Sternenhimmel

  • Sie spürte, wie sich zwei starke Arme von hinten um sie schlangen, sie ganz fest hielten, doch sie wollte das nicht, man sollte sie in Ruhe lassen, sie war völlig außer sich. Sie versuchte, sich zu befreien, aber das hatte nur zur Folge, dass sie noch fester gehalten wurde. Sie schrie nun doch auf und mit einem Mal begann die ganze Szenerie vor ihren Augen zu verschwimmen und das Nächste, was sie klar erkennen konnte, war Ben, der sie im Schein der Nachttischlampe besorgt ansah, während er sie weiterhin fest in seinen Armen hielt. „Hattest du schon wieder diesen Traum?“ fragte er leise. Susanne nickte nur, sie konnte noch nicht antworten, sie war völlig fertig. Es war nicht das erste Mal, dass sie diese Art von Alptraum gehabt hatte, dieser aber war besonders schlimm gewesen. Es hatte sich alles so real angefühlt und sie bemerkte, dass ihr Tränen über die Wangen liefen. Sie sah zum Fenster, draußen war es noch dunkel, es schien noch mitten in der Nacht zu sein, doch sie wusste, dass sie jetzt wohl kaum mehr in den Schlaf finden würde. Ben strich ihr zärtlich über Wange. „Vielleicht solltest du mal mir Frau Dr. Nerling sprechen“, meinte er unsicher. „Wenn ich nächste Woche wieder anfange zu arbeiten, wäre es bestimmt nicht schlecht, wenn sie dich etwas unterstützen könnte.“ Susanne nickte erneut. Es war ihr völlig klar, dass diese Alpträume ihren Ursprung in der Angst hatten, Ben erneut zu verlieren. Als es nach Marlas Attentat so schlecht um ihn gestanden hatte, war sie nur damit zu Recht gekommen, indem sie ihre Ängste einfach beiseite geschoben hatte. Sie hatte den Gedanken, dass er sterben könnte, einfach nicht an sich herangelassen und das rächte sich nun mit diesen Alpträumen, denn irgendwie musste sie das alles ja verarbeiten. Susanne konnte sich noch gar nicht vorstellen, wie es sein würde, wenn er wieder draußen unterwegs wäre, ob sie damit überhaupt klarkommen würde. Immer wieder musste sie sich sagen, dass es Ben gut ging, und dass alle Sektenmitglieder für ihre Taten bestraft werden würden. Zumindest diejenigen, die dafür verantwortlich gewesen waren.
    Es hatte sich herausgestellt, dass viele nur Mitläufer gewesen waren und selbst Neria, die eigentlich Nadine Müller hieß, war einfach nur sicher gewesen, dass sie Ben im Laufe der Zeit davon hätte überzeugen können, freiwillig zu bleiben. Sie hatte nie vorgehabt, ihm etwas anzutun; in ihren Augen war er wirklich etwas Besonderes gewesen und sie hatte ihn an ihrer Seite wissen wollen. Für sie war eine Welt zusammengebrochen, als sie von den Machenschaften erfahren hatte, die für Ben fast tödlich ausgegangen wären. Auch die anderen Mitglieder der Gruppe hatten ähnlich reagiert. Sie hatten zwar auch an die Macht der Himmelsscheibe geglaubt, aber dass Ben gegen seinen Willen festgehalten worden war, war ihnen nicht klar gewesen. Vielmehr waren sie der Ansicht gewesen, sie würden ihn beschützen. Nachdem jedoch die Machenschaften von Mike ans Licht gekommen waren, hatte sich die Gruppe zerschlagen und die meisten würden versuchen, in ihr altes Leben zurückzukehren. Dies würde zwar nicht ohne psychologische Betreuung funktionieren, aber darum wurde sich gekümmert. Es gab doch etliche Gruppenmitglieder, die es sehr hart getroffen hatte, dass Ben fast getötet worden war.
    Es hatte für ihn nach Marlas Attacke tatsächlich noch lange auf der Kippe gestanden. Doch die Ärzte hatten alles in ihrer Macht stehende getan, um sein Leben zu retten und mit einer gehörigen Portion Glück war es ihnen schließlich auch gelungen, auch wenn der behandelnde Arzt Susanne im Nachhinein gestanden hatte, dass er zu Beginn der Behandlung nicht an einen Erfolg seiner Arbeit geglaubt hatte. Sie hatte sich entschieden, Ben nichts davon zu sagen, er hatte schon genug zu verarbeiten und sie wünschte sich, dass der Mediziner auch ihr gegenüber geschwiegen hätte. Sie musste wirklich mit jemandem über ihre Ängste reden, schließlich war Ben ja auch vorher Polizist gewesen, da war sie auch mit der Gefahr klar gekommen. Aber da hatte sie noch nicht die Erfahrung gemacht wie es sein würde, mit dem Wissen zu leben, dass er nie mehr zurück kommen würde. Sie würde zu Frau Nerling gehen, so viel stand für sie inzwischen fest. Sie wollte endlich wieder ein normales Leben führen.
    Während sie so nachgedacht hatte, war Ben schon wieder eingeschlafen, jedoch ohne sie loszulassen. Er war noch immer nicht ganz fit, doch er wollte unbedingt wieder arbeiten, um so auch ein Stück Normalität zurück zu erlangen. Susanne kuschelte sich eng an ihn und nach einiger Zeit fiel sie wider Erwarten doch noch in einen traumlosen Schlaf.

  • In der darauffolgenden Woche begann für beide langsam wieder die Alltagsroutine und das tat ihnen richtig gut. Auch wenn Susanne immer noch angespannt war, wenn Ben unterwegs war, kam sie mit der Zeit doch immer besser damit zurecht. Sie hatte begonnen, mit Frau Nerling ihre Erlebnisse aufzuarbeiten und die Alpträume waren auch schon weniger geworden. Zudem war Ben derzeit ausschließlich mit Semir unterwegs, so dass eigentlich gar nichts passieren konnte, sah man mal von den Blechschäden ab. Wer wusste schon, was Andrea ihrem Mann alles angedroht hatte für den Fall, dass er Ben nicht heil zurück bringen würde. Doch Semir war einfach nur froh, dass er seinen Partner wieder hatte, der langsam auch wieder der alte wurde.
    Als die beiden an einem Vormittag gemeinsam unterwegs waren, erinnerte sich Semir an ein Gespräch, welches sie vor einer gefühlten Ewigkeit geführt hatten. Und in der Zwischenzeit hatte sich eine Menge verändert. Semir begann, vor sich hin zu grinsen. „Worüber freust du dich so?“ fragte Ben neugierig. „Ach, ich dachte nur daran, wie du rumgedruckst hast, als ich dich mal gefragt habe, wie ernst es dir mit Susanne ist und jetzt seid ihr verlobt.“ Bei dem Gedanken an das Wort ‚Verlobung’ war Ben innerlich kurz zusammengezuckt, irgendwie klang das so ernst und vor allem altmodisch und das war etwas, was er mit sich so gar nicht in Verbindung brachte. Aber Semir hatte recht, er hatte Susanne einen Antrag gemacht und sie würden bald heiraten. Also konnte man ihn durchaus als verlobt bezeichnen und je länger er darüber nachdachte, desto mehr gefiel es ihm auch, das Ganze hatte so etwas verbindliches, etwas bestimmendes an sich, das auch ein Gefühl der Sicherheit gab.
    „Also, wann wollt ihr heiraten?“ fragte Semir, als er merkte, dass von Ben erst einmal nichts mehr kam. „Wissen wir noch nicht genau“, antwortete Ben, während Semir schon wieder zu grinsen begann. „Was ist denn nun schon wieder?“ fragte Ben inzwischen leicht genervt. Langsam begann er mit dem Gedanken zu spielen, einfach mit Susanne für ein langes Wochenende nach Las Vegas zu fliegen und die anderen danach vor vollendete Tatsachen zu stellen, dann könnte er sich den ganzen Rummel sparen. Aber da würde Susanne wohl nicht mitspielen. „Ach“, meinte Semir, dem Bens Reaktion nicht entgangen war. „Ich stelle mir nur gerade vor, wie du zu spät zu deiner eigenen Hochzeit kommst, weil du in deinem Chaos die Ringe nicht findest, oder meinst du, du hast dich bis dahin gebessert?“ Jetzt musste auch Ben lachen. „Dafür wird Susanne schon sorgen“, meinte er. „Das denke ich allerdings auch“, stimmte Semir ihm zu. Ben sah seinen Partner an. „Außerdem wirst du als mein Trauzeuge ja wohl die Ringe mitbringen und ich kann mich hoffentlich darauf verlassen, dass Andrea dafür sorgt, dass du sie nicht verlierst.“ Semir sah Ben erstaunt an. „Wow, hast du mich das gerade wirklich gefragt? Ich als dein Trauzeuge?“ Ben nickte. „Es wird mir eine Ehre sein“, freute sich Semir aufrichtig.
    Ihren Gedanken nachhängend fuhren die beiden weiter. Semir freute sich auf die vor ihm liegende Aufgabe und war ansonsten einfach nur froh, dass alles wieder so wie früher war. Sicher, sie hatten viel durchgemacht und so ganz war noch keiner von ihnen über das Geschehen hinweg. Sie würden alle noch eine Zeit lang brauchen, bis sie alles verarbeitet hätten. Aber ein Seitenblick auf Ben verriet ihm, dass der alles gut im Griff zu haben schien und Semir wusste, dass er sich um seinen Freund keine Sorgen mehr machen musste. Er freute sich, wieder gemeinsam mit ihm unterwegs sein zu können.



    Bens Gedanken gingen jedoch noch in eine andere Richtung. Zunächst einmal war er einfach nur glücklich, dass er sein altes Leben wieder hatte. Auch wenn die Erfahrung, dass ihn alle für tot gehalten hatten einfach nur schrecklich gewesen war, so hatte seine Rückkehr doch nur allzu deutlich gezeigt, welche Gefühle ihm entgegen gebracht wurden. Und das wollte er jetzt auch zurückgeben. Wie er das genau anstellen würde, wusste er zwar noch nicht, aber da würde ihm schon was einfallen. Oftmals waren es nur Kleinigkeiten, mit Hilfe derer man einem anderen Menschen seine Wertschätzung deutlich machen konnte, und sei es nur ein freundliches Wort. Ben nahm sich fest vor, in Zukunft verstärkt drauf zu achten. Und eins wusste er ganz genau: er war bereit, sich ganz auf Susanne einzulassen. Auch wenn er sie schon vor der ganzen Sache geliebt hatte, war in seinem Hinterkopf doch noch manchmal eine, wenn auch sehr, sehr leise Stimme gewesen, die ihn gefragt hatte, ob sie wirklich die Richtige sei. Doch diese Zweifel waren nun endgültig verstummt und er wollte nun den Rest seines Lebens mit ihr verbringen. Wer wusste schon, wie lange sie noch Zeit dafür hatten und er wollte nichts davon sinnlos verstreichen lassen. Während er seinen Gedanken nachhing, hatte Semirs Handy geklingelt, doch sein Partner hatte nicht viel zu seinem Gesprächspartner gesagt.
    „O.k., ja, ich habe verstanden.“ Mit diesen Worten beendete Semir das Telefonat. Äußerlich blieb er völlig ruhig, doch in seinem Kopf überschlugen sich die Gedanken. Um ehrlich zu sein, hätte er seinen Gesprächspartner am liebsten in Grund und Boden gebrüllt, aber erstens konnte der nichts dafür, schließlich war er nur der Überbringer der schlechten Nachricht gewesen und zweitens wollte er Ben gegenüber souverän und gelassen wirken, damit dieser sich nicht direkt ganz so schlecht fühlte. Denn Semir war sich sicher, dass es sein Partner nicht gut aufnehmen würde, was er ihm gleich sagen würde. Semir war noch immer aufgebracht über die Tatsache, dass so etwas hatte passieren können.
    „Was spezielles?“ fragte Ben arglos. Semir räusperte sich. „Ähm, hör mal, du darfst dich jetzt nicht aufregen, aber es hat eine Computerpanne gegeben.“ Ben konnte sich noch nicht ganz vorstellen, was daran so schlimm sein sollte, also wartete er ruhig auf den Rest der Nachricht. „Also, um es kurz zu machen: Mike ist auf Kaution draußen.“ Sorgenvoll sah Semir seinen Freund an, doch der zeigte noch keine Reaktion. „Es hat bei der Datenverarbeitung einen Zahlendreher gegeben, die stellen wohl gerade das System um, so ganz habe ich das auch nicht verstanden, jedenfalls konnte er so bis zur Verhandlung entlassen werden. Die Kollegen sind schon auf der Suche nach ihm und wenn du willst, stellen wir auch einen Beamten für dich ab, wenn ich nicht da sein kann.“ Während seines Monologes hatte Semir Ben genau im Auge behalten, doch der sah nur unentwegt auf die Straße und schien ganz aufs Fahren konzentriert zu sein. „Ben…?“ fragte Semir verunsichert.
    „Lass mir einen Moment Zeit, ja?“ bat ihn sein Freund. Bens Gedanken rotierten. Mike war frei und niemand wusste, wo er sich aufhielt. Dass er kaum freiwillig zu seiner anstehenden Verhandlung auftauchen würde, lag für Ben klar auf der Hand. Doch was würde er dann tun? Würde Mike das Risiko eingehen, ihn aufzusuchen oder würde er einfach verschwinden? Ben wusste nicht, welche Alternative ihm lieber wäre; die direkte Konfrontation oder die Ungewissheit, wann oder ob überhaupt etwas passieren würde. Am liebsten wäre es ihm natürlich, Mike könnte bald wieder gestellt werden, doch Ben ahnte, dass dies wohl kaum geschehen würde, dazu war Mike viel zu gerissen.


    „Ich weiß nicht, was ich davon halten soll“, erklärte er schließlich. „Es ist ja nicht das erste Mal, dass jemand auf freiem Fuß ist, der mir gefährlich werden könnte.“ „Aber diesmal ist es etwas anderes“, widersprach Semir. „Im Grunde eigentlich nicht“, entgegnete Ben, obwohl ihm natürlich bewusst war, dass Semir Recht hatte. Doch er würde besser damit klar kommen, wenn er das Ganze nicht zu sehr an sich heranlassen würde. „Können wir uns nicht einfach darauf einigen, dass ich in nächster Zeit ganz besonders gut auf eventuelle Verfolger achte?“ fragte Ben. „Du passt ja sowieso schon gut auf mich auf“, ergänzte er dann noch. Semir verzog kurz das Gesicht, doch dann nickte er, denn er konnte sich schon denken, warum Ben die ganze Sache so handhaben wollte. Immerhin schien es sich des Risikos bewusst zu sein, doch er schien damit umgehen zu können.
    „Dann fangen wir gleich mal damit an, dass du dich nach Hause fährst“, bestimmte Semir. „Susanne wartet doch bestimmt schon, oder?“ Erschrocken sah Ben auf die Uhr. Sein Partner hatte recht. Er und Susanne hatten sich den Nachmittag frei genommen, sie wollten zum Geburtstag von Susannes Tante Sophie fahren und Ben wollte sich bei dieser Gelegenheit endlich einmal persönlich bei ihr dafür bedanken, dass sie sich so fürsorglich um Susanne gekümmert hatte, als es ihr wegen ihm so schlecht gegangen war. „Na dann mal schnell“, grinste Semir und Ben fuhr zügig in Richtung ihrer Wohnung.


    Dort angekommen wurde er bereits von Susanne erwartet. „Da bist du ja endlich, können wir direkt los?“, sagte sie statt einer Begrüßung. „Oder willst du dich noch umziehen?“ fragte sie dann noch. „Wieso? Ich meine, ist das nicht in Ordnung für deine Tante?“ Etwas verunsichert schaute Ben an sich herunter und Semir musste sich alle Mühe geben, um nicht laut loszuprusten. Die beiden benahmen sich ja jetzt schon wie ein altes Ehepaar! Ben bekam das nicht mit, er überlegte, ob Susanne der Meinung war, dass er sich in Schale werfen müsse, denn eigentlich sah er so aus wie immer. Susanne hatte Semirs Gesichtsausdruck bemerkt und musste auch lachen. „Ach nein, ist schon in Ordnung, war eine blöde Frage.“ Mit einem Achselzucken in Richtung Semir verabschiedete sich Ben und stieg mit Susanne in ihr Auto.

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  • Auch Semir machte sich auf den Weg, um Aida vom Kindergarten abzuholen. Er hatte sich ebenfalls freigenommen und seiner Tochter versprochen, mit ihr und Andrea heute in den Zoo zu fahren. Er freute sich schon richtig auf den Familienausflug, sie machten so etwas viel zu selten. Wie immer nahm er sich vor, das in Zukunft anders zu handhaben.
    Doch seine Pläne wurden über den Haufen geworfen, als er im Kindergarten ankam. Die Erzieherin sah ihn irritiert an, als er nach seiner Tochter fragte, nachdem er sie im Garten nicht hatte finden können. „Aida? Die hat doch schon ein Kollege von Ihnen abgeholt“, war die Antwort, die er erhielt und die ihn sofort in höchste Alarmbereitschaft versetzte. Doch er zwang sich ruhig zu bleiben. Es würde sich sicher alles gleich aufklären. „Wie hieß der Kollege denn?“ fragte er. „Oh, das weiß ich nicht mehr, hier war gerade so viel Trubel, da habe ich mir den Ausweis nicht so genau angeschaut. Wieso, ist etwas nicht in Ordnung?“ fragte sie beunruhigt. Es kam schon manchmal vor, dass Herr Gerkhan jemanden schickte, um seine Tochter abzuholen, die meisten Beamten kannte sie inzwischen, doch heute schien etwas nicht zu stimmen. „Nein ist schon gut, sicher hat meine Frau nur vergessen, mir Bescheid zu geben“, sagte Semir und verließ erst einmal die Einrichtung. Doch er dachte nicht im Traum daran, jetzt Andrea anzurufen. Zuerst einmal telefonierte er sich durch die ganze Dienststelle, doch niemand konnte ihm weiterhelfen. Also hatte er keine Wahl und rief Andrea an. Doch sie war über seine Nachricht völlig entsetzt und machte sich sofort auf den Weg in den Kindergarten, wo sie wenig später völlig aufgelöst auf ihren Mann traf. Semir hatte sich inzwischen eine Beschreibung von dem Mann, der Aida abgeholt hatte, geben lassen. Diese war jedoch sehr vage und traf auf viele zu. Weitere Beamte waren inzwischen auf dem Weg zum Kindergarten, um eine Suche einzuleiten und Semir war wie seine Frau kurz vorm Durchdrehen.


    Von all dem ahnten Ben und Susanne nichts, während sie in Ruhe die Landstraße entlang fuhren. „Sag mal erwartest du noch jemanden?“ fragte Susanne Ben und deutete in den Rückspiegel. Ben sah sich um und entdeckte einen schwarzen Van, der ziemlich dicht auffuhr, egal welches Tempo Susanne wählte. „Zuerst dachte ich nur, er will in die gleiche Richtung, aber irgendwie kommt er mir komisch vor, er fährt so dicht auf und er hätte doch schon längst überholen könne, hier ist doch sonst kein Auto unterwegs“, meinte sie. Ben musste ihr Recht geben, irgendwas schien hier merkwürdig zu sein.
    Gerade, als er Susanne bitten wollte, rechts ran zu fahren, klingelte sein Handy. Ben ging ran, doch als er die Stimme am anderen Ende der Leitung erkannte, wurde ihm heiß und kalt zugleich. „Hallo Ben“, hörte er Mike sagen. Ben war jedoch nicht in der Lage, ihm zu antworten, doch das war noch nicht nötig, denn Mike reichte das Telefon weiter. „Hallo Onkel Ben, wir wollten dich überraschen, hast du uns schon gesehen?“ plapperte Aida fröhlich drauf los. Im ersten Augenblick war Ben zu entsetzt, um zu antworten, doch dann riss er sich zusammen. Aida hatte anscheinend keine Ahnung, in welcher Gefahr sie sich befand und so sollte es auch bleiben. Wer wusste schon, was Mike ihr erzählt hatte, um sie in den Van zu locken.
    Susanne hatte ihren Wagen inzwischen gestoppt, nachdem sie Ben Reaktion bemerkt hatte. Auch der Van war ein Stück hinter ihnen zum Stehen gekommen. Auf der Straße war um diese Zeit kaum Verkehr und so passierte kein weiteres Fahrzeug die parkenden Autos.
    „Ich könnte jetzt einfach Gas geben und verschwinden, der Kleinwagen deiner Freundin könnte da wohl kaum mithalten“, kam es süffisant von Mike und Ben wusste, dass er Recht hatte. „Ich bin vor dem Losfahren jedoch bereit, noch einen kleinen Passagiertausch vorzunehmen. Du kannst dich von mir aus noch von deiner Freundin verabschieden, aber lass das Handy an.“ Ben ließ den Hörer sinken und sah Susanne an, die in fragend anschaute. Sie hatte das untrügliche Gefühl, dass etwas Schreckliches passiert war und hatte Angst vor dem, was Ben jetzt sagen würde, doch der wusste kaum, wie er anfangen sollte und so entschied er sich für den direkten Weg. Er hatte wenig Zeit. „Susanne, hinter uns im Wagen sitzen Mike und Aida.“ Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, um einen Aufschrei zu unterdrücken. „Er will mich“, erklärte Ben weiter. „Im Gegenzug lässt er Aida gehen. Sie hat keine Ahnung, was hier los ist.“ Susanne sah im in die Augen. Auch wenn sie nur allzu gut erkennen konnte, dass auch er Angst hatte, wusste sie, was er tun würde.
    „Willst du das wirklich machen?“ musste sie ihn trotzdem fragen. „Ich will nicht sterben, aber das Leben eines Kindes, noch dazu das von meinem besten Freund, ist wichtiger als meins, das weißt du genauso gut wie ich.“ Und um weitere Diskussionen, die sowieso zu keinem anderen Ergebnis führen würden, zu vermeiden, nahm Ben das Handy wieder ans Ohr und sagte: „In Ordnung, wie wollen wir es machen?“ Man konnte das Grinsen von Mike förmlich spüren, als er sich an Aida wandte. „Hör mal Liebes, eine kleine Planänderung. Ich muss mit deinem Onkel Ben doch noch mal weg, aber du kannst schon mal bei Tante Susanne mitfahren.“ Und an Ben gerichtet wies er an: „Du bringst auch das Handy deiner Freundin mit und kommst dann langsam zu mir zum Wagen. Mach hinten die Schiebetür auf. Und lass das Handy an.“ Ben beugte sich zur Seite und nahm Susanne in den Arm. Es war ihm bewusst, dass dies wahrscheinlich ein Abschied für immer sein würde. Jedoch bezweifelte er, dass ihr das im Moment auch schon so klar war und so wollte er sich beeilen. Er hielt sie ganz fest, bis er sie schließlich doch loslassen musste. Sein Griff zum Handschuhfach blieb von Susanne und Mike unbemerkt. Dann nahm er das Handy aus ihrer Handtasche und schüttelte den Kopf, als sie widersprechen wollte. „Seine Bedingung“, erklärte er. Ben löste den Gurt und stieg aus. Langsam näherte er sich dem Van. In ihm sträubte sich alles dagegen, doch er musste es tun, er hatte gar keine andere Wahl.



    Heute Abend kommt noch ein Kapitel!

  • Am Fahrzeug angekommen, zog er vorsichtig die hintere Schiebetür auf und erblickte eine fröhliche Aida, die die Waffe, welche Mike in der Hand hielt, nicht sehen konnte. Aida fiel Ben um den Hals, doch er schob sie zügig von sich weg. „Hallo Maus“, sagte er, „wir haben jetzt leider nicht so viel Zeit, lauf schnell zu Susanne, sie bringt dich zu Mama und Papa.“ Aida nickte und sprang aus dem Fahrzeug. „Kommst du nachher auch in den Zoo?“ fragte sie noch. „Das werde ich wohl nicht schaffen, aber ich wünsche euch viel Spaß. Und nun lauf!“ antwortete Ben, der das Kind einfach nur so schnell wie möglich von hier weg haben wollte. Aida lief los und Mike bedeutete ihm mit der Waffe einzusteigen. Nach einem letzten Blick auf Susanne, die inzwischen ausgestiegen und Aida in Empfang genommen hatte, folgte Ben dieser Aufforderung. Kaum hatte er den zweiten Fuß in den Van gesetzt, schoss Mikes Faust in sein Gesicht und alles wurde schwarz.
    Schnell machte Mike die Tür zu und fesselte Ben mit Kabelbindern, die er so fest wie möglich zu zog. Zwar glaubte er nicht, dass sein Opfer wieder schnell wach werden würde, dazu hatte er zu fest zugeschlagen, doch er wollte lieber auf Nummer sicher gehen, in Anbetracht dessen, was schon alles schief gelaufen war. Mit zwei kräftigen Tritten machte er noch die Handys unbrauchbar, nicht dass sie es noch schafften, ihn zu orten. Doch selbst, wenn sie draufkamen, wo er hinfahren würde, würde es dann zu spät sein. Er setzte sich hinters Steuer und gab Gas.


    Susanne hatte Aida inzwischen auf der Rückbank untergebracht. Sie hatte ihr eine Geschichte von einer besonderen Ausnahme erzählt, als die Kleine nach einem Kindersitz gefragt hatte und auch während der Fahrt erzählte ihr Susanne einfach irgendetwas, hauptsächlich allerdings, um sich selbst abzulenken. Sie fühlte sich zwar immer noch wie betäubt, doch langsam begann sie zu realisieren, was hier gerade geschehen war. Sie verstand auf einmal, dass Ben davon ausgegangen war, sie nie wieder zu sehen. Sie spürte Tränen in sich aufsteigen, doch die konnte sie jetzt noch nicht zulassen. Sie musste Aida zu Semir und Andrea zurück bringen, das war es, was Ben gewollt hatte. Bestimmt waren die beiden im Kindergarten, inzwischen hatte man Aidas Verschwinden dort sicher bemerkt.
    Susanne war froh, dass Aida währen der Fahrt einfach nur aus dem Fenster sah und keine weiteren Fragen mehr stellte. Der Weg kam ihr ewig vor, doch tatsächlich dauerte es nur zehn Minuten, bis sie den Kindergarten erreicht hatte. Vor dem Gebäude entdeckte sie ein großes Polizeiaufgebot, in dessen Mitte sich Semir befand. Seine Sorge war ihm deutlich anzusehen, seiner Frau aber noch viel mehr. Andrea stand etwas abseits und schien mit den Nerven am Ende zu sein, was auch kein Wunder war, immerhin war ihr Kind spurlos verschwunden. Susanne freute sich schon fast drauf, ihr Aida wieder zu bringen, doch dann wurde ihr wieder bewusst, welchen Preis Ben dafür bezahlt hatte oder vielmehr noch bezahlen würde. Bevor ihr wieder bei dem Gedanken daran, was Ben im Augenblick wohl durchmachen müsste, schlecht wurde, parkte sie den Wagen, nahm Aida, die alles glücklicherweise einfach nur spannend zu finden schien, an die Hand und ging schnurstracks auf Andrea zu.
    Sobald diese ihre Tochter erblickt hatte, rannte sie den beiden entgegen, ging vor Aida auf die Knie und nahm sie so fest in den Arm, als wolle sie sie nie wieder loslassen. Da Susanne kein Kind hatte, konnte sie sich kaum annährend vorstellen, was in Andrea in diesem Moment vorging. Vielleicht hätte sie es sich mit Ben vorstellen können, eine Familie zu gründen, aber… Susanne schluckte und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Sie war eigentlich ganz froh, dass Andrea erst mal keinen Blick für sie übrig hatte, so musste sie ihr auch noch nicht sagen, was geschehen war. Inzwischen war auch Semir auf sie aufmerksam geworden. Er ließ alles stehen und liegen und kam sofort angelaufen, um seine Familie in die Arme zu schließen. Susanne nutzte diesen Moment, um sich ein Stück weit von diesem Idyll zu entfernen, machte ihr dieser Anblick nur noch deutlicher, was sie gerade verloren hatte. Doch tief in ihrem Inneren wusste sie, dass Ben die richtige Entscheidung getroffen hatte.
    Langsam löste sich Semir von seiner Tochter und sah sich suchend um, bis er Susanne entdeckte. Er sah unglaublich erleichtert aus, aber auch ein wenig neugierig. „Wo hast du sie gefunden?“ fragte er. Man merkte seinen Worten nur allzu deutlich an, welche Last von ihm gefallen war und Susanne hasste es, was sie ihm jetzt sagen musste. Erwartungsvoll sah Semir sie an. Susanne holte tief Luft. „Mike hatte sie“, eröffnete sie ihm dann und erntete erst mal nur einen entsetzten Blick. „Aber wie hat du sie dann wiederbekommen, ich meine wolltest du eigentlich nicht mit Ben… Wo ist Ben?“ fragte er dann, denn in ihm keimte ein furchtbarer Verdacht auf. „Er ist jetzt bei Mike“, war alles, was Susanne sagen konnte, doch mehr auch nicht notwendig, denn Semir verstand auch so, was geschehen war. „Warte kurz hier“, sagte er und ging dann kurz zu seiner Frau und dann zu den Kollegen. Anschließend kam er wieder zu Susanne und geleitete sie zu seinem Wagen. Gemeinsam setzten sie sich auf die Rückbank. „Erzähl“, forderte er sie auf und Susanne berichtete ihm, was vorgefallen war. Sie versuchte, sich an jedes Detail zu erinnern, doch auch im Nachhinein wusste sie nicht, an welcher Stelle sie hätten anders handeln können und auch Semir schien keine Alternative einzufallen. Diese Tatsache erleichterte Susanne ein klein wenig, denn sie wusste nicht, wie sie damit fertig geworden wäre, hätten sie eine Möglichkeit übersehen, die Sache anders zu lösen. Doch dies schien wirklich nicht möglich gewesen zu sein.
    Semir schwieg eine Weile, man konnte ihm ansehen, dass er die verschiedenen Möglichkeiten durchging, um an der Situation etwas zu ändern. „Susanne, hast du irgendeine Idee, wo er ihn hinbringen könnte? Hat er dir einen Hinweis gegeben?“ fragte Semir das Nächstliegende, was ihm einfiel. Er war in keinster Weise dazu bereit, jetzt schon aufzugeben; Ben war wahrscheinlich noch am Leben. Doch Susanne schüttelte den Kopf. Aber dann fiel ihr noch etwas ein. Konnte es sein, dass Ben zum Handschuhfach gegriffen hatte, als er sie umarmt hatte? Hatte er in dieser Situation daran gedacht? Sie teilte Semir diese Überlegung mit, doch der sah sie erst mal verständnislos an. „Und wie soll uns das weiterhelfen?“ fragte er. Natürlich, er konnte das ja nicht wissen. „Seit es uns mehrfach passiert ist, das wir ohne Handy, beziehungsweise mit leerem Akku dagestanden haben, sorgt Ben immer dafür, dass in den Autos aufgeladenen Ersatz Handy sind. Vielleicht hat er es geschafft, eins in den Van zu schmuggeln.“ Semir konnte seine Aufregung über diese Neuigkeit kaum verbergen. „Das ist ja großartig! Dann müssen wir ihn ja nur noch orten!“ Doch Susanne konnte seinen Optimismus noch nicht teilen. „Aber er muss dazu auch eingeschaltet sein und ich weiß nicht, ob er das geschafft hat.“ Semir schüttelte den Kopf. „Das ist unsere einzige Möglichkeit. Wir müssen einfach hoffen, dass er es schafft! Los, lass uns ins Büro fahren!“

  • Dort angekommen versuchte Susanne unter den bangen Blicken des ganzen Teams, beide Nummern zu orten, da sie nicht genau wusste, welches Telefon Ben bei sich hatte. Doch sie hatte keinen Erfolg. Susanne hatte schon fast damit gerechnet, doch Semir schien sichtlich enttäuscht zu sein. Er wendete sich zu Dieter, Hotte und den anderen. „Dann müssen wir es eben auf die altmodische Weise machen. Als erstes werden wir… Was ist das jetzt?“ Er deutete auf den Bildschirm. Für einige Sekunden blinkte auf der Karte ein Signal, doch dann verschwand es wieder. Susanne glaubte kaum, was sie da gesehen hatte, konnte das wahr sein? Hatte er es tatsächlich geschafft? Aber warum war das Signal dann nur so kurz gewesen? „Susanne, was ist?“ fragte Semir sie eindringlich. „Ja, das war das Handy von Ben. Warte, ich zeige es dir noch mal auf der Karte.“ Semir sah auf den Bildschirm und konnte es kaum fassen. Sollte es wirklich so einfach sein? Das hätte er nicht von Mike erwartet. Aber die Technik sprach eine deutliche Sprache.


    Nachdem Ben im Wagen wieder zu sich gekommen war, versuchte er als erstes, irgendwie an das Handy zu kommen, das er aus dem Handschuhfach mitgenommen hatte. Er beglückwünschte sich zu seiner Idee, in jedem Wagen eins davon für den Notfall deponiert zu haben, auch wenn er sich diesen irgendwie anders vorgestellt hatte. Jetzt musste er das verdammte Ding nur noch ankriegen, bevor die Fahrt zu Ende war und Mike es doch noch fand. Er musste sich beeilen, er hatte keine Ahnung, wie lange er bewusstlos gewesen war und welche Strecke sie schon zurückgelegt hatten. Es war wegen der Kabelbinder nicht ganz so einfach, aber schließlich hatte er es geschafft. Er hatte einen simplen PIN gewählt, den er auch eingeben konnte, ohne das Gerät zu sehen. Ein leises Piepen verriet ihm, dass er Erfolg gehabt hatte. Jetzt konnte er nur noch hoffen, dass Susanne schon an ihrem Rechner im Büro saß. Er war sich ziemlich sicher, dass sie gesehen hatte, dass er das Handy an sich genommen hatte. Allzu deutlich hatte er sie nicht darauf aufmerksam machen können, sonst wäre es sicher auch Mike aufgefallen. Oder hatte sie es doch nicht bemerkt? Hatte sie in der Situation überhaupt noch daran gedacht, dass es sich dort befand? Wenn er länger darüber nachdachte, konnte er im Nachhinein kein Anzeichen dafür entdecken, dass sie ihm zu verstehen gegeben hatte, dass sie nach ihm suchen würde. War sein Tod also doch schon eine beschlossene Sache?
    Er spürte, wie langsam immer mehr Angst in ihm hoch kroch, die sich langsam zur Panik auswuchs, als er bemerkte, dass der Wagen zum Stehen kam. Die Tür wurde aufgerissen und er sah sich einem grinsenden Mike gegenüber, auf dessen Stirn sich jedoch plötzlich eine Zornesfalte bildete. Ben wusste ganz genau, was der Grund dafür war und ihm war auch klar, dass er jetzt verloren hatte. Mit einem wütenden Aufschrei entriss Mike ihm das Handy, warf es auf den Boden und trat mit aller Wucht darauf herum, bis nur noch diverse Einzelteile übrig waren. Das war es dann also gewesen. Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand in diesen wenigen Sekunden, in denen das Gerät eingeschaltet gewesen war, das Signal gesehen hatte, war verschwindend gering. Es gab keinen Grund mehr für ihn, sich Hoffnungen zu machen, es war vorbei. Das einzige, was er sich jetzt noch wünschte war, es möge schnell gehen. Und Mike schien seinem stummen Wunsch nachkommen zu wollen, er holte mit der Faust aus und schickte Ben erneut in die Bewusstlosigkeit.


    In Windeseile hatte Semir ein Team zusammengestellt und sie waren auf dem Weg. Er hatte Susanne gebeten, bei Andrea zu bleiben. Zum einen war es ihm lieber, dass seine Frau jetzt nicht allein war, zum anderen hatte er so Susanne die Entscheidung abgenommen, ob sie mitkommen wollte oder nicht. Und wenn Semir ehrlich war, wollte er Susanne auch lieber nicht dabei haben, denn wer wusste schon, in welchem Zustand sie Ben vorfinden würden. Niemand konnte wissen, was in Mikes Gehirn vor sich ging, aber es war auf keinen Fall mehr mit normalen Maßstäben zu messen. Semir war sich inzwischen sogar sicher, dass Mike wirklich psychisch krank war, doch das machte die ganze Sache nur noch gefährlicher.
    Semir wusste nur eins; er würde das alles heute, wie auch immer, beenden. Der Mistkerl hatte zu allem anderen auch noch seine Tochter entführt, er hatte also eine sehr persönliche Rechung mit ihm zu begleichen. Und es war nur Bens Opferbereitschaft zu verdanken, dass er Aida gesund und munter wieder bekommen hatte. Semir hatte geschworen, sich dafür persönlich bei seinem besten Freund zu bedanken und deswegen würde er ihn jetzt hier raus holen.
    Der schwarze Van, den sie nach ihrer Fahrt am Waldrand entdeckten bestätigte seine Vermutung. Wer hätte gedacht, dass Mike zu dem inzwischen verlassenen Haus der Sekte zurück kehren würde? War das einfach nur dreist oder dachte er über so etwas überhaupt nicht nach?


    Doch Mike hatte sich bewusst für diesen Ort entschieden. Hier war er allein und er hatte alles, was er brauchte, um sein Ritual durchzuführen. Die Konstellation der Sterne stimmte zwar nicht mehr so ganz, aber es würde schon noch reichen. Und selbst wenn man ihn hier finden würde, wusste er, dass er genug Zeit hatte, um sein Vorhaben zu Ende bringen zu können und das war alles, was zählte.
    Ben lag vor ihm auf dem Bauch, Hände und Füße waren sicher fixiert, selbst wenn er aufwachen würde, hätte er keine Möglichkeit, sich zu befreien. Mike war gründlich gewesen, er wollte nicht wieder so eine Überraschung wie mit dem Handy erleben.
    Obwohl es für das Ritual unwichtig war, hoffte Mike insgeheim, Ben möge noch einmal wach werden, damit er mitbekam, was mit ihm geschah. Das hatte er nach all den Schwierigkeiten, die er Mike bereitet hatte, eigentlich verdient. Und so jubelte Mike innerlich, als er sah, dass Ben langsam die Augen aufschlug und sich so weit er konnte umsah. Er grinste, als er Bens entsetzten Gesichtsausdruck sah, als dieser den gleichen Dolch, wie ihn Marla gehabt hatte, in Mikes Händen erblickte. Langsam näherte er sich seinem Opfer.


    „Los, los, los, wir müssen uns beeilen!“ trieb Semir seine Leute an. Eigentlich war dies völlig unnötig, denn jeder machte so schnell wie er konnte, alle wussten, was auf dem Spiel stand. Doch Semir konnte einfach nicht anders. Sie mussten es einfach rechtzeitig schaffen, es durfte nicht passieren, dass sie zu spät kamen, es durfte einfach nicht passieren!



    Das vorletzte Kapitel folgt heute Abend!

  • Ben konnte den Blick nicht von dem Dolch abwenden. Er konnte sich ziemlich gut vorstellen, was Mike damit vorhatte und er wusste auch, dass er ihn nicht davon abhalten konnte. Ob er vielleicht noch ein wenig Zeit heraus schinden konnte? Aber was würde das bringen? Es würde sein Leiden nur noch verlängern, denn an eine Rettung glaubte Ben längst nicht mehr, dafür war es jetzt zu spät. Warum hatte er auch noch einmal aufwachen müssen! Doch er wollte nicht so einfach aufgeben, das war nicht seine Art.



    Sie hatten das Haus schon fast erreicht, doch nirgendwo war ein Licht zu entdecken. Langsam konnte Semir seine Panik kaum noch unterdrücken. Was war, wenn sie falsch lagen? War Mike mit Ben irgendwo im Wald verschwunden? Dann hatten sie keine Chance mehr, ihn rechtzeitig zu finden! Die Hütte, in der Ben zuletzt festgehalten worden war, stand leer, das Team, welches dort gesucht hatte, hatte dies vor wenigen Augenblicken gemeldet. Endlich standen sie vor der Eingangstür. Semir hoffte inständig, dass Ben doch hier war. Nachdem sie die Tür aufgebrochen hatten, verteilten sich die Männer und Frauen im ganzen Haus und begannen, es systematisch zu durchsuchen. Semir rannte mit Dieter zu dem Zimmer, in dem Ben gefangen gewesen war.



    „Hör zu Mike, meine Leute werden dich hier finden, das ist dir doch klar, oder?“ Ben hatte den Kelleraum sofort wieder erkannt. Hier war er gewesen, als er zum ersten Mal die Mitglieder der Sekte gesehen hatte. Auch Marla war ihm zum ersten Mal hier begegnet. Die toten Katzen und Marder waren inzwischen verschwunden, doch die Messer und Dolche hingen bis auf den, den Mike in der Hand hielt, ebenso an der Wand wie beim letzten Mal. Warum hatten die Kollegen diese Waffen bei der Durchsuchung nicht beschlagnahmt? Ben fiel nur eine einzige Erklärung für diesen Umstand ein: Man hatte diesen Raum nicht gefunden. Er schluckte, als ihm klar wurde, was das bedeutete. Man würde also wahrscheinlich nicht mal seine Leiche finden und dann würde das ganze Elend für seine Freunde und Familie erneut beginnen. Na ja, wenigstens konnten sie dieses Mal wenigstens ziemlich sicher davon ausgehen, dass er tatsächlich tot war.
    „Hast du gehört, was ich gesagt habe?“ versuchte er es trotzdem weiter, das war er sich und den anderen schuldig. „Du wanderst für immer hinter Gitter!“ Doch Mike schien dieser Welt inzwischen völlig entrückt zu sein, er murmelte irgendetwas vor sich hin, während er sich zu Ben hinunter beugte. Er setzte den Dolch unterhalb des Schulterblattes an, Ben konnte spüren, wie der Druck immer stärker wurde, bis sein Körper nachgeben musste und der Dolch schließlich in seinem Rücken steckte. Ben hatte gehoffte, nie wieder solche Schmerzen spüren zu müssen, es war unerträglich und er konnte sich nicht einmal wehren. Und Mike war noch lange nicht fertig, er hatte gerade erst begonnen. Das Zeichen musste mit Blut, dem Urquell des Lebens dargebracht werden. Er begann, die Klinge langsam durch Bens Rücken hindurch gleiten zu lassen. Die Schreie seines Opfers nahm er kaum wahr, er hatte eine Aufgabe zu erfüllen.



    In dem Zimmer und auch im restlichen Teil des Hauses war nichts zu finden gewesen. Semir konnte seine Panik nun nicht mehr verbergen. Wo sollten sie jetzt nur noch suchen? So würden sie es niemals rechtzeitig schaffen! Seine Begleiter sahen ihn ratlos an, auch in ihren Mienen konnte Semir die Verzweiflung erkennen, sie warteten auf eine Anweisung von ihm, doch er wusste nicht, was er jetzt sagen sollte. Doch plötzlich erschütterte ein Schrei die Stille. Semir zuckte zusammen, als dieser ihm durch Mark und Bein fuhr. Er hatte sofort erkannt, wessen Stimme es gewesen war und es tat ihm in der Seele weh, Ben so leiden zu hören, aber es bedeutete auch, dass Ben doch hier und vor allen Dingen noch am Leben war.
    „Los!“ gab Semir das Kommando und sie stürmten in die Richtung, aus der sie einen weiteren Schrei vernommen hatten.
    Zuerst konnten sie nichts entdecken, doch dann erkannte Semir in der Holzvertäfelung der Wand eine gut verborgene Tür. Kein Wunder, dass man sie nicht schon gefunden hatte, auch ihm wäre sie nicht aufgefallen, wenn er nicht gezielt nach etwas gesucht hätte. Und doch machte er sich Vorwürfe, dass er vorhin nicht genau hingesehen hatte. Aber eigentlich war für solche Gedanken jetzt keine Zeit, am liebsten hätte er die Tür sofort eingetreten, doch so stabil wie diese aussah hätte er sich bei diesem Versuch wohl höchstens den Fuß gebrochen. „Warum hat das so lange gedauert“, raunzte er die Kollegen an, die mit dem passenden Aufbruchwerkzeug herbei geeilt waren. Semir wusste, dass er sich gerade ziemlich unangemessen verhielt, aber durch die Sorge um Ben konnte er kaum klar denken. Doch niemand beklagte sich oder machte ihm Vorwürfe deswegen, alle verstanden, warum er sich so aufführte, denn auch sie hatten, genau wie Semir noch einen weiteren Schrei gehört. Dieser letzte war allerdings nicht mehr so laut wie die anderen gewesen, er hatte eher erstickt geklungen und ließ das Schlimmste befürchten. Was tat dieser Scheißkerl ihm nur an?
    Allen stand die extreme Anspannung ins Gesicht geschrieben, während zwei von ihnen versuchten, die Tür aufzubekommen. Es war kein leichtes Unterfangen, sie hatten kaum etwas, wo sie ansetzten konnten, bei dem Schloss hatten sie überhaupt keine Chance. Semir wurde während dieser Wartezeit, in der er zur Untätigkeit verdammt war, noch nervöser, sofern das überhaupt noch möglich war. Es war jenseits der Tür überhaupt kein Laut mehr zu hören, das konnte seiner Meinung nach kein gutes Zeichen sein.
    Nach einer gefühlten Ewigkeit war die Tür schließlich auf und Semir musste sich beherrschen, um nicht sofort loszustürmen, er musste einen kühlen Kopf bewahren, wer wusste schon, was ihn erwartete, es konnte auch eine Falle sein. Doch der Anblick, der sich ihn schließlich bot, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren. Wie konnte ein Mensch einem anderen so etwas nur antun? Sollte er vorher noch Zweifel gehabt haben, so stand für ihn spätestens ab diesem Moment fest, dass Mike definitiv psychisch krank war, alles andere machte überhaupt keinen Sinn.


    Ben lag auf dem Bauch auf einem Tisch, Hände und Füße gefesselt, unfähig, sich zu bewegen. Mike stand mit einer Art Dolch in der Hand über ihm. Er hatte Ben auf dem Rücken viele tiefe Schnitte zugefügt, das T-Shirt bestand nur noch aus Fetzen. Das Blut war zuerst an Bens Seite heruntergelaufen, dann über den Tisch und schließlich auf den Boden. Mike stand in einer Blutlache, auch seine Hände waren blutverschmiert, doch das schien ihn alles nicht zu stören, auch Semir und die anderen nahm er anscheinend nicht wahr. Er hob erneut die Klinge, während er unsinniges Zeug vor sich hin murmelte. Es sah aus, als wollte er regelrecht Schwung holen, um sein Werk zu vollenden.



    Wie wird es enden? Morgen vormittag kommt das letzte Kapitel!

  • In diesem Moment löste sich Semir aus seiner Schockstarre, er hob seine Waffe, zielte und schoss. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern viermal feuerte er auf Mike, der von der Wucht der einschlagenden Kugeln herumgeworfen wurde und dann hart auf dem Boden aufschlug. Semir wusste, dass er ihn getötet hatte. Es war niemals leicht, einen Menschen umzubringen, doch er hatte gar keine andere Wahl gehabt und er wusste, dass er es jederzeit wieder tun würde, käme er noch einmal in eine solche Situation. Dieser Mann, nein dieser Irre hatte erst seinen Freund, dann auch noch seine Tochter entführt und jetzt hatte er Ben…
    Die Kollegen kümmerten sich um die Leiche und auch um einen Arzt für Ben wurde organisiert. Doch Semir konnte sich nicht von der Stelle rühren, er hatte Angst vor dem, was mit Ben war. War er tot? „Semir, nun komm endlich“, fuhr ihn Peter vom SEK an. „Er ist dein Partner, also kümmere dich endlich um ihn!“ Durch diese harschen Worte, die Peter mit Absicht so gewählt hatte, schaffte Semir es endlich, sich in Bewegung zu setzten. Er ging zu Ben und beugte sich zu ihm hinunter. Dabei zwang er sich, nicht auf Bens Rücken zu sehen, denn ihm wurde bei dem Anblick schlecht. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, unter all dem roten Blut etwas weißes hervorblitzen gesehen zu haben. Dabei konnte es sich eigentlich nur um einen Knochen, wahrscheinlich das Schulterblatt, handeln. Semir traute sich kaum, Ben anzufassen, doch dann griff er vorsichtig nach seiner Hand, die Peter inzwischen, wie auch die Beine, von den Fesseln befreit hatte. Bens Haut war eiskalt und er zitterte. Semir konnte kaum glauben, was er da spürte, das bedeutete doch, dass sein Partner noch am Leben war! Und nicht nur das, er versuchte sogar, die Augen zu öffnen.
    „Semir?“ murmelte er leise. „Ja, Partner, ich bin bei dir“, antwortete Semir, der unglaublich erleichtert war. „Mir ist so kalt“, kam es mit schwacher Stimme von Ben. „Keine Sorge, gleich kommt Hilfe, dann bringen wir dich hier raus“, versprach Semir ihm. Ben versuchte, tief einzuatmen, zuckte aber vor Schmerzen sofort wieder zusammen. Auch in Semir verkrampfte sich alles, als er das mit ansehen musste. „Wo ist Aida?“ fragte Ben. „Sie ist bei Andrea. Es geht ihr gut“, beruhigte ihn Semir, der immer nervöser auf Bens Rücken starrte, der anscheinend nicht aufhören wollte, zu bluten. „Das ist gut“, sagte Ben, jedoch klang seine Stimme so leise, dass Semir kaum verstehen konnte, was er gesagt hatte. „Ben? Ben! Bleib bei mir, du musst wach bleiben, hörst du?“ sagte Semir energisch. Er hatte zwar keine Ahnung, ob das richtig war, aber es erschien ihm irgendwie besser, wenn Ben jetzt bei Bewusstsein blieb. „Hm“, war zwar nur die Antwort seines Partners, aber das war besser als gar nichts. Und so redete er einfach weiter mit ihm, bis der Arzt eintraf. Dieter hatte sich darum gekümmert, dass ein Hubschrauber angefordert wurde. Vor dem Haus war genug freie Fläche, so dass ein geübter Pilot hier ohne Probleme landen konnte.
    Der Mediziner nickte Semir nur zu, weiter mit dem Patienten zu reden, während er mit seiner Arbeit begann. Als erstes verabreichte er Ben ein Schmerzmittel, bevor sich daran machte, die Wunden zumindest so weit zu versorgen, dass sie nicht mehr so stark bluteten. „Es wäre gut, wenn Sie bei ihm blieben, wenn wir in die Klinik fliegen“, sagte er zu Semir gewandt, der selbstverständlich nickte. Um nichts in der Welt hätte er seinen Platz an Bens Seite aufgegeben. „Er hat relativ viel Blut verloren und muss trotz der Medikamente noch relativ starke Schmerzen haben. Ich habe die Sorge, dass er in einen Schock fällt und dann wird es kritisch. Reden Sie weiter mit ihm, es ist besser, wenn er wach bleibt.“ Semir nickte erneut und der Arzt begann, den Transport zu organisieren.
    Während des ganzen Weges und Fluges blieb Semir an Bens Seite. Er hielt seine Hand fest und stellte ihm alle möglichen Fragen. Er gab sich immer erst zufrieden, wenn er Ben zu einer Antwort gedrängt hatte, auch wenn diese meist nur aus einem Wort bestand. Nachher wusste er nicht mehr, was er alles gesagt hatte, aber das war letztendlich auch egal, Hauptsache er hatte es geschafft, dass Ben bei Bewusstsein geblieben war. In den Behandlungsraum durfte er seinen Freund dann nicht mehr begleiten, zu groß war dort die Gefahr einer Infektion, wenn die großflächigen Wunden versorgt wurden und Semir war nach seinem Marsch durch den Wald noch ziemlich dreckig. Trotzdem hatte er ihn nur ungern losgelassen, auch wenn er wusste, dass es für seinen Partner so besser war.
    Suchend sah er sich um, er hatte Andrea mit der freien Hand vorhin kurz einen SMS geschickt, dass sie Ben gefunden hatten und auf dem Weg ins Krankenhaus waren. Unter welchen Umständen dies alles geschehen war, wusste seine Frau noch nicht, aber immerhin konnte sie Susanne so sagen, dass Ben am Leben war.
    Noch war von den beiden nichts zu sehen, und Semir vertrieb sich die Zeit damit, einfach nur den Flur auf und ab zu laufen. In dem Moment, in dem er sich dann doch auf einen Stuhl im Wartebereich sinken ließ, kam Susanne in Begleitung von Frau Krüger um die Ecke gebogen. Semir erhob sich wieder und wollte gerade zum Sprechen ansetzten, doch seine Chefin kam ihm zuvor. „Bevor Sie fragen, Herr Gerkhan; Ihre Frau ist mit Ihrer Tochter nach Hause gefahren worden, Ihre Schwiegereltern werden auch da sein. Sie brauchte dringend etwas Ruhe. Sie bat mich, Ihnen auszurichten, dass Sie sich ruhig Zeit lassen sollen.“ Semir nickte dankbar, dann ging er zu Susanne und nahm sie in den Arm. „Es geht ihm soweit gut“, sagte er zu ihr. „Mike hat ihm ziemlich zugesetzt, aber er wird schon wieder.“ Mehr brauchte sie im Augenblick nicht zu wissen.
    Erleichtert atmete Susanne auf. Sie konnte kaum in Worte fassen, welche Last ihr von der Seele gefallen war, als Andrea ihr die Nachricht von Semir gezeigt hatte. Sie hatte kaum noch daran glauben können, dass Semir es schaffen könnte, Ben rechtzeitig da raus zu holen. Was wohl mit Mike geschehen war? Aber eigentlich war ihr das egal, Semir würde sich schon um ihn gekümmert haben. Als sie später dann erfuhr, dass Semir Mike erschossen hatte, war sogar ein klein wenig erleichtert darüber, auch wenn sie deswegen ein schlechtes Gewissen hatte. Immerhin war ein Mensch gestorben, doch wenigstens konnte dieser nun niemandem mehr etwas antun. Doch jetzt wusste sie das alles noch nicht, sie wollte nur zu Ben. Glücklicherweise kam in diesem Moment der behandelnde Arzt auf sie zu.
    „Sind Sie die Familie von Herrn Jäger?“ fragte er. „Ja, ich bin seine Verlobte, was ist mit ihm, kann ich zu ihm?“ Der Mediziner machte immer noch einen ruhigen Eindruck, das entspannte Susanne ein bisschen, so schlimm konnte es nicht sein, oder doch? „Wir haben die Wunden versorgt, einige Schnitte waren sehr tief, aber es wurden keine wichtigen Adern oder Organe verletzt. Der Blutverlust hielt sich daher gerade noch in Grenzen. Er schläft jetzt, aber Sie können gerne zu ihm. Er ist auf der normalen Station. Kommen Sie, ich bringe Sie hin.“ Mit diesen Worten bedeutete er Susanne, Semir und Frau Krüger, ihm zu folgen. Vor dem Zimmer verabschiedete er sich. „Wenn Sie noch Fragen haben, wenden Sie sich gerne an mich.“

  • Mit zitternden Fingern öffnete Susanne die Tür und war mit wenigen Schritten bei Ben. Er lag auf der Seite und da sie nicht wusste, wo die Schnitte waren, von denen der Arzt gesprochen hatte, taute sie sich kaum, ihn anzufassen. Schließlich nahm sie dann wenigstens seine Hand in ihre, er sollte spüren, dass sie bei ihm war. „Es wird alles wieder gut“, sagte sie zu ihm, wohl wissend, dass es eine ziemlich blöde Floskel war, aber ihr fiel in dieser Situation einfach nichts Besseres ein und außerdem wollte sie auch an den Sinn dieser Worte glauben. Sie beschloss, einfach bei ihm zu bleiben, bis er wieder wach wurde.
    Semir und Frau Krüger hatten sich zurück gehalten, beide waren einigermaßen beruhigt gewesen, nachdem sie Ben gesehen hatten. Er sah zwar noch ziemlich blass aus, machte aber ansonsten einen guten Eindruck, sofern man das jetzt so sagen konnte. Aber der Arzt hatte sich ja sehr eindeutig ausgedrückt.
    „Ich werde jetzt wieder ins Büro fahren und allen Bescheid geben“, sagte Frau Krüger. „Um alles andere werde ich mich auch kümmern“, ergänzte sie dann noch und sah Semir an. Der wusste genau, dass es dabei um ihn ging und nickte dankbar. Er würde nichts zu befürchten haben, die Situation, in der er Mike erschossen hatte, war eindeutig gewesen. Es kam jedoch eine Menge Papierkram auf ihn zu und er war dankbar für jede Hilfe. Nach einem letzten Blick auf Ben machte sich die Chefin dann auf den Weg. Es war wirklich unglaublich, welches Glück er gehabt hatte und sie hoffte sehr, dass es das Schicksal in Zukunft besser mit ihm meinen würde.
    Semir wollte einerseits eigentlich noch gerne etwas bleiben, andererseits zog es ihn auch zurück zu seiner Familie. Susanne drehte sich zu ihm um und sagte: „Fahr ruhig zu Andrea und Aida, die beiden brauchen dich jetzt, ich bin ja bei Ben. Du kannst mir ja nachher erzählen, was passiert ist.“ Dankbar sah Semir sie an. „Ist das wirklich in Ordnung?“ fragte er trotzdem. Susanne lächelte. „Ja klar, es kann ja nichts mehr passieren.“ Semir ging zu ihr, drückte sie kurz, strich Ben kurz und vorsichtig über die Schulter und machte sich dann auf den Weg. Er war unglaublich erleichtert, dass jetzt alles vorbei war.
    Susanne zog sich einen Stuhl an Bens Bett und setzte sich. Auf der Matratze Platz zu nehmen traute sie sich nicht, sie hatte Angst, ihm weh zu tun. Sie legte nur vorsichtig ihren Kopf neben seinen. An seiner Schläfe war ein Hämatom zu erkennen, wahrscheinlich hatte ihn Mike in dem Van niedergeschlagen, aber wenn sie ehrlich war, wollte sie das gar nicht so genau wissen, sie war sich nicht sicher, ob sie das verkraften könnte. Und doch konnte sie nicht verhindern, dass sich ihr Vorstellungen in den Sinn schlichen, was Mike noch alles mit ihm gemacht hatte. Vielleicht war es dann doch besser, sie erführe die Wahrheit. Sie bemerkte bei ihrer Grübelei kaum, dass ihr die Tränen kamen.
    „Nicht weinen“, kam es leise von Ben, ohne dass er die Augen öffnete. „Du bist wach?“ fragte Susanne erstaunt und wischte sich die Tränen von der Wange. „Schon eine Weile“, gab Ben zu. „Warum hast du denn nichts gesagt?“ fragte sie und strich im zärtlich über die Wange. „War mir irgendwie zuviel“, gestand er und öffnete die Augen. Es versetzte Susanne einen Stich, als sie erkannte, wie erschöpft er aussah. „Bleibst du hier?“, wollte er dann von ihr wissen. „Ja natürlich, wenn du das möchtest, oder wird dir das zu viel?“ erwiderte sie. Vielleicht war das ja auch noch zu anstrengend für ihn und sie sollte ihn lieber in Ruhe lassen, auch wenn ihr das schwer fallen würde. „Ja bitte, du kannst mir gar nicht zu viel werden“, sagte Ben. Auch wenn er sich ziemlich elend und fertig fühlte und dringend Ruhe brauchte, wollte er diese gemeinsam mit Susanne haben. Es ging ihm einfach wesentlich besser, wenn sie bei ihm war.
    Liebevoll sah sie ihn an. „Ich kümmere mich jetzt erst mal darum, dass ich hier bleiben kann und komme dann sofort wieder.“ Ben nickte und schloss die Augen. So langsam konnte er sich etwas entspannen. Die Schmerzen waren zwar noch da, hielten sich durch die Medikamente im Hintergrund, so dass es ganz gut auszuhalten war. Einen erneuten Angriff brauchte er auch nicht zu befürchten. Er hatte mitbekommen, was Semir getan hatte und er war ihm dankbar dafür, auch wenn er das eigentlich nicht sein sollte, denn ein Leben war gewaltsam beendet worden. Doch wenn er daran dachte, wie seine Zukunft wohl ausgesehen hätte, wäre die Angst vor Mike ständig präsent gewesen, konnte er einfach nicht anders empfinden. Als Susanne zurück kam, war er wieder eingeschlafen. Sie hatte für sich eine Liege mitgebracht, die sie nun leise neben Bens Bett aufstellte. Sie hatte einige Überzeugungsarbeit leisten müssen, hatte letztendlich aber den Stationsarzt doch überreden können, dass sie bleiben durfte. Nachdem sie sich hingelegt hatte, merkte sie, wie fertig sie eigentlich war und schlief fast augenblicklich ein.


    In den darauffolgenden zwei Wochen blieb Ben freiwillig im Krankenhaus, was zwar alle etwas verwunderte, aber auch beruhigte. So konnte er sich zumindest körperlich vollständig erholen. Ben selbst hatte sich entgegen seiner sonstigen Einstellung für diese Auszeit entschieden, um alles, was geschehen war, in Ruhe verarbeiten zu können. In diesem geschützten Rahmen hatte er die Gelegenheit über vieles nachzudenken und es gab Menschen, die ihn professionell dabei unterstützten. Aber auch die Gespräche, die er mit Semir geführt hatte, hatten ihm geholfen. Er hatte sich bei seinem Partner für die Rettung bedankt, aber Semir hatte nur gemeint, dass das wohl das Mindeste gewesen war, was er für Ben hatte tun können. Sowohl er als auch Ben waren einfach nur froh, dass es vorbei war. Mike war tot und Marla war ausbruchssicher in einer psychiatrischen Klinik untergebracht. Sobald sie in stabilerer Verfassung sein würde, sollte ihr der Prozess gemacht werden, doch Semir hatte in Erfahrung gebracht, dass dieser Fall wohl kaum eintreffen würde. Nach dem Attentat auf Ben schien sich ihr Verstand irgendwie ausgeschaltet zu haben und niemand kam an sie heran. Semir wurmte die Tatsache, dass sie sich so aus ihrer Verantwortung stahl, doch Ben war einfach nur erleichtert, dass sie ihm nicht mehr gefährlich werden konnte. Zudem war sie seiner Meinung nach mit ihrem Schicksal schon gestraft genug.
    Susanne hatte die Zeit ohne Ben zuhause ganz gut überstanden, immerhin war sie abgelenkt gewesen, denn Ben hatte sie gebeten, sich schon mal um die Hochzeitsvorbereitungen zu kümmern. Zuerst war sie etwas enttäuscht gewesen, dass er sich eher zurück halten wollte, doch Ben hatte gemeint, dass er nicht der Richtige wäre, um zwischen zwei Blumenmustern für die Einladungskarten auszuwählen. Da sie ihm diesbezüglich tatsächlich Recht geben musste, hatte sie sich also in die Arbeit gestürzt und so war die Zeit schnell vergangen.


    An dem Tag, als Susanne Ben endlich aus dem Krankenhaus abholen konnte, hatte es am Morgen geregnet und als sie beiden aus der Tür traten und auf Andrea und Semir zugingen, die sie mit strahlenden Gesichtern erwarteten, spannte sich rechts von ihnen ein großer Regenbogen über den Himmel. Ben war zwar nicht bibelfest, aber die Geschichte der Arche kannte nun wirklich jeder. Es erschien ihm angesichts seiner Erlebnisse sogar fast passend, dass der Himmel ihm dieses Zeichen gab. Es waren keine Sterne, die sein Schicksal bestimmen würden, sondern ein Symbol am helllichten Tag. Ihm erschien dieses Schauspiel in diesem Augenblick wie ein Zeichen für seinen persönlichen Neuanfang, aus dem er das Beste machen wollte. Er nahm Susanne in den Arm und gemeinsam mit ihren zwei besten Freunden verließen sie das Gelände der Klinik und ließen die Vergangenheit hinter sich.



    ENDE



    Ich hoffe, ihr hattet viel Vergnügen mit der Geschichte, ich werde jetzt in meinen wohlverdienten Urlaub fahren und dort an der Fortsetzung arbeiten. Da ich immer zuerst alles mit der Hand schreibe und dann erst abtippe, wird es wieder ein Weilchen dauern. Aber ich hoffe, dass es dieses Jahr noch klappen wird. Bis dann!

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