wie ein teures Gemälde hielt er ein großes, zerknittertes Stück Papier vor sich und trug es an Ben vorbei zu Winter. Also trottete Ben wieder zurück ins Treppenhaus, wo sich Winter gerade eine Zigarette anzündete. „Was ist das?“, fragte er. „Das ist ein Stadtplan. Lag zerknittert im Papierkorb.“ „Wohl doch nicht so ein Vollprofi, unser Herr Bloch…“, bemerkte Ben, während er sich den Plan genauer ansah. „Stimmt. Aber wahrscheinlich hat er sich bis gestern ziemlich sicher gefühlt und hat sich seit der Sache gestern nicht mehr her getraut.“, pflichtete Winter ihm bei. „Sehen Sie mal! Hier sind kleine Markierungen mit Bleistift gemacht worden.“ Noch bevor Ben erkannt hatte, was für Stellen auf dem Stadtplan gekennzeichnet worden waren, kam ein zweiter Beamter der Spurensicherung nach draußen: „Herr Winter, wir haben da noch was. Das sollten Sie sich mal ansehen.“ Während Winter mit dem Beamten in die Wohnung ging, schaute sich Ben den Plan nochmals genauer an. Er erstarrte. Die kleinen Bleistiftmarkierungen umkreisten ausnahmslos Sehenswürdigkeiten im Raum Köln, darunter auch unter anderem den Dom, die Köln Arena, den Musical Dome und ein paar Museen. „Scheiße“, flüsterte Ben, als Winter wieder zu ihm trat. Auch er schien beunruhigt: „Herr Jäger, in seinen Schreibtischschublade haben wir jede Menge Elektronikzeug gefunden. Sieht so aus, wie wenn der Kerl am Bau einer Bombe gearbeitet hat…“. Ben hatte schon so etwas befürchtet, als er gelesen hatte, dass Blochs Spitzname „Der Bastler“ war. Das konnte ja kein Zufall sein. Wortlos übergab er Winter den Stadtplan. Er sah ihn sich an und Ben konnte beobachten, wie langsam die Farbe aus seinem Gesicht wich. Wortlos drückte er Ben den Plan wieder in die Hand und griff zu seinem Handy: „Ja, ich bin‘s. Verbinden Sie mich bitte mit dem Innenminister… Ja, danke. Und wir brauchen sofort die Bereitschaftspolizei an folgenden Orten: …“


    ...

  • Innerhalb von einer halben Stunde war der Polizeischutz an sämtlichen Gebäuden und sonstigen Sehenswürdigkeiten auf dem Stadtplan enorm hochgefahren worden. Auf Sprengstoff abgerichtete Suchhunde und Beamte der Bereitschaftspolizei mit Maschinengewehren durchsuchten sämtliche Orte, von denen möglicherweise eine Gefahr für die Bevölkerung ausgehen konnte und führten Personenkontrollen durch. Auch Kim Krüger hatte einige Streifenwagen in die Kölner Innenstadt abkommandiert, um die Kollegen zu unterstützen. Vom Innenminister war für den Abend eine Pressekonferenz angekündigt worden. Bis dahin wandte er sich mit einer kurzen Nachricht über die Nachrichten an die Bevölkerung von Nordrhein-Westfalen. „Das Übliche Gelaber… Ruhe bewahren, eine Panik vermeiden und so weiter…“, bemerkte Ben skeptisch, nachdem er die Videobotschaft im Fernsehen gesehen hatte. Er war mittlerweile wieder im Büro angekommen und machte sich nun an die Berichte, die er noch zu schreiben hatte. Ohne Semir war die Arbeit um einiges stressiger für ihn… Er nahm sich vor, ihn nach Feierabend zu besuchen. Wenn er heute überhaupt einen Feierabend hatte… Gerade als er sich erschöpft eine Pause vom Schreiben gönnte und vergeblich versuchte, einen leeren Pizzakarton in seinen viel zu kleinen Papierkorb zu drücken, schwang die Bürotür auf und Semir kam mit zielstrebigen Schritten herein. „Semir! Was machst du denn hier? Du hast doch frei! Geht’s dir besser?“ „Jo, alles gut.“, versicherte Semir schnell. Er sah immer noch ernst aus, aber bei weitem nicht mehr so niedergeschlagen, wie noch gestern. „Ich kann dich bei dem Stress doch nicht hängen lassen. Bei dem Chaos… Habs im Radio gehört… Die Schweine schnappen wir uns jetzt!“ Ben betrachtete Semir eine Weile – er kannte diese Art von Semir. Er versuchte mal wieder, seinen Gefühlszustand zu verdrängen, indem er sich kopfüber in die Arbeit stürzte und so auch hin und wieder einen Fall sehr persönlich nahm. Dann war direkt besessen darauf, diese Typen so schnell wie möglich hinter Gitter zu bringen. Naja, das war immer noch besser, als so einen traurigen Semir vor sich sitzen zu haben. Aber Ben wollte auch nicht, dass Semir seine Gefühle nur wieder in den Hintergrund schob und sich erneut alles anstaute. „Hast du dich denn ein wenig erholen können?“, fragte er deshalb. „Ben, ich bin nicht der, der sich besonders lange mit seinen Gefühlen aufhält. Ich habe aber nachgedacht. Das habe ich gebraucht, um die Sache zu verarbeiten.“ Er überlegte kurz, ob er Ben das alles erzählen sollte. Als dieser ihn aber noch fragend ansah, gab er sich einen Ruck: „Ich habe viel hinterfragt. Versetzung in den Innendienst und das ganze Zeug… Aber letztendlich wäre das nicht Job, den ich machen will. Auch wenn ich langsam älter werde und für meine Familie sorgen muss… Noch bin ich fit genug, um auf der Straße zu sein. Trotzdem sollten wir aufpassen, dass wir unseren Job als Cowboys der Autobahn nicht übertreiben. Irgendwann geht so ein Einsatz wie gestern mal richtig schief und dann sitzt Andrea alleine mit den Kindern da. Ich weiß wie schnell es gehen kann… So ein Einsatz kann einem das wieder richtig bewusst machen. Ich will damit nur sagen, lass uns vorsichtig sein. Die Typen laufen da draußen noch rum und werden sich nicht so einfach einkassieren lassen. Und sowas wie gestern will ich nach Möglichkeit so schnell nicht mehr erleben. Alles klar?“ „Klar, Partner!“, sagt Ben etwas erleichterter. Seine Laune war wieder gestiegen und auch Semir lächelte wieder. Nun konnten sie sich wieder auf den Fall konzentrieren.


    Nachdem Ben Semir auf den neuesten Stand der Dinge gebracht hatte, widmeten sich beide wieder ihrer Arbeit: Während Ben die restlichen Berichte abarbeitete, erkundigte sich Semir beim BKA nach den Ergebnissen der Überprüfung von den letzten Gesprächen, die Bloch geführt hatte. Leider brachte sie das nicht weiter. Offensichtlich hatten die Terroristen von einer Telefonzelle bei Bloch angerufen. Also forschte Semir etwas weiter in der Vergangenheit von Bloch weiter, um herauszufinden wie er in die Terror-Szene geraten war. Vielleicht ließ sich ja so eine Verbindung zu bestimmten Personen finden. Nach einiger Zeit gab er jedoch auf. Außer den Reisen in den nahen Osten, einem abgebrochenen Chemiestudium und der Tatsache, dass Bloch schon zu Schulzeiten als Außenseiter galt, war nichts über ihn zu finden. Als Kind war er einmal von der Polizei aufgegriffen worden, als er auf einer Baustelle selbstgebastelte Böller zündete. Damals war er ohne Bestrafung davon gekommen.


    Etwa eine Stunde nachdem die Chefin kurz lächelnd im Büro erschien war und Semir mit den Worten „Schön, dass es Ihnen wieder besser geht.“ begrüßt hatte, lehnte sich Ben erschöpft zurück: „Oh Mann, geschafft für heute. Aber es macht mich wahnsinnig, dass man nichts Neues von der Fahndung hört. Die Typen können sich doch nicht in Luft aufgelöst haben!“ „Vielleicht sollten wir uns an die Öffentlichkeit wenden.“, schlug Semir nachdenklich vor: „Mit den Phantombildern von gestern kommen wir nicht an sie heran. So könnten wir sie noch am ehesten schnappen, falls sie wo gesehen werden. Schließlich läuft uns die Zeit davon… Die könnten theoretisch überall zuschlagen, wenn sie merken, dass ihre ursprünglichen Ziele alle streng überwacht werden.“ Ben stimmte ihm zu: „Klar, nur wird der Innenminister davon nicht begeistert sein. Schließlich könnte das eine Panik unter der Bevölkerung auslösen. Aber wir sollten es auf alle Fälle versuchen!“ „Reden wir mit der Chefin! Sonst kriegen wir die Typen nie…“


    Nach 15 Minuten legte Kim Krüger den Hörer auf und atmete erschöpft aus: „Der Innenminister will zuerst 3 Tage die Fahndung laufen lassen, und hoffen, dass sie uns so ins Netz gehen. Erst dann will er Phantombilder veröffentlichen. Aus seiner Sicht würden wir die Bevölkerung so zu stark beunruhigen.“ „Chefin, das darf doch wohl nicht wahr sein! Was ist denn, wenn es morgen schon knallt?? Meinetwegen am Düsseldorfer Medienhafen? Oder an der Königsallee? Wir können ja nicht alles und jeden im Großraum Köln bewachen!“, rief Semir fassungslos, als er und Ben den Kopf in Kim Krügers Büro gestreckt hatten. „Semir, mir müssen sie das nicht erzählen! Aber der Innenminister ist der Ansicht, dass die Überwachung der Ziele auf dem Stadtplan derzeit ausreicht, solange es keine neuen Informationen gibt.“ „Das bedeutet also, dass wir rumsitzen müssen und abwarten müssen??“, pflichtete Ben Semir bei. „Derzeit ja. Es sei denn, es ergibt sich in Zwischenzeit etwas Neues. Aber sie werden schon nicht arbeitslos sein. Schließlich gibt es bei der Autobahnpolizei noch andere Dinge zu tun, als nur die Jagd auf Terroristen.“ „Na toll.“, stöhnte Ben auf die Erklärung seiner Chefin hin. „Na dann hoffen wir mal, dass der Dom bis übermorgen noch steht!“, ärgerte sich Semir, bevor er sich umdrehte und zurück in sein Büro ging. Ben schloss die Tür und folgte ihm. Kim Krüger blieb sitzen und stöhnte: „Na die scheinen sich ja wieder erholt zu haben…“


    ...

    Einmal editiert, zuletzt von Alex_1 ()

  • Die nächsten zwei Tage waren für die beiden Hauptkommissare kaum auszuhalten. Die Chefin hatte angeordnet, sich wieder um die normalen Aufgaben bei der Autobahnpolizei zu kümmern, solange die Fahndung nichts Neues ergab. Das bedeutete vor allem: Streife fahren, kilometerlange Staus bis zum Abwinken, langweilige Unfallaufnahmen und alltägliche Geschwindigkeitskontrollen.


    So standen Ben und Semir also zwei Tage später genervt an der Spitze eines 12 Kilometer langen Staus auf der A57 kurz vor dem Kreuz Köln-Nord. Beide saßen wie auf Kohlen, während sie den Fahrer eines umgekippten LKWs vernahmen. Sie hingen ständig mit einem Ohr am Funk, falls es Neuigkeiten in ihrem eigentlichen Fall gab. Sie waren jeden Moment darauf gefasst, die Meldung von einer Explosion in der Innenstadt zu erhalten. Entsprechend schlecht waren sie bei der Sache. Kopfschüttelnd riss Bonrath, der ebenfalls am Unfallort war, Semir das Protokoll der Vernehmung aus der Hand: „Ach Mensch, da fehlt ja die Hälfte der Angaben! Alles muss man selber machen…“ „Ach kümmer dich um deinen eigenen Kram und fahr mal deinen dicken Porsche auf die Seite! Wenn da jetzt einer schnell durch muss, dann muss er dich erst vom Standstreifen schieben! Ist ja nicht so, dass der LKW sowieso schon fast die ganze Fahrbahn blockiert!“, maulte Semir mit sarkastischem Unterton zurück. „Ach lass mich doch in Ruhe!“, winkte Dieter im Davongehen ab, ohne sich umzudrehen. „Und was macht ihr hier, seid ihr eigentlich noch ganz zu retten?“, fuhr Semir einen Feuerwehmann an, der gerade die weitläufig zerstreuten Glassplitter zusammenkehrte. Wild gestikulierend meckerte er: „Sag mal, ihr wisst schon, dass es hier noch Leute gibt, die von dem ganzen Scheiß hier die Spuren sichern müssen um den Unfallhergang zu rekonstruieren. Da sind so Glassplitter zwar unglaublich wichtig, aber ihr kümmert euch da ja nicht drum! Und dann dieses scheiß Bindemittel überall!“ Widerwillig versuchte Bonrath gerade, mit krachender Kupplung seinen Cayenne anders zu parken, damit Semir endlich Ruhe gab und so seine Schimpforgie vielleicht beenden würde, als plötzlich Ben zu Semir gerannt kam: „Semir! Eine Streife hat bei einem Autohaus in der Innenstadt eine Person gesichtet, auf die die Beschreibung von Bloch passt!“ Sofort rannten beide zu ihrem Wagen und sprangen hinein. Semir trat das Gaspedal seines BMWs durch und fuhr mit quietschenden Reifen los. Er hupte Bonrath noch einmal an, der den Porsche gerade noch rechtzeitig vom Standstreifen wegfahren konnte. Ansonsten hätte der BMW sicher nicht genug Platz gehabt, um sich zwischen der Leitplanke und dem umgekippten LKW durchzuquetschen. Was er sich dann hätte anhören müssen, wollte Dieter sich gar nicht vorstellen.


    Mit über 200 Stundenkilometern rasten die beiden Polizisten über die leere Autobahn in Richtung Innenstadt. Ben auf dem Beifahrersitz gab gerade über Funk durch: „Hier Cobra 11, wir sind in etwa 15 Minuten am Autohaus! Die Kollegen sollen sich noch zurückhalten und auf unsere Unterstützung warten!“ Prompt bestätigte die Stimme von Winter: „Verstanden Cobra 11, wir sind auch schon auf dem Weg, aber Sie werden wahrscheinlich vor uns dort sein. Ich schicke einen Heli zur Verstärkung voraus.“ Ben legte das Funkgerät zurück: „Also ein bisschen langsamer kommen auch noch rechtzeitig.“ „Ich krieg den Typ, und wenn es das letzte ist, was ich tue!“, gab Semir entschlossen zurück und trat das Gaspedal wieder voll durch. Ben zog wortlos seinen Sicherheitsgurt enger.


    Einige Minuten später hatten die beiden die Innenstadt erreicht. Mit Blaulicht driftete der BMW um eine Kurve, als auch schon das Autohaus in Sicht kam. „Da vorne ist er!“, deutete Ben auf einen jungen Mann auf dem Parkplatz des Autohauses, den auch Semir sofort an seiner tief ins Gesicht gezogenen Baseballkappe erkannte. „Tja, die hätte er mal besser weglassen sollen! Ich würd mal sagen, der hat jetzt keine Zukunft!“, rief Semir und zog rückartig die Handbremse. Der Dienstwagen stellte sich quer kam direkt vor der Einfahrt zum Parkplatz des Autohauses zum stehen. Die beiden Kommissare öffneten mit gezogenen Dienstwaffen ihre Türen. „Keine Bewegung, Polizei!“, schrie Semir. Doch der bereits von den quietschenden Reifen aufgeschreckte Bloch rannte sofort in der Deckung der herumstehenden Fahrzeuge los zu einem nur wenige Meter weiter abgestellten Autotransporter und fuhr los. Augenblicklich eröffnete Semir das Feuer, doch er traf nur die hinteren Scheinwerfer und die Autos, die der LKW geladen hatte. Er befand sich in einer zu ungünstigen Position, als dass er die Reifen hätte treffen können. Ein dicker Mann kam aus dem Autohaus gerannt und schrie soeben: „HEY, DAS IST MEINE KARRE! ANHALTEN!!! DIE WAGEN DA DRAUF SIND NOCH NICHT GESICHERT!! NIE WIEDER LASS ICH DIE SCHLÜSSEL STECKEN, VERDAMMT!“ Doch Ben und Semir hatten bereits ganz andere Sorgen: Der LKW hatte auf dem Parkplatz des Autohauses gewendet und fuhr nun geradewegs auf die von Semirs neuem BMW blockierte Ausfahrt zu. Dies war der einzige Weg, um das umzäunte Gelände zu verlassen. „Oh Scheiße!“, schrie Ben und hechtete aus seiner Deckung, die beide hinter dem Dienstwagen gesucht hatten, auf die Seite. Auch Semir blieb nichts anderes übrig als einen Sprung zur Seite zu machen. Nur eine Sekunde später krachte es gewaltig. Der Autotransporter erfasste Semirs BMW schleuderte ihn zur Seite. Auf dem Boden liegend feuerten die beiden Kommissare vergeblich auf den an ihnen vorbeifahrenden LKW, der anscheinend keinen größeren Schaden genommen hatte. Entsetzt richtete Semir sich auf und betrachtete geschockt seinen nagelneuen Dienstwagen. Die vordere rechte Seite war völlig zerbeult. Voller Zorn biss Semir die Zähne zusammen, hüpfte auf seiner Seite in den beschädigten Wagen und versuchte den Motor zu starten. Ben schoss immer noch ohne viel Hoffnung dem LKW nach, der sich langsam entfernte. Wenigstens hatten die Kollegen, die Bloch als erste gesichtet hatten, die Verfolgung aufnehmen können. Sie fuhren gerade an den beiden Autobahnpolizisten vorbei, als Semir mit einer Mischung aus Zorn und Verzweiflung hervor presste: „Jetzt lass mich bloß nicht hängen! Komm schon!“ Im selben Moment heulte der Motor auf. Offensichtlich hatte der Aufprall den BMW noch nicht vollständig zerstört. Erleichtert fuhr Semir die wenigen Meter zu Ben vor, stoppte kurz und rief hinaus: „Machst du noch mit, Partner?“ Verdutzt starrte Ben einen Moment auf den lädierten Wagen, sprang dann aber sofort durch die hintere Tür, die sich noch öffnen ließ, hinein. Er hatte sie noch nicht wieder geschlossen, da drehten auch schon die Räder durch und der BMW brauste davon.


    Doch bis jetzt hatte Bloch freie Bahn und war nun erneut auf der Flucht – doch diesmal waren ihm Ben und Semir auf den Fersen.


    ...

  • „Cobra 11 an alle Einheiten: Verdächtiger flüchtet in einem weißen Autotransporter auf der Kanalstraße Richtung A57, erbitten dringend Unterstützung! Ende!“ Kaum hatte Ben das Funkgerät weggelegt, war der LKW mit hoher Geschwindigkeit um eine Kurve gefahren und sofort rollte der hinterste aufgeladene Wagen langsam nach hinten auf die Fahrbahn. Das noch vor den beiden Hauptkommissaren fahrende Polizeifahrzeug der Kollegen, die Bloch als erste gesichtet hatten, konnte noch im letzten Moment ausweichen, bevor der Wagen auf die Straße krachte, sich quer stellte und durch den Schwung noch mehrmals überschlug. Auch Semir konnte nur noch im letzten Moment das Lenkrad herumreißen und so ausweichen. „Blöde Sau! Na warte, dich krieg ich!“, zischte Semir mit starrem, stets auf den Lastwagen gerichteten Blick.
    „Sag mal?“, bemerkte Ben: „Fahren wir nicht wieder genau auf die Autobahn, von der wir hergekommen sind?“ „Ja und?“, antwortete Semir knapp, immer noch voll auf das flüchtende Fahrzeug fokussiert. „Ja ist die nicht ab dem Kreuz Köln-Nord voll gesperrt wegen dem Unfall wo wir eben noch waren?“ Nun hatte Semir verstanden: „Ach du Scheiße, stimmt! Also entweder der fährt davor noch ab oder wir müssen ihn unbedingt davor noch zum Anhalten bewegen, sonst kracht der auf das Stauende drauf!“ Beiden war nun die drohende Gefahr bewusst. Wenn der Transporter mit einer so hohen Geschwindigkeit auf das Stauende aufprallen sollte, würde es Tote geben! Aber wenigstens war die Autobahn so gut wie frei, da es bereits örtliche Umleitungen gab. Gerade als sich dieser erste kurze Schock legte, raste der LKW erneut um eine langgezogene Kurve, die auf die Autobahn führte. Kaum hatten die Hauptkommissare die Bewegung des nächsten aufgeladenen PKWs registriert, krachte dieser auch schon auf die Straße. Sofort wich Semir zur Seite aus, doch für die beiden Polizisten im Wagen vor ihnen kam diese Reaktion zu spät. Der auf die Fahrbahn geknallte Wagen drehte sich, das Auto der Polizisten machte eine Vollbremsung, doch bei dieser Geschwindigkeit hatten sie keine Chance, noch rechtzeitig zum Stehen zu kommen. Der Polizeiwagen krachte frontal auf den hinabgestürzten PKW und flog über dessen Motorhaube. Wie in Zeitlupe folg das Polizeiauto immer höher. Semir und Ben beobachten fassungslos die Szene. Langsam senkte sich die Motorhaube des fliegenden Wagens wieder und kaum einen Moment später krachte das Auto zurück auf die Fahrbahn. Sofort waren alle Achsen gebrochen – an ein weiterfahren war nicht zu denken. Mit einem kurzen, besorgten Blick aus dem Fenster fuhren Semir und Ben an ihren Kollegen vorbei. „Sieht so aus, als wären sie ok.“, sagte Semir kurz und richtete seinen Blick wieder auf die Straße. Dann trat er das Gaspedal wieder durch, als Ben erneut zum Funkgerät griff: „Cobra 11 an Zentrale: Schwerer Verkehrsunfall bei der Auffahrt zur A57, schickt RTW und Feuerwehr! Wir bleiben an Bloch dran!“ - Und das zumindest die nächsten Minuten ohne Verstärkung...


    „So mein Freund...“, zischte Semir und schloss weiter auf den fliehenden LKW auf, der nun mittlerweile auf der Autobahn war. „Ähm, was hast du vor?“, fragte Ben etwas verunsichert. „Ich bring das jetzt zu Ende!“, zischte Semir zurück. Sein Dienstwagen war ihm jetzt vollens egal. Der BMW war nun fast auf gleicher Höhe mit dem LKW, doch plötzlich wich seine Entschlossenheit, als er die Bewegung neben ihm wahrnahm. Bloch hatte den Überholversuch bemerkt und zog nun mit seinem Transporter in Richtung Ben und Semir hinüber. „BREMS!!!“, schrie Ben, doch da war es schon zu spät. Der Transporter hatte den BMW bereits zwischen sich und die Leitplanke eingeklemmt und schleifte ihn nun mit sich. Semir stand voll auf der Bremse, doch es half nichts. Verzweifelt zog Ben seine Dienstwaffe und schoss zu seiner Seite hinaus in Richtung Blochs Fenster. Augenblicklich zog der LKW wieder hinüber und ließ den BMW wieder frei. „So, jetzt hab ich aber die Schnauze voll!“, rief Ben verärgert und machte sich daran, das Schiebedach zu öffnen. Mit einem Blick zu Semir sagte er: „Fährst du hinten ran?“ „Alles klar. Nochmal versuch ich nicht, den auszubremsen.“ Er zwinkerte Ben zu. „Pass auf dich auf, Partner!“, rief er ihm noch zu, doch da hatte Ben seinen Oberkörper bereits aus dem Dienstwagen getreckt und kletterte nun auf die links und rechts völlig zerdellte Motorhaube. Halb die Aufmerksamkeit auf Ben, halb auf den LKW vor ihm gerichtet, fuhr Semir langsam wieder an den LKW vor ihm heran. Mit seinem 306-PS-Untersatz war das für ihn kein Problem. Vorsichtig tastete er sich immer weiter heran, ständig bereit, zu bremsen, falls Bloch im Rückspiegel ihr Manöver doch bemerkt haben sollte. Doch der schien sich nur auf seine Flucht nach vorne zu konzentrieren. Vielleicht war er aber auch zu sehr mit sich selbst beschäftigt – falls Ben ihn mit seinen Schüssen verletzt hatte. Zentimeter für Zentimeter arbeitete sich der BMW nach vorne. Ben streckte bereits seine Arme aus und machte sich bereit für den Absprung. Die aufkommenden Gedanken, dass dies womöglich doch keine so gute Idee gewesen war, verdrängte er sofort – schließlich mussten sie Bloch stoppen, bevor er das Stauende erreichte. Bens Haare wehten im Fahrtwind, der in seinen Ohren rauschte. Doch plötzlich vernahm er ein noch lauteres Geräusch über ihm. Der Hubschrauber war endlich da. Doch im Moment war ihm der keine große Hilfe. Die Motorhaube auf der er sich befand, war nun noch etwa 2 Meter vom Ende des LKWs entfernt. Sollte er den Sprung riskieren? Was passierte, wenn Bloch nun auf die Bremse stieg? Er würde vermutlich nach vorne geschleudert und sich alle Knochen brechen. Aber das wollte er sich besser nicht vorstellen. Noch 1 Meter. Er machte sich bereit. Nur nicht von der glatten Motorhaube abrutschen… Nur noch ein halber Meter. Er holte Luft. Noch 30 Zentimeter. Jetzt oder nie… Er sprang.


    ...

    Einmal editiert, zuletzt von Alex_1 ()

  • Eine endlos scheinende Sekunde in der Luft. Der starke Fahrtwind blies Ben ins Gesicht, so dass er die Augen reflexartig schloss. Gleich würde er aufschlagen. Oder würde er doch weiter fallen, als er es geplant hatte? Wenn er den LKW verfehlen sollte, würde er auf der Straße aufschlagen und vermutlich von Semir überrollt werden. War das sein Ende? Das dufte nicht sein… Dann der Aufprall. Ben schlug die Augen auf: Kein Problem. Ben war sicher auf dem Anhänger gelandet.


    Sofort ließ sich Semir erleichtert ein Stück zurückfallen. Wenn Bloch jetzt bremsen sollte, musste er sich zumindest keine Gedanken mehr darüber machen, ihm hinten aufzufahren. Auch Semir war etwas erleichtert gewesen, als er den Hubschrauber registriert hatte, der nun im Tiefflug über der beinahe leeren Autobahn schwebte. Die wenigen Fahrzeuge, die sie überholten, waren in keiner Gefahr – zumindest solange sie sich noch nicht in dem Stauende befanden, das nun nur noch wenige Kilometer vor ihnen lag. Man konnte nur hoffen, dass Bloch vorher abfahren oder anhalten würde… Doch einem Terroristen wie ihm war in dieser Situation alles zuzutrauen.


    Ben kletterte die über die Ladefläche nach vorne in Richtung Führerhaus. Die restlichen der aufgeladenen Wagen bewegten sich gefährlich, als er über sie hinüber stieg. Aber sie hielten. Jetzt nur keine Kurve… Meter für Meter kämpfte Ben sich weiter. Links und rechts von ihm raste die Landschaft nur so an ihm vorbei. Er warf einen kurzen Blick nach hinten. Semir verfolgte weiter in einigen Metern Abstand den Transporter – wie es sein sollte. Doch plötzlich gab er die Lichthupe. Ben erkannte sofort, dass Semir ihn vor etwas warnen wollte, obwohl nur noch einer der beiden Scheinwerfer am BMW funktionierte. Permanent leuchtete das Fernlicht auf und erlosch sofort wieder. Ben drehte sich also wieder nach vorne und lehnte sich etwas zur Seite, um den Streckenverlauf sehen zu können. Was er sah, ließ ihm einen kurzen Moment das Blut in den Adern gefrieren: Das Stauende war in Sicht. Ohne weiter nachzudenken setzte sich Ben wieder in Bewegung. Er stieg nochmals über ein aufgeladenes Fahrzeug und war nun direkt hinter dem Führerhaus angekommen. Er stand nun im Zwischenraum der Zugmaschine und des Anhängers. Ihm lief die Zeit davon. Bis jetzt machte Bloch keine Anstalten, anhalten zu wollen. Wollte er wirklich in das Stauende rasen und das Spiel für ihn beenden? Die stehenden Autos kamen immer näher. Also traf Ben eine Entscheidung: Er musste sofort handeln und versuchen, den LKW zu übernehmen. Er zog seine Waffe, lehnte sich zur Seite in den Fahrtwind und betätigte mit Schwung den Griff der Fahrertür des LKWs. Sofort schrie er hinein: „Sofort anhalten!! Das Spiel ist aus!“ Doch als Antwort bekam er augenblicklich Schüsse zurück. Bloch streckte seinen Arm mit einer Pistole aus dem Fahrerfenster und feuerte immer wieder einzelne Schüsse ab. Erschrocken ging Ben wieder hinter dem Führerhaus in Deckung. So konnte er Bloch nicht stoppen…


    Geschockt hatte Semir das Geschehen beobachtet. Er musste sofort seinem Partner helfen. Doch was sollte er tun? Er biss die Zähne zusammen und riss nun auch seine Dienstwaffe aus dem Gürtelholster. Dann gab er Gas und fuhr neben den LKW. Bloch feuerte immer noch wie besessen von seiner Flucht in Richtung Ben. Semir blieb keine andere Wahl. Er hielt die silberne Walther P88 an seinem ausgestreckten rechten Arm und zielte durch sein Beifahrerfenster in Blochs Richtung. Jede Sekunde die er zögerte, konnte Ben das Leben kosten. Also drückte Semir ab. Einmal. Zweimal. Dreimal. Dann der Schrei. Bloch ließ seine Waffe fallen – das schwarze Metall knallte auf dem Asphalt auf. Semir hatte ihn am linken Arm getroffen. Der junge Mann blutete stark. Reflexartig drückte er auf die tiefe Wunde. Alles andere war ihm egal. Jetzt fühlte er nur noch den Schmerz. Plötzlich wurde seine Fahrertür aufgerissen und nun war er hilflos. Ein Faustschlag setzte ihn außer Gefecht, ihm wurde schwarz vor Augen.


    Ben hatte sofort registriert, dass Bloch nun entwaffnet war und hatte seinen zweiten Versuch gestartet, ihn zu stoppen. Das hatte er nun geschafft. Mit einer Hand umklammerte er fest die Fahrertür des LKWs, mit der anderen winkte er Semir, der sofort den BMW näher an den Transporter heran steuerte. Durch das offene Schiebedach vernahm er Semirs Rufe: „Mach schnell, schmeiß ihn rüber!“ Ben griff mit seinem freien Arm nach dem bewusstlosen Bloch und schleuderte ihn aus dem Führerhaus. Unsanft landete er auf der Motorhaube des BMW. Dann riskierte Ben den Blick nach vorne. Was er sah, hatte er nicht erwartet. Das Stauende war viel näher, als er gerechnet hätte. Bei dieser Geschwindigkeit war der Aufprall nicht mehr zu verhindern. Semir hupte bereits wie wild, Menschen stiegen schreiend aus ihren stehenden Fahrzeugen und rannten hinter die Leitplanken. Von überall hallten die Rufe: „Haut ab!! Haut ab!!“ Semir konnte bereits in die fassungslosen Augen von Bonrath sehen, der noch immer am Unfallort war, den die Hauptkommissare vor einer gefühlten Ewigkeit verlassen hatten.
    Ben hatte nun keine Zeit mehr, den LKW noch anzuhalten. Hatte er überhaupt noch Zeit, rechtzeitig vom Rand des Führerhauses zu springen? Weniger als 50 Meter war der LKW noch von den stehenden Autos entfernt. Von jetzt an spielte sich in Bens Wahrnehmung alles nur noch wie in Zeitlupe ab. Von irgendwo neben ihm hörte er die verzweifelten Rufe von Semir: „Spring!!! Spring!!!“ Wenn Semir nicht gleich bremsen würde, würde genauso in das Stauende krachen. Bei etwas über 100 Stundenkilometern war der Bremsweg nun sowieso schon viel zu lang. Hatte es jetzt überhaupt noch einen Sinn, zu springen? Oder war das Schicksal nun ohnehin nicht mehr abzuwenden? Die Autos wurden immer größer. Ben hatte jede Hoffnung verloren. Das war sein Ende… Er schloss die Augen und ließ sich nach hinten fallen.


    ...

  • Genau dieses Gefühl hatte Ben schon ein paar Minuten zuvor gehabt: Der freie Fall. Er kippte nach hinten und rechnete schon mit dem Aufschlagen auf dem Asphalt, der ihm das Bewusstsein nehmen würde. Doch dann überschlugen sich plötzlich die Ereignisse. Ben knallte mit dem Rücken auf die Motorhaube von Semirs BMW. Er hatte doch noch gewartet. Kaum war Ben aufgekommen, zog Semir im beinahe selben Augenblick die Handbremse und riss das Lenkrad herum. Der BMW drehte sich, schleuderte jedoch weiter auf das Stauende zu. Trotzdem verringerte er aber mit jeder Drehung beträchtlich seine Geschwindigkeit - anders als der LKW. Dieser rollte mit unveränderter Geschwindigkeit geradeaus weiter. Und dann war auch schon der immense Aufprall zu hören. Von überall splitterte Glas und flogen Trümmerteile. Der Transporter schob einen gewaltigen Trümmerberg aus Autos vor sich her, kippte um und rutschte weiter, bis er nach einer schier endlos scheinenden Strecke endlich zum stehen kam. Rings um ihn herum lag eine gewaltige Menge aus Schrott und Trümmern.


    Ben öffnete fassunglos die Augen und nahm Blochs regungslosen Körper neben ihm wahr. Um ihn herum drehte sich alles. Doch eines bemerkte er: Er lag still. Es war keine Bewegung mehr zu spüren. Alles was er wahrnahm, war der Himmel, in den er benommen hinauf blickte und die Schreie und Rufe von Menschen wie sie nach einer Katastrophe immer zu hören waren. Die Geräusche von krachendem Metall und splitterndem Glas waren verstummt. Es war vorbei. Der BMW stand still und Ben lebte. Semir saß regungslos in seinem Dienstwagen und atmete tief durch. Irgendwie hatte er das Auto noch zum stehen gebracht. Nur einen Meter weiter und es hätte Schicksal des in einiger Entfernung liegenden Transporters geteilt. Doch auch so glich der Großteil des neuen Dienstwagens eher einem verbeulten Klumpen Schrott, als einem Auto.
    Inzwischen waren bereits Polizisten und Feuerwehrleute auf diese Seite der Leitplanke gelaufen und begannen mit den Rettungsarbeiten. Langsam richtete Ben sich auf. Er konnte es noch immer nicht fassen. So knapp war es noch selten gewesen. Da kam Bonrath auf die beiden zugelaufen und fragte schon von weitem besorgt: „Ben? Semir? Alles klar bei euch? Was habt ihr denn jetzt schon wieder veranstaltet?“ Ben antwortete nicht, sondern blickte noch immer leicht benommen auf den Verursacher der ganzen Katastrophe: Bloch. Auch dieser schien langsam wieder aus seiner Ohnmacht zu erwachen. Doch bevor er sich groß bewegen konnte, drückte Ben auch schon seinen Kopf zurück auf die lädierte Motorhaube, hielt ihm seine Arme auf den Rücken und brachte erschöpft hervor: „Sie sind festgenommen.“


    Ein paar Stunden und einige Untersuchungen später saßen Ben und Semir im Verhörzimmer der PASt. Ihnen gegenüber saß der Terrorist Jan Bloch. Sein Arm war verbunden; durch den Verband war ein roter, blutiger Fleck zu sehen. Auch seine Stirn war verbunden; die Nase blutunterlaufen.
    „Ich frage Sie zum letzten Mal!“, schrie Ben ihn an: „Wer sind ihre Komplizen?? Was haben die vor?? Was ist ihre Rolle bei der Sache?? Antworten Sie, oder sie werden bis an ihr Lebensende im Knast sitzen, das schwöre ich Ihnen!“ Bloch schaute schweigend zu Boden. Er schien mit sich zu ringen. Semir betrachtete Bloch eine Zeit lang still. Er wirkte nicht wie ein skrupelloser Terrorist. Fast etwas unreif. Er wusste, diese Sorte von verdächtigen musste man weich kochen…


    Währenddessen unterhielt sich Kim Krüger hinter der Milchglaswand zum Verhörzimmer mit Winter. „Ihre Männer haben wirklich sehr gute Arbeit geleistet. Wir wussten, dass wir auf die Unterstützung der Autobahnpolizei zählen können.“ Die Chefin nickte freundlich. „Und wir werden selbstverständlich gerne weiter mit Ihnen zusammenarbeiten, solange der Rest der Bande noch nicht geschnappt ist.“, fügte der Einsatzleiter an. „Danke für ihr Vertrauen.“, stimmte Kim Krüger zu: „Gibt es denn schon etwas Neues über den Rest der Bande?“ „Leider nein“, seufzte Winter: „Bloch ist unser einziger Anhaltspunkt. Bislang wissen wir so gut wie gar nichts. Wie es aussieht, war er ja für die Beschaffung von Sprengstoff und den Bau der Sprengsätze verantwortlich. Aber ob er seine Komplizen bereits damit versorgt hat und wo diese zuschlagen wollen…“ Er zuckte mit den Schultern. „Dann hoffen wir mal, dass wir was aus ihm rauskriegen. Uns läuft die Zeit davon. Wenn die Kerle bereits im Besitz der Sprengsätze sind, könnten sie jeder Zeit zuschlagen.“, stellte Kim nervös fest und blickte hoffnungsvoll durch die verspiegelte Glasscheibe ins Verhörzimmer zurück.


    „Herr Bloch, das hat alles keinen Sinn mehr! Sie sind eindeutig identifiziert als Mittäter bei der Geiselnahme auf der A4. In ihrer Wohnung wurden ein Stadtplan mit markierten Zielen und eine Schublade voll Sprengstoff gefunden. Und jetzt noch die Nummer auf der Autobahn. Sie wandern sowieso in den Knast. Jetzt ist nur noch die Frage, wie lange.“ Semir blickte Bloch ins Gesicht. Man konnte förmlich sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. „Jetzt nur nicht nachlassen. Gleich haben wir ihn…“, dachte Semir bei sich und fuhr fort: „Ich zähle mal zusammen: In der Geiselnahme hängen sie mit drin. Das gibt mindestens 5 Jahre. Dann der unerlaubte Waffenbesitz, Vorbereitung eines Explosionsverbrechens, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, räuberischer Diebstahl von dem Autotransporter, Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung, Sachbeschädigung, und und und. Das summiert sich schnell auf bis zu lebenslänglich… Es sei denn natürlich sie zeigen sich kooperativ und helfen uns, den Rest ihrer Bande zu schnappen. Dann wirkt sich das natürlich positiv aus... Aber solange wir nicht wissen, wer von ihnen die Frau an der Tankstelle ermordet hat und Sie der einzige sind, den wir haben… Tja, dann wird das wohl an Ihnen hängen bleiben. Also Mord. Das heißt sie sitzen auf jeden Fall in der JVA bis sie schwarz sind.“ Semir lächelte sarkastisch, um Bloch zu provozieren. Es gelang ihm. „Aber ich habe nicht auf die Frau geschossen!“, rief Bloch. „Natürlich nicht.“, antwortete Semir gelassen. Nun schaltete sich wieder Ben ein: „Wenn Sie es nicht waren, wer war es dann? Wir brauchen Namen, sonst können wir Ihnen nicht helfen.“ Bloch rang mit sich selbst. Wenn er jetzt nicht begann auszupacken, würde es wohl keinen Sinn mehr haben. Und es ging immer mehr kostbare Zeit verloren...


    ...

  • Bloch holte tief Luft. Keiner der beiden Hauptkommissare wagte sich zu bewegen, um Bloch vom reden abzuhalten. Es war totenstill im Raum. Es war nicht einmal ein Atmen zu hören. Schließlich seufzte Bloch niedergeschlagen und begann zu erzählen:


    „Also gut. Angefangen hat alles nach den Anschlägen vom 11. September. Damals war ich 14. Dieses Ereignis hat mich gleichermaßen geschockt und fasziniert. Ich habe begonnen, mich mit der Thematik auseinander zu setzen, habe mich über die Hintergründe informiert, und so weiter. Irgendwann bin ich immer weiter in die Materie eingetaucht. Über einen muslimischen Kulturverein in Düsseldorf wurde mir dann eine Reise nach Afghanistan vermittelt. Ich war begeistert. Endlich konnte ich alles, worüber ich bisher nur gelesen hatte, hautnah miterleben. Die Reise hat mir neue Möglichkeiten eröffnet, ich habe viel gelernt. Ich habe danach noch andere Länder im nahen Osten besucht. Mir wurde plötzlich so vieles klar…“
    Semir konnte diesen Schwachsinn nicht mehr mit anhören. Er konnte sich das alles schon vorstellen. Bloch war während diesen Reisen in die terroristische Szene geraten. Dort hatte er eine Gehirnwäsche erhalten. Wenn er von solchen Leuten hörte, wurde er immer wütend. Zornig unterbrach er Bloch: „Es wurde Ihnen klar, dass sie Leute in die Luft sprengen mussten??“ „Das ist nebensächlich.“, fuhr Bloch unbeirrt fort: „Um Ziele und Visionen verwirklichen zu können, muss man Opfer in Kauf nehmen.“ Semir reichte es. Er verließ den Raum und knallte die Tür zu. Solche Leute brachten ihn zur Weißglut. Er nahm sich einen Becher aus dem Wasserspender um sich etwas zu beruhigen. Ben machte währenddessen mit dem Verhör weiter: „Und dann sind Sie also an die Typen geraten, mit denen Sie den Plan ausgeheckt haben, einen Anschlag in Deutschland durchzuführen, richtig?“ „Ja, so in etwa. Aber mein Part war nur der, den Sprengstoff zu besorgen, kampffähig zu machen und an sie weiterzugeben. Ich hatte ja angefangen, Chemie zu studieren. Also hatte ich die nötigen Kenntnisse. An dem Rastplatz, wo Sie uns dazwischen gekommen sind, war die letzte Absprache. Danach wäre ich raus gewesen! Mit der restlichen Planung hatte ich nichts zu tun!“ „Und warum war dann der Stadtplan bei Ihnen?“, löcherte Ben weiter. „Weil ich die Sprengstoffmenge an mögliche Ziele anpassen musste!“, keifte Bloch zurück. „Ja und?? Weiter! Für welches Ziel haben Sie sich entschieden??“ „Das weiß ich nicht. Ich habe die möglichen Ziele markiert und den anderen übermittelt. Die Entscheidung liegt bei denen…“ „Das darf doch nicht wahr sein!“, dachte Ben. Sagte Bloch wirklich die Wahrheit? Wusste er wirklich nicht mehr? „Geben Sie uns die Namen ihrer Komplizen, dann sind sie ein paar Jahre Knast los!“, forderte Ben ihn auf. Bloch senkte den Kopf. „Es gibt Zeugenschutzprogramme, die Kooperation wird Ihnen positiv angerechnet! Was wollen Sie denn noch? Noch sind sie kein Mörder!“ „Gut.“, entschied sich Bloch. Der eine heißt Yildrim, der andere Al-Arda. Vornamen kenne ich nicht. „Wer hat am Rasthof die Frau erschossen?“, fragte Ben scharf. „Yildrim, glaube ich.“, antwortete Bloch etwas eingeschüchtert.
    Ohne darauf einzugehen verließ Ben den Raum. Nun waren die vorerst wichtigsten Fragen geklärt – außer die nach dem Anschlagsort. Das bereitete dem Hauptkommissar noch etwas Bauchschmerzen. Später würden sich noch BKA-Leute mit Bloch beschäftigen und ihn ausführlicher befragen. Aber hatte er bis dahin überhaupt die Wahrheit gesagt? Sofort gab Ben Susanne die Namen, die Bloch genannt hatte und ließ sie überprüfen. Dann atmete er tief durch und streckte sich erschöpft. Sein Rücken schmerze noch etwas von dem Aufprall auf Semirs Motorhaube. Er ließ sich in seinen Bürostuhl fallen. Nach all der Arbeit brauchte er nun eine kurze Pause. Einen Moment dachte er über die vergangenen Stunden nach. Er betrachtete seine Hände. Auch sie schmerzten von dem verkrampften Festhalten an der Kante der Motorhaube, die den Übergang zur Windschutzscheibe des BMWs bildete. Es grenzte an ein Wunder, dass er sich mit einer Hand auf dem drehenden Auto hatte halten können und mit der anderen den bewusstlosen Bloch festhalten konnte. Das alles war reflexartig geschehen, nachdem er auf Semirs Dienstwagen gelandet war. Doch nochmal würde er das nicht durchmachen wollen.


    Kurz darauf betrat Semir das Büro. „Hast du was aus ihm rausbekommen?“, fragte er gestresst. Er war immer noch angespannt von dem, was er sich im Verhörzimmer hatte anhören müssen. Nachdem Ben ihn auf den neuesten Stand gebracht hatte, nickte er: „Wenigstens etwas. Mal sehen, was Susanne über unsere beiden Freunde rausbekommt. Vielleicht bekommen wir ja so noch einen Hinweis auf den Anschlagsort. Und Winters Leute sollten Bloch noch weiter löchern, vielleicht spuckt er ja noch mehr aus. Aber jetzt gilt es erst mal zu überprüfen, was er uns bisher aufgetischt hat.“ „Das macht Susanne. Ich brauch jetzt erst mal kurz was zu essen, ich verhungere fast.“, schlug Ben vor und erhob sich aus seinem Stuhl. Semir nickte, und verließ mit Ben das Büro. Diese Pause hatten sie sich wirklich verdient – und es sollte die letzte für die nächste Zeit sein.


    ...

  • Kurze Zeit später standen die beiden Hauptkommissare an ihrem Lieblings-Imbissstand an der Autobahn.
    Ohne große Lust schob sich Semir schweigend seine Pommes in den Mund. So recht schmeckte es ihm heute nicht. „Früher waren die auch noch besser, als Schröder noch da war.“, dachte er, sagte aber nichts. Er selbst hielt das für eine magere Ausrede, um seine schlechte Laune zu entschuldigen. Er hasste Fälle, bei denen man nur abwarten konnte, bis es etwas neues gab. Auch Ben kaute still seine Currywurst vor sich hin. Trotz allem tat es gut, durch etwas Essen wieder Kraft zu tanken. Dann klingelte Bens Handy. „Ja Susanne, was gibt’s?“, meldete er sich. Eine Weile hörte er zu, dann verabschiedete er sich wieder: „Alles klar. Danke, Susanne!“ Er legte auf und schon das Handy wieder zurück in seine Jackentasche. Semir schaute ihn fragend an. „Also Susanne hat die Angaben von Bloch überprüft. Scheinen zu stimmen. Dieser Yildrim und Al-Arda sind bereits mehrmals polizeilich in Erscheinung getreten, unter anderem wegen unerlaubtem Waffenbesitz. Haben aber beide unabhängig voneinander ihre Bewährungsstrafen hinter sich gebracht und sind jetzt seit einiger Zeit unauffällig. Stammen ursprünglich aus Afghanistan und dem Irak.“ „Alles klar.“, nickte Semir: „Nette Zeitgenossen... Irgendein Wohnsitz?“ „Leider nichts. Susanne forscht noch etwas in ihrem näheren Umfeld herum, und versucht, so viel wie möglich über die Typen rauszukriegen, aber bisher hat sie keine Hinweise auf ihren Aufenthaltsort gefunden.“, gab Ben zurück. „Hmm, wär ja auch zu schön gewesen.“ Semir schob sich seine letzten Pommes in den Mund und warf den leeren Pappteller weg. Gerade als er seiner Verärgerung mit einem Kraftausdruck Luft machen wollte, ertönte die leicht rauschende Stimme aus dem Funkgerät von Bens Dienstwagen, der mit offenem Fenster genau neben den Polizisten geparkt war: „Zentrale an alle Einheiten: Verdächtiger auf der Domplatte hat sich Personenkontrolle entzogen. Er flieht zu Fuß in nördlicher Richtung. Verfügbare Einheiten bitte melden. Ende.“ Sofort waren Ben und Semir hellwach. Beide ließen sofort ihre Essen stehen und sprangen umgehend in den Mercedes und machten sich erneut mit Vollgas auf den Weg in die Innenstadt. Wenn der Flüchtige wirklich Yildrim oder Al-Arda sein sollte, dann wollten sie persönlich bei der Verhaftung anwesend sein.


    Auf dem Weg in die Kölner Innenstadt verfolgten die Hauptkommissare permanent über Funk die aktuell vermutete Position des Verdächtigen. Aus allen Richtungen näherten sich mittlerweile Polizeieinheiten, um den Kerl dingfest zu machen. Hoffentlich verschwand er nicht in der Menschenmenge, die besonders in der Nähe des Bahnhofs sehr unübersichtlich werden konnte. Je näher sie ihrem Ziel kamen, desto enger zog sich das Netz um den fliehenden Mann. Auch eine Personenbeschreibung war mittlerweile durchgegeben worden – jeder Polizeibeamte in der Kölner Innenstadt hielt nun Ausschau nach dem südländisch aussehenden Mann, der mit Kapuzenpulli irgendwo in der Nähe des Doms, beziehungsweise des Bahnhofs unterwegs war. Er musste Dreck am Stecken haben, sonst wäre er bei seiner Personenkontrolle, die ja noch immer überall in der Nähe von Kölner Sehenswürdigkeiten stattfanden, nicht geflohen. Und sollte es sich bei ihm wirklich um einen der gesuchten Terroristen handeln, so waren alle Menschen in seiner Nähe in größter Gefahr. Bei diesen Gedanken gefror das Blut in den Adern der beiden Kommissare. Gerade rasten sie mit über 100 Stundenkilometern über eine rote Ampel. Das ringsum sie ertönende Hupen ignorierten sie. Das Netz zog sich immer enger…


    ...

  • „Hier Einheit 4, wir haben mehrere Einsatzwagen am Bahnhof zusammengezogen. Die Eingänge in sämtliche Gebäude werden überwacht. So kann er uns nicht entkommen.“ „Verstanden.“, bestätigte eine weitere Einheit über Funk: „Das Gebiet wird weiträumig überwacht. Wir beginnen jetzt damit, die Seitenstraßen zu durchkämmen.“


    Ben und Semir würden nur noch wenige Minuten brauchen, um auch am Ort des Geschehens angekommen zu sein. Konzentriert beobachtete Ben den Verkehr, während sich Semir mental auf den bevorstehenden Einsatz vorbereitete. Das blau-rote Blitzlicht an den Sonnenblenden reflektierte sich in ihren Gesichtern. Nur noch etwa zwei Kilometer, dann würden sie den Bahnhof erreicht haben. Dann ertönte wieder eine Stimme aus dem Funkgerät: „Einheit 7 an alle: Wir haben den Flüchtigen gesichtet! Er flieht weiter zu Fuß vom Breslauer Platz in Richtung Brandenburger Straße. Erbitten dringend Unterstützung!“ Sofort begann es im Kopf der beiden Hauptkommissare zu arbeiten. Nach nur wenigen Sekunden rief Semir: „Hier vorne links! Ich kenn da ne Abkürzung!“ „Du und deine Abkürzungen…“, bemerkte Ben skeptisch, folgte aber der Anweisung seines Kollegen. „Wir sind jetzt in der Domstraße, weiter in nördlicher Richtung! Der ist ganz schön gut zu Fuß, wir haben Mühe, dranzubleiben!“, ertönte es erneut über Funk. „Hier links!“, schrie Semir plötzlich und Ben zog hektisch die Handbremse, um die Kurve noch zu kriegen. Das Heck des Mercedes kam quer und Ben trat das Gaspedal wieder durch. Mit rauchenden Reifen schlitterte der Wagen in die Straße und beschleunigte dann wieder. Der Motor heulte auf. Nur noch wenige Meter. Wenn sie Glück hatten, konnten sie dem Flüchtigen den Weg abschneiden. „Wir sind jetzt kurz vor der Kreuzung zur Jakordenstraße!“, schrie ein Beamter keuchend in sein Funkgerät. Ben und Semir schauten sich an. Das wurde knapp. „Gib Gas!“, stachelte Semir Ben an. Nun nahm er das Funkgerät in die Hand: „Wir sind jeden Moment da! Drei! Zwei! Eins!“ Ben legte eine Vollbremsung hin. Mit blockierten Rädern und quietschenden Reifen schlitterte das Mercedes E-Klasse Coupé in die Kreuzung hinein und schon war der dumpfe Aufschlag zu hören. Quer über die Motorhaube flog ein menschlicher Körper, der gleich darauf mit einem schmerzverzerrten Schrei auf der anderen Seite des Wagens auf der Straße landete. Während Semir sofort aus dem Auto sprang, um den Mann zu sichern, nahm Ben genüsslich das Funkgerät in die Hand und verkündete gelassen: „Wir haben ihn.“


    „Unten bleiben!“, schrie Semir mit gezogener Waffe. Der Mann mit Kapuzenpulli hielt sich knurrend den Arm. Im selben Moment kamen aus allen Richtungen zig Polizeifahrzeuge angerast und blockierten die Kreuzung. „Ruft nen Krankenwagen!“, rief Semir zu ihnen hinüber, während er den Mann auf den Rücken drehte und seine Hände in Handschellen legte. Wütend schnaubte er unverständliche Worte in einer anderen Sprache. Mit Hilfe von einigen anderen angeeilten Beamten zog Semir den Verdächtigen hoch und drückte ihn gegen Bens Dienstwagen. „Können Sie sich ausweisen?“, fragte er scharf, während ein Beamter den Körper nach Waffen abtastete. Der Mann antwortete nicht. Semir wiederholte seine Frage, doch da zog der Beamte schon eine Geldbörse aus der Hosentasche des Mannes und gab sie Semir. Noch bevor er sie öffnen konnte, warf der Beamte noch einen weiteren Geldbeutel und ein Taschenmesser auf die Straße. „Das ist alles.“ sagte er und hielt den Mann weiter in Schach. „Ey, was macht ihr so nen scheiß Stress wegen behindertem Geldbeutel, Alter?“, schimpfte der Mann. Semirs Blick verfinsterte sich. Er hatte einen Blick auf den Ausweis des Verdächtigen geworfen: Er war türkischer Staatsbürger und sah entsprechend südländisch aus. Sein Name war aber weder Yildrim, noch Al-Arda. Enttäuscht gab Semir den sichergestellten Ausweis an Ben weiter, der ebenfalls einen Blick darauf warf und dann stöhnte: „Na super, und dafür der ganze Aufwand!“ Er sah sich entnervt um. Doch wohin er auch blickte, überall waren nur blau-weiße Fahrzeuge und blitzende Blaulichter zu sehen. Und mit der Zeit wurden es immer mehr. Offensichtlich war die halbe Kölner Polizei ausgerückt, um einen Taschendieb dingfest zu machen. Der Blick in die zweite gefundene Geldbörse bestätigte diese bittere Vermutung: In ihr fand sich der Ausweis einer älteren Dame. Semir seufzte, wandte sich dann zu dem immer noch vor sich hin maulenden Türken und sagte bestimmt: „Sie sind vorläufig festgenommen wegen dem dringenden Tatverdacht des Diebstahls. Abführen.“ Aufgrund des riesigen Polizeiaufgebots kam ihm dieser Spruch fast lächerlich vor. Dieser ganze Großeinsatz für einen Taschendieb… Er schüttelte den Kopf. Während er abgeführt wurde schrie der Dieb noch vor sich hin: „Ey, ich bin doch nur wegen Geldbeutel weggerannt Mann, ich sonst nix gemacht, ey ich schwör!“ Das hatte Semir befürchtet. Wertvolle Zeit war verstrichen und wertvolle Einheiten waren von der Überwachung von gefährdeten Gebäuden abgezogen wurden – für nichts. Ben dachte ähnlich. Doch kaum hatten sich die beiden resigniert zurück in ihren Wagen gesetzt, klingelte Semirs Handy.


    ...

  • „Ja Susanne, was gibt’s?“, meldete sich Semir sofort, nachdem er sein Handy aus der Tasche gefischt hatte. Hoffentlich gab es nicht schon wieder schlechte Neuigkeiten – davon hatte es in letzter Zeit genug gegeben. Susanne begann gleich zu erklären: „Ich habe mich ja nochmal genauer mit dem Umfeld von Yildrim und Al-Arda beschäftigt. Es war nicht leicht rauszubekommen, aber Yildrim hat noch Verwandte in Deutschland. Die leben in Bayern, in Neu-Ulm. Ihr erinnert euch vielleicht noch an diese terroristische ‘Sauerland-Gruppe‘, die vor ein paar Jahren festgenommen wurde – die hatten auch Kontakte nach Neu-Ulm.“ „Ja wie, soll das bedeuten, die könnten nach Bayern abgehaut sein?“, unterbrach Semir sie. „Nein, nicht unbedingt. Ich hab da nämlich noch was viel Interessanteres: Auf den Neu-Ulmer Bruder von Yildrim läuft eine Registrierung bei Car2go! Du weißt schon, das sind diese Smarts, die man sich jederzeit mieten kann, wenn man ein freies Auto sieht und registriert ist. Die stehen ja jetzt in vielen Städten praktisch an jeder Straßenecke. Yildrims Bruder hat sich auf jeden Fall in Ulm dafür registriert und nutzt das laut seinen Kontoauszügen auch sehr häufig. Fast jeden Tag ist eine Abrechnung von Car2go zu finden. Und das, obwohl auf ihn auch ein eigenes Auto zugelassen ist! Das wäre doch theoretisch ein sehr unauffälliges Fortbewegungsmittel für Yildrim selbst - er fährt mit so einem Auto wo hin, loggt sich aus, der nächste Unbeteiligte nimmt es wieder und verwischt alle Spuren. Und niemand kommt auf diese Idee. Und nach über 500 Car2gos zu fahnden, macht im Notfall auch keinen Sinn. Die einzige Möglichkeit wäre, dass Car2go in alle Wagen einen Peilsender eingebaut hat, um zu wissen, wo ihre Autos gerade sind - falls jemand das Geschäftsgebiet verlassen will. Aber darauf muss man erst mal kommen! Und theoretisch wäre es für Yildrim auch kein Problem, sich den Führerschein seines Bruders auszuleihen und unter dieser Deckung Car2go zum Beispiel in Köln oder Düsseldorf zu nutzen. Natürlich alles schön unauffällig auf die Rechnung seines Bruders. Sicher hat Yildrim, wenn er es so gemacht hat, nicht damit gerechnet, dass wir seinen Bruder überprüfen.“ „Interessant.“, gab Semir zu: „Aber leider ist das nur Spekulation. Wir haben keine Beweise dafür, dass Yildrim die Car2go-Registrierung von seinem Bruder für sich in Köln oder Düsseldorf benutzt. Aber es besteht eine Chance… Wir fahren mal bei der nächsten Car2go-Zentrale vorbei und schauen, ob die uns noch mehr sagen können. Vielleicht sogar, wo der Führerschein von Yildrims Bruder das letzte Mal für das Mieten eines Car2gos benutzt wurde. Danke Susanne!“ Semir legte auf.
    Das war wirklich eine Möglichkeit, schließlich war es unwahrscheinlich, dass Yildrims Bruder so oft ein Car2go benutzte, obwohl er ein eigenes Auto zuhause stehen hatte. Vielleicht steckte ja wirklich etwas dahinter. Semir rief Ben zu sich und erzählte ihm von der neuen Spur. Dann machten sie sich auf den Weg zur nächsten Car2go-Zentrale.


    Ungeduldig warteten Ben und Semir eine halbe Stunde später in der Empfangshalle von Car2go, um endlich mit einem Mitarbeiter sprechen zu können. Die Dame am Empfang war allerdings gerade noch im Gespräch mit einem Kunden, der sich offenbar neu registrieren wollte. „Boa, hoffentlich kriegen die das bald mal auf die Reihe!“, stöhnte Ben genervt. Auch Semir hüpfte bereits unruhig von einem Bein auf das andere. Der Neukunde vor den beiden schien extrem ahnungslos zu sein, was sein Vorhaben anging. Zum gefühlt zehnten Mal erklärte ihm die Dame nun, dass wie er die Registrierung auszufüllen habe. Irgendwann wurde es Ben und Semir zu bunt. Genervt schoben sie den jungen Mann zur Seite, der daraufhin sofort zu meckern begann: „Also bitte! Nicht vordrängeln!“ Er verstummte jedoch sofort, als Semir ihm seinen Dienstausweis direkt unter die Nase hielt: „Gerkan, Kripo Autobahn! Wir müssten dringend mit der Dame sprechen. Danach sind Sie wieder dran.“ Er lächelte den jungen Mann leicht frech an und wandte sich dann an die blonde Frau, die vor ihm saß. Ohne Umschweife kam er zur Sache. Eindringlich forderte er Sie auf: „Guten Tag. Würden Sie uns bitte umgehend zu Ihrem Chef führen? Es ist dringend.“ Leicht eingeschüchtert stand die Frau eilig auf und bedeutete den Kommissaren, ihr zu folgen.


    ...

  • „Guten Tag. Jäger, Kripo Autobahn.“ „Gerkan.“, stellten sich die beiden Hauptkommissare mit ihren Dienstausweisen in der Hand kurze Zeit später dem Leiter der Car2go-Zentrale vor. Der große, mit Hemd und Krawatte gekleidete Mann nahm seine Brille ab und bot den Polizisten einen Platz in seinem Büro an. Doch Ben und Semir lehnten ab und kamen gleich zur Sache: „Herr Stumpf, wir brauchen ihre Hilfe bei der Ermittlung des Aufenthaltsorts eines Verdächtigen. Wir haben Hinweise darauf, dass er öfters in einem ihrer Mietwagen unterwegs sein könnte. Ist denn eine solche Standortermittlung möglich?“ Leicht irritiert lehnte sich der Mann zurück: „Ja, selbstverständlich wäre so etwas möglich – der aktuelle Standort natürlich nur dann, wenn er gerade einen unserer Wagen benutzt. Jeder Kunde loggt sich bei der Benutzung eines Car2go mit seinem bei uns registrierten Führerschein an dem Lesegerät an der Windschutzscheibe ein. Von da an können wir über einen eingebauten Peilsender den Standpunkt des Wagens verfolgen – beispielsweise zum Diebstahlschutz oder wenn ein Kunde den PKW außerhalb des Geschäftsgebiets abstellt. So können unsere Mitarbeiter den Wagen wieder zurückbringen. Sollte ihr Verdächtiger aktuell keinen unserer Wagen benutzen, wird seine zuletzt gefahrene Route solange in unserem System gespeichert, bis die automatische Abrechnung von seinem Konto erfolgt ist. Dann werden die Daten umgehend gelöscht.“ „Herr Stumpf, wir haben wirklich nicht allzu viel Zeit. Wenn wir Ihnen also einen Namen sagen, können Sie nachsehen, ob dieser Führerschein gerade in einem ihrer Mietwagen eingeloggt ist und wo er sich gerade damit befindet?“, fragte Semir noch einmal nach. „Exakt“, antwortete Stumpf: „Allerdings möchte ich sie im Falle des Falles um äußerste Diskretion bitten. Unsere Kunden können sich sicher sein, dass ihnen nicht nachspioniert wird.“ „Jaja, aber in diesem Fall ist die öffentliche Sicherheit in Gefahr. Darum möchte ich sie dringend dazu auffordern, mit uns zu kooperieren.“, erhöhte Ben ungeduldig den Druck auf den vor ihm sitzenden Mann, der daraufhin einlenkte: „In Ordnung.“ Er nickte unsicher und erhob sich aus seinem Bürostuhl: „Folgen Sie mir.“


    Die Hauptkommissare folgten Stumpf eilig ein Stockwerk nach oben, wo sie ein Großraumbüro betraten. An etlichen Schreibtischen waren Menschen in ihre Arbeit vertieft. Viele tätigten Telefonanrufe, während auf den Computerbildschirmen vor ihnen Landkarten der Region zu sehen waren. Stumpf ging auf eine Mitarbeiterin zu, lehnte sich über ihren Schreibtisch und sagte: „Entschuldigen Sie, würden Sie bitte nachsehen, ob gerade der Führerschein eines…“ Er brach ab und wandte sich zu den beiden hinter ihm stehenden Kommissaren: „Wie heißt die Person, die sie suchen?“ „Yildrim! Y-i-l-d-r-i-m.“, gab Semir prompt zur Antwort. „Äh ja,“, fuhr Stumpf, wieder an seine Mitarbeiterin gewandt, fort: „Können Sie nachschauen, ob der Führerschein dieser Person gerade in unser System eingeloggt ist?“ Wortlos tippte die Frau den Namen in ihre PC-Tastatur ein, drückte die Eingabetaste und sagte dann: „Ja…“ Sie pausierte und rückte ihre Brille zurecht. „Wir haben einen Yildrim im System… Registrierung in Ulm…“ Semir unterbrach sie schnell: „Wo befindet sich sein Wagen jetzt?“ Die Frau blickte wieder auf ihren Bildschirm: „Im Moment steht das von ihm gemietete Fahrzeug auf einem Parkplatz direkt am Musical-Dome in Köln.“ Zeitgleich rannten Ben und Semir los nach draußen. Jetzt kam es auf jede Sekunde an. Ohne sich von jemandem zu verabschieden stürzten sie aus dem Gebäude und sprangen in ihr Fahrzeug. Wie lange war Yildrim und womöglich auch Al-Arda wohl schon am oder im Musical-Dome? Sollte dort der geplante Anschlag stattfinden? Ben war eben angefahren, da hatte Semir auch schon zum Funkgerät gegriffen und setzte alle Einheiten in Alarmbereitschaft. Besonders die Kollegen, die in der Nähe des Musical-Domes die Gegend überwachten, mussten nun informiert werden – wenn es nicht schon zu spät war, und sich die Terroristen irgendwie unbemerkt in das Gebäude geschlichen hatten. Nun musste alles mobilisiert werden, was laufen konnte.


    ...

  • Wie schon zuvor an diesem Tag waren die Straßen der Kölner Innenstadt bald von Polizeieinheiten überflutet. Aus allen Richtungen kamen Wagen angerast und sperrten das Gebiet um den Musical-Dome weiträumig ab. Wieder war eine der belebtesten und berühmtesten Kölner Gegenden betroffen – sollte sich hier ein Anschlag ereignen, glich das einer Katastrophe.


    Als Ben und Semir vor dem Gebäude ankamen, waren bereits einige Einheiten eingetroffen. Über Funk hatten die Hauptkommissare erfahren, dass auch ein SEK-Team und Winter in einem Hubschrauber unterwegs waren. Ben hielt seinen Mercedes direkt hinter dem völlig unscheinbar wirkenden Smart, der auf dem Parkplatz vor dem Musical-Dome abgestellt worden war. Die beiden legten sich wieder ihre kugelsicheren Westen an, wobei Semir sofort wieder ein mulmiges Gefühl beschlich. Aber er konnte es weitgehend verdrängen. Er würde diese Typen schnappen – und wenn es das Letzte war, das er tat. Insgeheim blitzte kurz der Gedanke auf, was er tun würde, wenn er diesen Fall nicht zu Ende bringen konnte. Irgendwann war er zu alt für diesen Job, und das würde sich in bestimmten Situationen zeigen. Aber dann riss er sich sofort wieder zusammen, zog den Riemen an der Seite der Weste energisch fester und war nun wieder auf seine Aufgabe konzentriert. Er griff nach seiner Waffe, ließ sie 2mal um seinen Zeigefinger schwingen und zog den Schlitten zurück. Dann ging er auf das Gebäude zu. „Moment mal!“, hielt in Ben jedoch zurück: „Nicht so schnell. Wir sollten da nicht allein reingehen. Du kennst die Typen. Vielleicht sollten wir diesmal auf Verstärkung warten.“ „Hey, das hier ist unsere Verstärkung!“, drängte Semir und deutete auf die umstehenden Kollegen. „Ich meine das SEK. Die sind jeden Moment da.“ „Ja und was ist wenn die jetzt ewig nicht aus ihrem Busch kommen und die Typen da drin solange in aller Ruhe ihre Bombe zünden? Hä?“, schimpfte Semir gereizt und versuchte weiterzugehen. Aber Ben hielt Semir immer noch am Arm fest. Semir blickte seinen Partner vorwurfsvoll an, als im selben Moment das Geräusch von mehreren PS-starken Motoren sie herumfahren ließ. Auf den Parkplatz rasten fünf schwarze BMWs mit Blaulicht und hielten in einer Reihe an. Im selben Moment ertönte von oben das Rattern eines Hubschraubers. „Jetzt! Jetzt ist die Verstärkung da.“, grinste Ben.


    „Herr Winter, wir haben keine Zeit mehr! Wir sollten sofort da rein gehen, bevor die Kerle das ganze Gebäude hochjagen. Wer weiß, ob die nicht auch zu einem Selbstmord fähig sind…“, sprach Semir in das Funkgerät und blickte währenddessen nach oben zu dem Heli. Einen kurzen Moment war Stille, dann gab Winter den Befehl: „In Ordnung. Wir stürmen. Alle Einheiten in Position!“ Nacheinander bestätigte eine Einheit nach der anderen ihre Position. Dieser Ablauf war Routine. Aber genau die war es, die Semir wieder unruhig werden ließ. Es war keine Zeit mehr gewesen, das Gebäude zu evakuieren, falls noch unbeteiligte Personen darin waren. Die Terroristen wären sofort aufgeschreckt worden – falls sie das nicht ohnehin schon waren. Nochmal ein Fehlschlag bei einer SEK-Aktion konnte sich die Polizei nicht leisten. Vor allem nicht, wenn es um Terroristen ging, die einen Anschlag vorhatten. Aber genau diese Tatsache zwang die Polizei zu handeln. Bei „normalen“ Geiselnehmern stand das Leben der Geiseln an höchster Stelle. Für die Gesetzgeber verschoben sich diese Interessen bei einem möglichen Terroranschlag. Die Sicherheit der Allgemeinheit stand auf dem Spiel – da war das Leben von einzelnen Personen, von denen man noch nicht einmal sicher wusste, dass sie da waren, nur zweitrangig. So hart das sein mochte. Aber auch das war nichts Neues mehr für Semir. „Alles klar, Partner?“, fragte Ben, der Semir so aus seinen Gedanken riss. „Jo, alles gut.“, nickte er wenig überzeugend und sagte zu sich: „Heute stirbt niemand mehr. Zumindest keiner von den Guten…“ Dann ertönte aus dem Funkgerät die kurze Anweisung: „Stürmen.“ Ohne zu zögern nahm er seine Waffe in den Anschlag und bewegte sich anschließend mit Ben und einigen SEK-Männern auf den Eingang des Musical-Domes zu.


    ...

  • Das Glas der Eingangstür splitterte. Durch die eingeschlagene Scheibe flogen Rauchgranaten, die die gesamte Eingangshalle innerhalb kurzer Zeit in eine einzige Wolke aus undurchsichtigem Rauch hüllten. Doch dann tauchten die mit speziellen Masken und Maschinengewehren ausgerüsteten, schwarzen Männer auf. Im Rauch waren die roten Strahlen der an den Gewehren angebrachten Laserpointer zu sehen. Das SEK sicherte die Eingangshalle und als schließlich aus allen Ecken ein bestimmtes „Sauber!“ ertönte, kamen auch Ben und Semir aus dem dichten Qualm gestiegen. Stets bereit, von der Dienstwaffe Gebrauch zu machen, durchkämmten die Polizisten nacheinander jeden Raum des unteren Stockwerks. Immer wieder rannten einzelne unbeteiligte, völlig verängstigte Personen umher, die sofort von den Beamten aus dem Gebäude hinaus geleitet wurden. Bislang war keine Spur von den Terroristen. Hatten sie ihre Arbeit etwa schon beendet und waren unbemerkt verschwunden? Dann war jeder hier in größter Gefahr – jede Sekunde konnte eine Bombe gezündet werden, die die ganze Umgebung in Schutt und Asche legen würde. Weiter kämpften sich die Einheiten von Raum zu Raum. Nach Möglichkeit sollten die Terroristen überrascht werden und nicht die Gelegenheit bekommen, sich auf das Öffnen der Türen vorzubereiten. Andernfalls schien ein Feuergefecht unvermeidbar zu sein. Doch bis jetzt ertönte immer wieder nur „Sicher!“ aus den vom SEK betretenen Räumen - Ben und Semir ständig dicht hinter ihnen. Ben musste Semir nach wie vor etwas zurückhalten. Er wusste, dass es seinem Partner um mehr ging, als nur die Terroristen zu schnappen. Für ihn war dieser Fall zu einer persönlichen Sache geworden. Möglicherweise machte er am Ausgang dieses Einsatzes fest, ob er weiter bei der Autobahnpolizei bleiben würde. Ben merkte, dass es diesmal er war, der dafür zu sorgen hatte, dass sein Partner es nicht übertrieb und möglicherweise zu schnell eine Entscheidung fällte, die sein Leben oder das Leben anderer gefährden konnte. Es kam ihm etwas ungewohnt vor, da ihm bewusst war, dass normaler Weise er der Draufgänger war, der gebremst werden musste. Doch er kannte auch Semirs Temperament und wusste, zu was das führen konnte…


    Nun betraten die SEK-Beamten den Theatersaal. Langsam und beinahe geräuschlos bewegten sie sich nach vorne Richtung Bühne – jeweils ein Team auf der linken, der rechten Seite und den Mittelgängen. Der Vorhang war zugezogen. Ben und Semir beobachteten die Szene von hinten. Plötzlich wandte Semir sich ab und rannte aus dem Theatersaal zurück. Ben flüsterte noch: „Hey! Was hast du vor?“ Doch Semir antwortete nicht. Ben stöhnte und folgte dann seinem Partner. Semir lief in einen Abschnitt des Gebäudes, den sie bisher noch nicht durchkämmt hatten. Er blieb vor einer Tür mit der Aufschrift „Technik – Zutritt für Unbefugte verboten“ stehen. Schnaufend kam Ben hinter ihm an. Genervt fragte er nochmal leise: „Was hast du denn vor?“ „Pssst!“, zischte Semir und ging seitlich von der Tür in Deckung. Dann flüsterte er: „Wenn das SEK sich von den Sitzplätzen aus zur Bühne vorarbeitet und die Typen wirklich irgendwo hinter dem Vorhang sind, dann könnten sie hinten durch die Technikräume abhauen und dann hier rauskommen. Und wir schneiden ihnen den Weg ab.“ Semirs sprach die Worte mit einem seltsam gefährlichen Unterton aus. Er war zu allem entschlossen. Wenn die Tür aufspringen sollte, war er bereit. „Puh.“, atmete Ben nervös aus, stellte sich auf die andere Seite der Tür und nahm seine Waffe hoch. Er hielt sie nun direkt neben seinem Ohr, den Lauf zur Decke gerichtet. Stille. Die beiden Polizisten wagten kaum zu atmen – die Spannung war förmlich zu spüren. Angespannt warteten sie auf das erneute „Sicher!“, das durch die Ohrstöpsel zu hören sein würde. Doch es kam nicht. Das ganze Gebäude schien in dieser Stellung eingefroren zu sein. Nirgends war auch nur eine Bewegung wahrzunehmen. So verharrten die Kommissare eine gefühlte Ewigkeit. Die Anspannung war kaum noch zu steigern. Es kostete enorm viel Kraft, sich verkrampft still stehend auf eine Tür zu konzentrieren, aus der jederzeit bewaffnete Verbrecher rennen konnten. Würden sie überhaupt genug Zeit haben, die Waffen auf sie zu richten und bei Bedarf genau zu treffen? Der Schweiß tropfte Ben von der Stirn. Er bildete sich ein, den Tropfen auf dem Boden aufschlagen zu hören – so still war es. Doch dann ertönten aus einer anderen Richtung schnelle Schritte…


    ...

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!