Sternenhimmel

  • Semir begann sich umzusehen. Langsam gewann der Ermittler in ihm wieder die Oberhand. Er überlegte, aus welcher Richtung er in jener verhängnisvollen Nacht gekommen war und wohin Ben und seine Begleiter verschwunden sein könnten. Auch die Lage des Hauses mit einbeziehend, dem sie wohl aus dem Weg gehen wollten, konnten sie nur nach Westen gegangen sein. Also entschied Semir, es auch in dieser Richtung zu versuchen. Bens Anhänger fest in der Hand haltend machte er sich auf den Weg.
    Noch während er überlegte, wonach er eigentlich Ausschau halten sollte, bemerkte er nach einiger Zeit zu seiner Linken etwas, das wie eine Art Jagdhütte aussah. Vorsichtig näherte er sich dieser, Deckung hatte er durch die Bäume mehr als reichlich. Doch es schien niemand dort zu sein. An der Eingangstür angekommen, nahm er die Utensilien, die er benötigte, um ein Schloss zu öffnen aus seiner hinteren Hosentasche. Ohne diese Werkzeuge ging er nie aus dem Haus, zu oft war darauf angewiesen und so hatte er sich mit der Zeit angewöhnt, diese immer bei sich zu tragen und wieder einmal war er sehr froh darüber. Während der Rest des Hauses schon etwas heruntergekommen aussah, schien das Schloss nagelneu und erst vor kurzem angebracht worden zu sein. Semir versuchte sich zu zwingen, nicht allzu optimistisch zu sein; wer wusste schon, was er hier vorfinden würde. Doch insgeheim hoffte er auf einen Hinweis, der ihm verraten würde, was tatsächlich mit Ben geschehen war.
    Langsam und vorsichtig öffnete er die Tür einen Spalt, nachdem er das Schloss mit wenig Mühe geknackt hatte. Er ließ seinen Blick durch den vor ihm liegenden Raum gleiten. Er sah eine Schlafcouch, einen Stuhl, einen Tisch und eine weitere Tür, die halb geöffnet den Blick auf eine Art Küche freigab. Semir nahm an, dass es mindestens noch ein Badezimmer, wenn nicht sogar ein weiteres Schlafzimmer geben musste, wenn er die Größe des Hauses berücksichtigte, aber das konnte er aus seiner jetzigen Position nicht erkennen. Er registrierte jedoch, dass dieses Zimmer bewohnt sein musste, zumindest war die Schlafgelegenheit definitiv in Gebrauch. Doch bis jetzt hatte sich nichts weiter geregt, also beschloss er, sich die ganze Sache noch genauer anzusehen. Weiterhin vorsichtig öffnete er die Tür ein Stück weiter und betrat den Raum ganz. Semir war durch seine Entdeckung immer noch ziemlich durcheinander, sonst hätte er mit Sicherheit die Bewegung hinter sich wahrgenommen. So aber ließ er erst einmal weiter den Blick schweifen, in der Hoffnung, einen brauchbaren Hinweis zu finden. Seine Aufmerksamkeit blieb an einer Eisenkette hängen, die auf dem Boden lag und nicht hierher zu gehören schien. Doch bevor er sich diese näher ansehen konnte, erklang plötzlich eine Stimme hinter ihm.
    Zuerst konnte Semir sie gar nicht einordnen und als ihm schließlich bewusst wurde, wer da sprach, konnte er es zunächst nicht glauben, auch wenn er es mit eigenen Ohren hörte.
    „Schön, dass du endlich da bist“
    Langsam drehte Semir sich um und blickte in die Augen eines blassen, ziemlich müde wirkenden, aber ansonsten ausgesprochen lebendig wirkenden Ben, der ihn seinerseits sehr erleichtert ansah.
    Ben war hinter der Tür in Deckung gegangen, als er gehört hatte, dass sich jemand am Schloss zu schaffen gemacht hatte. Bisher hatte er tagsüber noch niemanden hier bemerkt und er wollte sich nicht kampflos geschlagen geben. Zwar waren seine Überlegungen, was er eigentlich machen wollte, noch nicht weit gediehen, aber bevor er noch genauer nachdenken konnte, hatte er in dem unbekannten Besucher seinen Freund Semir erkannt. Er war der Mensch, den Ben sich in dieser Lage am Dringendsten an seiner Seite gewünscht, mit dem er aber am Wenigsten gerechnet hatte. Er konnte es kaum glauben und im ersten Moment hatte es ihm die Sprache verschlagen. Doch jetzt würde er Semir am liebsten umarmen, doch er hielt sich zurück, denn sein Partner sah aus, als hätte er einen Geist gesehen. Und dieser Vergleich war gar nicht mal so unpassend, denn immerhin musste Semir in dem Glauben gewesen sein, Ben sei nicht mehr am Leben. Warum er jetzt trotzdem hier bei ihm im Wald stand, konnte Ben sich nicht erklären, aber das war im Moment auch nicht wichtig. Er war hier und das war alles, was zählte.

  • „Ich hab’ gedacht, du bist tot“, war das erste, was Semir herausbrachte. Er hatte gehofft, geglaubt, ja sogar gebetet, dass er Ben noch einmal sehen würde, doch dass er ihm jetzt auf einmal leibhaftig gegenüber stehen würde, haute ihn einfach um. Er konnte es noch nicht wirklich fassen, war das alles real, oder bildete er sich das wieder nur ein? Doch Ben antworte ihm.
    „Ich weiß“, sagte er. „Aber ich wusste, dass du dich davon nicht aufhalten lassen würdest.“ Das stimmte zwar nicht so ganz, aber Ben hatte das Gefühl, etwas in dieser Art sagen zu müssen. „Können wir jetzt von hier verschwinden?“ fragte er dann einfach, denn er wollte nichts mehr als das und es schien jetzt irgendwie nicht der richtige Zeitpunkt für ein Gespräch zu sein, denn beide waren noch wie erstarrt und konnten nicht die richtigen Worte finden. „Ja klar, worauf warten wir noch?“ fragte Semir, froh über diesen Vorschlag. Auch er war noch nicht im Stande, jetzt über das Geschehen der letzten Wochen, geschweige denn über seine augenblicklichen Gefühle, zu reden. Zumal er in dieser Zeit für seinen Geschmack sowieso genug Gespräche geführt hatte. „Ich bin etwas gehandicapped“, antwortete Ben und wies auf sein rechtes Bein, an dem Semir eine Fußfessel erkannte, welche mit der langen Kette, die er vorhin auf dem Boden entdeckt hatte, verbunden war. Das Ende dieser Kette war fest im Boden verankert. „Mein Bewegungsradius ist nicht ganz so groß, sonst hätte ich mich schon auf den Weg gemacht, auch wenn ich zurzeit etwas langsam unterwegs bin.“ Damit wies er auf sein linkes Bein, an dem die Jeans völlig zerrissen war, wie Semir erst jetzt bemerkte. Er sah noch genauer hin und riss entsetzt die Augen auf. Die Falle hatte mehrere tiefe Wunden hinterlassen und da Ben nichts gehabt hatte, um sie zu versorgen, sahen sie entsprechend aus. Glücklicherweise hatten sie sich tatsächlich nicht entzündet, aber es trotzdem kein schöner Anblick.
    „Ach du Scheiße“, stieß Semir aus. Das erklärte dann auch, warum Ben sich in der Nacht, in der er ihn gesehen hatte, nicht von der Stelle gerührt hatte. Er hatte es nicht gekonnt, weil die Haken einer Falle sich in sein Bein gebohrt hatten. Vielleicht war sie sogar von diesen Sektenleuten aufgestellt worden, um unliebsame Besucher fernzuhalten. Auch wenn die Wunde jetzt schon ein wenig verheilt zu sein schien, mussten es höllische Schmerzen gewesen sein, die Ben zu erleiden gehabt hatte. „Ist nicht so schlimm, wie’s aussieht“, versuchte Ben ihn zu beruhigen. „Hat am Anfang ziemlich weh getan, aber jetzt geht es so einigermaßen.“ Dass die Schmerzen anfangs kaum auszuhalten gewesen waren und er eine Heidenangst gehabt hatte, eine Infektion zu bekommen und daran zu sterben, verschwieg er. Denn das, was er jetzt schon an Mitleid in Semirs Augen erkennen konnte, reichte ihm allemal. „Okay, dann mal los“, meinte Semir, denn es wurde höchste Zeit, dass Ben damit zum Arzt kam. Er machte sich daran, dass Schloss von Bens Fußfessel zu öffnen, denn auch dazu war sein Werkzeug zu gebrauchen. Keine zwei Minuten später klickte es und Ben war frei.
    „Na also“, kam es erleichtert von Semir und auch Ben atmete auf. Dann trat Semir zu Ben und bot ihm seine Schulter als Stütze an. Der zögerte kurz, nahm die Hilfe dann aber doch an. Für falschen Stolz war hier nun wirklich kein Platz. Sie verließen die Hütte und machten sich auf den Weg. Zwar kamen sie nur langsam voran, doch Ben war um jeden Schritt froh, der ihn weiter weg von seinem Gefängnis brachte. „Wie weit noch?“ fragte er schließlich kurz angebunden, denn der Weg fiel ihm wesentlich schwerer, als er gedacht hatte. Er war doch angeschlagener, als er sich eingestehen wollte. „Ist nicht mehr weit“, war Semirs Antwort, der hoffte, tatsächlich den richtigen Weg eingeschlagen zu haben, denn die Bäume sahen einfach alle gleich aus. Doch zu seiner großen Erleichterung sah er kurz darauf seinen Wagen durch das Dickicht schimmern. Der helle Lack wirkte in dem dunklen Wald schon fast wie eine Signalfarbe. Mit einem erleichterten Ausatmen ließ sich Ben dann schließlich in den Beifahrersitz sinken und schloss kurz die Augen. Nachdem auch Semir Platz genommen hatte, fuhren sie zügig los, denn beide wollten so schnell wie möglich weg von hier.

  • „Am Besten bringe ich dich zuerst einmal zu einem Arzt, der sich dein Bein anschaut und dann sehen wir weiter, oder was meinst du?“ fragte Semir, doch Ben nickte nur. „Ruh dich ruhig aus, es dauert eine Weile, bis wir da sind.“ Wieder nickte Ben und hielt die Augen geschlossen. Relativ ruhig und entspannt lenkte Semir den Wagen wieder in Richtung Zivilisation. Eigentlich war er der Ansicht, dass er viel aufgewühlter sein müsste, denn immerhin saß gerade sein tot geglaubter Partner relativ gesund und munter neben ihm, aber dem war nicht so. Vielmehr fühlte sich alles wieder so normal an. Ja, normal war das richtige Wort, das diese Situation hier am Besten beschrieb. Hatte Semir in den Tagen zuvor immer das Gefühl gehabt, dass ihm etwas gefehlt hatte, so fühlte er sich nun einfach wieder vollständig. So wie es jetzt war, war es richtig. Er war mit Ben zusammen unterwegs, um den bösen Jungs kräftig in den Arsch zu treten. Semir musste bei dieser Vorstellung fast grinsen, doch das Lächeln gefror in seinem Gesicht, wenn er daran dachte, was er und die anderen in letzter Zeit alles durchgemacht hatten. Er musste dabei vor allem an Susanne denken. Ob er sie anrufen sollte? Nein, es war besser, wenn sie Ben mit eigenen Augen sah, sonst würde sie nur glauben, Semir sei nicht mehr ganz bei Verstand.
    Endlich waren sie bei der Arztpraxis angekommen und Semir half Ben vorsichtig aus dem Wagen. Sie hatten kurz darüber diskutiert, ob Ben nicht eher in ein Krankenhaus gehörte, aber wie zu erwarten hatte er das kategorisch abgelehnt. Die würden ihn nur dabehalten wollen und schon wieder an einem Ort festsitzen zu müssen, war das Letzte, was er im Augenblick wollte. Im Gegenzug hatte er sich von Semir überzeugen lassen, noch niemanden anzurufen, da jeder dies für einen schlechten Scherz halten würde, denn mit einem lebendigen Ben rechnete niemand mehr. Ben hatte sehr geschluckt, als ihm langsam klar wurde, wie schlimm es tatsächlich für seine Freunde und Familie gewesen sein musste. Er hoffte, dass sein Vater und seine Schwester noch in der Stadt sein würden, aber das würde Semir schon rauskriegen. Und so saßen sie jetzt im Behandlungszimmer von Bens Hausarzt, der von der ganzen Vorgeschichte nichts wusste und sich nur auf die Verletzung konzentrierte. Und so hatte der Mediziner nach einer gründlichen Reinigung der Wunde, etlichen Stichen und einer Tetanusspritze nichts dagegen, dass Ben die Praxis wieder verließ. Er hatte ihm für die Behandlung ein Schmerzmittel gespritzt und ihm noch ein paar Tabletten mitgegeben. Nachdem Ben auch noch einen Termin für eine Kontrolluntersuchung vereinbart hatte, waren sie hier fertig.
    Nachdem sie wieder im Auto saßen, hatte Semir endlich das Gefühl, es wäre an der Zeit zu reden. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie froh ich bin, dass du wieder da bist“, begann er. „Das bin ich auch, das kann ich dir sagen“, erwiderte Ben. Schuldbewusst blickte Semir Ben an. „Ich habe am Ende wirklich geglaubt, du seiest tot. Es tut mir leid, aber die Psychologin hat mich bequatscht und…“ „Ist schon gut“, unterbrach ihn Ben. „Was solltest du auch sonst glauben? Die haben mir Zeitungsartikel gezeigt, in denen über mein Ableben berichtet wurde, weißt du.“ Semir schwieg betroffen. Ben hatte also gewusst, dass man nicht mehr nach ihm suchen würde. Er konnte sich kaum vorstellen, wie aussichtslos Ben seine Lage vorgekommen sein musste. „Am Anfang wollte ich es ja gar nicht glauben, vor allem, nachdem ich dich letzte Woche im Wald gesehen habe“ erklärte Semir weiter. „Du hast mich gesehen?“ fragte Ben ungläubig. „Ja, ich war dort, aber dann wurde ich niedergeschlagen und ich dann endlich wieder bei Bewusstsein war, habe ich keine Spur mehr von euch entdecken können. Na ja, und im Büro haben mich alle für verrückt gehalten, als ich Verstärkung holen wollte und diese Psychologin war auch schon da und dann…“ Er machte eine kurze Pause. „Ich war einfach völlig fertig und diese Frau hat mich irgendwie dazu gebracht, meinen eigenen Sinnen nicht mehr zu trauen. Ich war mir auf einmal gar nicht mehr so sicher, dass ich dich wirklich gesehen hatte oder ob es nur eine Einbildung gewesen war. Es tut mir leid.“

  • Ben schwieg eine Weile. Immerhin hatte Semir gegen alle Widerstände nach ihm gesucht und war dabei sogar ziemlich erfolgreich gewesen. Und das war bestimmt nicht leicht gewesen, wenn alle anderen nicht seiner Meinung gewesen waren. „Ist okay“, sagte er dann. Fragend sah Semir ihn an.
    „Ich hätte wahrscheinlich genauso gehandelt“, erklärte Ben. Klar, er könnte seinen Partner jetzt fragen, warum er nicht darauf bestanden hatte, ihn gesehen zu haben, nicht hartnäckiger gewesen war. Aber wer wusste schon, wie er selbst reagiert hätte, wäre er in einer ähnlichen Situation gewesen. Vielleicht hätte er sich schon viel eher damit abgefunden, dass sein Partner tot war. Und was jetzt eigentlich nur zählte, war die Tatsache, dass Semir ihn letztendlich doch gefunden hatte. „Wirklich, es ist in Ordnung“, wehrte Ben ab, als sein Freund erneut zum Sprechen ansetzten wollte. „Warum bist du eigentlich doch noch mal in den Wald gefahren?“ fragte er dann, zum einen, weil er Semir etwas ablenken wollte, zum anderen war er wirklich neugierig. „Ich wollte mir alles noch mal bei Tage in Ruhe ansehen und…“ Es fiel ihm schwer, weiter zusprechen. „Und ich wollte mich verabschieden“, sagte er dann. „Das hat dann aber wohl irgendwie nicht geklappt, oder?“ fragte Ben und Semir war dankbar für diesen flapsigen Ton, das machte es ihm leichter. Sogar ein leichtes Lächeln fand den Weg in sein Gesicht. „Nein, ich habe nämlich das hier gefunden.“ Mit diesen Worten griff er in seine Jackentasche und zog Bens Anhänger hervor. „Es war Zufall, dass ich ihn entdeckt habe.“ Wenn er nur daran dachte, was passiert wäre, wenn er ihn nicht gefunden hätte, wurde ihm ganz anders. Gedankenverloren nahm Ben das Schmuckstück in Empfang. „Ich habe immer gehofft, irgendwie da raus zu kommen, sonst hätte ich es wahrscheinlich nicht ausgehalten“, sagte Ben leise. „Ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen.“ Semir nickte nur, auch wenn er keine Ahnung hatte, was Ben meinen könnte. Hauptsache war, dass es etwas gegeben hatte, was ihn aufrecht gehalten hatte, was auch immer es war. Das ging ihn nichts an, Ben würde es ihm schon erzählen, wenn er wollte. Semir war nur froh, dass Ben die Zeit der Gefangenschaft anscheinend insgesamt ganz gut verkraftet hatte. Er warf einen Seitenblick auf Ben, aber der schien inzwischen tief in Gedanken versunken zu sein, doch plötzlich schreckte er hoch.
    „Sag mal, welcher Tag ist heute?“ fragte er Semir. „Na, Mittwoch, warum?“ entgegnete dieser leicht verwundert. „Nein, ich meine, welches Datum?“ wollte Ben wissen. „Ach so, heute ist der 15.“, antwortete Semir. „Wozu willst du das wissen?“ „Ist heute Vollmond?“ fragte Ben, statt zu antworten. „Also, so was darfst du mich nicht fragen, da kümmere ich mich so gar nicht drum“, meinte Semir. „Könntest du mir jetzt endlich mal verraten, was los ist?“ Neugierig, aber auch besorgt sah er Ben an, den irgendetwas sehr zu beschäftigen schien. „Na ja, ich war doch die ganze Zeit allein in der Hütte“, begann sein Partner. „ Aber die Lebensmittel und das Wasser hätten ungefähr bis heute gereicht und ich meine, mich daran erinnern zu können, dass Mike irgendetwas von der Mitte des Monats gesagt hat und dass es dann so weit wäre. Wenn heute Abend Vollmond ist, haben die bestimmt etwas vor!“ Ben hatte sich richtig in Rage geredet, auch wenn Semir noch nicht ganz klar war, worauf sein Freund hinauswollte. Trotzdem nickte er verstehend. „Kann gut sein, aber wie kommst du darauf, dass sie zu dir wollen? Vielleicht hatten sie nie vor zurückzukommen.“ Ben überlegte kurz. „Aber warum sonst hätten sie mir Verpflegung da lassen sollen? Und außerdem, so gewaltbereit, wie dieser Mike ist, hätte er dem Ganzen schon in der Nacht ein Ende bereiten können.“ Semir bemerkte zwar, wie sehr Ben sich bemühte, die Vokabeln ‚umbringen’ und ‚töten’ zu vermeiden, doch es war klar, was er meinte. Wahrscheinlich kam er besser damit zurecht, wenn er es nicht direkt aussprach. Wahrscheinlich hatte er in dieser Zeit immer damit gerechnet, sein Leben könnte bald ein Ende haben. Das war bestimmt nicht leicht für ihn gewesen.

  • Ben sprach weiter. „Und du hast doch mitgekriegt, wie die ticken. Aus irgendeinem unerfindlichen Grund glauben diese Leute doch, ich sei etwas Besonderes, weil ich zufällig an einem bestimmten Tag geboren wurde, deswegen haben die mich doch überhaupt erst entführt. Und dieser Mike ist der Schlimmste von allen. Der will noch was von mir, warum sollte er sonst den ganzen Aufwand betreiben? Ich bin mir sicher, dass es ein Alleingang von ihm war, der ist doch völlig abgedreht. Die anderen sind zwar auch komisch, aber nicht so gefährlich wie er.“ Semir sagte nichts, denn er konnte kein Argument finden, was gegen Bens Theorie sprach, auch wenn er der Meinung war, dass die anderen Sektenmitglieder ebenfalls nicht ohne waren. Immerhin hatten sie mit gewaltsamen Methoden versucht, ihn gegen seinen Willen in ihre Gruppe zu integrieren und dass war schon heftig genug. Aber in einem musste er seinem Partner zustimmen, Mike schien ein eigenes Ding am Laufen zu haben.
    Ben holte tief Luft. Seine Idee, die er jetzt äußern würde gefiel ihm nicht wirklich, aber es musste sein. „Wir werden auf ihn warten und ihn uns schnappen, wenn er in der Hütte auftaucht.“ Verblüfft sah Semir ihn an. „Auf gar keinen Fall!“ widersprach er energisch. „Na ja, zumindest nicht wir beide allein“, ruderte er dann etwas zurück, als ihm bei näherer Betrachtung des Vorschlages klar wurde, dass Ben wahrscheinlich Recht hatte. Das war die Gelegenheit. Würde Mike erst gemerkt haben, dass Ben verschwunden war, würde er sich wahrscheinlich seinen Teil denken und dann erst mal untertauchen. Damit würde er dann zu einem unkalkulierbaren Risiko werden. „Lass uns ins Büro fahren und Verstärkung holen“, schlug Semir also vor. Ben sah ihn zweifelnd an. „Es ist schon ziemlich spät und mal ehrlich; wie würdest du als Chefin reagieren, wenn ich plötzlich wieder auftauche und dann noch mit dieser Geschichte da stehe?“ „Ich würde dich wohl kaum sofort wieder mit einem SEK in den Wald schicken“, musste Semir zugeben. Ben nickte. „Genau. Und außerdem sind die höchstens zu zweit. Mit denen werden wir schon fertig“, meinte er optimistisch. Semir dachte kurz nach und kam zu dem Schluss, dass sie kaum eine andere Wahl hatten. Er seufzte. „Okay, überredet. Lass und fahren.“
    Es war für beide seltsam, so schnell wieder an den Ort zurückzukehren, den sie eben noch so weit wie möglich hinter sich lassen wollten. Vor allem Ben bemerkte, dass er immer nervöser wurde. Als sie endlich angekommen waren, sah Semir Ben mit skeptischem Blick von der Seite an. Es war ihm nicht gegangen, dass Ben immer angespannter wurde, je näher sie ihrem Ziel kamen. „Wollen wir das wirklich durchziehen?“ fragte er zweifelnd, obwohl er die Antwort bereits zu kennen glaubte. Trotzdem war er nicht hundertprozentig davon überzeugt, ob es tatsächlich eine so gute Idee gewesen war, hierher zu fahren, auch wenn Bens Argumentation ziemlich logisch geklungen hatte. Aber würde sein Partner das Ganze auch durchstehen? „Ja, ja, ich schaff das schon“, antwortete Ben schnell. Zwar war er sich da auch nicht so ganz sicher, aber das war jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um Zweifel aufkommen zu lassen. Seiner Meinung nach gab es keine andere Möglichkeit, dem Ganzen ein Ende zu machen. Es fühlte sich alles andere als wohl bei der Sache, aber es musste sein.
    Schweigend legten sie den Rest des Weges zurück. Dann betrat Ben wieder die Hütte, die er erst kurz zuvor verlassen hatte. Er sah sich langsam um. Er bemerkte noch, dass in seiner relativ kurzen Abwesenheit anscheinend noch niemand hier gewesen war, doch dann überrollten ihn auch schon all die Gefühle, Sorgen und Ängste, die er hier durchlitten hatte. Er sah die Kette, die ihn hier festgehalten hatte, er erinnerte sich an die Verzweiflung, die er gespürt und so gut wie möglich verdrängt hatte, die ihn jedoch immer wieder eingeholt hatte.
    Er erinnerte sich an die Todesangst, die er gehabt hatte, auch wenn er diese Semir gegenüber nicht zugegeben hatte, doch sie war immer dagewesen. Ein Teil von ihm hatte mit dem Leben abgeschlossen, die Hoffnung aufgegeben, denn was sonst war ihm in seiner Situation schon übrig geblieben. Nur dem irrationalen Wunschdenken, seine Freunde und Familie noch einmal wiederzusehen und vor allem diesen blöden, unsinnigen Streit mit Susanne beizulegen und ihr endlich den Ring zu geben, hatte er es zu verdanken, dass er hier nicht durchgedreht war. Susanne. Er wollte sie endlich wiedersehen, sie in die Arme schließen und das bedeutete, dass er sich jetzt verdammt noch mal zusammenreißen musste!

  • Ben merkte erst, dass er auf die Knie gegangen war, als Semirs Stimme langsam zu ihm durchdrang. „Ben? Ben!“ Semir machte sich jetzt ernsthaft Sorgen. Ob es wirklich eine so gute Idee gewesen war, hierher zu fahren? Langsam half er Ben wieder hoch, der mit seinem Bein, vor allem nach dem Marsch durch den Wald, erhebliche Schwierigkeiten hatte. „Geht schon wieder“, murmelte Ben und setzte sich auf das Sofa. Semir sah ihn mit einem undefinierbaren Gesichtsausdruck an. Was sollte er auch sagen. Er hatte sich zu dieser Aktion überreden lassen und er würde es mit und vor allem für Ben durchziehen. Doch trotzdem fiel ihm das, worum er Ben als Nächstes bitten musste, nicht leicht. „Wir müssen dir wieder die Fessel anlegen, sonst schöpfen sie sofort Verdacht“, sagte er also mit so viel Mitgefühl in der Stimme, wie er es für angebracht hielt. Ben nickte ergeben, er wusste, dass Semir Recht hatte. Also ließ er von seinem Partner wieder das Schloss befestigen und blieb dann allein in dem Raum zurück. Semir hatte es immerhin geschafft, es so zu befestigen, dass er sich jederzeit wieder selbst daraus befreien konnte und das gab ihm zumindest ein etwas besseres Gefühl. Da sie nicht wussten, aus welcher Richtung Mike und Marla kommen würden und aus Angst zu früh entdeckt zu werden, hatten sie entschlossen, getrennt zu warten. Semir hatte sich an einer von außen uneinsehbaren Stelle im Nebenraum versteckt. Er hatte Ben zwar noch aufmunternd auf die Schulter geklopft, bevor er verschwunden war, doch Ben hatte alle Mühe, nicht in Panik zu geraten, denn es fühlte sich nun alles wieder genauso an, wie noch vor wenigen Stunden, als er noch nicht gewusst hatte, ob er diesen Ort jemals lebendig verlassen würde.
    Während er wartete, versuchte er, sich so gut wie möglich abzulenken und dachte an all die Dinge, die er noch vorhatte. Und immer wieder machte er sich währenddessen klar, dass er diese auch in die Tat umsetzen würde können; es waren keine vergeblichen Wünsche, denn er würde hier tatsächlich bald wieder aus eigener Kraft verschwinden. Je öfter er sich das sagte, desto mehr drang diese Tatsache in sein Bewusstsein und er wurde langsam ruhiger. Als erstes würde er zu Susanne fahren. Semir hatte ihm nicht sagen können, wie es ihr ging, da sie noch nicht wieder zur Arbeit erschienen war. Das sagte aber eigentlich schon alles über ihren Zustand. Ob er sie nicht doch hätte anrufen sollen? Aber nein, Semir hatte schon Recht gehabt, wahrscheinlich hätte sie alles für einen mehr als schlechten Scherz gehalten und hätte noch mehr gelitten und das wollte er natürlich auch nicht. Auf die paar Stunden kam es jetzt nicht mehr an, auch wenn er natürlich lieber sofort zu ihr gefahren wäre. Ob sie ihm seine blöde Bemerkung inzwischen verziehen hatte? Immerhin war diese das Letzte, was sie von ihm gehört hatte. Mehr als ein dutzend Mal hatte Ben sich dafür verflucht, dass er nach dieser zugegebenermaßen dämlichen und überflüssigen Auseinandersetzung nicht zu ihr gegangen war. Es wäre doch alles so schnell zu klären gewesen! Es hatte sich jedenfalls fest vorgenommen, es nie mehr so weit kommen zu lassen. Ob der Juwelier den Ring noch aufgehoben hatte? Wahrscheinlich nicht, bestimmt hatte er ihn an seinen Vater zurückgegeben, der dort auch schon jahrzehntelang Kunde war. Ben musste schlucken, als er an seinen Vater und seine Schwester dachte. Die zwei gingen davon aus, dass sie jetzt nur noch sich hatten. Auch wenn er zu beiden keinen häufigen Kontakt hatte, so hing er doch sehr an seiner Schwester und auch seinem Vater hatte er sich inzwischen auch wieder angenähert. Die beiden musste er baldmöglichst anrufen, wahrscheinlich waren sie im Ausland. Sein Vater geschäftlich und seine Schwester war um diese Jahreszeit meistens Urlaub. Wahrscheinlich hatte ihr Mann darauf bestanden, dass sie tatsächlich mit ihm gefahren war. Denn um sich abzulenken, war so etwas wohl das Beste. Sein Vater würde sich wahrscheinlich in die Arbeit vergraben haben, sowie er es immer tat, wenn etwas Schlimmes passiert war. So war es auch beim Tod von Bens Mutter gewesen und Ben hatte ihm erst spät verzeihen können, dass er sich in dieser Situation nicht mehr um seine Kinder gekümmert hatte. Doch das war eben seine Art gewesen, mit dem Schmerz umzugehen, das hatte Ben erst viel später verstanden.
    Bevor er jedoch noch weiter darüber nachgrübeln konnte, wurde er durch das Schlagen einer Tür aus seinen Gedanken gerissen. Da er noch längst nicht fit war, war er durch das Sinnieren über seine Familie so abgelenkt gewesen, dass er tatsächlich weder Schritte noch Stimmen der beiden, die jetzt vor ihm standen, bemerkt hatte. So etwas wäre ihm früher nie passiert, aber er war ja auch noch nie in einer vergleichbaren Situation gewesen. In diesem Augenblick war er so paralysiert, dass er im Moment gar nicht wusste, was er tun sollte.

  • „Es ist soweit, der Mondzyklus ist vollendet, das Sternbild steht am Himmel, es ist Zeit für dich zu gehen“, sprach Mike mit salbungsvollen und doch gefährlich klingenden Ton. Seine Wortwahl ließ kaum Zweifel an seinen Absichten aufkommen. Marla schwieg, sie hing nicht wie sonst an Mikes Lippen, sondern schien durch irgendetwas irritiert zu sein. Dann griff sie nach Mikes Arm, doch dieser schob ihn unwirsch zur Seite. „Nicht jetzt!“ fauchte er in ihre Richtung, ohne sie auch nur mit einem Blick zu würdigen. „Aber sein Bein…“, flüsterte sie und machte Mike somit auf den nagelneuen Verband des Arztes aufmerksam, der wie eine Signallampe hellweiß durch die zerrissene Jeans schimmerte.
    Ben wurde heiß und kalt zugleich. Der Verband, natürlich! Warum zum Teufel hatte er daran nicht gedacht? Wie konnte ihm nur so ein blöder Fehler unterlaufen? Als er sah, dass Mike sich hektisch nach Bens Unterstützung umzusehen begann und nach einer Waffe zu greifen schien, erwachte Ben aus seiner Starre und warf sich mit dem Mut der Verzweiflung mit ganzer Kraft auf Mike. Aus den Augenwinkeln nahm er eine Bewegung wahr und wusste, dass Semir an seiner Seite war, um mit ihm gemeinsam diesen Typen fertig zu machen. Das gab ihm den nötigen Schwung für seine nächste Aktion. Mit aller Gewalt versuchte er, Mike die Waffe aus der Hand zu reißen, zu seinem Glück hatte dieser die Pistole noch nicht richtig zu fassen bekommen und sein Finger war noch weit genug vom Abzug entfernt. Trotzdem hatte er seine erste Überraschung schnell überwunden und versuchte sein Möglichstes, um die Waffe gegen Ben zu richten. Semir erfasste schnell die kritische Situation, in der sich Ben befand und warf sich seinerseits nun auch nach vorne und trat mit aller Wucht, die er aufbringen konnte gegen Mikes Handgelenk, der die Pistole mit einem lauten Schmerzensschrei losließ und sich zur Seite rollte.
    Marla hatte bisher starr vor Schreck an der Seite gestanden, gefangen in ihrer Rolle als stumme Beobachterin und unselbstständige Handlangerin. Sie wusste nicht, was sie tun sollte, Mike musste ihr doch sagen, was sie machen sollte! Doch als sie sah, dass Mike unterlegen zu sein schien, handelte sie. Es durfte nicht passieren, dass Mike verlor; es war doch heute soweit, sie mussten das Ritual durchführen, um gerettet zu werden! Sie griff nach dem nächstbesten Gegenstand, der ihr in die Finger kam, machte zwei Schritte vorwärts und schlug damit mehr blind als koordiniert in Richtung Semir und hatte trotzdem Glück mit ihrem Versuch. Er hatte den Angriff nicht kommen sehen und ging mit einem Stöhnen zu Boden, als ihn etwas Hartes im Nacken traf. Doch er hatte Ben genug Zeit verschafft, so dass dieser sich die Waffe hatte greifen können und jetzt Mike, der inzwischen auf dem Boden kniete, damit in Schach hielt. Langsam rappelte sich auch Semir wieder auf und kam schließlich auf die Beine. Trotzdem konnte er nicht mehr verhindern, dass Marla fluchtartig das Geschehen verließ, in den Wald rannte und nach wenigen Schritten im Unterholz verschwunden war.
    „Lass sie, Hauptsache, wir haben ihn. Allein wird sie niemandem schaden“, keuchte Ben, der sah, dass Semir mit sich rang, ob er ihr hinterher jagen sollte. Denn Ben fühlte sich definitiv nicht im Stande, Mike hier allein in den Griff zu bekommen, auch wenn die Verhältnisse im Augenblick geklärt zu sein schienen. Mike lächelte nur in sich hinein, sein Mädchen würde schon wissen, was zu tun war. Ben hingegen war der Ansicht, dass Marla ohne Mike wahrscheinlich nicht in der Lage war, irgendetwas zu tun, was Schaden anrichten würde. Semir nickte schwer atmend, wahrscheinlich hatte Ben Recht. Er hatte immerhin genug Zeit mit Marla verbracht und musste wissen, was ihr zuzutrauen war. Wie falsch sein Partner mit dieser Einschätzung lag, sollten sie erst später merken.

  • Von Mike war außer seiner schnellen und heftigen Atmung kein Laut zu hören. Dies änderte sich weder, als Semir ihm die Handschellen anlegte, noch auf dem Weg zum Wagen. Und dann waren sie endlich auf dem Weg zur Dienststelle. Mike hatten sie sicher auf der Rückbank verstaut. Die Handschellen waren fest am Haltegriff an der Wagendecke befestigt. Diese Position war für ihn sicherlich sehr unbequem, aber das kümmerte weder Semir noch Ben. Die Fahrt verbrachten sie in Schweigen. Dieses hielt immer noch an, als sie auf dem Parkplatz vor dem Büro angekommen waren.
    Semir machte den Motor aus. Sie hatten beschlossen, Mike erst einmal wegen Angriffs mit einer tödlichen Waffe auf einen Polizeibeamten festzuhalten, das gab ihnen die Gelegenheit, ihn erst einmal wegzusperren und sich erst morgen weiter um ihn zu kümmern. Vor allem für Ben gab es jetzt erst einmal wichtigere Dinge, die er zu erledigen hatte.
    „Willst du mit reinkommen?“ fragte Semir, nachdem er den Motor ausgemacht hatte. „Um diese Zeit sind nicht mehr so viele Leute da.“ Doch Ben schüttelte den Kopf. „Sperr den Typ einfach nur ein, okay?“ Semir nickte. Er hatte großes Verständnis für Ben, der jetzt wahrscheinlich einfach nur noch zu Susanne wollte. Er musste Andrea Bescheid sagen, dass sie Susanne anrief und sie zu ihnen bat, denn Semir hatte keine Ahnung, wo sich Bens Freundin im Moment aufhielt, er wusste nur, dass sie nicht mehr in der gemeinsamen Wohnung von ihr und Ben war. Also stieg er aus und bugsierte Mike dann recht unsanft Richtung erkennungsdienstlicher Formalitäten.
    Während Semir drinnen beschäftigt war, hing Ben seinen Gedanken nach und überlegte vor allem, wie er gleich Susanne gegenüber treten sollte. Er konnte sich nicht vorstellen, wie sie reagieren, geschweige denn, sich fühlen würde. Immerhin musste sie überzeugt davon sein, dass er tot sei und wie er sie kannte, gab sie sich mit Sicherheit zum Teil auch selbst die Schuld daran, und zwar spätestens ab dem Zeitpunkt, als klar wurde, dass Jana in die Sache verwickelt gewesen war. Wie sie wohl mit dem Tod ihrer Freundin zu Recht kam? Ben wusste, dass sie Jana gerne wieder näher gekommen wäre, allein der alten Zeiten wegen, in denen sie so gut miteinander befreundet gewesen waren. Aber jetzt war er ja wieder da und konnte sie trösten, doch was sollte er machen, wenn sie nun nichts mehr von ihm wissen wollte? Vielleicht kam sie ja gar nicht mehr damit zurecht, wenn er plötzlich wieder auftauchte. Er war schließlich lange weg gewesen und man hatte ihn für tot gehalten, dass konnte schon einiges bei Susannes Gefühlen bewirkt haben. Und dann war da auch noch dieser Streit, den sie noch nicht hatten bereinigen können. Vielleicht hatte sie dies auch zum Anlass genommen, ihn in die Wüste zu schicken und war froh, dass er nicht mehr da war.
    Er bemerkte Semir erst, als dieser neben ihm Platz genommen hatte. „So, kann’s losgehen?“ fragte dieser ihn. „Und wohin genau?“ fragte Ben zurück. „Tja, ich war eben nicht ganz untätig. Nachdem ich unseren Fund in der Zelle abgegeben und den ganzen Papierkram erledigt habe, habe ich Andrea angerufen, damit sie Susanne zu uns bestellt“, erklärte Semir. „Also fahren wir jetzt zu mir“, ergänzte er. „Meinst du wirklich, dass sie kommt?“ fragte Ben unsicher. „Was hast du gesagt?“ wollte er dann noch wissen. „Ich habe nur sehr überzeugend erklärt, dass es wichtige neue Entwicklungen in deinem Fall gibt, ich Susanne deswegen dringend sprechen muss und dies ihr zuliebe in einer privaten Atmosphäre tun möchte. Andrea wird sie also überzeugen zu kommen.“ „Ich bin also eine neue Entwicklung?“ musste Ben gegen seinen Willen schmunzeln. „Na ja, was sollte ich denn sonst sagen?“ verteidigte sich Semir. „Wenn ich ihr erzählt hätte, dass ich dich mitbringe, hätte meine Frau mich für verrückt erklärt und höchstens die Psychologin, aber bestimmt nicht Susanne angerufen.“ Ben nickte, Semir würde schon die richtigen Worte gewählt haben. Hoffentlich würde ihm das gleich auch gelingen.

  • Inzwischen waren sie bei Semirs Haus angekommen und Ben hatte sofort Susannes Wagen auf dem Parkstreifen davor ausgemacht. Er bemerkte, dass er langsam zittrige Hände bekam und auch das Kribbeln in seinem Magen kam auch nicht vom Hunger. Langsam stieg er aus und folgte Semir, der bereits vor der Haustür stand und diese soeben öffnete. „Andrea?! Kommst du bitte mal?“ rief er. „Ich denke, es ist besser, wenn wir sie schon mal vorwarnen, dann kannst du in Ruhe mit Susanne reden“, sagte er zu Ben gewandt. Der nickte nur, denn da kam auch schon Andrea, die Ben noch nicht bemerkt hatte, da er im Schatten neben der Haustür stand und sie sich zudem ganz auf ihren Mann konzentrierte. „Semir, was ist los? Sag mir bitte, dass es etwas wirklich Wichtiges ist, weswegen Susanne hier ist, ich habe schon ein ganz schlechtes Gewissen, es geht ihr gar nicht gut. Sie sitzt nur da und starrt auf die Bilderwand, auf einigen Aufnahmen ist doch auch Ben mit drauf, du erinnerst dich?“
    Bens Herz machte einen Extraschlag, als er das hörte. Zum einen tat ihm es ihm unendlich leid, dass es Susanne so schlecht ging, zum anderen sagte ihm ihre Reaktion, dass sie ihn noch nicht abgeschrieben hatte. Ben machte einen Schritt in den beleuchteten Teil des Eingangs. „Hallo Andrea“, sagte er nur und ihre Gesichtszüge entgleisten. Sie schlug erschrocken ihre Hand vor den Mund, doch es verließ ihn kein Laut. Doch dann machte sie schnell einen Schritt vorwärts und nahm Ben fest in die Arme. „Das ist das Beste, was seit langem passiert ist“, flüsterte sie. „Ich bin so froh, dass es dir gut geht.“ Sie ließ ihn wieder los, so gerne sie jetzt noch mit ihm gesprochen hätte, doch es gab noch etwas Wichtigeres. „Drinnen wartet jemand auf dich“, sagte sie dann und bedeutete ihm, ins Wohnzimmer zu gehen. Es interessierte sie zwar brennend, wo er gewesen und was passiert war, aber das konnte warten. Viel wichtiger war, dass er jetzt zu Susanne kam, Semir konnte ihr ja schon mal im Groben berichten, was geschehen war.
    Und so stand Ben schließlich im Wohnzimmer der Familie Gerkhan, in dem er mit Susanne, Andrea und Semir schon viele Stunden verbracht hatte. Susanne stand mit dem Rücken zu ihm gewandt und schien ganz versunken in den Anblick der vielen Fotos zu sein, die an dieser Stelle an der Wand hingen. Es waren etliche Aufnahmen der Familie zu sehen, aber auch Bilder von Treffen mit Freuden. Bens Blick blieb an einem Foto hängen, auf dem auch er mit Susanne zu sehen war. Er konnte sich noch gut an den Nachmittag erinnern, als es entstanden war. Es hatte eine ausgelassene Stimmung geherrscht und sie hatten viel gelacht. Und so würde es auch wieder werden, wenn er denn nun endlich mal hinkriegen würde etwas zu sagen. Da ihm partout nicht die richtigen Worte einfallen wollten, räusperte er sich einfach. „Ja, Semir, was ist denn so wichtig, dass ich um diese Zeit unbedingt herkommen musste?“ fragte Susanne, während sie sich umdrehte.
    Sie hatte lange überlegt, ob sie wirklich zu Andrea und Semir fahren sollte. Sie war sich nicht sicher, ob sie sich das wirklich antun sollte, denn sie hatte genau gewusst, wie sie sich hier fühlen würde. Sie hatte viele schöne Erinnerungen, die sie mit diesem Haus und seinen Bewohnern verband, doch in den meisten spielte auch Ben eine Rolle. Es fiel ihr sehr schwer, hier die Fassung zu bewahren. Aber natürlich hatte sie nicht nein sagen können, denn es schien etwas wirklich Wichtiges zu sein, denn sonst hätte Semir sie nicht über Andrea kontaktiert. Doch womit sie in diesem Augenblick konfrontiert wurde, hätte sie nie im Leben gerechnet. Oder hatte sie inzwischen den Verstand verloren? War das eine Wahnvorstellung, die hier vor ihr stand? Sie wünschte sich so sehr, dass es nicht so war, und dass Ben tatsächlich hier war, doch das konnte doch nicht wahr sein! Sie befand sich definitiv kurz vor einem Nervenzusammenbruch.

  • Ben ahnte nichts von diesen Gedankengängen, er sah nur, dass seine Freundin immer blasser zu werden schien und sich keinen Millimeter bewegte. „Susanne?“ fragte Ben vorsichtig und er bemerkte, dass sie bei der Nennung ihres Namens leicht zusammenzuckte. „Es tut mir leid, dass wir uns gestritten haben, ich hätte das nicht sagen dürfen“, sagte er als erstes das, was ihm am meisten auf der Seele lag. Langsam ging er auf sie zu. Er wollte sie so gerne in den Arm nehmen, doch sie aus, als wäre sie damit und mit der ganzen Situation im Moment vollkommen überfordert. Er konnte das gut verstehen und wollte ihr die Zeit geben, die sie brauchte, um zu realisieren, was hier gerade passierte. Kurz vor ihr war er stehen geblieben und sah in ihre Augen, deren Ausdruck er nicht deuten konnte. Einen Moment lang verharrten die beiden regungslos, dann endlich hob Susanne langsam ihre Hand und berührte damit sanft Bens Wange. Er musste sich noch immer sehr beherrschen, um sie nicht einfach in die Arme zu schließen und diese Berührung machte ihm das nicht leichter, doch Susanne zog ihre Hand wieder zurück. Es schien fast so, als wäre sie nicht sicher, ob Ben wirklich echt wäre. Ben konnte verstehen, wie sie sich im Augenblick fühlte und so hielt er sich einfach zurück und ließ sie das Tempo bestimmen. Obwohl; wirklich verstehen konnte er ihre Situation wohl kaum. Zwar hatte auch er schon geliebte Menschen verloren, doch die hatten dann nicht plötzlich gesund und munter vor ihm gestanden. Na ja, halbwegs gesund zumindest, denn sein Bein tat inzwischen wieder ziemlich weh.
    Susanne hob erneut die Hand und berührte sein Gesicht, ihre Finger strichen leicht über seine Lippen. Dann endlich machte sie einen Schritt auf ihn zu und schloss damit die Lücke, die vorher noch zwischen ihnen gewesen war. Sie legte ihren Kopf auf seine rechte Schulter und ihre rechte Hand auf seine Brust, so dass sie seinen Herzschlag spüren konnte, der ihr eindeutig klar machte, dass dies hier keine Halluzination war, sondern die Realität. Ben war am Leben. Susanne war vollkommen überwältigt von dem, was sie hier gerade erlebte. Am liebsten würde sie einfach so hier stehen bleiben, nie wieder von Bens Seite weichen, ihn nie wieder alleine zurück lassen.
    In dem Moment, in dem Susanne sich an ihn lehnte, wurde auch Ben von seinen Gefühlen überrollt. Er legte seine Arme um Susanne und drückte sie noch fester an sich. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr sie ihm gefehlt hatte. Zwar hatte er während der Zeit seiner Gefangenschaft immer darauf gehofft, sie bald wieder zu sehen, doch es war eine zu lange Zeit der Trennung gewesen, definitiv zu lang. Und wenn er dann noch daran dachte, was Susanne in dieser Zeit durchgemacht haben musste, wurde ihm richtig schlecht. Nach einer Weile bemerkte er, dass Susanne still weinte und sein Shirt schon ganz nass war. „Es ist alles gut, ich bin ja wieder da“, sagte er leise. „Ja“, flüsterte Susanne zurück. Es war nicht wichtig, wo Ben gewesen und was passiert war, das würde sie schon früh genug erfahren. Das einzige, was jetzt zählte, war die Tatsache, dass er wirklichwieder bei ihr war.
    In der Nacht, die sie im Gästezimmer der Gerkhans verbringen konnten, wagte sie es kaum, den Blick von ihm zu wenden, sie hatte die irrationale Angst, er könnte wieder verschwunden sein, wenn sie aufwachte. Sie sprachen nicht viel miteinander, sondern genossen einfach nur die Nähe des anderen. Es war Ben nur wichtig gewesen, Susanne zu sagen, dass er nicht in der Lage gewesen war, sich früher zu melden. Alle anderen Erklärungen und Berichte konnten warten. Schließlich schliefen beide doch ein, und als sie am Morgen aufwachten, hielten sie einander immer noch so fest, wie in der Nacht zuvor getan hatten.

  • Als sie zum Frühstückstisch kamen, wurden sei freudestrahlend von Semir und Andrea begrüßt. „Ich kann es immer noch nicht fassen, komm mal her und lass dich drücken, ich hatte gestern ja noch gar keine richtige Gelegenheit dazu“, sprudelte es überschwänglich aus Andrea heraus. Ben tat ihr gerne den Gefallen, er war froh, wieder in vertrauter Umgebung zu sein. Vor allem mal wieder eine Nacht in einem vernünftigen Bett zu schlafen, hatte ihm gut getan. Und dass er nicht allein darin gelegen hatte, machte das Ganze erst wirklich perfekt. Seit langen fühlte er sich einmal wieder richtig wohl in seiner Haut, daran konnten auch die Verletzungen nichts ändern.
    Auch Susanne sah sehr entspannt aus. Auch wenn sie nicht viel geschlafen hatte, war sie doch langsam zur Ruhe gekommen. Und als Ben beim Aufwachen immer noch an ihrer Seite gewesen war, da hatte sie wirklich begriffen, dass er wieder bei ihr war. Sie hatte sich geschworen, in Zukunft besser auf ihn aufzupassen und vor allen Dingen Streitigkeiten sofort zu klären, auch wenn sie nicht annahm, dass sie noch einmal in eine solche Extremsituation geraten würde. Aber es konnte nie schaden, wenn man sofort ansprach, was nicht in Ordnung war.
    Nach dem Essen schlug Semir vor, ins Büro zu fahren. „Bin gespannt, was die anderen sagen“, meinte er, während er seine Jacke anzog. Ben zuckte nur die Schultern, es war komisch, dort hinzufahren; was sollte er nur sagen? Aber das konnte er sich auch noch überlegen, wenn sie da waren und so machten sie sich auf den Weg.


    „Und, bist du soweit?“ fragte Semir grinsend, als er mit Ben vor dem Gebäude angekommen war. Er freute sich schon tierisch auf die Gesichter der anderen, wenn er mit Ben dort auflief. Zufälligerweise wusste er, dass heute auch Frau Dr. Nerling da sein würde; sie hatte sich in der Zwischenzeit schon mehrfach als wertvolle Hilfe bei Ermittlungen gezeigt, so dass Frau Krüger sie inzwischen gezielt anforderte. Auch wenn sie in Semirs Fall daneben gelegen hatte, trübte das für ihn keinesfalls den Respekt, den er mit der Zeit vor ihr und ihren Fähigkeiten entwickelt hatte. Sie hatte neben ihren fachlichen Fähigkeiten ein ausgesprochen gutes Gespür für Menschen und durch ihre spezielle Ausbildung für und bei der Polizei hatte sie schon bei vielen Verhören und taktischen Besprechungen gute Dienste geleistet. Semir nahm an, dass sie auch in Zukunft noch häufiger miteinander zu tun haben würden, und da hatte er überhaupt nichts dagegen. Auch wenn er es kaum laut aussprechen würde, so hatten ihm doch die Gespräche mit ihr sehr gut getan und er würde sich nicht scheuen, ein weiteres Mal ihre Unterstützung in Anspruch zu nehmen.
    Erwartungsvoll sah Semir Ben an, der noch keine Anstalten machte, auszusteigen. „Ist schon irgendwie komisch, da jetzt rein zu gehen“, meinte er. „Immerhin denken da drin doch alle, es gäbe mich gar nicht mehr.“ Semir lächelte. „Ach was, die werden sich schon schnell wieder an dich gewöhnen. Ob das mit deinem Hang zum Chaos auch so ist, kann ich dir aber nicht versprechen.“ Er wurde wieder ernst. „Ehrlich Ben, du wirst schon sehen, wie sehr sich alle freuen werden, dass es dir gut geht. Es war für keinen für uns leicht, damit fertig zu werden.“ Er wandte sich an Susanne, die auf der Rückbank saß. Natürlich hatte sie es sich nicht nehmen lassen, die beiden zu begleiten, auch für sie war es eine Art Heimkehr, so lange, wie sie schon nicht mehr hier gewesen war. „Kommst du auch mit rein?“ fragte Semir. Susanne nickte. Jetzt, wo sie Ben gerade erst wieder hatte, dachte sie überhaupt nicht daran, ihn schon wieder alleine losziehen zu lassen. Außerdem wurde es auch Zeit, wieder zur Arbeit zu erscheinen. Für eine Krankmeldung gab es nun wirklich keinen Grund mehr. „Vielleicht kann ich ja gleich anfangen, zu arbeiten. Ich denke mal, dass wir länger bleiben werden.“ Sowohl ihr, als auch Semir und Ben war klar, dass trotz aller Wiedersehensfreude nun auch etliche Fragen und Formalitäten auf Ben zukommen würden. Er und Semir mussten als erstes ihre Aussage bezüglich des gestrigen Abends machen, um Mike weiter in Untersuchungshaft halten zu können.

  • „Na dann mal los“, saget Ben unvermittelt und stieg aus dem Wagen. Auch wenn es ihm seltsam vorkam, freute er sich doch sehr, wieder hier zu sein. Mike war schließlich sicher verwahrt und würde ihm nichts anhaben können. Und mit jedem Schritt, den er nun auf den Eingang zuging, verschwand das Gefühl, dass er vorher gehabt hatte. Er wollte jetzt einfach nur noch seine Freunde und Kollegen wiedersehen. Doch als er flankiert von Susanne und Semir das Büro betrat, war im ersten Moment noch niemand zu sehen. Leicht verwundert sahen die drei sich um, bis sie schließlich Stimmen aus dem Besprechungsraum hörten. „Ach ja, die Besprechung wegen der Raubserie wurde ja um eine Stunde vorverlegt“, fiel Semir dann ein. Eigentlich sollte er in diesem Moment auch schon in dem Raum sitzen. Gemeinsam gingen sie zu dem Zimmer, in dem sich schon die Chefin und die anderen Kollegen befanden. Semir klopfte kurz und öffnete dann die Tür, noch ehe Ben sich überlegen konnte, was er eigentlich sagen sollte, wenn er den anderen gegenüberstand. Semir betrat den Raum und wurde von Frau Krüger mit einem kurzen Nicken begrüßt. „Wir haben gerade erst angefangen, Sie haben noch nicht viel verpasst, bitte nehmen sie doch Platz.“ Mit diesen Worten wies sie auf den noch freien Stuhl. Früher hätte sie ihn einfach ignoriert oder angeraunzt, doch nach der Sache mit Ben fasste sie ihn die meiste Zeit mit Samthandschuhen an. Manchmal hatte Semir bemerkt, dass sie sich deswegen ziemlich zusammenzureißen schien, aber das würde ja nun bald ein Ende haben und dann könnte sie sich ihm gegenüber wie gewohnt Luft machen und ihn zusammenfalten. Semir war sich sicher, dass ihr das irgendwie fehlte.
    „Ich habe noch jemanden mitgebracht“, sagte Semir, ohne sich zu setzten, bevor die Besprechung weiter gehen konnte. Die Augen seiner Kollegen waren leicht verwundert auf ihn gerichtet und auch ein wenig neugierig. Semir konnte sich erneut ein Grinsen nicht verkneifen und trat einen Schritt zur Seite, um Platz für Ben zu machen, der jetzt in den Türrahmen trat. „Hallo alle zusammen“, sagt er in den Raum hinein, in dem ihn alle nur sprachlos anstarrten. „Ich will nicht groß stören; ich wollte nur Bescheid sagen, dass ich wieder da bin. Es hat nicht zufälligerweise jemand meinen Schreibtisch aufgeräumt während ich weg war?“ Doch Ben erhielt keine Antwort auf diese Frage, sondern sah nur in fassungslose Gesichter. Es klirrte laut, als Hotte seine Kaffeetasse fallen ließ, doch das schien niemanden zu kümmern, sofern es überhaupt jemand wahrgenommen hatte. Man konnte regelrecht sehen, wie es im Kopf eines jeden einzelnen arbeitete, doch es war noch keiner in der Lage, ein Wort herauszubringen. Keiner konnte glauben, was er gerade sah. Nur Frau Nerling schien nicht so recht zu wissen, was sie von der Situation halten sollte, sie hatte bisher noch kein Bild von Ben gesehen und wusste also nicht, wer hier vor ihr stand.
    „Das heißt dann wohl nein, oder?“ fragte Ben gespielt enttäuscht. „Oder habe ich etwa gar keinen Schreibtisch mehr?“ Frau Krüger erhob sich und kam mit schnellen Schritten auf ihn zu. Kurz vor ihm blieb sie stehen. „Herr Jäger, wie lange sie auch immer weg sein werden; es wird hier immer einen Platz für sie geben.“ Und mit diesen Worten nahm sie ihn einfach fest in den Arm. Im ersten Moment war Ben ziemlich perplex, mit so etwas hatte er nicht gerechnet. Doch dann erwiderte er ihre Umarmung, denn eigentlich tat ihm dieser Empfang richtig gut. Mit Frau Krügers Aktion war auch der Bann bei den anderen gebrochen und sie kamen freudestrahlend auf Ben zu, um ihn zu begrüßen. Jeder wollte ihn umarmen oder zumindest die Hand schütteln, es war fast so, als müssten sie sich davon überzeugen, dass sie ihren Augen trauen konnten, und dass es keine Einbildung war, dass der Mensch von dem alle glaubten, er sei ums Leben gekommen, jetzt gesund und munter neben ihnen stand. Es konnte sich zwar niemand erklären, wie das sein konnte und wie Ben hierher kam, aber den meisten war das im Moment völlig egal. Es herrschte einfach nur eine riesengroße Freude und Erleichterung, ihn wieder zu sehen.

  • Hotte hatte auch Susanne bemerkt und sie herzlich an sich gedrückt. Es war nicht zu übersehen, wie viel besser es ihr schon ging. Sie hatte ihm unendlich leid getan, als es ihr so schlecht ging, doch er hatte ihr nicht helfen können, das hatte niemand gekonnt. Doch dank dieser unglaublichen Wendung des Schicksals konnte sie wieder glücklich sein. Und dass sie das war, konnte man ihr allzu deutlich ansehen. Sie wirkte regelrecht befreit, als ob eine riesengroße Last von ihren Schultern gefallen sei und im Grunde genommen war auch nichts anderes passiert. Der Mensch, den sie liebte und verloren geglaubt hatte, war wieder zurückgekehrt. Hotte war sich sicher, dass beide diese Chance gut nutzen würden.
    Frau Krüger war schließlich die erste, die sich wieder etwas vom Geschehen distanzierte. Bei aller Wiedersehensfreude wollte sie jetzt aber auch wissen, was eigentlich mit Ben geschehen war und vor allem, warum er erst heute wieder aufgetaucht war. Sie war sich sicher, dass er nicht freiwillig so gehandelt hatte. Sie betrachtete ihn genau. Es war ihm nur allzu deutlich anzusehen, dass er die Zeit, in der er verschwunden gewesen war, nicht unbeschadet überstanden hatte. Es schien allerdings so, dass er keine ernsthaften Verletzungen davon getragen hatte, sah man von einer Platzwunde am Kopf ab, die allerdings fast schon wieder verheilt war. Frau Krüger nahm an, dass diese auch eine Gehirnerschütterung zur Folge gehabt haben musste. Vielleicht auch ein Grund, warum er sich so lange nicht gemeldet hatte. Sie ging auch davon aus, dass er sich diese Verletzung bei dem Autounfall zugezogen hatte, zumindest ließe sich so das von ihm im Auto gefundene Blut erklären. Doch sie wollte es genau wissen und so sehr es ihr auch im Moment widerstrebte, sich als Chefin aufzuführen; auch die Besprechung wegen der Raubserie musste weitergehen. Sie gönnte allen wirklich von Herzen ihre Wiedersehensfreude, dennoch hatte sie auch den Eindruck, dass es Ben langsam zu viel wurde, noch wusste ja niemand, was er erlebt hatte. Es grenzte zwar an ein Wunder, dass er wieder da war, aber das Leben ging weiter und die Kriminellen würden nicht auf sie warten, es musste hier jetzt weitergehen, sie standen ziemlich unter Zeitdruck.
    „Herr Jäger, ich würde gleich gerne dabei sein, wenn sie ihre Aussage machen; darf ich Sie dazu in mein Büro bitten? Wir sind hier sicherlich gleich fertig.“ Damit nickte sie den Kollegen zu, die sich, wenn auch widerwillig, setzten. Doch sie hatte anscheinend die richtigen Worte gewählt, niemand schien Anstoß daran zu nehmen, dass es so weitergehen sollte. Nur Frau Nerling wandte sich noch kurz an Semir. „Ich freue mich für sie“, sagte die Psychologin und Semir wusste, dass sie es ehrlich meinte. Was er nicht ahnen konnte war, dass sie sich von dem Augenblick an, in dem sie begriffen hatte, wer hier aufgetaucht war, von Selbstzweifeln geplagt wurde, die es ihr im Folgenden auch kaum möglich machen würden, der Besprechung zu folgen. Herr Gerkhan hatte die ganze Zeit Wahrheit gesagt. Diese Erkenntnis hatte sie wie ein Schlag getroffen. Je länger sie darüber nachdachte, desto tiefer wurde ihre Erschütterung über diese Tatsache. Höchstwahrscheinlich hatte er seinen Partner in der Nacht, nach der er ins Büro zurückgekehrt war, tatsächlich gesehen! Warum hatte sie nicht erkannt, dass der Mann die Wahrheit gesagt hatte? Was wäre vielleicht zu verhindern gewesen, wenn man sich eher auf die Suche nach Herrn Jäger gemacht hätte? Er schien verletzt gewesen zu sein und auch wenn sie ihm diese Verletzungen natürlich nicht selbst zugefügt hatte und auch wenn sie wusste, dass sie nichts dafür konnte, fühlte sie sich trotzdem mitverantwortlich dafür. Am meisten machte ihr jedoch ihre falsche Einschätzung des geistigen Zustandes von Herrn Gerkhan zu schaffen, auch wenn er ihr das im Moment noch nicht übel zu nehmen schien, doch das konnte sich noch ändern. Sie nahm sich vor, so bald wie möglich mit ihm darüber zu reden. Immerhin war es wohl nur seiner Hartnäckigkeit zu verdanken, dass er seinen Partner gefunden hatte.
    Von all dem ahnten Semir, Ben und Susanne nichts, während sie in Frau Krügers Büro warteten. Ben konnte nicht verhindern, dass seine Gedanken zurück in die Nacht des Unfalls und zu der Zeit seiner Gefangenschaft wanderten, denn er wusste, dass er gleich alles erzählen musste, was passiert war. Na ja, zumindest an die Fakten musste er sich halten. Wie er sich dabei gefühlt hatte, war für die Ermittlungen nicht wichtig und das ging auch niemanden etwas an. Wenn er soweit war, würde er Susanne und auch Semir ins Vertrauen ziehen, doch jetzt ging es einfach nur darum, dass die Leute zur Verantwortung gezogen wurden, die ihm und vor allem Jana das alles angetan hatten.

  • Als Frau Krüger schließlich den Raum betrat, bemerkte Ben zu seiner Erleichterung, dass sie direkt einen Beamten zum Protokollieren mitgebracht hatte. So würde er alles zumindest nicht zweimal erzählen müssen. Zudem bat er seine Chefin, dass auch Susanne und Semir bei der Befragung dabei sein durften, wogegen sie nichts einzuwenden hatte. Er hatte den beiden gegenüber noch nicht viel berichtet, obwohl Semir sich seinen Teil sicher schon denken konnte. Ben hatte einfach nur genossen, wieder zurück zu sein, doch jetzt war es an der Zeit, dass sie erfuhren, was alles geschehen war und vor allem, warum Ben nicht in der Lage gewesen war, sich zu melden. Er war insgeheim froh, dass er das in diesem Rahmen hier tun konnte; er konnte sich einfach auf seine Aussage konzentrieren, er wusste, dass Frau Krüger dies professionell handhaben würde. So konnte er es umgehen, Semir und Susanne dabei anzusehen, denn er wusste, dass er es kaum ertragen würde, mit welchen Blicken ihn vor allem Susanne dabei ansehen würde. Vor allem die Sache mit Jana würde nicht leicht für sie werden, Ben war sich sicher, dass sie sich verantwortlich dafür fühlen würde, auch wenn das natürlich nicht der Fall war. Er würde später noch mit ihr in Ruhe darüber reden. Doch nun wurde das Aufnahmegerät gestartet und die Chefin sah in fragend an. Ben nickte, nahm fest Susannes Hand und begann seinen Bericht.
    Er war schließlich heilfroh, als er endlich fertig war. Während seiner Aussage hatte er nur stur gerade aus gesehen, trotzdem war ihm nicht entgangen, dass Susanne mehrfach erschrocken ihre Hand vor den Mund geschlagen hatte. Auch hatte sie seine Hand sehr oft fest gedrückt, so als wolle sie ihm deutlich machen, dass nun alles vorbei und er in Sicherheit war. Zum einen war Ben dankbar für ihre Unterstützung, zum anderen tat es ihm leid, was sie da alles mit anhören musste. Doch es war ihm wichtig, dass sie erfuhr, was alles geschehen war und somit auch eine stichhaltige Erklärung dafür bekam, warum er sich nicht hatte melden können. Semir hingegen schien keine Miene verzogen zu haben, doch Ben wusste, dass auch er mit seinen Emotionen zu kämpfen hatte. Frau Krüger hatte glücklicherweise keine Zwischenfragen gestellt, sondern hatte ihn einfach reden lassen. So war es ihm auch erheblich leichter gefallen, nachdem er sozusagen einmal im Schwung gewesen war. Dennoch war er froh, als er geendet hatte und hoffte, dass seine Chefin nicht mehr allzu viele Fragen haben würde, doch da brauchte er sich keine Sorgen zu machen.
    „Ich denke, ich bin jetzt im Bilde“, sagte Frau Krüger betont ruhig, aber auch an ihr war das Gehörte nicht spurlos vorüber gegangen, es hatte sie sogar sehr mitgenommen. Auch wenn sie schon länger ihren Dienst tat, überraschte sie es doch immer wieder, wozu manche Menschen in der Lage waren. „Ich werde alle Notwendige veranlassen“, sagte sie. „Sie sollten jetzt alle nach Hause fahren. Herr Gerkhan, ich denke, Sie können Ihren Dienst morgen wieder aufnehmen?“ Semir nickte. Sie wandte sich an Susanne. „Frau König, ich überlasse Ihnen die Entscheidung, ab wann Sie sich wieder in Lage sehen, Ihre Tätigkeit aufzunehmen. Lassen Sie sich ruhig Zeit.“ Überrascht von soviel Einfühlungsvermögen konnte Susanne auch nichts anderes als zu nicken. Zuletzt drehte sich Frau Krüger zu Ben. „Und von Ihnen erwarte ich, dass Sie noch mal einen Arzt aufsuchen und sich gründlich durchchecken lassen. Ich will Sie erst dann wieder im Büro sehen, wenn Sie wieder völlig in Ordnung sind, haben Sie verstanden?“ „Natürlich Chefin“, antwortete Ben, dem das langsam alles ein bisschen zuviel wurde. „Und keine Angst um Ihren Schreibtisch, da geht niemand ran. Den dürfen Sie ganz alleine aufräumen“, setzte Frau Krüger noch mit einem Augenzwinkern hinterher. Ihre drei Besucher grinsten und verabschiedeten sich in gelöster Stimmung. Nachdenklich sah sie ihnen hinterher. Wer hatte schon mit so einer Wendung gerechnet. Aber was hätte schöneres passieren können? Fast beschwingt wandte sie sich wieder ihrer Arbeit zu.

  • „Was haltet ihr davon, wenn ich euch zu eurer Wohnung bringe?“ schlug Semir seinen Freunden vor. Er war der Meinung, dass die beiden jetzt mal allein sein mussten. Fragend sah Ben Susanne an. „Ich würde das Angebot gerne annehmen, und du?“ Sie strahlte über das ganze Gesicht und eigentlich war das schon Antwort genug. „Nichts lieber als das“, sagte sie noch. Sie wollte endlich wieder dort anknüpfen, wo sie aufgehört hatten. Erst dann würde für sie wieder alles, nun ja fast alles, beim Alten sein. Auf jeden Fall wäre es ein riesengroßer Schritt zurück in ihr altes Leben um sie wünschte sich nichts sehnlicher als das.
    Nachdem Semir die beiden abgesetzt hatte und sie mit dem Ersatzschlüssel der Nachbarin reingegangen waren, fuhr auch er nach Hause und fühlte sich seit langen einmal wieder richtig gut. Er freute sich auf einen entspannten Abend mit seiner Familie.



    Es war nun schon über eine Woche her seit Ben wieder zurückgekehrt war. Trotz seines versuchten Widerspruchs hatten ihn die Ärzte noch aus dem Verkehr gezogen und da Susanne sich in dieser Angelegenheit vorbehaltlos auf die Seite der Mediziner geschlagen hatte, hatte er nicht einmal die Chance gehabt, sie zu überreden, ihm wenigstens Büroarbeit zu erlauben. Er hatte gehofft, sich so etwas ablenken und wieder Fuß in seinem alten, aber auch neuen Leben fassen zu können. Aber Susanne hatte sich frei genommen und sie verbrachten keine Minute getrennt, so dass ihm kaum langweilig wurde. Sie hatten schließlich viel nachzuholen. Wahrscheinlich hätte ihn die Arbeit im Büro sowieso doch nur genervt und die Zeit mit Susanne zu verbringen, war da wesentlich angenehmer.
    Doch heute lag ihm ein Stein im Magen, denn er wollte seiner Freundin heute noch einige Dinge erzählen, die er bisher noch niemandem anvertraut hatte. Dazu war er mit ihr an den Rhein gefahren, an die Stelle, wo das ganze Unglück seinen Anfang genommen hatte. Er sah sie von der Seite an. Sie schien glücklich zu sein.
    Susanne lächelte, als sie daran zurückdachte, wie Ben ihr den Antrag gemacht hatte. Als sie endlich in die Wohnung zurückgekehrt waren und Ben festgestellt hatte, dass sie wusste, was in dem Schmuckkästchen war, hatte er nicht lange gezögert. Verbunden hatte er seinen Antrag damit, dass er endlich einmal seine Gefühle für sie in Worte gefasst hatte; er hatte ihr Dinge gesagt, die sie teilweise schon gewusst hatte, aber auch manches, das sie bisher nur geahnt hatte. Doch jetzt hatte er alles beim Namen genannt und ihr standen immer noch Tränen der Rührung in den Augen, wenn sie daran dachte. Es war so schön gewesen, all das von ihm zu hören und erst jetzt war ihr klar geworden, wie viel sie ihm wirklich bedeutete.
    Vielleicht würde sie Andrea einmal davon erzählen, aber jetzt noch nicht, im Moment hütete sie Bens Worte wie einen kostbaren Schatz, noch weitaus wertvoller als der Ring, den er ihr angesteckt hatte. Sie betrachtete sein Verlobungsgeschenk. Als sie Bens Vater und seine Schwester vom Flughafen abgeholt hatten, wussten die beiden nach einem Blick auf ihre Hand sofort, dass sie ja gesagt hatte. Ben hatte ihr gebeichtet, dass er die beiden schon vor längerer Zeit um ihr Einverständnis gebeten hatte, ihr den Ring seiner Mutter zu schenken. Sowohl sein Vater, als auch Julia hatten nichts dagegen einzuwenden gehabt, sie hatten sich im Gegenteil sehr darüber gefreut, dass er eine Frau gefunden hatte, die ihm so viel bedeutete, dass sie ihm dieses besondere Schmuckstück wert war. Es war für Susanne eine Ehre, wenn auch ein kleines bisschen eine Bürde, diesen Ring nun zu tragen. Wann sie denn nun tatsächlich heiraten würden, stand noch nicht fest, sie hatten noch nicht einmal darüber gesprochen, aber das hatte auch keine Eile. Sie würden schon etwas Passendes finden.


    Susanne sah auf das Wasser und ihre Gedanken wurden gegen ihren Willen wieder ernst. Eigentlich war sie mit Ben hierher gekommen, weil er ihr noch einige Dinge erzählen wollte; etwas, das ihm wichtig war und in der Vernehmung noch keine Rolle gespielt hatte. Vielleicht hatte er sich auch wieder an etwas erinnert, was er loswerden wollte. Doch er sagte nichts, sondern starrte nur an den rasch dahin fließenden Rhein. Susanne drückte seine Hand noch ein klein wenig fester, damit er den Mut fand, sich ihr anzuvertrauen, es war wichtig, dass er sich alles von der Seele redete, damit er damit abschließen konnte. Und wenn sie ehrlich war, wollte sie auch wissen, was da noch alles passiert war.

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  • Ben sah sie auf ihren Händedruck hin an. Sie konnte an seinem Blick genau erkennen, dass ihm etwas auf dem Herzen lag. „Was ist los?“ fragte sie also noch, als sie bemerkte, dass er wohl nicht von sich aus anfangen würde, zu erzählen. „Weißt du, warum ich ausgerechnet an diese Stelle hier wollte?“ fragte er sie. Susanne schüttelte den Kopf, obwohl sie da so eine Ahnung hatte. „Hier ist es passiert.“ Mehr brauchte Ben nicht zu sagen, Susanne wusste sofort, was er meinte, ihre Vermutung hatte sich bestätigt. Sie schwieg weiter, denn sie wusste, dass Ben jetzt nur noch etwas Zeit brauchte. Und richtig, schon nach wenigen Sekunden sprach er weiter. Er sah sie dabei nicht an, sondern blickte auf das Wasser, aber er hielt ihre Hand ganz fest. „Wir sind hierher gefahren, weil Jana glaubte, dass wir hier in Ruhe reden könnten“, begann er. „Ich habe nicht gemerkt, dass wir verfolgt worden sind, um ehrlich zu sein, habe ich darauf überhaupt nicht geachtet, ich hatte ja keine Ahnung, was Jana wollte, woher sollte ich wissen, dass es so ernst war?“ „Das konntest du nicht wissen, das hätte niemand ahnen können“, warf Susanne ein. „Warum hast du denn überhaupt in das Treffen eingewilligt?“ fragte sie und hätte sich dafür gleich ohrfeigen können. Das klang fast so, als würde sie ihm etwas vorwerfen, doch bevor sie sich noch korrigieren konnte, sprach Ben schon weiter. „Na ja, sie ist halt deine Freundin gewesen.“ Er sah Susanne an und merkte, dass ihr diese Aussage ziemlich nahe zu gehen schien. „Aber nicht nur wegen dir, du brauchst dir deswegen keine Gedanken zu machen.“ Längst noch nicht ganz, doch halbwegs beruhigt atmete Susanne aus.
    „Der ausschlaggebende Grund war, dass sie Angst gehabt hat, regelrechte Panik sogar. Sie war am Telefon und später auch, als wir uns dann sahen ein ganz anderer Mensch, als an dem Abend zuvor. Sie war voller Furcht und schien kurz zuvor etwas erlebt zu haben, was sie über die Maßen geängstigt hatte. Ich denke, dass sie etwas über Mike heraus gefunden haben muss, dass ihr quasi die Augen geöffnet hat. Wer weiß, vielleicht hat er ihr auch alles erzählt, die Maske fallen lassen und ihr offenbart, was er mit mir vorhat und sie war der Meinung, sie sei verantwortlich dafür. Ich denke, dass sie mich warnen wollte. Und dafür hat sie mit ihrem Leben bezahlt.“ Ben schluckte und holte tief Luft, denn was er jetzt zu sagen hatte, fiel ihm schwer. „Susanne, er hat sie umgebracht. Ich kann mich wieder daran erinnern. Mein Kopf war zwar ganz schön angeschlagen, doch ich weiß es wieder. Er hat sie angesehen, als wäre sie nur noch ein lästiges Überbleibsel, das ihm nun nicht mehr nutzen konnte. Er hat ihr den Kopf verdreht und das Genick gebrochen. Dann hat er sie in den Fluss geworfen. Verstehst du, einfach so. Es hat ihm nichts ausgemacht. Und ich war nicht in der Lage, ihr zu helfen, ich konnte einfach nichts tun, sondern nur dabei zusehen.“ Der Ausdruck in Susannes Augen wurde immer entsetzter, je länger Ben sprach. So ein Schicksal hatte Jana nicht verdient, das hatte niemand. Sie war verliebt gewesen und das hatte sie blind werden lassen für den wahren Charakter des Menschen, der diese Liebe überhaupt nicht verdient hatte. Er hatte sie nur benutzt, wahrscheinlich hätte er sie sowieso irgendwann loswerden wollen, obwohl er sie dann vielleicht nicht getötet hätte, aber wer konnte das im Nachhinein schon noch sagen. Wenn sie nun auch noch daran dachte, wie lange sich Ben in Mikes Gewalt befunden hatte! Was hätte er ihm noch alles antun können. Doch diese Vorstellung schien Ben im Moment keine Probleme zu bereiten, also äußerte sie ihre Gedanken nicht laut. „Jana war durch den Aufprall des Wagens bewusstlos, sie hat nichts davon gemerkt“; schloss Ben seine Erklärung. Zwar änderte dies nichts an der Tatsache, dass Jana tot war und damit auch ein Stück von Susannes Vergangenheit, doch sie war ein kleines bisschen erleichtert, dass Jana es nicht mitbekommen hatte, dass ihr Freund zu ihrem Mörder geworden war. „Du kannst nicht dafür“, sagte Susanne zu Ben und sah ihm dabei Augen. Sie merkte nur zu deutlich, dass Ben sich Vorwürfe machte, Jana nicht geholfen zu haben. Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß, du hast Recht, es ist nur…“ Doch Susanne unterbrach ihn. Es half niemandem, wenn er zu dem, was er alles durchgemacht hatte, auch noch diese Last mit sich herum trug. „Du hast alles getan, was du konntest. Du warst bereit, ihr zu helfen, obwohl sie sich dir gegenüber so unfreundlich verhalten hat. Jeder andere hätte sich erst gar nicht mit ihr getroffen. Und ich bin dir sehr dankbar dafür.“ Ben sah sie an und nickte. Sie schien die richtigen Worte getroffen zu haben und darüber war sie sehr froh.

  • „Mike wird durch deine Aussage sehr lange hinter Gittern verschwinden“, sagte Susanne. „Ja, das hoffe ich auch“, stimmte Ben ihr zu. „Vielleicht nehmen sie ihn später auch noch in Sicherungsverwahrung, so gemeingefährlich wie er ist.“ Susanne nickte nur bekräftigend. „Jedenfalls wollte ich auch noch einmal hierher kommen, um eine Art Abschluss zu finden. Hier, wo alles angefangen hat, soll es auch zu Ende sein; ich will damit abschließen und nach vorne schauen, sonst stehe ich nämlich die restlichen Ermittlungen und vor allem den Prozess nicht durch.“ Susanne konnte und wollte nichts sagen, sie nahm Ben nur fest in den Arm. Eine Weile standen sie so da, bis Susanne bemerkte, dass Bens Muskeln sich plötzlich anspannten, so als wäre eine Gefahr im Anflug. Sie trat einen halben Schritt zurück, sah ihn an und fragte besorgt: „Was ist los?“ Ben wies mit dem Kopf in Richtung der Büsche am Flussufer, von wo aus sich langsam eine Gestalt näherte. „Das ist Marla“, antwortete er, während er sein Handy herausholte und Semirs Nummer eingab. Sein Partner meldete sich schnell und Ben schilderte ihm in wenigen Worten die Situation. Glücklicherweise war Semir ganz in der Nähe und versprach, sofort zu kommen. Auf dem Weg würde er auch noch einen Streifenwagen benachrichtigen.
    Nachdem Ben das Gespräch beendet hatte, war Marla schon ein Stückchen näher gekommen. Sie schien sich allerdings fast in Zeitlupe am Flussufer entlang zu bewegen. Ihre Bewegungen wirkten fahrig, die Haare hingen strähnig in ihrem Gesicht; sie sah zudem aus, als hätte sie ihre Kleidung seit geraumer Zeit nicht mehr gewechselt. Der Ausdruck in ihren Augen war, soweit Ben es jetzt schon erkennen konnte, kaum zu beschreiben. Einerseits blickten sie leer, andererseits war da noch ein Funkeln zu erkennen, was einem trotz ihres desolaten Zustandes Angst machen konnte. Ben wusste nicht so recht, was er von der Situation halten sollte; wirkliche Angst hatte er weniger, er konnte sich nicht vorstellen, dass von Marla eine ernsthafte Gefahr ausgehen könnte. Trotzdem wollte er auf Nummer Sicher gehen und bat Susanne daher, im Wagen zu warten. „Du hast uns ja von da aus im Blick. Außerdem siehst du dann auch die Straße und kannst Semir sofort zeigen, wo wir sind.“ Dieses Argument hatte sie dann letztendlich doch überzeugt zu gehen und so wartete sie vor dem Auto stehend auf Semir und hoffte, dass dieser bald eintreffen würde, denn auch, wenn sie der Meinung war, dass Ben schon mit Marla fertig werden würde, war ihr die Situation doch ziemlich unheimlich. Wie kam sie nur hierher und vor allem, was wollte sie?
    Ben hatte sich inzwischen auf den Weg zu Marla gemacht, die ihrerseits stehen geblieben war. In ihm tobten widersprüchliche Gefühle. Die Erinnerung an das, was er in ihrem Beisein durchgemacht hatte, drohte ihn zu überrollen, doch war er fest entschlossen, sich davon nicht aufhalten zu lassen. Er würde mit ihr sprechen, sich dem Ganzen stellen und dann wäre auch schon bald sein Partner da, um sie mitzunehmen und er brauchte sich um sie keine Gedanken mehr zu machen. „Hallo Marla“, sagte er also nur so neutral wie möglich, als er sie erreicht hatte. Marla sah ihn mit einem verzückten Gesichtsausdruck an. „Ich wusste, dass du hierher kommen würdest“, sagte sie mit erstaunlich klarer Stimme. „Ich habe auf dich gewartet.“ Unwillkürlich musste Ben sich fragen, ob sie die ganze Zeit dort unten in den Büschen gehaust hatte, doch ihr Anblick und vor allem ihr Geruch ließen dies vermuten. Es wurde nachts noch nicht so kalt, man konnte es draußen ganz gut aushalten. Vor allem, wenn man nicht ganz bei Sinnen war und das war bei ihr definitiv der Fall. Marla stand jetzt direkt vor ihm und Ben war froh, dass der Wind von ihm weg wehte, aber es war auch so schon schlimm genug. Er suchte nach den passenden Worten, doch sie kam ihm zuvor. „Es muss zu Ende gebracht werden. Das, was er angefangen hat, muss zu Ende gebracht werden.“
    Ben wusste nicht, wo Marla den antik aussehenden Dolch in ihrer rechten Hand hernahm, er spürte es fast nicht einmal so sehr, als sie ihm diesen in den Bauch rammte, doch der Schmerz, der sich danach in ihm ausbreitete, war unbeschreiblich.

  • Ben konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, er wusste nur, dass er Marla unbedingt davon abhalten musste, zu Susanne zu gelangen und so packte er sie, so fest er noch konnte, am Arm. Sterne tanzten vor seinen Augen, als Marla den Dolch wieder heraus zog. Das Blut tropfe unaufhörlich auf den Boden vor ihm. Ben zwang sich mit aller Kraft, bei Bewusstsein zu bleiben, auch wenn er ahnte, dass er diesen Kampf wohl sehr bald verlieren würde.


    „Nehmen Sie die Hände hoch und weg von ihm!“ Wie durch einen Nebel drang Semirs Stimme in sein Bewusstsein und Ben war unglaublich erleichtert, diese zu hören und nahm seine Hand von Marlas Arm. Sie ließ den Dolch einfach fallen und entfernte sich von ihm. Marla hatte getan, was getan werden musste, sein Blut war vergossen worden, er hatte seine Bestimmung erfüllt. Was nun mit ihr geschah, war nun nicht mehr wichtig. Und so tat sie einfach das, was man ihr sagte und ging auf Semir zu, der ihr Handschellen anlegte und sie dann sofort den uniformierten Kollegen übergab. Er wollte sie so schnell wie möglich hinter Gittern sehen.
    Semir sah zu Ben, der ihm immer noch den Rücken zudrehte. Semir vermutete, dass sein Partner sich noch ein wenig sammeln musste und diese Zeit wollte er ihm gerne geben. Wenn es ihn selbst schon so aufgewühlt hatte, diese Frau zu sehen, wie musste es da erst Ben ergehen. „Lass dir Zeit Ben!“ rief er und wandte sich zu Susanne, der es ähnlich ging und sie wechselten einige Worte, innerhalb derer sie sich gegenseitig versicherten, dass nun endlich alles vorbei sei. Doch als Semir sich wieder nach Ben umsah, war dieser verschwunden.


    Ben hatte registriert, dass Marla ihre Waffe fallen gelassen hatte und nun von ihm weg ging. Er hörte, wie sie von Semir verhaftet wurde und wie dieser die Streife anwies, sie wegzubringen. Semir rief ihm noch etwas zu, doch Ben verstand nicht, was er sagte. Er hatte genug mitbekommen, um zu begreifen, dass Marla keine Gefahr mehr für Susanne oder Semir darstellte, er musste niemanden mehr beschützen. In dem Moment, als ihm das klar wurde, verließen ihn die letzten Kräfte, die ihn bis jetzt noch aufrecht gehalten hatten. Er ging zuerst auf die Knie und fiel dann einfach auf die Seite, ohne sich noch irgendwie abfangen zu können. Die Schmerzen in seinem Bauch schienen durch den Aufprall noch stärker geworden zu sein, obwohl er das vorher kaum für möglich gehalten hatte. Und es war noch nicht vorbei. Die Uferböschung war hier leicht abschüssig und so rutschte er unaufhaltsam dem Wasser entgegen, bis er schließlich ganz im Fluss lag. Die Wellen schlugen über ihm zusammen und zogen seinen Körper unaufhaltsam mit sich fort, denn Ben hatte nichts mehr, was er dem noch entgegen setzten konnte. Er nahm nur noch Dunkelheit um sich herum war und die Kälte des Wassers. Mit einem Mal fühlte er sich ganz leicht und auch der Schmerz schien weniger zu werden, oder hatte er sich schon daran gewöhnt? So fühlte es sich also an, wenn man ertrank, denn etwas anderes kam für Ben als Erklärung für das, was gerade mit ihm passierte, nicht in Frage. Das war also doch sein Schicksal, er sollte genau so wie Jana im Fluss enden. Er hatte ihr nicht helfen können, obwohl das seine Aufgabe gewesen war. Warum also sollte es ihm jetzt besser ergehen als ihr. Er sehnte sich fast danach, dass es endlich bald vorbei sein möge, doch dann schoss ein Bild von Susanne durch seinen Kopf und er spürte wieder seine ganze Verzweiflung, er wollte doch gar nicht sterben, aber es war zu spät, er konnte nichts mehr dagegen ausrichten. Sein letzter Gedanke galt seiner Verlobten, bevor ihn die Schwärze ganz umfing.

  • Ben spürte nicht mehr, wie er mit einem Ruck aus dem Wasser gerissen wurde und auch nicht, wie Semir verzweifelt versuchte, ihn ins Leben zurückzuholen. Dessen Schreck war groß gewesen, als er Ben auf einmal nicht mehr hatte sehen können. Er war zu der Stelle gerannt, an der sein Partner zuvor gestanden hatte und was er dort sah, ließ seinen Atem stocken. Im Gras lag eine Art Dolch, dessen Griff mit verschiedenen Ornamenten verziert war, doch genau konnte man diese nicht erkennen, denn sie waren ebenso wie die lange Klinge über und über mit Blut bedeckt. Es gab keinen Zweifel daran, um wessen Blut es sich handelte und so begannen Semirs Augen hektisch, das Wasser abzusuchen, bis sie schließlich ein Stückchen weiter flussabwärts unter Wasser einen Schatten ausmachten, bei dessen Größe es sich nur um einen menschlichen Körper handeln konnte. Semir zögerte nicht, er rannte am Ufer entlang und sprang dann in die Fluten, als er auf Bens Höhe war. Seine Angst steigerte sich ins Unermessliche, als er sah, dass sein Freund mit dem Gesicht nach unten im Wasser trieb. Er packte Ben an den Schultern und riss ihn nach oben. Er zog ihn so schnell wie möglich ans Ufer und legte ihn dort auf den Rücken. Er registrierte, dass Ben nicht mehr atmete und auch sein Herz schien nicht mehr zu schlagen, doch Semir wusste, was in solchen Situationen zu tun war. Unzählige Male hatten sie so etwas üben müssen und so schob er jetzt alle Gefühle beiseite und funktionierte einfach nur noch und versuchte alles zu tun, was er konnte, um seinen Freund nicht zu verlieren.
    In der Ferne hörte er Sirenen und erinnerte sich, dass er zu Susanne gerufen hatte, sie solle den Notarzt rufen, als ihm klar geworden war, was da im Gras vor ihm gelegen hatte und was passiert sein musste. Semir wusste nicht, ob seine Bemühungen erfolgreich gewesen waren, als er von Arzt und Sanitätern zur Seite gezogen wurde, die sein Tun jetzt professionell fort setzten. Er stand schwer atmend neben Susanne und starrte abwechselnd auf Bens Brustkorb und auf die Wunde am Bauch, aus der noch immer Blut floss. Aber war das nicht sogar ein gutes Zeichen?
    Blut, Blut, überall, wo Susanne hinsah, war Blut… Als sie Marla gesehen hatte, hatte sie schon geahnt, dass es zu Komplikationen kommen würde, aber dass es so enden würde… Nein, es durfte so nicht enden, Ben würde es schaffen, Semir hatte ihn doch rechtzeitig aus dem Wasser gezogen, oder etwa nicht? Warum hatte Ben Marla nur so falsch eingeschätzt, oder war sie vorher nicht so gefährlich gewesen? Wo kam nur das ganze Blut her, warum taten die nichts dagegen?
    „Okay, wir haben ihn wieder, Kompresse auf die Wunde und dann nichts wie ab“, hörten die beiden nach einer gefühlten Ewigkeit endlich den Notarzt rufen. Keiner von ihnen konnte im Krankenwagen mitfahren, da die Helfer allen Platz brauchten, um ihre Arbeit zu tun, aber Semir verfrachtete Susanne auf den Beifahrersitz seines Wagens und raste dem RTW ebenfalls mit Blaulicht hinterher. Denn das Letzte, was die beiden gesehen hatten, war ein Kopfschütteln des Arztes gegen über seinem Assistenten.

  • Der Tag, an dem die Beerdigung stattfand, war trüb und grau. Es war ein untypisches Wetter für den eigentlich schönen Spätsommer. Doch die Witterung spiegelte nur das wider, was in den Gesichtern der Trauergäste zu erkennen war. Es waren Verzweiflung, Bitterkeit und vor allem eine große Fassungslosigkeit zu spüren, doch man konnte auch ein wenig Wut und Zorn ausmachen. Es waren nicht wenige hier, die so empfanden, denn es war vom Schicksal einfach nur ungerecht, dass sie ihn nun doch zu Grabe tragen mussten, nach all dem, was zuvor geschehen war. Aber für diese Gefühle war später noch Zeit, niemand sprach jetzt darüber, es galt im Moment nur, ihrem Freund und Kollegen einen würdigen Abschied zu bereiten. Sie wollten ihm die letzte Ehre erweisen; so, wie sie es vor etlichen Wochen nicht gekonnt hatten, als sie sich bereits schon einmal in dieser Lage geglaubt hatten.
    All das und noch viel mehr konnte Susanne an ihren Gesichtern ablesen. Sie fragte sich, ob man in ihrer Mimik überhaupt etwas erkennen konnte, denn sie war im Augenblick nicht in der Lage, irgendwelche Gefühle zuzulassen, sonst würde sie das hier nicht durchstehen können. Ihr Blick war starr auf den Sarg gerichtet, in dem Ben nun endgültig lag. Es kam ihr vor, als sei es erst gestern gewesen, dass der Arzt den Kopf geschüttelt hatte, nachdem Semir Ben aus dem Fluss gezogen hatte. Sie hatte zu diesem Zeitpunkt so sehr gehofft, dass sie sich getäuscht hatte. Tatsächlich war es zunächst auch gelungen, Ben lebend ins Krankenhaus zu schaffen und auch die Operation hatte er entgegen aller Erwartungen soweit ganz gut überstanden. Doch was danach geschehen war, schien irgendwie aus ihrem Gedächtnis gelöscht worden zu sein. So sehr sie auch versuchte, sich zu erinnern, sie wusste es nicht mehr. Nur noch diffuse Erinnerungsfetzen, die überhaupt keinen Sinn machten, drangen an die Oberfläche. Das Einzige, das ihr klar war, war die Tatsache, dass sie sich gleich für immer von Ben verabschieden musste. Was sie auch nicht wusste war, wie sie eigentlich hierher gekommen war. Es war so, als wäre sie einfach irgendwann hier gewesen, inmitten all der anderen und doch unendlich allein. Sie sah Bens Schwester, tränenüberströmt, und seinen Vater, den Blick versteinert, keine Gefühlsregung zeigend. Doch sie gehörte nicht dazu, nicht zur Familie, soweit war es nicht gekommen, auch der Verlobungsring war nicht mehr an ihrer Hand, auch wenn sie sich nicht daran erinnern konnte, ihn zurückgegeben zu haben. Warum hatte sie das eigentlich getan? Es war doch ihre letzte Erinnerung an Ben.
    Auch alle Kollegen waren gekommen, doch Susanne konnte ihre Nähe, ihr Mitleid nicht ertragen, vor allem nicht das von Andrea und Semir, auch wenn vor allem er kaum in der Lage zu sein schien, noch etwas anderes als seine eigene Trauer wahrzunehmen.
    Sie zuckte zusammen, als die Sargträger begannen, sich in Bewegung zu setzten. Der Pfarrer hatte seine Predigt und Gebete längst beendet, doch davon hatte sie sowie nichts mitbekommen, viel zu sehr war sie auf den hölzernen Kasten vor ihr fixiert. Wie in Trance folgte sie ihm bis hin zu der tiefen Grube, die für ihn ausgehoben worden war. Innerlich schrie alles in ihr; Ben sollte, er durfte nicht begraben werden, sie wusste ganz genau, dass es für ihn die Hölle sein musste, allein, da unten in der Erde. Sie musste das verhindern, sie durften ihm das nicht antun, nur noch jetzt hatte sie die Gelegenheit, sie wollte schreien, doch sie konnte nicht, so sehr sie es auch versuchte, es ging einfach nicht, kein Laut kam über ihre Lippen, sie konnte sich nicht von der Stelle rühren und langsam begann der Sarg, zu seinen endgültigen Bestimmungsort hinab zu sinken… Nein! Nein! Nein!!!

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