Sternenhimmel

  • Es geht weiter; alle, die Ben mögen, müssen diesmal starke Nerven haben! Viel Spaß bei den nun folgenden ca. 70 Kapiteln!


    „Igitt, was ist das denn?“ fragte Semir angewidert. Mit angeekeltem Gesichtsausdruck betrachtete er die blutverschmierte Rinde eines Baumes, der auf dem Rastplatz stand, auf dem er und Ben die Pause verbracht hatten. Eigentlich hatte er sich nur noch kurz die Beine vertreten wollen und nicht mit einer solchen Entdeckung gerechnet. „Was’n los?“ fragte Ben, der mit vollen Backen kauend zu ihm herüber gekommen war. „Na das da“, wies Semir immer noch angewidert auf die Symbole, die auf dem Baum zu sehen waren. Er wusste im Augenblick nicht, was schlimmer war; diese Schmierereien, oder die Tatsache, dass Ben trotz dieses Anblickes ungerührt weiter futterte. „Ach, bleib locker“, meinte der dann nur. „Ist bestimmt wieder nur mit Tierblut von diesen Spinnern gemacht worden.“ Mit diesen Worten drehte er sich rum und verschwand wieder in Richtung Wagen.
    Semir seufzte. Wahrscheinlich hatte sein Partner Recht und es würde sich herausstellen, dass es Tierblut war, mit dem diese Symbole, die entfernt an Sternzeichen erinnerten, an den Baum geschmiert worden waren. Seit einiger Zeit wurden immer wieder solche Zeichen gefunden, Semir konnte sich noch allzu gut an das Polizeiaufgebot erinnern, als so etwas das erste Mal entdeckt worden war. Zwar waren alle ziemlich erleichtert gewesen, als festgestellt wurde, dass es kein Menschenblut war, aber seltsam war das Ganze doch. Die Presse hatte anscheinend nicht anderes, worüber sie berichten konnte und so war das Ganze in den Medien ziemlich breit getreten worden. Die meisten dieser Schreiberlinge schienen der Meinung zu sein, dass es irgendeine Sekte sein müsse, die hier ihre Finger im Spiel hatte. Aber Semir hatte sich nicht weiter um diese Mutmaßungen gekümmert, erstens wollte er sich nicht an solchen Spekulationen beteiligen, außerdem hatte er mit den Ermittlungen nichts zu tun und das war ihm auch ganz lieb so. Solche Sachen waren ihm immer suspekt, wer wusste schon, ob das Ganze bei Tierblut blieb oder ob diese Leute noch ganz andere Dinge vorhatten.
    Ben kam zurück, wenigstens war er mit seinem Burger fertig. „Hab’ den Kollegen Bescheid gegeben, die schicken gleich jemanden vorbei“, sagte er. „Wollen wir dann mal, oder willst du den Baum bewachen, damit er nicht abhaut?“ fragte er dann mit einem Grinsen. „Ne lass mal“, erwiderte Semir, „ich glaube nicht, dass er vorhat zu fliehen oder sich dem erkennungsdienstlichen Verfahren zu entziehen.“ Jetzt grinste auch er, war insgeheim aber froh, hier verschwinden zu können. Inzwischen waren sie beim Auto angekommen und machten sich wieder auf den Weg.

  • „Und wie gestaltet sich das Zusammenleben?“ fragte Semir, um auf ein anderes Thema zu kommen. Doch Ben seufzte nur. Semir lachte laut auf. „Ja, ja, mein Lieber, ich hab’s dir ja gesagt. Was ist es denn diesmal?“ Ben sah ihn vorwurfsvoll von der Seite an. „Gar nichts hast du mir gesagt“, maulte er. „Ach, es ist nichts Spezielles. Es ist nur manchmal ganz schön anstrengend. Bisher konnte ich ja machen, was ich wollte, wenn ich nach Hause kam. Aber jetzt muss ich Rücksicht nehmen.“ Er machte eine kurze Pause. „Und ich muss aufräumen“, fügte er mit einem leidenden Gesichtsausdruck hinzu. Erneut konnte Semir nicht anders, als lauthals aufzulachen. „Das ist für dich natürlich besonders schlimm, das sehe ich ein. Du hast mein vollstes Mitgefühl“, sagte er immer noch breit grinsend. Doch auch Ben musste lächeln. Es war eine ziemlich große Umstellung für ihn, dass Susanne jetzt immer bei ihm war, aber die wenigen Nachteile, die das mit sich brachte, wurden von den vielen Vorteilen bei Weitem aufgewogen. Außerdem tat ihm das Ganze wahrscheinlich ziemlich gut, auch wenn er sich mal ein bisschen am Riemen reißen musste. Das würde er allerdings niemals freiwillig zugeben, auch wenn er vermutete, dass sich Semir und höchstwahrscheinlich auch Susanne dieser Tatsache sehr wohl bewusst waren. Es war schon ein tolles Gefühl, wenn er von der Arbeit nach Hause kam und Susanne dort schon auf ihn wartete. Und auch das ständige Hin und Her zwischen den Wohnungen hatte endlich ein Ende. Das war ihm zuletzt doch sehr auf die Nerven gegangen. Das einzige, was ihm immer noch komisch vorkam, waren die Besuche von Susannes Freundinnen. Meistens sagte sie ihm zwar Bescheid, wenn sie jemanden erwartete, manchmal aber ergab sich auch ein spontanes Treffen und Ben kam sich dann eher wie der Besucher vor. Aber damit konnte er gut leben. Wenigstens war Jana bisher noch nicht da gewesen. Nach der Sache mit dem Speed Dating war der Kontakt der beiden Frauen auch nur sporadisch gewesen. Außerdem hatte Jana seit einiger Zeit einen neuen Freund, den Susanne nicht mochte. Irgendetwas an ihm sei merkwürdig, wenn nicht sogar unheimlich hatte sie gesagt. Ben hatte zwar keine Idee, was sie damit gemeint haben könnte, aber es war ihm nur Recht, wenn der Kontakt langsam einschlief, also fragte er auch nicht weiter nach.
    „Ach, ehrlich gesagt, ist es ganz schön, wenn noch jemand da ist. Ich fühle mich nicht mehr so allein“, sagte Ben schließlich zu Semir, welcher wissend nickte. Auch wenn er sich so manches Mal mit Andrea fetzte, so war er doch sehr froh, sie zu haben und konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen. „Wer weiß, wo das noch hinführt“, murmelte Ben mehr an sich selbst gerichtet, doch Semir sprang sofort darauf an. „Hey, was sind denn das für Töne?“ fragte er überrascht. „Du willst doch nicht etwa ganz sesshaft werden, oder?“ fragte er staunend. Das war ja ganz was Neues! „Na ja, mal sehen“, druckste Ben herum. Er sah auf die Uhr. „Oh, schon so spät? Kannst du mich direkt bei mir absetzten? Wir sind ja ganz in der Nähe, ich fahre dann morgen mit Susanne. Mein Wagen kann ja vor der Dienststelle sehen bleiben.“ „Mache ich doch gerne“, antwortete Semir, dem völlig klar war, dass Ben einfach nur vom Thema ablenken wollte. Nachdem seinen Partner abgesetzt hatte, fuhr auch er nach Hause.

  • Als Ben die Wohnung betrat, kamen ihm im Flur bereits leckere Gerüche entgegen. „Hm, das riecht gut“, rief er in Richtung Küche. „Was ist das?“ fragte er. „Ich hab’ mal was Neues ausprobiert“, antwortete Susanne und kam auf ihn zu, um ihn mit einem Kuss zu begrüßen. „Morgen bist du wieder dran“, sagte sie. Auch noch so eine neue Sache, auf die sie bestanden hatte. Susanne war nämlich der Meinung, da sie beide arbeiteten, müssten sie sich auch die Hausarbeit teilen und das schloss auch das Kochen mit ein. Im Prinzip klappte das auch recht gut, auch wenn Ben zugeben musste, dass er weit weniger einfallsreich als seine Freundin war, was die Variation der Gerichte anging. Aber bisher hatte sie sich noch nicht beklagt. Wahrscheinlich um ihm keinen Grund zu liefern, sich vor dieser Pflicht zu drücken. „Dir scheint es ja zu schmecken“, antwortete er, während er seine Jacke aufhängte. Früher hätte er seine Klamotten nur achtlos fallen lassen, aber das hatte er sich schnell abgewöhnt. Verwundert sah Susanne ihn an. Ben stellte sich vor sie, legte seinen linken Arm um ihre Taille und zupfte mit der rechten Hand die Reste verschiedener Kräuter aus ihren Haaren. „Ich sollte sie beim Kochen wohl besser hochstecken“, meinte sie. „Du müsstest mich jetzt mal loslassen, ich muss weiter machen“, sagte sie dann. „Und wenn ich das gar nicht möchte?“ fragte Ben, legte auch noch den rechten Arm um die Taille seiner Freundin und zog sie eng an sich. „Dann darfst du dich gleich nicht beschweren, wenn gleich alles angebrannt ist“, antwortete Susanne, küsste ihn und wand sich aus seinem Griff.
    Ben folgte ihr, als sie wieder zum Herd ging und schaute ihr über Schulter. „Sieht lecker aus“, meinte er, während er sie wieder von hinten in den Arm nahm, darauf bedacht, sie so wenig wie möglich zu stören, während sie an den Töpfen und Pfannen herumwerkelte. „Warte mal, ich dreh die Platten runter, die Restwärme dürfte jetzt reichen. Wir können gleich essen, du kannst schon mal den Tisch decken. Ach ja und glaub nicht, dass ich das jetzt jeden Abend so mache, morgen bist du wieder dran. „Ist schon klar“, antwortete Ben und legte sein Kinn auf Susannes Schulter. „Aber ehrlich gesagt habe ich gar keinen so richtigen Hunger“, musste er dann zugeben. Zum einen hatte er nicht mit so einem Essen gerechnet, sonst hätte er auch auf den Burger verzichtet, zum anderen erinnerte ihn die Tomatensauce irgendwie an Schmierereien mit dem Blut. Er hatte es vor Semir nicht zugeben wollen, aber es hatte ihn auch sehr angeekelt. Vor allem die Vorstellung, wie das Ganze dorthin gekommen war, ging ihm nicht aus dem Sinn. Das war alles schon ziemlich krank. „Hm“, kam es nur von Susanne. „Und was machen wir dann?“ Sie war zwar nicht begeistert, aber wenigstens konnte man alles wieder aufwärmen. Sie hatte schnell gemerkt, dass man kaum feste Essenszeiten einplanen konnte, wenn man mit einem Polizisten zusammen war. „Och, ich wüsste da schon was“, meinte Ben. „So, so, und was wäre das?“ fragte Susanne gespielt ahnungslos, während sie sich zu ihm rumdrehte. „Komm doch mal mit ins Schlafzimmer, dann zeige ich dir, was ich meine“, sagte Ben und zog sie noch enger an sich. Zum Essen kamen die beiden an diesem Abend nicht mehr.

  • Am nächsten Morgen fuhren sie gemeinsam ins Büro und überlegten dabei, was sie am Wochenende unternehmen könnten, denn Ben sollte seit längerer Zeit endlich wieder einmal beide Tage keinen Dienst haben. So ganz glaubte Susanne zwar noch nicht daran, zu oft war schon etwas Unvorhergesehenes dazwischen gekommen, aber sie konnten ja wenigstens mal versuchen, sich etwas vorzunehmen. Obwohl; es war eher ein kleines Attentat, welches sie auf Ben zu verüben gedachte. „Duuuuu…“, fing sie also an. „Oh je, ich befürchte Schlimmes“, kam es direkt von Ben. „Soll ich etwa den Keller entrümpeln?“ fragte er in gespieltem Entsetzen. „Nein, aber ich… na ja, also…“, druckste Susanne herum. „ich würde Jana gerne wieder mal sehen. Meinst du, wir könnten sie und ihren neuen Freund mal zu uns einladen?“
    Ben schwieg und runzelte die Stirn. Man konnte deutlich sehen, dass ihm dieser Gedanke überhaupt nicht behagte, aber er sagte erst einmal nichts. „Weißt du, ich kenne Jana schon so lange und früher waren wir wirklich gut befreundet, ich kann das nicht einfach so abstreifen. Gut, ich muss zugegeben, dass ich mit diesem Mike auch so meine Probleme habe, aber so richtig kenne ich ihn ja noch gar nicht. Und außerdem war Jana am Anfang ja auch nicht sehr von dir begeistert und trotzdem hat sie sich weiter mit mir getroffen.“ Ben seufzte nach diesem Vortrag. „Genau das ist der Punkt. Sie hat sich mit dir getroffen, nicht mit uns, geschweige denn mit mir. Also muss das unbedingt sein? Kann denn nicht alles weiterlaufen wie bisher und ihr zwei trefft euch einfach so?“ Susanne sah ihn bittend an. „Aber jetzt ist die Situation eine andere. Jana ist auch nicht mehr allein und vielleicht ist Mike doch ganz nett, wenn man ihn mal richtig kennenlernt. Ich meine, es könnte auch nicht schaden, wenn Jana dich besser kennenlernen würde, damit sie ihre Vorurteile endlich mal abbauen kann.“
    Ben sagte erst einmal nichts. Es schien Susanne wirklich wichtig zu sein, auch wenn er immer noch nicht nachvollziehen konnte, warum sie so an Jana hing. Wahrscheinlich lag es daran, dass sich die beiden schon fast ihr ganzes Leben lang kannten. Und Susanne war eine treue Seele, gerade er sollte das wissen. Insgeheim hatte Ben allerdings gehofft, dass Susanne wegen Janas neuem Freund auf Abstand gehen würde, zumal er den Eindruck hatte, dass Jana sich in dieser Beziehung doch sehr verändert zu haben schien. Aber Susanne sah das Ganze anscheinend etwas anders. Sie hatte sich wohl vorgenommen, sich mit beiden gut verstehen zu wollen. Also nickte er ergeben. Was sollte schon groß passieren. Den einen Abend würde er Susanne zuliebe schon überstehen. Wenn es für sie so wichtig war, würde er sich eben zusammenreißen. Er hoffte zudem darauf, dass sich das Thema danach vielleicht auch erledigt haben könnte.
    „Also gut“, stimmte er noch einmal zu und freute sich dann doch, als Susanne ihn erleichtert anstrahlte. „Prima, dann mache ich nachher was mit Jana aus.“ Sie war froh, dass Ben zugestimmt hatte. Sie war schon so lange mit Jana befreundet und es war ihr wichtig, dass dieser Kontakt nicht abbrach. Auch wenn ihre Freundin einen schlechten Männergeschmack hatte, waren ihre Qualitäten als Zuhörerin und Ratgeberin normalerweise unübertroffen. Dass es mit dem Speed Date so schief gelaufen war, war nicht Janas Schuld gewesen. Und immerhin hatte Susanne dadurch wieder zu Ben gefunden, auch wenn eigentlich alles anders geplant gewesen war. Jetzt hoffte sie nur, dass Jana und Mike auch Zeit für sie hatten.

  • Doch darüber brachte sie sich keine Gedanken machen, denn Jana freute sich sehr, als Susanne am Abend mit ihr telefonierte. Es schien fast so, als hätte sie darauf gewartet, dass Susanne sich meldete. Es schien so, als hätte ihr der Mut zu diesem Schritt gefehlt; sie wusste, dass sie bei Ben nicht wirklich willkommen war und er anscheinend nur Susanne zuliebe mitspielte. Doch die beiden Frauen vereinbarten, sich am Sonntagabend bei Susanne und Ben zum Essen zu treffen. Je nachdem, wie das Ganze dann verlief, würde sich dann der weitere Abend gestalten. Falls es gar nicht funktionierte, könnte man sich mit dem Hinweis auf einen frühen Arbeitsbeginn am Montag schnell aus der Sache raus winden. Das waren zumindest Bens Überlegungen gewesen und im Nachhinein war auch Susanne froh, dass sie diesen Termin gewählt hatten, denn schon allein die Vorspeise wurde eine Katastrophe.


    Mike war Susanne noch unheimlicher als bei den beiden Gelegenheiten zuvor, bei denen sie ihn mit Jana zufällig in der Stadt getroffen hatte. ‚Unheimlich’ war zwar eine seltsame Beschreibung, doch anders konnte sie ihr Gefühl nicht in Worte fassen, welches sie an diesem Abend ganz besonders stark spürte. Jana schien davon allerdings nichts zu bemerken, sie war nur damit beschäftigt, Mike anzuhimmeln. Weil er Susanne versprochen hatte, sich zu beherrschen, versuchte Ben, eine Unterhaltung mit Mike in Gang zu bringen, doch das wollte ihm nicht so recht gelingen. Von einer weiteren Unternehmung an diesem Abend war nach dem Dessert dann auch keine Rede mehr. Ben und Susanne waren beide auf ihre Art und Weise sehr erleichtert, nachdem sich die beiden verabschiedet hatten.
    „War das widerlich, als er dich nach diesem Schmierereien mit dem Tierblut gefragt hat“, sagte Susanne mit Abscheu in der Stimme, als sie wieder allein waren. Dass Mike davon wusste, war kein Wunder, hatte sich die örtliche Presse doch sehr auf diese Funde gestürzt und sich in Spekulationen ergangen, was diese zu bedeuten hatten. „Musstest du denn alles so genau erzählen?“ Ben sah sie vorwurfsvoll an. „Was sollte ich denn machen? Ich hab’ ihm auch nicht mehr erzählt, als ohnehin schon in den Zeitungen gestanden hat. Und über irgendwas musste ich ja mit ihm reden. Das war mir zumindest lieber als seine komische Faselei über Geburtstage, Sternzeichen und all diesen Kram. Ich dachte, nur Frauen stehen auf Horoskope.“ Kopfschüttelnd sah Susanne ihn an. „Du weißt doch genau, dass ich von diesem Blödsinn nichts halte. Außerdem bist selbst schuld, wenn du ihm dein genaues Geburtsdatum verrätst“, fügte sie bissig hinzu. „Aber Jana schien völlig davon fasziniert zu sein, so kenne ich sie eigentlich gar nicht“, ergänzte sie dann etwas nachdenklicher. „Hab’ ich dir doch gleich gesagt“, brummelte Ben. „Was soll das denn schon wieder heißen?“ fragte Susanne gereizt. „Ach komm schon, du hast doch schon vorher gesagt, dass dir der Typ komisch vorkommt, aber du musstest ihn ja unbedingt einladen“, gab Ben zurück, der auch langsam sauer wurde. „Ach ich? Ich dachte, wir wären uns einig gewesen?“ fauchte Susanne. „Jedenfalls will ich die beiden nicht mehr in meiner Wohnung haben“, wollte Ben das Thema abschließen, doch im gleichen Moment, in dem er diesen Satz gesagt hatte, wusste Ben, dass er einen Fehler gemacht hatte, doch es war zu spät, das Gesagte ließ sich nicht mehr zurücknehmen.

  • „Ach, so ist das also“, sagte Susanne gefährlich leise. „Deine Wohnung, ja? Ich dachte, das hätte sich inzwischen geändert, aber dann weiß ich ja, wo ich dran bin.“ Mit diesen Worten verschwand sie in Richtung Schlafzimmer. „Susanne, warte doch mal, ich…“, rief Ben ihr hinterher, doch da hatte sie die Tür bereits hinter sich geschlossen. „So ein Mist!“ entfuhr es ihm. So hatte er das doch nicht gemeint, es war ihm einfach so rausgerutscht. Natürlich war das hier ihre gemeinsame Wohnung, aber er hatte so lange allein gelebt, dass er manchmal noch nicht ganz umgeschaltet hatte. Er sah sich um. Erst mal würde er jetzt aufräumen und dann die Nacht auf der Couch verbringen, denn anscheinend wollte Susanne lieber in Ruhe gelassen werden. Dafür hatte er sogar Verständnis, denn auch für sie war der Abend nicht gerade angenehm gewesen. Morgen würde sie sich bestimmt beruhigt haben und dann konnte er sich bei ihr entschuldigen und sie konnten die ganze Sache noch einmal in Ruhe besprechen, denn eigentlich waren sie sich ja einig.
    Dass er mit diesem Entschluss eher das Gegenteil bewirkte, ahnte er nicht, denn Susanne hatte erwartet, dass er direkt zu ihr kommen würde. Sie war stinksauer gewesen und hätte gerne noch mit ihm gesprochen, nachdem sich ihre erste Wut gelegt hatte. Im Grunde war es ja eigentlich gar nicht so schlimm, was er gesagt hatte, trotzdem war sie der Ansicht, dass er den ersten Schritt machen müsse. Doch er hatte sich anscheinend dafür entschieden, ihr aus dem Weg zu gehen. Bitte, wenn er das wollte, konnte er das auch so haben.
    Und so war sie am nächsten Morgen bereits ins Büro unterwegs, als Ben mangels Wecker reichlich verspätet aufwachte. „Fuck!“ fluchte er nach einem Blick auf die Uhr. Schnell sprang er unter die Dusche, raffte seine Klamotten zusammen und machte sich auch auf den Weg.


    „Weißt du, wo Ben steckt?“ fragte Semir Susanne, die bereits seit einer Stunde an ihrem Schreibtisch saß. „Keine Ahnung. Wahrscheinlich kriegt er sich wieder nicht organisiert, wenn ich ihm seine Sachen nicht hinterher trage“, war ihre Antwort. Semir sah sie erstaunt an. Das klang definitiv nach einer Beziehungskrise. „Nanu, welche Laus ist dir denn über die Leber gelaufen?“ fragte er verwundert. „Ach, Ben hat gestern einen Kommentar abgegeben, der ziemlich daneben war“, erklärte Susanne. „Na, das kann er doch ganz besonders gut, das ist ja nichts neues“, grinste Semir. Susanne sah ihn an und musste schließlich auch lächeln. „Ja, du hast Recht, er hat es wohl gar nicht so gemeint. Und ich war nach diesem Besuch auch ziemlich fertig. Wahrscheinlich hätte ich an allem etwas auszusetzen gehabt, was er gesagt hätte.“ Sie machte eine kurze Pause. „Aber auf der Couch geschlafen hat er trotzdem“, fügte sie dann hinzu. Semir zog die Augenbrauen hoch. „Du meine Güte, du führst ja ein strenges Regiment! So hart ist ja noch nicht einmal Andrea!“ Fast begann er, Ben ein wenig zu bemitleiden. „Na ja, er hätte ja nicht gemusst“, schränkte Susanne ein. „Er war wohl der Meinung, dass es besser wäre, mich in Ruhe zu lassen“, seufzte sie und ehrlich gesagt war sie im Nachhinein sogar der Meinung, dass sie ziemlich überreagiert hatte. Sie nahm sich vor, gleich mit Ben zu reden, wenn er ins Büro kam. Semir nickte. „Hätte ich an seiner Stelle wohl auch gemacht. So sauer, wie du gerade noch warst… Da kann ich mir lebhaft vorstellen, wie du gestern Abend gelaunt warst. Aber was hat er denn nun eigentlich genau verbrochen?“ Semir war doch neugieriger, als er eigentlich zugeben wollte.

  • Susanne seufzte erneut. „Ach weißt du, im Grunde hatte er sogar Recht mit dem, was er gesagt hat, ich wollte es nur nicht hören.“ Jetzt verstand Semir gar nichts mehr und blickte sie ratlos an. „Ach, wir hatten doch gestern Abend Besuch von Mike und Jana“, begann Susanne. Semir nickte verstehend. Dass Ben und Jana nicht gut aufeinander zu sprechen waren, war kein Geheimnis. Kein Wunder, dass da etwas schief gelaufen war. Er wunderte sich sowieso, dass Ben sich auf so ein Treffen eingelassen hatte. Aber für Susanne würde er so ziemlich alles tun, da war Semir sich sehr sicher.
    „Jedenfalls ist dieser Mike ein ziemlich komischer Kerl“, erklärte Susanne. „Aber ich dachte, wenn ich ihn näher kennen lernen würde, käme ich besser mit ihm klar, aber irgendwie ist das Gegenteil dabei rausgekommen. Jetzt finde ich ihn noch seltsamer als vorher. Ich frage mich, was Jana an ihm findet. Sie scheint völlig fasziniert von ihm zu sein.“ Semir zuckte die Schultern. „Da fragst du den Falschen. Ich hab’ noch nie verstanden, wie manche Kerle an die tollen Frauen geraten. Und in wiefern seltsam?“ hakte er dann doch nach. „Er hat so komische Fragen gestellt, er hat sich sehr für die Schmierereien mit dem Blut interessiert und als Ben das endlich abgeblockt hatte, fing er mit Sternzeichen, Horoskopen und solchem Zeug an.“ Sie schauderte immer noch, wenn sie an Mikes Gesichtsausdruck während dieser Unterhaltung dachte. „Na ja“, warf Semir ein, „ist ja auch kein Wunder, so sehr wie die Presse das breit getreten hat. Und vielleicht ist die Astrologie ja sein Hobby“. ‚Auch wenn das für einen Mann eher ungewöhnlich ist’ fügte er noch in Gedanken hinzu. „Und sonst?“ fragte er dann noch. Susanne überlegte kurz. „Ach, ich weiß nicht“, antwortete sie dann. „Kann ich gar nicht so genau sagen, man muss ihn einfach erlebt haben. Er war so… so düster. Das ist zumindest das passendste, was mir einfällt. Jedenfalls hat Ben dann gemeint, dass er ihn nicht mehr in seiner Wohnung haben will. Verstehst du? In seiner Wohnung.“ Semir nickte. So langsam fiel bei ihm der Groschen. „Ich meine, ich wohne ja nicht erst seit gestern bei ihm“ ergänzte Susanne. „Ich hatte fast das Gefühl, er will mich gar nicht da haben.“
    „Nun mach aber mal halblang!“ sagte Semir fast empört. „Du weißt doch ganz genau, wie überglücklich er war, als du bei ihm eingezogen bist. Und daran hat sich in der Zwischenzeit auch nicht viel geändert, das kannst du mir glauben“, ergänzte er. „Wir reden nämlich auch manchmal miteinander, wenn wir den ganzen Tag zusammen rumhängen und Verbrecher jagen“, fügte er mit einem Augenzwinkern noch hinzu. Susanne sah ihn an. „Ja, du hast ja Recht. Ich hab’ wohl überreagiert. Es ist trotzdem mal schön, so etwas von jemand anderem zu hören.“ Semir nickte nur bekräftigend. „Ich denke, ich werde ihn mal anrufen und fragen wo er bleibt“, sagte sie dann. Semir wandte sich schon zum Gehen, als Sarah noch sagte: „Ach und danke, Semir.“ Er grinste, hob die Hand zum Abschied und verschwand nach draußen.
    Das war doch gar nicht so schwer gewesen. Früher hatte er sich immer um solche Gespräche gedrückt, aber inzwischen war so etwas kein Problem mehr für ihn. Im Gegenteil, er hatte sogar festgestellt, dass manches damit sogar einfacher wurde. Man musste miteinander reden, um Dinge zu klären, die sich sonst zu größeren Problemen auswuchsen.

  • Susanne hatte inzwischen Bens Nummer gewählt, aber nur die Mailbox erreicht. Zuerst machte sie sich deswegen keine Gedanken, doch als sie Ben zwei Stunden später immer noch nicht erreicht hatte und er auch noch nicht im Büro aufgetaucht war, begann sie langsam, sich Sorgen zu machen. Sie rief Semir an, doch der beruhigte sie erst einmal. „Mach dir keine Sorgen, wahrscheinlich hat er irgendwo einen Termin und nur vergessen, Bescheid zu geben. Du kennst doch Ben und sein Organisationstalent. So was geht ihm schon mal durch.“ Aber seltsam fand er es auch, dass Ben sich nicht einmal bei ihm gemeldet hatte. Und auch Susannes ungutes Gefühl blieb, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass Semir Recht hatte.
    Im weiteren Verlauf des Tages kamen jedoch beide nicht mehr dazu, nach Bens Verbleib zu forschen, denn ein Banküberfall mit Geiselnahme in der Innenstadt hielt alle in Atem. Glücklicherweise nahm alles ein gutes Ende, der Täter konnte gestellt werden und niemand hatte ernsthafte Verletzungen davon getragen.
    Der Tag neigte sich also dem Ende entgegen, doch Ben war immer noch nicht aufgetaucht oder hatte sich gemeldet. Nach wie vor war nur seine Mailbox zu erreichen. Susanne war inzwischen richtig nervös geworden. Da stimmte doch etwas nicht! „Semir, es kann doch nicht sein, dass er so einfach verschwindet!“ Der Angesprochene atmete tief durch. „Lass mal überlegen. Vielleicht brauchte er einfach mal etwas Ruhe und Abstand.“ „Aber das ist doch nicht seine Art, die Zeiten sind vorbei! Du weißt doch, was beim letzten Mal passiert ist, als er einfach verschwunden ist!“ widersprach Susanne energisch. Semir nickte. Wenn er ehrlich war, musste er ihr zustimmen. Er machte sich inzwischen auch Sorgen, aber das wollte er Susanne jetzt noch nicht sagen. Doch dann kam ihm eine Idee. „Hast du schon mal bei seiner Schwester oder seinem Vater nachgefragt? Vielleicht gibt es ja irgendein dringendes familiäres Problem und er hat einfach nur vergessen, Bescheid zu geben.“ Erleichtert atmete Susanne aus. „Ja, das wird es sein. Zu blöd, dass ich nicht gleich daran gedacht habe. Ich rufe gleich an.“ Mit etwas zittrigen Fingern wählte sie zuerst die Nummer von Bens Schwester. Semir blieb bei ihr, denn auch er wollte wissen, wo Ben steckte und was eigentlich passiert war. Doch weder Julia, noch Bens Vater, den Susanne im Anschluss anrief, hatten in den letzten Tagen etwas von Ben gehört. Susanne musste ihnen versprechen, sich sofort zu melden, sobald Ben wieder aufgetaucht wäre.
    „Vielleicht ist er inzwischen schon wieder zu Hause“, mutmaßte Semir, dem nicht entgangen war, wie nah Susanne den Tränen inzwischen war. „Bestimmt hat er geputzt und aufgeräumt“, fügte er als Versuch, sie ein bisschen aufzuheitern, hinzu. Susanne nickte nur, denn zu einer Antwort war sie im Augenblick nicht in der Lage. Schweigend fuhren sie gemeinsam zur Wohnung, aber auch dort war keine Spur von Ben zu finden. Alles sah fast genau so wie am Morgen aus, als Susanne die Wohnung verlassen hatte. Nur ein halbleerer Becher Kaffe auf dem Küchentisch ließ darauf schließen, dass Ben hier noch gefrühstückt hatte, bevor er wohin auch immer aufgebrochen war.

  • Susanne hatte inzwischen Bens Nummer gewählt, aber nur die Mailbox erreicht. Zuerst machte sie sich deswegen keine Gedanken, doch als sie Ben zwei Stunden später immer noch nicht erreicht hatte und er auch noch nicht im Büro aufgetaucht war, begann sie langsam, sich Sorgen zu machen. Sie rief Semir an, doch der beruhigte sie erst einmal. „Mach dir keine Sorgen, wahrscheinlich hat er irgendwo einen Termin und nur vergessen, Bescheid zu geben. Du kennst doch Ben und sein Organisationstalent. So was geht ihm schon mal durch.“ Aber seltsam fand er es auch, dass Ben sich nicht einmal bei ihm gemeldet hatte. Und auch Susannes ungutes Gefühl blieb, obwohl sie sich einzureden versuchte, dass Semir Recht hatte.
    Im weiteren Verlauf des Tages kamen jedoch beide nicht mehr dazu, nach Bens Verbleib zu forschen, denn ein Banküberfall mit Geiselnahme in der Innenstadt hielt alle in Atem. Glücklicherweise nahm alles ein gutes Ende, der Täter konnte gestellt werden und niemand hatte ernsthafte Verletzungen davon getragen.
    Der Tag neigte sich also dem Ende entgegen, doch Ben war immer noch nicht aufgetaucht oder hatte sich gemeldet. Nach wie vor war nur seine Mailbox zu erreichen. Susanne war inzwischen richtig nervös geworden. Da stimmte doch etwas nicht! „Semir, es kann doch nicht sein, dass er so einfach verschwindet!“ Der Angesprochene atmete tief durch. „Lass mal überlegen. Vielleicht brauchte er einfach mal etwas Ruhe und Abstand.“ „Aber das ist doch nicht seine Art, die Zeiten sind vorbei! Du weißt doch, was beim letzten Mal passiert ist, als er einfach verschwunden ist!“ widersprach Susanne energisch. Semir nickte. Wenn er ehrlich war, musste er ihr zustimmen. Er machte sich inzwischen auch Sorgen, aber das wollte er Susanne jetzt noch nicht sagen. Doch dann kam ihm eine Idee. „Hast du schon mal bei seiner Schwester oder seinem Vater nachgefragt? Vielleicht gibt es ja irgendein dringendes familiäres Problem und er hat einfach nur vergessen, Bescheid zu geben.“ Erleichtert atmete Susanne aus. „Ja, das wird es sein. Zu blöd, dass ich nicht gleich daran gedacht habe. Ich rufe gleich an.“ Mit etwas zittrigen Fingern wählte sie zuerst die Nummer von Bens Schwester. Semir blieb bei ihr, denn auch er wollte wissen, wo Ben steckte und was eigentlich passiert war. Doch weder Julia, noch Bens Vater, den Susanne im Anschluss anrief, hatten in den letzten Tagen etwas von Ben gehört. Susanne musste ihnen versprechen, sich sofort zu melden, sobald Ben wieder aufgetaucht wäre.
    „Vielleicht ist er inzwischen schon wieder zu Hause“, mutmaßte Semir, dem nicht entgangen war, wie nah Susanne den Tränen inzwischen war. „Bestimmt hat er geputzt und aufgeräumt“, fügte er als Versuch, sie ein bisschen aufzuheitern, hinzu. Susanne nickte nur, denn zu einer Antwort war sie im Augenblick nicht in der Lage. Schweigend fuhren sie gemeinsam zur Wohnung, aber auch dort war keine Spur von Ben zu finden. Alles sah fast genau so wie am Morgen aus, als Susanne die Wohnung verlassen hatte. Nur ein halbleerer Becher Kaffe auf dem Küchentisch ließ darauf schließen, dass Ben hier noch gefrühstückt hatte, bevor er wohin auch immer aufgebrochen war.

  • Semir fiel auf, dass er das Ganze wie einen Tatort betrachtete, obwohl er das eigentlich nicht wollte. Aber er konnte einfach nicht anders, denn er ging inzwischen davon aus, dass Ben etwas passiert sein musste, anders war das alles hier nicht zu erklären.
    Susanne war inzwischen das reinste Nervenbündel. „Wo kann er nur sein? Warum meldet er sich nicht? Wenn ihm nun etwas zugestoßen ist?“ Semir versuchte, so ruhig wie möglich zu bleiben, denn es brachte niemandem etwas, wenn er nun auch noch die Nerven verlor, auch wenn er ehrlich gesagt kurz davor war, aber Susanne durfte davon nichts merken. „Keine Panik, das werden wir schon herausfinden. Wahrscheinlich ist gar nichts und wir machen uns umsonst Sorgen. Es gibt bestimmt eine einfache Erklärung. Vielleicht ist auch nur der Akku seines Handys leer und er kann sich deswegen nicht melden. Das wäre im Übrigen auch die Erklärung dafür, dass die Ortung nicht funktioniert.“ Er hoffte, überzeugend zu klingen, da er selbst nicht wirklich an seine Worte glaubte. „Lass uns die Nacht noch abwarten, morgen früh sehen wir dann weiter.“ Susanne sah ihn zweifelnd an. „Und wenn er einen Unfall hatte und irgendwo im Krankenhaus liegt?“ fragte sie. Doch dann fiel ihr noch etwas anderes ein und diese Vorstellung war um ein Vielfaches schrecklicher. „Oder wenn er einfach noch nicht gefunden worden ist?“ Semir dachte kurz nach. „Also im Krankenhaus wird er nicht sein, das wüssten wir inzwischen. Aber wir können uns morgen ja mal durch telefonieren. Und von einem Unfall hätten wir erfahren. Aber da war heute nichts.“
    Susanne sagte nichts, sie nahm sich vor, gleich nachdem Semir gegangen sein würde, die Kliniken durch zu telefonieren. „Wenn du willst, kannst du heute Nacht auch mit zu mir und Andrea kommen“, bot Semir an, doch Susanne schüttelte den Kopf. „Nein, ich möchte bleiben. Vielleicht ruft er ja hier an, oder kommt doch noch, dann möchte ich auf jeden Fall da sein.“ Semir nickte. „Bitte melde dich sofort, wenn du etwas hörst.“ „Ja, das mache ich“, antwortete Susanne, während sie Semir zur Tür begleitete. Sie umarmten sich kurz zum Abschied und dann war Susanne allein.
    Nachdem sie erfolglos mit allen Krankenhäusern telefoniert hatte, legte sie sich hin, da es schon sehr spät geworden war, doch sie konnte keinen Schlaf finden. Die gestrige Nacht hatte sie auch allein in diesem Bett verbracht, doch da hatte sie gewusst, dass Ben einfach nur nebenan war. Was würde sie dafür geben, wenn das jetzt auch so wäre. Doch sie hatte keine Ahnung, wo er sich jetzt aufhielt, geschweige denn, was vorgefallen war oder wie es ihm ging. Sie konnte das Gefühl, dass etwas Schreckliches geschehen war, einfach nicht verdrängen. An Schlaf war in dieser Nacht überhaupt nicht zu denken, zwischendurch war Susanne zwar immer mal wieder kurz eingenickt, aber sie fühlte sich wie gerädert, als sie früh am Morgen schließlich wieder aufstand. An der Situation hatte sich nach wie vor nichts geändert. Ben war und blieb verschwunden und es gab keinen Hinweis darauf, wo er sich aufhalten könnte. Ihre leise Hoffnung, er hätte nur mal ein bisschen Zeit für sich alleine gebraucht, hatte sich auch längst zerschlagen, denn so lange abzutauchen, ohne sich bei irgendjemandem zu melden, hätte er nie getan.

  • Nachdem sie sich fertig gemacht hatte, fuhr sie wie üblich ins Büro, denn sie wollte unbedingt an ihrem normalen Tagesablauf festhalten; zum einen, weil sie sonst noch durchdrehen würde, zum anderen, weil Ben sie zu dieser Uhrzeit sicher hier vermuten würde, wenn er sich melden wollte. Auch konnte sie von hier aus besser nach ihm suchen, immer wieder versuchte sie, sein Handy zu orten, doch jedes Mal ohne Erfolg. Nachdem sie in Rücksprache mit Frau Krüger eine offizielle Suchmeldung rausgegeben hatte, machte sie sich erneut daran, sämtliche Krankenhäuser und auch Arztpraxen durch zu telefonieren.
    Semir hingegen war auf dem Weg, um alle Orte abzuklappern, an denen Ben sich aufhalten könnte. Angefangen beim Proberaum seiner Band bis hin zum Wochenendhaus seines Vaters. Doch nirgends fand sich ein Hinweis auf Bens Verbleib und auch Susannes Gespräche blieben erfolglos. Sie konnte ihre Verzweiflung inzwischen kaum noch verbergen und auch Semir wusste nicht mehr weiter. Auch wenn beide versuchten, sich gegenseitig Mut zuzusprechen, wollte ihnen dies immer weniger gelingen, da sie nicht mehr wussten, was sie noch sagen könnten.


    Inzwischen waren zwei weitere Tage vergangen, von denen Susanne nicht wusste, wie sie diese durchgestanden hatte. Was ihr vor allem zu schaffen machte, war die Ungewissheit, was mit Ben geschehen war. Und dass sie im Streit mit ihm auseinander gegangen war, machte für sie alles noch schlimmer. Sie musste einfach wissen, was geschehen war. „Weißt du Semir, wenn wir doch nur erfahren würden, was mit ihm passiert ist. Es macht mich einfach fertig, nur hier rum zu sitzen und das nicht zu wissen“, sagte sie mit leiser, zittriger Stimme. Semir wollte gerade zu einer Antwort ansetzten, als das Telefon klingelte. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Danach sagte er nichts mehr. Nur an seinem Gesichtsausdruck konnte man ablesen, dass es keine guten Nachrichten waren, die er zu hören bekam. Nachdem er schließlich aufgelegt hatte, ohne ein weiteres Wort gesagt zu haben, war er leichenblass. Fragend sah Susanne ihn an.
    In Semirs Kopf überschlugen sich die Gedanken. Wie sollte er das, was er gerade gehört hatte, nur Susanne beibringen? Er konnte es doch selbst kaum glauben. „Susanne, ich… es…“, er rang nach den richtigen Worten, wohl wissend, dass es für so etwas nie die richtigen Worte geben würde. „Semir, was ist denn, bitte sag’ mir, was los ist“, kam es von Susanne, in deren Stimme Panik mitschwang, denn ihr war Semirs Miene nicht verborgen geblieben. „Man hat Bens Wagen gefunden“, kam jedoch erst mal nur von ihm. „Endlich“, stieß Susanne erleichtert hervor. „Wo ist er? Geht es ihm gut? Können wir zu ihm?“ fragte sie. Semir schluckte. Was als nächstes kam, fiel ihm unendlich schwer. „Es wurde nur sein Wagen gefunden, nicht Ben.“ Susanne sah maßlos enttäuscht aus. „Aber es gibt doch bestimmt Hinweise, die uns helfen können, herauszufinden, wo er jetzt ist?“ ‚Oh ja, die gibt es’ dachte Semir, sprach das aber nicht laut aus. „Verdammt Semir, nun rede endlich!“ fuhr Susanne ihn an. Semir atmete tief durch, er musste es ihr sagen, es führte kein Weg daran vorbei.

  • „Susanne, Bens Wagen wurde aus dem Rhein gezogen.“ Susanne hatte das Gefühl, als hätte Semir ihr gerade eine schallende Ohrfeige verpasst. „Was soll das heißen ‚aus dem Rhein’?“ fragte sie ungläubig. Das konnte doch nicht wahr sein, das war doch alles nur ein schlechter Traum!
    „Im Moment wird dort an der Uferböschung gearbeitet, sonst hätte man ihn dort kaum so schnell entdeckt. Er hat dort wohl mehrere Tage gelegen“, erklärte Semir, doch Susanne hatte das Gefühl, als nähme sie das alles nur wie durch einen Schleier wahr. „Und wie ist er dorthin gekommen?“ hörte sie sich selbst fragen. Sie fühlte sich, als wäre sie im falschen Film, zwar war sie körperlich anwesend, doch kam es ihr vor, als würde sie das Ganze nur von außen als Zuschauerin betrachten. Ob das nur ein Selbstschutz ihres Körpers war, um in dieser Situation, bei der Vorstellung, was mit Ben passiert war, nicht durchzudrehen?
    Semir war irritiert, wie ruhig Susanne äußerlich zu bleiben schien, er war sich nicht sicher, was er davon halten sollte, doch er sprach vorsichtig weiter. „Am Heck und an der Seite waren eindeutig Unfallspuren zu erkennen. Wie genau es dazu gekommen ist, lässt sich nicht mehr feststellen, der Regen der letzten Tage und die Arbeiten am Ufer haben jegliche Hinweise unbrauchbar gemacht.“ „Und was passiert jetzt?“ „Man wird Ben suchen“, antwortete Semir. „Aber wir haben doch schon mehrfach in den Kliniken und bei den Ärzten nachgefragt und…“, begann Susanne, doch in diesem Moment wurde ihr klar, was Semir eigentlich sagen wollte. Man würde versuchen, festzustellen, wann genau der Wagen ins Wasser geraten war, um dann bestimmen zu können, welcher Wasserstand und welche Strömungsverhältnisse zu dieser Zeit geherrscht hatten. Man würde vielleicht noch nachfragen, wie groß und schwer Ben gewesen war, was er angehabt haben könnte und dann würde man beginnen, nach seiner Leiche zu suchen.
    Doch gleich nachdem ihr dieser Gedanke in den Sinn gekommen war, verdrängte sie ihn auch sofort wieder. Diese Vorstellung konnte sie einfach nicht zulassen, das würde sie einfach nicht schaffen. In ihrem Kopf drehte sich alles und sie spürte, wie ihre Beine nachgaben, doch sie musste sich zusammenreißen, wenn sie jetzt zusammenbrechen würde, glaubte sie, nie wieder aufstehen zu können. Sie zwang sich mit aller Gewalt, sich an den Gedanken zu klammern, dass Ben noch am Leben war; zumindest so lange, bis das Gegenteil bewiesen worden war.
    Semir sah sie nur an, sagte aber nichts mehr. Er konnte sehen, wie es in ihr arbeitete, aber er musste ja auch selber mit dem klar kommen, was er da gerade gehört hatte. Seine Gedanken gingen allerdings in eine andere Richtung. Er war schon viel zu lange Polizist, um in einer solchen Situation noch an eine glückliche Fügung denken zu können. Ben war sein Partner und bester Freund gewesen. Semir war nicht einmal im Stande, sich jetzt um Susanne zu kümmern, dazu fehlte ihm einfach die Kraft, auch wenn er sich deswegen ziemlich schäbig fühlte, aber er brauchte selbst dringend Unterstützung, die er sicher bei Andrea und Aida finden würde. Doch Susanne war allein. Sie hatte sich im Streit von Ben getrennt. Semir konnte sich kaum vorstellen, was das für sie bedeuten musste. Er sah in ihr Gesicht und wusste, dass er jetzt eigentlich über seinen Schatten springen musste, doch er brauchte auch jemanden, der ihm Trost und Zuspruch geben konnte.
    Susanne schien seinen Zwiespalt trotz allem zu spüren, sie stand auf und wandte sich zum Gehen. „Ich werde nach Hause fahren. Ruf mich bitte an, wenn du etwas Neues erfährst.“ Mit diesen Worten verließ sie den Raum und ließ Semir allein zurück. Später konnte sie sich daran nicht mehr erinnern, auch nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Dort angekommen legte sie sich hin, nicht jedoch ohne vorher ein T-Shirt von Ben aus dem Wäschekorb geholt zu haben. Sie lag da und atmete seinen Geruch ein, doch er war nicht bei ihr, er lag tief unten auf dem Grund des Rheins, wo kalt und einsam war. Susanne hatte das Gefühl, sie würde nie wieder aufhören können zu weinen.

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  • Nachdem der Schlaf sie endlich von solchen Gedanken erlöst hatte, hatte sie in dieser Nacht einen seltsamen Traum. Sie war unter Wasser und da war auch Ben. Während es sich für sie anfühlte, als würde sie schwerelos daher treiben, versuchte er verzweifelt zu ihr zu gelangen, doch er konnte sie nicht erreichen, etwas an seinen Beinen hielt ihn dort unten, wo er war, fest.
    Als Susanne schließlich verschwitzt aufwachte, war sie völlig verstört und konnte diesen Traum überhaupt nicht einordnen. Das Einzige, was sie verstanden hatte, war die Tatsache, dass es für Ben unmöglich gewesen war, zu ihr zu gelangen. Der Blick auf die Uhr verriet ihr, dass sie schon viel zu spät dran war. Wenn sie ehrlich war, wollte sie eigentlich gar nicht ins Büro, doch es war ein Stückchen Normalität, welches sie dringend brauchte, um das alles weiter ertragen zu können. Auch wenn sie Angst davor hatte, wie die anderen sie ansehen würden. Vor allem fürchtete sie sich vor Semirs Blicken. Er schien die Hoffnung aufgegeben zu haben und das war etwas, mit dem sie jetzt nicht umgehen konnte. So lange Bens Leiche noch nicht gefunden worden war, würde sie sich an der Vorstellung festhalten, dass er noch am Leben war. Als ihr klar wurde, dass sie Semir heute nicht in Augen würde sehen können, entschloss sie sich doch dazu, sich krank zu melden. Jeder würde dafür Verständnis haben. Nur durfte sie nicht untätig herum sitzen, sie musste etwas tun, doch da würde ihr schon etwas einfallen.


    Mit ihrer Vermutung hatte Susanne Recht behalten, Semir war ehrlich gesagt sogar froh darüber, dass er sie heute nicht sehen musste. Zwar plagte ihn deswegen wieder das schlechte Gewissen, doch er kam einfach nicht damit klar, wie sie mit dem Ganzen umging. Er hatte begonnen zu versuchen, sich damit abzufinden, dass Ben nicht mehr am Leben war, zumal man inzwischen auch Blutspuren im Wagen gefunden hatte, die den Schluss zuließen, dass Bens Kopf mit voller Wucht gegen die Seitenscheibe geprallt sein musste. Auch die Bruchlinien der Scheibe sprachen für diese Theorie. Es musste ein immenser Aufprall gewesen sein und Ben war, warum auch immer, anscheinend nicht angeschnallt gewesen, so dass sein Körper von der Strömung hatte davon getragen werden können.
    Aber Susanne wollte von all dem nichts wissen, weil sie die schreckliche Realität einfach nicht wahrhaben wollte. So machte sie sich da Hoffnungen, wo Semir diese schon längst aufgegeben hatte. Seine Therapie bestand wie immer darin, sich erst einmal in Arbeit zustürzen, denn wie Bens Wagen in den Fluss geraten und wer dafür verantwortlich war, wollte er unbedingt herausfinden. Das war zudem das Mindeste, was er seinem Freund schuldig war.
    Andrea sah das Ganze mit großer Sorge. Natürlich trauerte sie um Ben, doch ihr war auch ihr Mann wichtig. Nachdem er sich einen Abend hatte gehen lassen, machte er inzwischen völlig dicht; zwar zeigte er noch seine Betroffenheit, doch sie wusste, dass das längst nicht alles gewesen war. Sie fürchtete, er könnte eines Tages einfach zusammenbrechen, wenn er sich endgültig der Wahrheit stellen musste, dass er schon wieder einen Freund und Partner verloren hatte. Doch im Moment lief er einfach vor diesen Gedanken davon. Aber sie würde für ihn da sein, wenn es einmal so weit sein würde. Bis dahin konnte sie ihn nur so gut unterstützen, wie er es zuließ.


    Susanne blieb also einfach zuhause und beschäftigte sich mit nichtssagenden Dingen, die sie zwar ein wenig ablenkten, aber die Gedanken an Ben auch nicht wirklich vertreiben konnten. Sie räumte ein wenig hin und her, sortierte Dinge in Schubladen neu und nahm sich dann den Zettelstapel neben dem Telefon vor, denn Ben hatte es immer noch nicht geschafft, hier für Ordnung zu sorgen. Sie lächelte ein wenig, als sie den Papierwust in die Hand nahm; wie konnte man es nur schaffen, so viele Blätter aufeinander zu legen, dass diese nicht runterrutschten? Sie begann zu versuchen, das Ganze irgendwie zu ordnen, als ihr ein Abholschein eines Juweliers in die Hände fiel, der auf den heutigen Tag datiert war. Ihre Hände zitterten, während sie mit sich rang, was sie damit tun sollte. Doch dann siegte ihre Neugier, für die sie sich später verfluchen sollte. Sie machte sich also auf den Weg zu dem Geschäft, von dem ihr eingefallen war, dass Ben dort öfter einkaufte. Daher wunderte es sie nicht, dass die Verkäuferin sie verschwörerisch anlächelte, als sie ihr einen kleinen, roten Kasten aus Samt überreichte, den Susanne, ohne ihn zu öffnen mitnahm. Die Rechnung war bereits bezahlt gewesen, so dass sie keine Ahnung hatte, was darin sein könnte. Daher traf der Schock sie schließlich umso tiefer, als sie erkannte, was sie da in den Händen hielt.

  • Sie saß auf der Couch und hielt das Kästchen in der Hand. Sie drehte es zwischen den Fingern und traute sich kaum, es zu öffnen. Doch schließlich fand sie den Mut und wünschte sich gleich darauf, es nicht getan zu haben. Warum hatte sie nur den verfluchten Zettel gefunden? Warum hatte sie so neugierig sein müssen? Es zerriss ihr das Herz, als sie erkannt hatte, was da in ihrer Hand lag.
    Es war ein schmaler, schlichter Weißgoldring, in dessen Mitte ein Diamant eingelassen war. Sie hatte diesen Ring schon einmal gesehen und wusste, welche Bedeutung er für Ben hatte. Es war der Verlobungsring, den einst Bens Mutter getragen hatte. Susanne hatte nicht gewusst, dass Ben diesen Ring hatte, er hatte sie einmal auf einem Foto auf dieses Schmuckstück aufmerksam gemacht. Damals hatte Susanne sich darüber gewundert, doch jetzt begann sie zu begreifen, warum Ben das getan hatte. Sie versuchte, den Blick von dem Ring loszureißen, doch es wollte ihr nicht gelingen. Anscheinend hatte Ben ihn kleiner machen lassen, denn Susanne hatte sehr schmale Finger. Er hätte an ihrer Hand bestimmt sehr gut ausgesehen, aber es war niemand mehr da, der ihn ihr hätte anstecken können.
    Susanne saß einfach nur da und starrte auf den Ring. Sie konnte die Gefühle, die in ihr tobten, nicht mehr in Worte fassen. Nach einer gefühlten Ewigkeit schaffte sie es endlich, das Kästchen zu schließen und es auf Bens Kopfkissen zu legen. Dann verließ sie die Wohnung und lief ziellos durch die Straßen. Sie war nicht mehr in der Lage, irgendwelche klaren Gedanken zu fassen und als sie schließlich wieder vor der Wohnungstür ankam, war ihr nur eins klar: sie würde dort nicht mehr hineingehen können. Gerade als sie sich umdrehen wollte und zu überlegen begann, wo sie unterkommen könnte, hörte sie hinter sich einen Wagen halten. Sie musste sich nicht umdrehen, um zu erkennen, dass es Semirs Wagen war. Doch es war nicht der Partner ihres Freundes, sondern Dieter, der sie jetzt ansprach.
    „Susanne? Semir hat mich geschickt, um dich abzuholen. Es gibt neue Erkenntnis.“ Fragend sah er sie an. Er hatte Semir angeboten, ihm diese Pflicht abzunehmen, doch noch konnte er es nicht über sich bringen, ihr zu sagen, wo genau sich Semir im Augenblick befand. Susanne sah einfach furchtbar aus und wie dreckig es auch Semir ging, war schon daran zu sehen, dass er Dieter einfach so seinen Wagen überlassen hatte und Susanne nicht selbst geholt hatte. Susanne nickte und setze sich ohne ein Wort zu sagen auf den Beifahrersitz. Auch als sie erkannte, dass die Fahrt in den Räumen der Gerichtsmedizin enden würde, schwieg sie.
    Doch als sie schließlich mit dem älteren Kollegen vor der Eingangstür stand, sagte sie leise: „Dieter, ich kann das nicht“, denn sie wusste, was sie erwarten würde. Sie stand kurz vor einem Nervenzusammenbruch. „Susanne, es ist auch für Semir nicht einfach. Was denkst du denn, warum er dich hier haben wollte? Er bracht deine Unterstützung, alleine schafft er das auch nicht“, versuchte Dieter sie zu überreden, obwohl er von seinen eigenen Worten selbst nicht überzeugt war. „Da bin ich mir nicht so sicher“, antwortete sie zögernd, ließ sich dann aber doch von Dieter in das Gebäude begleiten. Semir erwartete sie bereits vor der Bürotür des dortigen Leiters Dr. Hegemann. Die beiden nickten einander kurz zu, Semirs Miene war wie versteinert. Gemeinsam betraten sie das Büro und nach einer kurzen förmlichen Begrüßung, kam der Rechtsmediziner zur Sache.

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  • „Also, erst einmal kann ich Ihnen mitteilen, dass es sich bei der gefundenen Leiche definitiv nicht um ihren Kollegen, sondern um eine Frau handelt.“ Susanne blickte zu Semir, doch es war keine Reaktion auf diese Nachricht zu erkennen. Sie allerdings erschrak über sich selbst, als sie feststellte, dass ein kleiner Teil von ihr gehofft hatte, hier Ben vorzufinden, damit sie endlich Gewissheit hatte. Hatte sie sich doch schon damit abgefunden, ihn nie wieder zu sehen? Nein, das durfte sie nicht denken, solange er noch nicht gefunden worden war, durfte sie die Hoffnung nicht aufgeben! Doch sie konnte nicht leugnen, dass sie bereits damit begonnen hatte, sich von Ben zu verabschieden und sie ahnte, dass sie diesen Prozess nicht würde aufhalten können.
    „Ich habe sie trotzdem hergebeten, da wir bei ihr Verletzungen entdeckt haben, die von einem Autounfall verursacht worden sein könnten“, fuhr Dr. Hegemann fort. „Wir halten es für unwahrscheinlich, dass gleich zwei Fahrzeuge in den Fluss gefahren sind, daher gehen wir davon aus, dass sie mit in dem Wagen gesessen haben könnte. Die entsprechenden Laboruntersuchungen laufen bereits. Wir möchten Sie bitten, sich die Leiche einmal anzusehen, vielleicht kennen Sie die Frau ja, wir konnten sie bisher noch nicht identifizieren. Der Körper hatte sich im Gestrüpp der Uferböschung verfangen und scheint nur kurz unter Wasser gewesen zu sein, daher ist das Gesicht noch gut zu erkennen. Trauen Sie sich das zu?“ Die letzte Frage war vor allem an Susanne gerichtet, doch diese nickte nur, sie war trotz ihrer widersprüchlichen Gefühle einfach nur froh, dass sie hier gleich nicht Ben sehen würde, und wenn das, was sie hier tat, helfen konnte aufzuklären, was geschehen war, würde sie das schon schaffen. Auch wenn sie kaum noch daran glauben konnte, Ben lebendig zu finden, waren sie ihm schuldig herauszufinden, was mit ihm geschehen war.
    Schweigend dirigierte der Mediziner sie in sein Büro. Dort angekommen schaltete er einen Monitor an, auf dem ein Körper erschien, der im Augenblick noch mit einem grünen Tuch abgedeckt war. Weder Semir noch Susanne sagten ein Wort. Semir versuchte, sein Denken auf eine professionelle Ebene zu bringen. Was in Susannes Kopf vorging, konnte er nicht mal im Ansatz erahnen. Er fasste für sich noch einmal die spärlichen Informationen zusammen, die er bis jetzt hatte. Eine tote Frau, die am Ufer des Rheins gefunden worden war und deren Körper die Spuren eines Autounfalls aufwiesen. Noch dazu war sie in der Nähe der Stelle gefunden worden, an der auch Bens Auto aus dem Wasser gezogen worden war. Ohne voreilige Schlüsse zu ziehen, sah es ganz danach aus, als habe sie mit Ben im Wagen gesessen. Wer also war diese Frau?
    Susanne fragte sich bei dem Anblick nun inzwischen doch, was sie hier eigentlich noch zu suchen hatte. Der Körper unter dem Tuch da gehörte definitiv nicht Ben, also gab es für sie hier eigentlich nichts zu tun. Sie konnte sich auch etwas Besseres vorstellen, als sich hier eine Leiche anzusehen. Was sollte das bringen? Sie war keine Ermittlerin, sie musste sich das nicht antun, es gab im Moment schon genug, mit dem sie zu kämpfen hatte, da brauchte sie auch nicht noch solche Bilder in ihrem Kopf. Die Gedanken an Ben, die sie quälten, machten sie schon fertig genug. Also war sie im Begriff aufzustehen und sich zu verabschieden, als Dr. Hegemann ein Zeichen gab und das Tuch vom Gesicht der Toten entfernt wurde. Susanne erstarrte in ihrer Bewegung und konnte die Augen nicht von dem abwenden, was sie sah. Sie blickte in die leeren Augen ihrer Freundin Jana, die dort unten leblos auf dem kalten Metalltisch lag. Susanne war wie paralysiert und nicht in der Lage auch nur einen klaren Gedanken zu fassen.
    Semir war Susannes Reaktion nicht entgangen. „Kennst du die Frau?“ fragte er vorsichtig. Wie in Zeitlupe nickte Susanne. „Das ist Jana“, flüsterte sie kaum hörbar. „Deine Freundin Jana?“ fragte Semir verwundert zurück und Susanne nickte erneut und konnte nicht begreifen, was hier gerade passierte. Geschah das alles wirklich oder war das nur ein schlechter Traum? Sie hörte zwar die nächsten Worte des Arztes, doch seine Stimme schien weit weg zu sein und sie begriff nicht wirklich was er da sagte. „Anhand der Verletzungen und nach dem Abgleich mit dem Wagen ihres Kollegen können wir wie gesagt davon ausgehen, dass sie sich ebenfalls während des Unfalls in dem Fahrzeug befunden hat.“ Ben und Jana? Wie konnte das sein? Das war doch eigentlich nicht möglich. Sie bekam nicht mit, dass Semir sie ansprach; als er sie an der Schulter anfasste, zuckte sie zusammen und realisierte erst dann, dass er etwas zu ihr gesagt hatte. „Susanne, was könnten Ben und Jana gemeinsam gemacht haben?“ wiederholte Semir seine Frage. Er konnte sich auf all das hier keinen Reim machen.

  • Doch Susanne schüttelte den Kopf. „Die beiden waren weiter voneinander entfernt als sonst zwei Menschen, die ich kenne“, sagte sie leise, während sie wieder an ihren letzten gemeinsamen Abend dachte, der so katastrophal geendet hatte. Und auch jetzt war der ganze Horror noch nicht vorbei, sondern schien nur noch schlimmer zu werden. Ihr fiel absolut keine Erklärung dafür ein, warum um alles in der Welt die beiden gemeinsam in einem Auto gesessen haben könnten. „Was passiert jetzt?“ fragte sie und wunderte sich, dass sie in der Lage war, diese klare Frage zu formulieren. Immerhin hatte sie gerade auf eine ziemlich radikale Weise erfahren, dass eine Freundin von ihr gestorben war. Und nicht nur das; es schien auch in Zusammenhang mit dem Verschwinden ihres Freundes zu stehen. Wenn sie nur nicht darauf bestanden hätte, Jana einzuladen… wenn sie nicht diesen blöden Streit angefangen hätte… wenn sie doch nur zu Ben gegangen wäre… wenn sie doch morgens nicht einfach ohne ein Wort das Haus verlassen hätte… Immer mehr steigerte sich Susanne in diese Schuldgefühle hinein, so dass sie kaum mitbekam, welche Antwort Semir ihr gab.
    „Nun, wir werden versuchen herauszufinden, was Jana mit dieser Sache zu tun hatte und weiter nach Ben suchen“, begann Semir. „Obwohl…“, er beendete den Satz nicht, denn es war klar, was er sagen sollte. Die Tote dort unten in der Autopsie sprach nur zu deutlich aus, was auch mit Ben geschehen war. Doch entgegen aller Vernunft hatte Semir die Hoffnung doch noch nicht endgültig aufgeben können. Er hatte zwar die ganze Zeit versucht, sich einzureden, dass es keine mehr gäbe und er realistisch sein müsse. Doch dann hatte er feststellen müssen, dass er in dieser Situation mit rationalen Gedankengängen nicht weiterkam. Er brauchte einfach mehr Gewissheit, um sich damit abfinden zu können, dass er seinen Partner nicht mehr lebendig wiedersehen würde. Auch wenn es hart klang, nur die eine Leiche hier war ihm zu wenig, um tatsächlich daran glauben zu können, dass auch Ben tot war.
    Er sah Susanne an, die im Moment so aussah, als wisse nicht, was sie als Nächstes tun sollte, viel mehr wirkte sie, als stünde sie kurz vor einem Nervenzusammenbruch. Aber wenn Semir ehrlich war, hatte er jetzt nicht die Kraft, sich auch noch um sie zu kümmern, er war viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, als das er ihr in dieser Situation seine Hilfe anbieten konnte. Doch irgendwie fühlte er sich ziemlich schäbig, wenn er so dachte und so wollte er sie gerade ansprechen, aber sie kam ihm zuvor. „Ich möchte nach Hause“, sagte sie. „Komm, ich fahre dich zu eurer Wohnung“, bot Semir ihr an, froh darüber, eine konkrete Aufgabe zu haben. „Nein, da will ich nicht hin“, wehrte Susanne ab. Noch einmal den Anblick des Rings zu ertragen, den sie dort zurückgelassen hatte, konnte sie jetzt nicht. Sie wusste nicht einmal, ob sie diese Räume überhaupt noch einmal betreten wollte. „Nimm’s mir nicht übel, aber ich brauche jetzt etwas Abstand. Ich werde zu meiner Tante Sophie fahren. Kann ich von hier aus telefonieren?“ fragte sie an Dr. Hegemann gewandt, der nickte und auf den Apparat auf seinem Schreibtisch wies. Sie musste raus hier und dann so schnell wie möglich weit weg. Sie konnte es nicht ertragen, irgendetwas in ihrer Nähe zu haben, was sie an Ben erinnerte, sei es in der Wohnung, oder sonst irgendetwas. Dies schloss auch Semir mit ein, vor allem ihn, denn wenn Susanne in sein Gesicht blickte, erkannte sie die gleiche Angst und Sorge darin, die sie empfand. Bei ihm sah sie aber auch noch etwas anderes, etwas, was die Erfahrung seines Berufes wohl mit sich brachte: ein Anflug der Resignation, als hätte er sich bereits mit Bens Schicksal abgefunden und sie konnte es nicht aushalten, diesen in seinem Blick zu sehen.

  • Susanne war froh, als sie ihre Tante erreichte, die sich ohne große Nachfragen sofort bereit erklärte, ihre Nichte unverzüglich abzuholen. Nach einer kurzen Verabschiedung verschwand Susanne aus dem Institut und wartete draußen auf ihre Tante, die glücklicherweise schnell eintraf. Nachdem sie auf dem Beifahrersitz Platz genommen hatte, sah Sophie sie von der Seite an. Susanne wusste, dass sie ihrer Tante alles erzählen würde, zum Einen, weil sie so vieles loswerden musste, zum Anderen hatte sie vor Sophie noch nie etwas verheimlichen können.
    Ihre Tante war geschockt, als sie von den Ereignissen erfuhr, doch sie riss sich zusammen und bemühte sich, die Fassung zu wahren, denn Susanne brauchte sie jetzt dringend. Sie bot ihrer Nichte an, erst einmal bei ihr unterzukommen, was diese auch gerne annahm, hatte sie so doch die Gelegenheit, zumindest räumlich etwas Abstand zu nehmen, ohne jedoch zu weit weg zu sein, wenn sich etwas Neues ergeben sollte. Sophie hatte Ben nur wenige Male gesehen, doch sie hatte ihn von Anfang an sehr gemocht. Vor allem, wie liebevoll er immer mit Susanne umgegangen war, hatte sie sehr beeindruckt. Sie war der Meinung, dass ihre Nichte jetzt endlich den Richtigen getroffen hatte und dann passierte so etwas! Auf dem Weg zu Sophie hielten sie doch noch einmal kurz bei Susannes Wohnung, doch ihre Tante ging allein nach oben, um ein paar Sachen von ihr zu holen. Sie konnte gut verstehen, dass ihre Nichte hier erst einmal nicht mehr hinwollte, auch wenn da noch mehr zu sein schien, als sie ihr bisher erzählt hatte. Als sie dann jedoch ins Schlafzimmer kam und das Schmuckkästchen entdeckte, konnte sie sich langsam zusammenreimen, was da noch war und diese Tatsache erschütterte sie zutiefst. Ben hatte es also tatsächlich ernst gemeint. Ob er ihr den Antrag schon gemacht hatte oder hatte Susanne erst im Nachhinein davon erfahren? Das wäre ungleich schlimmer, denn dann hätte sie nicht einmal die Gewissheit, ob Ben es auch wirklich getan hätte. Sophie nahm sich fest vor, sich in der nächsten Zeit besonders gut um Susanne zu kümmern. Da sie selbst Ärztin war, würde sie Susanne krankschreiben, denn das was diese jetzt am allerwenigsten gebrauchen konnte, war die Arbeit in dem Büro, in dem auch die Suche nach Ben koordiniert wurde. Ihre Kollegin in der Praxis würde sicher einen Teil ihrer Patienten übernehmen, so dass sie genug für ihre Nichte da sein konnte.
    Susanne war froh, als sie die Stadt endlich hinter sich gelassen hatten. Das half ihr zumindest ein bisschen, ihre Nerven ein wenig zu beruhigen und auf andere Gedanken zu kommen. Und auch Sophie würde schon dafür sorgen, dass sie genug Ablenkung bekam. Das war jetzt genau das Richtige, denn wer wusste schon wie lange diese Tortour noch andauern würde und Susanne musste mit ihren Kräften haushalten um das alles irgendwie durchzustehen.

  • Auch Semir war kaum in der Lage als an irgendetwas anderes zu denken als seinen besten Freund und Partner. Er zermarterte sich das Hirn, wer es auf ihn abgesehen haben könnte, denn er war sich sicher, dass es kein gewöhnlicher Unfall gewesen war, der Bens Wagen ins Wasser befördert hatte. Die letzten Zweifel in dieser Richtung waren bei ihm ausgeräumt worden, als er begriffen hatte, wer da mit Ben zusammen gewesen war. Diese Jana musste irgendwie in der ganzen Sache mit drin stecken, nur hatte Semir noch absolut keine Ahnung, wie sie in dieses Puzzle hinein passen könnte.
    Also machte sich er sich zuerst einmal auf den Weg in die KTU, in der Hoffnung, dass dort etwas Brauchbares gefunden worden war und zumindest hier hatte er Glück. Hartmut kam fast freudestrahlend auf ihn zu, war er doch fündig geworden. Einerseits freute ihn diese Tatsache, zum anderen musste er immer daran denken, woran er gerade arbeitete und das machte ihm die ganze Sache erheblich schwerer. „Hallo Semir“, begrüßte er seinen Freund. „Wir haben Bens Handy gefunden!“ Semir wurde ganz kribbelig, als er diese Neuigkeit hörte. „Ja und? Lass dir doch nicht alles aus der Nase ziehen“, erwiderte er etwas zu unwirsch, was er gleich darauf schon wieder bereute, als er Hartmuts Gesichtsausdruck sah. Auch für ihn war das alles nicht leicht. „Tut mir leid, Hartmut, war nicht so gemeint, es ist nur… Also, was hast du gefunden?“ Der Angesprochene entspannte sich sichtlich und setzte zu einer Erklärung an. „Das Gerät war ziemlich in Mitleidenschaft gezogen, doch wir konnten die letzten fünf Nummern, die mit denen er Kontakt hatte wiederherstellen. Hier ist die Liste, wir haben bereits die Teilnehmer dazu sortiert.“ Mit diesen Worten überreichte Hartmut Semir einen Ausdruck. Schnell überflog dieser die Namen und sein Blick blieb an dem letzten Anruf hängen. Datiert war das Gespräch am Morgen von Bens Verschwinden. Und seine Gesprächspartnerin war Jana gewesen. Susanne war zu diesem Zeitpunkt bereits nicht mehr in der Wohnung gewesen und so konnte niemand sagen, worum es in dieser Unterhaltung gegangen war. Die Gesprächsdauer war nur kurz gewesen, Semir nahm daher an, dass sich die beiden verabredet hatten, schließlich mussten sie zusammen gewesen sein, als der Unfall, oder sollte er besser sagen der Anschlag, passierte. Aber warum das Ganze geschehen war, sowohl Janas und Bens Treffen, als auch alles andere lag für Semir völlig im Dunkeln.
    Das einzige was ihm jetzt einfiel war, zu Janas Wohnung zu fahren, um sich dort umzusehen. Vielleicht fand er dort einen Hinweis darauf, was sie von Ben gewollt hatte, denn es musste schon etwas Gewichtiges gewesen sein, wenn Ben sich deswegen freiwillig mit ihr getroffen hatte. Er war allein unterwegs, obwohl ihn Dieter oder Hotte sicher gern begleitet hätten, doch er konnte weder ihre, noch die Blicke der anderen Kollegen ertragen. Er wusste genau, was sie über ihn dachten und sie hatten ja Recht. Doch er wollte sich dem jetzt nicht stellen, sondern lieber versuchen, das zu tun, was er am Besten konnte. Auch Ben würde von ihm erwarten, dass er sich jetzt auf das Ermitteln konzentrierte und herausfand, was geschehen war. Zudem dies im Moment auch das Einzige war, was er für Ben tun konnte. Und wenn sein Partner wirklich tot war, wollte er sich nicht vorwerfen müssen, nicht alles für die Aufklärung dieses Verbrechens getan zu haben. Wenn irgendwann alles so oder so vorbei sein würde, würde er sich seinen Gefühlen stellen müssen, das war ihm klar. Doch so lange es noch nicht soweit war und er das vermeiden konnte, war er fest entschlossen, alles dafür zu tun, damit dies auch so blieb, damit er effektiv arbeiten konnte. Und dazu gehörte leider auch, die Kollegen auf Abstand zu halten, selbst wenn das sonst nicht seiner Art entsprach. Er wusste, dass sie ihm nur helfen wollten, doch er musste jetzt allein sein. Andrea würde ihn verstehen und sein Verhalten dulden, zumindest so lange, bis sie das Gefühl hätte, es wäre zu seinem Schaden, doch so weit würde er es nicht kommen lassen.

  • Nachdem er schließlich Janas Wohnung gründlich auf den Kopf gestellt hatte, war er allerdings auch nicht viel schlauer als vorher. Nichts deutete darauf hin, dass sie in irgendwelchen Schwierigkeiten gesteckt haben könnte. Die Vermieterin, die ihn rein gelassen hatte, konnte ihm auch keine Auskunft in dieser Richtung geben. Nachdenklich stand er im Wohnzimmer und betrachtete ein Foto, auf dem Jana anscheinend mit ihrem neuen Freund zu sehen war. Semir musste kurz überlegen, bis ihm der Name wieder einfiel: Mike. Ob ihn schon jemand benachrichtigt hatte? Wahrscheinlich nicht, sie waren ja wohl weder verlobt, noch verheiratet gewesen. Warum hatte er eigentlich keine Vermisstenanzeige aufgegeben? Oder hatten sich die beiden inzwischen getrennt? Denn außer dem Foto ließ nichts in der Wohnung darauf schließen, dass sich noch eine weitere Person außer Jana hier häufig aufhalten würde. Es waren keine zweite Zahnbürste, Wechselklamotten oder sonst etwas zu finden gewesen. War Mike nicht auch der Grund gewesen, weshalb sich Ben und Susanne gestritten hatten?
    Mit vielen Fragen im Kopf machte sich Semir wieder auf den Weg. Das Bild von Mike hatte er abfotografiert, denn er wollte diesen Mann genauer unter die Lupe nehmen. Auch wenn er ihn nur von diesem Bild und aus einer kurzen Erzählung von Ben kannte, kam er ihm doch mehr als komisch vor, das sagte ihm einfach sein Instinkt. Vielleicht lag ja auch irgendwas gegen ihn vor. Doch dazu musste Semir erst einmal herausfinden, wie dieser Typ mit Nachnamen hieß, denn außer dem Foto hatte er wirklich rein gar nichts von ihm gefunden, kein Eintrag im Kalender oder Telefonbuch, auch nichts in Janas Computer. Den sollte sich Hartmut noch mal vornehmen, doch Semir glaubte nicht, dass er dort etwas übersehen haben könnte, Jana schien nicht mit besonderen technischen Fähigkeiten ausgestattet gewesen zu sein. Dass er nichts über Mike finden konnte, erschien Semir ziemlich suspekt und war ein weiteres Indiz für ihn, dass mit diesem Kerl etwas nicht stimmen konnte und er auch mit der ganzen Sache zu tun haben könnte.
    Susanne konnte er nicht fragen, ob sie ihm helfen würde, das war ihm klar. Also machte er sich selbst auf die Suche. Allerdings tat er das erst am Abend, als so gut wie niemand mehr auf der Dienststelle war. So brauchte er keine Rechenschaft über seine Recherchen ablegen und er konnte in Ruhe seinem Verdacht nachgehen. Doch leider hatte er bei seiner Suche kein Glück. Er schlug sich halbe Nacht um die Ohren, doch nirgendwo war eine Spur zu finden. Morgen würde er die Spurensicherung in die Wohnung schicken, irgendwas musste da doch zu finden sein! Semir war schließlich so fertig, dass er mit dem Kopf auf seinen verschränkten Armen liegend am Schreibtisch einschlief.
    Der Duft von frischem Kaffee weckte ihn erst wenige Stunden später. Er blinzelte und sah Dieter, der ihm einen vollen Becher des dampfenden Gebräus unter die Nase hielt. „Morgen“, murmelte er verschlafen und nahm dankbar das Getränk entgegen. Er nahm einen Schluck und sagte dann: „Wir müssen die Spusi zu Janas Wohnung schicken, die sollen dort…“ Er stockte, als er Dieters irritierten Blick sah. „Die ist doch schon unterwegs, es ist doch ein ungeklärter, gewaltsamer Todesfall, da ist das doch das Standardverfahren.“ Semir nickte. Natürlich war es das, daran hatte er überhaupt nicht mehr gedacht. Er seufzte und stützte seinen Kopf mit den Händen ab. Er war anscheinend kaum mehr in der Lage, klar zu denken, dass ihm solche selbstverständlichen Dinge gar nicht mehr in den Sinn kamen. Vielleicht wäre es das Beste, er ging erst einmal nach Hause, um sich dort richtig auszuschlafen, denn wenn er nicht richtig denken konnte, war er kaum eine große Hilfe. Aber konnte er sich das erlauben, wo er doch noch keinen Schritt weitergekommen war? „Fahr nach Hause, Semir“, sagte Dieter, der ihm wohl ansehen konnte, was in seinem Kopf vorging. „Es bringt niemandem etwas, wenn du dich hier kaputt machst. Irgendwann kippst du um und dann kannst du gar nichts mehr machen.“ Vielleicht war es dieser letzte Satz oder die echte Sorge, die durch Dieters Worte hindurch klang; Semir entschied sich, dem Ratschlag zu folgen und sich etwas Ruhe zu gönnen, zumal er sich auch unbedingt mal wieder zuhause blicken lassen musste. Vielleicht sah er nach einer kurzen Auszeit auch schon wieder etwas klarer.

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