Verletztes Vertrauen

  • Auf dem Weg zur Lagerhalle hatte Ben noch mal kurz Nina darüber informiert, was sie herausgefunden hatten. Sie war einerseits erleichtert, andererseits aber auch ein wenig beunruhigt. Es ist kein gutes Gefühl zu wissen in seinen eigenen vier Wänden über längere Zeit beobachtet worden zu sein. Doch Ben versicherte ihr Runge bald zu finden und hinter Gitter zu bringen, damit sie wieder beruhigt schlafen kann. Ben hatte kaum das Gespräch beendet erreichten sie auch schon ihr Ziel.


    Sie schlichen mit gezogenen Waffen in die Lagerhalle hinein. “Die Halle ist sehr groß. Am Besten, wir trennen uns. Du rechts, ich links” gab Semir die Befehle. Ben nickte zur Bestätigung. “Aber pass auf dich auf und sei Vorsichtig!” sagte Semir noch mal warnend. Semir spürte es, wenn Gefahr aufkam und im Moment zog sich alles in ihm förmlich zusammen.


    So schlichen sie also getrennten Weges durch die riesige Halle. Ben hielt Augen und Ohren offen. Er hatte fast das eine Ende der Halle erreicht. Hier schien noch ein Raum abzugehen. Ben spähte durch das Fenster. Er konnte so eine Art Wohnraum erkennen. Ein Schreibtisch war darin und eine Couch, die als Bett diente.
    Mit einer Hand nahm er die Klinke in die Hand und wollte sie herunterdrücken als ihm plötzlich mit einer Eisenstange von hinten die Waffe aus der Hand geschlagen wurde. Ben schrie auf. Seine Waffe flog durch die Luft und landete weit abseits.

  • “Verdammt!” stieß er hervor und suchte nach etwas, das ihm anderweitig als Verteidigungswaffe dienen könnte. Er blickte sich um, doch fand nichts passendes. “Was wollen Sie von mir?” frage Ben laut. Doch der Mann, den er wieder erkannte, antwortete nicht. Es war Runge, der ihm gegenüber stand.
    “Vorsicht, damit kann man sich verletzten” säuselte er, als Runge mit der Eisenstange auf ihn zustürmte. Ben wich zur Seite aus. Doch in diesem Moment wurde er von einem anderen Mann von hinten gepackt und gegen die Wand geschleudert. Er hatte den Angreifer von hinten, es war Thorsten Seeger, gar nicht bemerkt und so holte er sich an der rauen Betonwand ein paar böse Kratzer. Doch stieß er sich gleich wieder ab und wollte den Mann angreifen als er schon von hinten gepackt wurde. Ben versuchte sich zu befreien, doch seine Arme wurden fest hinter seinen Rücken zusammen gehalten, sodass er sich die Schulter bei dem Versuch ausgekugelt hätte. Von der Seite traf in ein Fausthieb ins Gesicht und er verlor kurzzeitig den Sinn für die Realität. An Flucht war nun nicht mehr zu denken.
    Der Schlag war so verheerend gewesen, dass Ben zusammen sackte, woraufhin aber seine Schulter plötzlich mehr Spielraum bekamen, denn Runge versuchte ihn aufrecht zu halten. Ben trat nach hinten und erwischte ihn am Knie. Einer seiner Arme kam frei. Er versuchte noch sich weiter zu wehren, doch ein zweiter Fausthieb von Seeger in den Magen brachte ihn endgültig zu Boden. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft nach Semir zu rufen und Hilfe anzufordern.
    Ben spürte, wie Seeger das Knie in seinen Rücken stemmte, während seine Arme auf dem Rücken gefesselt wurden und man ihm ein Tuch um die Augen band. Ben hörte Flüssigkeit, die wild in einer Flasche umher schwappte, als man im plötzlich ein feuchtes Tuch vor Mund und Nase drückte. Es waren KO-Tropfen. Verdammt! Er durfte jetzt nicht aufgeben! Wild begann er von neuem zu kämpfen, während er den Atem anhielt. Er drehte sich zur Seite, nur um von dem Kerl wieder am Boden fixiert zu werden. Seine Luft wurde knapp und er atmete kurz etwas von dem Zeug ein. Doch das reichte schon, um ihn unglaublich müde werden zu lassen. Benommen versuchte er sich weiterhin weg zu drehen. Doch schließlich musste er den Kampf aufgeben und alles wurde schwarz.

  • Semir tigerte unruhig durch die Lagerhalle. `Ben müsste doch irgendwo zu sehen sein. So groß ist die Halle nun auch wieder nicht. Wo steckt er denn nur.` Semir lief bis zum anderen Ende. Er konnte dort einen Raum erkennen. Er schaute durch das Glasfenster und wollte hineingehen als er im Augenwinkel etwas wahrnahm. Auf dem Boden nicht weit entfernt lag Bens Dienstwaffe. Von Ben keine Spur. Semir fing an nach Ben zu rufen. Doch keine Reaktion. `Da muss was passiert sein. Wo ist Ben da nur wieder reingeraten´ dachte er sich, sah sich noch mal um und ging dann schnellen Schrittes zu seinem Wagen um eine Meldung per Funk zu machen.


    “Semir?” stöhnte Ben, als er langsam wieder zu sich kam. Sein ganzer Körper zitterte und er kämpfte gegen das Schwindelgefühl an, dass seinen Geist kontrollierte. Der Boden unter ihm vibrierte. Die Augenbinde war noch auf, aber er konnte sich vorstellen, das er im hinteren Teil eines kleinen Transporters war. Seine Hände waren noch immer zusammengebunden. Der Knoten war zu fest als das er ihn hätte öffnen können. Ben versuchte sich vorsichtig nach oben zu kämpfen, doch das löste nur Magenkrämpfe und Übelkeit in ihm aus. Die Nachwirkungen der Narkose setzten ein und er stürzte wieder zur Seite. Obwohl er nichts sehen konnte drehte sich die Welt um ihn herum, als wäre er im Vollrausch. Die Ladefläche wurde erschüttert, als der Fahrer ein Loch in der Straße erwischte und Bens Kopf schlug schmerzhaft auf den Boden. Er blieb einfach liegen und drehte den Kopf zur Seite, denn im selben Moment kippte er wieder weg und die Dunkelheit hüllte ihn erneut ein.


    Nina konnte nicht sagen woran es lag. Aber sie hatte die ganze Zeit so ein ungutes Gefühl. Sie streifte ruhelos durch ihr Zimmer. Eigentlich war sie noch total erschöpft und müde, aber sie konnte sich jetzt nicht hinlegen. Ben hatte ihr vorher am Telefon gesagt sie hätten in ihrer Wohnung etwas gefunden und waren auf dem Weg zu der Lagerhalle. Das war nun schon einige Zeit her. Seitdem hatte sie nichts mehr von den beiden gehört.

  • Sie stand mit einer Trainingshose und T-Shirt bekleidet am Fenster und blickte hinaus. Als jemand plötzlich ohne anzuklopfen eintrat drehte sie sich um. Es war Semir. Er war allein. “Wart ihr in der Lagerhalle? Habt ihr ihn schon? Wo ist Ben?” begann Nina sofort zu fragen.
    “Er…” Gott wie sollte er es ihr sagen. `Einfach, klar und direkt` dachte sich Semir. “Es kam zu einem Zwischenfall. Er wurde vermutlich als Geisel genommen”. Semir hielt den Kopf gesenkt während er sprach. Er hatte sie so sehr verletzt und jetzt musste er ihr auch noch schlechte Nachrichten überbringen.


    Als Ben das nächste mal zu sich kam geschah das nur aufgrund der Tatsache, dass jemand ihm in die Seite trat. Die aufkommenden Schmerzen drangen bis zu seinen gelähmten Sinnen durch und weckten ihn. “Hoch mit dir!” befahl Runge harsch. Ben wurde von dem Komplizen am Arm gepackt und nach oben gezogen. Ben wollte mithelfen, um weiteren Schlägen zu entgehen doch er torkelte zu Seite. Der Boden war feucht und Ben nahm an, dass er sich zuvor mehrmals auf das Narkotikum übergeben hatte, doch er konnte sich kaum noch daran erinnern. Was geblieben war, war nur der fade Geschmack im Mund. Der Mann packte in unsanft und warf ihn aus dem Transporter. Ben konnte sich nicht abbremsen und landete unsanft auf dem steinigen Boden. Er spürte durch seine Jeans wie seine Knie von den spitzen Steinen aufgerissen wurden und war nun komplett wach. Ein Tritt in den Rücken beförderte ihn nochmals auf den Boden zurück und er hörte Runge neben sich auflachen. Dann wurde er von beiden Männern durch ein Haus in einen Keller geschleift. Er fühlte sich immer noch wie gelähmt als er auf einen Stuhl gesetzt und daran festgebunden wurde. Die Augenbinde wurde ihm zu seinem Leidwesen nicht entfernt. Die Männer verließen den Raum und verbarrikadierten die Tür hinter sich. Nun war Ben allein. In Stille und Dunkelheit.


    Semir hatte derweilen damit zu kämpfen Nina wieder zu beruhigen. Nach Semirs Offenbarung war wieder ihr Temperament mit ihr durchgegangen und so wechselte ihre Stimmung beinahe sekündlich zwischen Verzweiflung und Anschuldigung. Sie warf Semir vor er hätte besser auf ihn aufpassen sollen und das alles wäre nicht passiert, wenn sie an Bens Seite gewesen wäre. Aber im Moment konnte Nina nichts an der Situation ändern. Und so nagte die Ungewissheit an ihr und lies sie in einem Meer von Tränen und Seufzern ersticken.

  • Semir kam zu ihr herüber und nahm sie in den Arm, um sie zu beruhigen. Sie war total aufgewühlt. So aufgelöst hatte er sie das letzte Mal im Gerichtssaal gesehen, kurz bevor sie ihren geliebten Job an den Nagel hing. Deshalb versprach Semir Ben auch um ihretwillen zu finden. Er selbst machte sich aber schließlich auch sehr große Sorgen und täte besser daran Ben in seiner Nähe und in Sicherheit zu wissen. Doch er versprach ihn zu finden. “Kann ich mich auf dich verlassen?” fragt Nina fordernd. Semir sah ihr tief in die Augen. Er wusste, wie sehr er sie mit seiner Anschuldigung verletzt hatte. Wie sehr er ihr Vertrauen verletzt hatten. “Ich bring dir Ben zurück” versprach er fest.


    Semir war nicht entgangen wie sehr sich die beiden in den letzten Tagen nahe gekommen waren. Welche Sorgen sich Ben um Nina gemacht hatte. Er kannte Ben zu gut, auch wenn er alles abstritt. Semir fühlte sich verpflichtet. Nicht nur seines Partners und besten Freundes wegen. Sonder auch, weil ihm die Freundschaft zu Nina sehr viel bedeutete. Er würde Ben finden. Er würde sie nicht noch einmal enttäuschen.


    Mühsam versuchte Ben irgendwelche Geräusche aufzuschnappen. Er wollte um Hilfe rufen, doch dazu fehlte ihm die Energie und er brachte nur ein leises Flüstern zustande. Das Betäubungsmittel hatte seine Wirkung noch immer nicht verloren. Er hatte so unglaublichen Durst und der bittere Geschmack in seinem Mund wollt einfach nicht weichen. Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor bis sich endlich wieder die Tür öffnete und er hörte wie die zwei Typen den Raum betraten. Er konnte Runges Stimme wieder ganz eindeutig erkennen. “So, das war zwar nicht geplant. Aber du wirst uns doch von Nutzen sein. Du solltest lernen, das man sich nicht in alles einmischen muss, Jäger. Dann lasst die Show mal beginnen!” hörte Ben nur, als Seeger auf einmal begann wie wild auf ihn einzuprügeln. Ohne Vorwahrung und ohne sich schützen zu können war Ben den Schlägen ausgesetzt. Es schien für ihn eine Ewigkeit zu dauern.
    Als Thorsten von Ben abließ hing er nur noch so auf seinem Stuhl. Seine Lippe war aufgesprungen und er spürte, dass mindestens eine seiner Rippen gebrochen sein muss. `In was für eine Scheiße bin ich nun da wieder reingeraten` dachte er bei sich als ihn Runges Stimme wieder aus den Gedanken riss. “Und nun - das Sahnehäubchen!”

  • Ben vernahm das Geräusch einer entsicherten Waffe und im selben Augenblick hörte er einen Knall. Ein unbeschreiblicher Schmerz zog sich durch seine linke Schulter, so dass Ben laut aufschrie. Er war nicht darauf vorbereitet gewesen. Nun war auch noch die letzte Kraft aus seinem Körper gewichen und er sank auf seinem Stuhl in sich zusammen. “So ist´s gut. Und jetzt noch bitte schön lächeln!” Ben konnte durch seine Augenbinde ein blitzen erkennen. Der Mistkerl hatte tatsächlich ein Foto von ihm gemacht. Ben konnte sich denken, welchen Empfänger dieses haben sollte. So hatte er aber doch wieder ein wenig Hoffnung Semir würde ihn da raus holen. Semir… Vor Schmerzen konnte er fast keinen klaren Gedanken mehr fassen. “Gib ihm was, nicht das er uns noch abkratzt". Ben spürte, wie ihm ein Ärmel hochgeschoben wurde und gleich darauf folgte ein Einstich in seine Armbeuge. Er wollte sich noch dagegen wehren, aber hatte keine Kraft mehr. Binnen weniger Sekunden nahm die schwere seiner Schmerzen ab. “Was soll das alles?” frage Ben schon ein wenig undeutlich. “Ihr habt mir meine Melanie genommen. Dafür werdet ihr bezahlen!” fauchte Runge und verließ mit Seeger wieder den Raum.
    Ben konnte sich auf nichts mehr konzentrieren. Melanie? Melanie Mahler? Also hatte in Wirklichkeit doch sie die Fäden in der Hand. Und Runge war nur der Mittelsmann. Aber warum sagte er “ihr werdet bezahlen”? War Nina noch in Gefahr? Seine Gedanken kreisten, doch schon bald wurde er von dem verabreichten Morphin überwältigt und glitt wieder in die Dunkelheit ab. Sein letzter Gedanke galt Nina. Hoffentlich war sie in Sicherheit.


    Nina konnte nicht mehr ruhig bleiben. Sie musste etwas unternehmen. Was, wenn Ben etwas ernstes zustoßen würde? Das könnte sie nicht verkraften. Nicht nachdem sie damals von Melanie, ihrer angeblichen Freundin und jetzt von Semir so enttäuscht wurde. Sie musste handeln. Nina ging zum Schrank, nahm ihre Jacke und stieg durchs Fenster auf die Feuerleiter. Unten angekommen nahm sie sich ein Taxi und machte sich auf direktem Weg zur PAST.

  • Semir war dort bereits angekommen und schritt Schnurstracks auf Susanne zu. “Habt ihr schon was?” sagte er etwas streng, ohne die Sekretärin vorher zu begrüßen. “Die Chefin möchte dich gleich sehen sobald du da bist” entgegnete Susanne nur. Semir betrat ohne anzuklopfen das Büro von Kim Krüger “Chefin?” Er stellte sich demonstrativ vor ihren Schreibtisch. “Gerkan, setzten sie sich bitte. Wir haben eine Nachricht von den Entführern erhalten” sagte Kim steif und verzog dabei keine Miene. “Und, was wollen die?” Semir war total ungeduldig und aufgrund seines Temperamentes auch etwas harsch. “Sehen Sie selbst…” Kim drehte ihren Monitor so, dass auch Semir es sehen konnte. Was er sah, ließ ihn erstarren. Auf einem Stuhl saß…
    “BEN! Oh Gott” Er war gefesselt und hatte eine Augenbinde an. Auf seinem Gesicht und an seinen Armen konnte man deutliche Blessuren erkennen. Blut rann aus seiner Nase, seiner Lippe und aus einer Wunde am Kopf. Was Semir am meisten beunruhigte - die Schusswunde in seiner linken Schulter, die durch das Shirt deutlich zu erkennen war. Semir saß wie geschockt da und brachte kein Wort mehr heraus. Kim Krüger riss ihn wieder aus den Gedanken.
    “Sie stellen auch eine Forderung. Sie wollen 50.000 Euro … und Nina Lechner” Semir riss den Kopf hoch und starrte sie entsetzt an. “Die wollen Nina?”. “So ist die Forderung”. Wie auf Kommando sprang die Tür erneut auf und Nina stand ihm Türrahmen. Ihr erster Blick fiel sofort auf den Bildschirm. Ebenfalls wie geschockt schlug sie die Hände über dem Mund zusammen “Oh Gott, nein, Ben, oh nein” stammelte sie und Tränen traten ihr in die Augen. “Gerkan kümmern Sie sich um sie” wies Kim Semir an und schloss auch gleich das Fenster auf ihrem Bildschirm. Obwohl sie nach außen so unbeteiligt wirkte, traf sie der Zustand von Ben mindestens genauso schwer. Sie wollte es sich nur nicht anmerken lassen.
    Semir hatte die Situation erfasst, nahm Nina in seine Arme und ging mit ihr sofort in sein Büro und schloss die Tür. Semir setzte Nina auf Bens Stuhl und hielt ihr ein Glas Wasser hin. “Beruhige dich, wir werden Ben da raus holen. Was machst du überhaupt hier? Du solltest doch noch im Krankenhaus sein. Du hattest einen Unfall. Und wo ist dein Personenschutz?” besorgt blickte Semir nach draußen, doch konnte er den Kollegen dort auch nicht erkennen. Es gefiel ihm gar nicht, das Nina allein hier her gekommen war. Vor allen, nachdem die Entführer ihre Drohungen ausgesprochen hatten.

  • Nina hatte sich wieder gefangen. Es war eigentlich nicht ihre Art so derart zusammen zu brechen. Doch die letzten Tage hatten viel von ihr gefordert. Obwohl sie sonst immer stark war konnte sie nun ihre Gefühle nicht mehr ganz verbergen. “Ich bin abgehauen” sagte sie streng “und zum Glück nicht zu spät. Haben die Entführer auch schon ein Forderung gestellt?” Jetzt herrschte wieder die Polizistin in ihr und Semir wusste, dass er nicht dagegen ankam. Also ließ er sich auf ein sachliches Gespräch ein. “Sie wollen 50.000 Euro bis morgen Mittag. Die Übergabe findet auf einem Rastplatz statt. Außerdem wollen sie… dich”. Semir sah ihr bei diesen Worten ganz fest in die Augen. Aber Nina zeigte keinerlei Regung. “In Ordnung” sage sie nur “bereiten wir alles vor!"
    “Bist du des Wahnsinns? Meinst du ich werde dich freiwillig in die Hände dieser Kerle schicken?” “Ich werde alles tun um Ben da raus zu holen. Du müsstest das doch am ehesten verstehen". “Ich werde nicht zulassen, dass…”
    “Meine Entscheidung steht. Lass uns handeln” unterbrach Nina ihn und ging schnellen Schrittes ins Büro von Frau Krüger um alles weitere zu besprechen. Nina ließ keine Widerrede zu. Der Plan stand.


    Die Nacht bis zu nächsten Morgen schien sich endlos in die länge zu ziehen. Nina wälzte sich auf der Besuchercouch der Wache nur von einer Seite auf die andere. Immer wieder kam ihr das Bild von Ben in den Sinn. Wie er verletzt und hilflos auf diesem Stuhl saß. Es tat ihr im Herzen weh ihn so zu sehen. Sie wünschte sich, an seiner Stelle zu sein, um ihn davor bewahren zu können. Sie lag die ganze Nacht wach, bis endlich der Morgen graute. Es war Zeit zu handeln.

  • Ben hatte derweilen jegliches Zeitgefühl verloren. Er wusste ob es weder Tag noch Nacht war. Hunger und Durst zehren an seinen Kräften. Die Schmerzen in seiner Schulter waren mittlerweile wieder unerträglich geworden. Was sie ihm auch verabreicht hatten, es hatte seine Wirkung längst verloren gehabt. Immer wieder merkte er, wie er kurzzeitig das Bewusstsein verlor. Doch die Fesseln hielten ihn eisern auf diesem Stuhl gefangen. Ben spürte, wie er zu zittern begann. Das war kein gutes Zeichen. Sein Immunsystem versagte langsam seinen Dienst und so war er der Kälte schutzlos ausgeliefert. Das atmen fiel ihm schwer. Der Staub in der Luft machte es ihm nicht leichter. Für Ben wurde jede Minute, die er bei Bewusstsein war, zur Qual. Hoffentlich kam er bald aus diesem stinkenden Drecksloch raus.
    Im selben Moment wurde wieder die Tür aufgerissen. Er hörte Schritte auf sich zukommen. Es war nur ein Mann. Ben befürchtete schon das schlimmste. “Trink” wurde er aber nur barsch aufgefordert und ihm wurde eine Wasserflasche vor den Mund gehalten. Gierig trank er, denn seine Kehle war wie ausgetrocknet und er hofft endlich diesen faden Geschmack los zu werden. Doch nach ein paar Schluck verschluckte er sich bereits und musst husten. Ben wollte zwar keine Schwäche zeigen, doch musste er unweigerlich aufstöhnen. Durch den Husten bohrte sich die gebrochene Rippe nur weiter innerlich in sein Fleisch.
    Thorsten Seeger betrachtete die Szene mit wenig Interesse. Er öffnete lediglich seine Jackentasche, nahm abermals eine Spritze hervor und versengte die Nadel ein zweites mal in Bens Armbeuge.
    Ben spürte den Einstich. Doch diesmal war es für ihn eine willkommene Erlösung. Er merkte, wie sich um ihn herum wieder alles drehte. Gleich würde er der Wirklichkeit wieder entfliehen können. Er sehnte sich danach. Mit letzten Kräften versuchte er noch: “Bitte, nehmen Sie mir die Augenbinde ab!” Doch als er im selben Moment die Tür wieder ins Schloss fallen hörte, wusste er, dass seine Bitte nicht erfüllt werden würde. Dann holte ihn die erlösende Dunkelheit endlich wieder ein.

  • Es war 12.00 Uhr auf einem Rastplatz in der Nähe von Köln. Nina stand mit einem Koffer in der Hand auf einem Stück Wiese nahe einer Bank. Semir und Kim hatten mit Verstärkung ein paar anderer Leute in den umliegenden Autos und Gebäudeteilen Stellung bezogen und beobachteten die Situation genau. Sie wussten, sie mussten auf die Forderungen eingehen. Kim Krüger war die Sache nicht geheuer und nur mit großer Mühe konnte sie überredet werden dem Plan zuzustimmen. Nina hatte sich freiwillig als Köder gemeldet. Und auch Nina war sich bewusst in welche Gefahr sie sich begab. Ihr ganze Hoffnung lag darauf, dass die Kerle sie zu Ben führen würden. Und das Semir, dank des Peilsenders in ihrem Schuh, sie beide da auch hoffentlich schnell wieder raus holen würde.


    Nina blickte sich um, als ein schwarzer Van in die Raststätte einbog und auf sie zusteuerte. Sie erkannte den Mann am Steuer ganz genau. Die Wagen hielt und die Schiebetür wurde geöffnet. Semir sah durch das Fernglas, das sich Nina mit dem Mann kurz unterhielt. Dann hielt sie ihm den Koffer entgegen und stieg ein. Die Tür schloss sich und der Wagen fuhr davon. “Ich hoffe nur das alles gut geht” sagte Kim leise und öffnete ihren Laptop auf ihrem Schoß. Beide verfolgten sie den roten Punkt, der sich langsam von ihrer Position entfernte.
    Im Van derweilen saß Nina einem ihr unbekannten Mann gegenüber. Thorsten Seeger funkelte sie aus bösen Augen an. Durch ein kleines Fenster konnte sie in das Führerhaus blicken. “Was wollen Sie von mir Runge?” Nina sprach ihn direkt an. Sie wollte kein Geheimnis daraus machen, dass sie nicht genau wusste wer er war. Doch Runge ließ das alles sehr unbeeindruckt. “Das wirst du schon noch früh genug erfahren. Und jetzt halt die Klappe”. Runge sagte dann an Thorsten gewandt “Pack das Geld um und wirf den Koffer an der nächsten Ecke raus. Nicht das da noch ein Sender versteckt ist und wir verfolgt werden”. Thorsten Seeger tat wie befohlen. Die Fahrt schien ewig zu dauern. Doch Nina ließ ihren Gegenüber nicht aus den Augen. Er genauso wenig. Nina bezweifelte, dass er in irgend etwas eingeweiht wurde. Er sah aus wie ein Schlägertyp ohne Hirn. Sie versuchte ihn ein wenig zu provozieren. Vielleicht konnte sie ihn ja für ihre Seite gewinnen.

  • “Sie wissen doch gar nicht, um was es hier überhaupt geht. Warum tun Sie das?” wollte Nina wissen. “Na, weil ja was für mich dabei raus springt. Und wenn ich dich so anschaue, Süße, vielleicht doch mehr als versprochen…”. Thorsten fuhr mit seinen Fingern erst über Ninas Oberschenkel und wollte dann über ihre Wange streichen. Doch sie drehte ihr Gesicht angewidert weg. Darauf ergriff er ihr Kinn und zwang sie ihn anzusehen. Nina holte zum Schlag aus, doch wurde sie von seiner Hand abrupt daran gehindert. Ehe sie sich versah erhielt sie von ihm eine schallende Ohrfeige. Ihr Kopf schnellte zur Seite und sie schlug mit der Stirn schmerzhaft an der Seitenwand des Van auf. “An deiner Stelle würde ich nicht so aufmüpfig sein, hörst du?” hauchte Thorsten ihr ins Ohr, so dass ihr beinahe schlecht wurde.


    Der Wagen stoppte aber zum Glück in diesem Moment und die Tür wurde geöffnet. Runge packte sie grob am Arm und zerrte sie aus dem Transporter. Sie standen vor einer alten Villa, wie es schien. Die Villa war von Mauern umgeben. Dahinter schien ein Wald zu liegen. Irgendwo im Nirgendwo. Hoffentlich war Ben auch hier. Wie als antwort sagte Runge “So, jetzt bringen wir dich erst mal zu deinem kleinen Freund. Er wird sicher sehr erfreut sein dich zu sehen”. Runge stieß sie die Treppen zum Eingang hinauf. Die Villa war zwar eingerichtet. Aber es sah aus, als hätte hier schon ewig niemand gewohnt. Im Kamin brannte Feuer. Die anderen Möbelstücke im Raum waren mit weißen Tüchern abgedeckt. Runge öffnete eine Tür an der Seite und schupste sie die Treppen hinunter. Nun waren sie in einem Kellergewölbe. Er roch stickig und moderig. Fahles Licht drang durch dreckige verstaubte Fenster. Nina wollte sich nicht vorstellen, was Ben die letzten Stunden hier durchleben musste. Am Ende des Ganges war links eine Tür. Seeger ging vor und öffnete diese mit einem Schlüssel. Marco Runge stieß Nina in den Raum und danach wurde die Tür sofort wieder hinter ihr verriegelt.

  • Voller Wut drehte Nina sich noch mal um und trat mit dem Fuß gegen die Tür, um ihrem Ärger Luft zu machen. `Diese Schweine` dachte sie sich. Unvermittelt drehte sie sich wieder um, um ihre neue Bleibe in Augenschein zu nehmen. Der Raum war nicht sehr groß und schwach beleuchtet. Durch das kleine Fenster fiel etwas Licht hinein. Doch waren auch Gitter davor, was eine Flucht unmöglich machte. Ein kleiner Tisch stand in der Ecke. Ansonsten war der Raum leer. Hinten war anscheinend noch eine kleine Nische. Sie blickte um die Ecke. Da sah sie ihn.
    “BEN!” Er saß auf einem Stuhl. Oder besser, er war darauf zusammen gesunken. Nur noch die Fesseln hielten ihn aufrecht. Eine Augenbinde verdeckte ihm das Tageslicht, seine Hände waren auf dem Rücken zusammengebunden. Genau so, wie sie ihn auf dem Foto gesehen hatte. Nina ging sofort auf ihn zu. Sie nahm sein Gesicht in ihre Hände und entfernte ihm erst einmal die Augenbinde. Seine Augen waren geschlossen. Er war ohne Bewusstsein. “Ben, bitte. Hörst du mich?” versuchte sie ihn anzusprechen. Bens Gesicht war voller Schrammen und angetrocknetem Blut. Sie strich ihm ein paar verschwitzte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Dabei merkte sie, dass er förmlich glühte vor Fieber. Sie musste erst einmal die Fesseln lösen. Zum Glück saßen sie nicht allzu fest, so dass Nina sie mit ein bisschen Mühe aufbekommen konnte. Langsam ließ sie Ben vom Stuhl gleiten und versuchte, ihm dabei nicht noch mehr Schmerzen zuzufügen. Die Schusswunde sah böse aus. Sie schien sich entzündet zu haben. Daher bestimmt auch das Fieber. Nina legte Ben langsam auf den Boden, worauf er zu stöhnen begann. “Keine Angst Ben. Ich bin jetzt da. Es wird alles gut” versuchte sie ihm beruhigend zuzureden. Ben schien wach zu werden, denn er wand den Kopf von einer Seite auf die andere und fing an sich langsam leicht zu bewegen. “Ben, hörst du mich? Bleib ganz ruhig liegen. Ich werde mich um dich kümmern”.


    Ben war wie gefangen in der Dunkelheit. Er hatte jegliches Zeitgefühl verloren. Die Schmerzen holten ihn wieder ein. Zu schnell war das Gefühl der Schwerelosigkeit wieder verloren gegangen, dass er durch die Schmerzmittel verspürte. Doch da war noch etwas anderes. Ein Stimme drang in seinen Geist durch. Sie klang so vertraut. Ben spürte, wie ihm die Fesseln entfernt wurden und er auf den Boden glitt. Allerdings ganz langsam und behutsam. Er bekam wieder besser Luft und versuchte sich zu regen. Da war wieder diese Stimme - so vertrauensvoll. Eine Berührung. Er wand sich und versuchte die Augen ein Stück weit zu öffnen. Es dauerte ein bisschen, bis es ihm gelang. Denn Ben hatte Angst die Augenbinde würde ihm immer noch jede Sicht rauben. Doch als ein wenig Licht durch seine Lider fiel, war er erleichtert. Er öffnete seine Augen ein Stück weiter. Das erste, was Ben erblickte, war ihr Gesicht. Sofort versank er wieder in ihren tiefen blauen Augen und alles war für einen kurzen Moment vergessen. Nina lächelte ihn an. “Hey, da bist du ja wieder” sagte sie sanft. Ben wollte antworten, hatte aber keine Kraft dazu. Sein Kopf kippte ein wenig zur Seite und er realisierte, dass er sich immer noch in dem Kellerverlies befand.

  • Panik erfasst ihn. `Nina war hier! Sie war in eine Falle getappt! Sie hat sich seinetwegen in Gefahr gebracht! Was diese Typen wohl mit ihr anstellen würden? Und er konnte sie jetzt nicht beschützen` Seine Gedanken überschlugen sich.
    Nina merkte, dass Ben immer unruhiger wurde. Sie versuchte ihn weiter zu beruhigen. “Alles ok, hörst du? Ich bin hier um dir zu helfen. Wir holen dich hier raus”. Sie strich mit den Händen über seinen Körper, um zu sehen, ob er noch weitere Verletzungen hatte. Er schien sich mindesten eine Rippe gebrochen zu haben, denn Ben stöhnte stark auf, als Nina seine Seite berührte. Auch die Einstichstellen an seinem Arm war ihr natürlich nicht entgangen. Nina hoffte nur, dass sie ihm keine suchterzeugenden Mittel verabreicht hatten. Was muss er nur in den letzten Stunden mitgemacht haben. Sie versuchte nochmals ihn direkt anzusprechen. “Ben, kannst du sprechen? Meinst du, du kannst laufen? Wir müssen später vielleicht fliehen”. Doch Ben verstand sie anscheinend nicht. Er suchte immer noch mit unruhigen Augen den Raum ab und schien sie nicht wirklich wahr zu nehmen. Er schien total verwirrt zu sein. Sein Körper protestierte mit heftigem Zittern wieder gegen die Schmerzen. Er teilte ihm gerade schmerzhaft und unvermittelt mit, das er keine Kraft mehr hatte, von hier zu verschwinden. Ein Gefühl der Hilflosigkeit erfasste ihn. Ben kann sich in seinen Gedanken nicht genau entscheiden, was schlimmer ist - die Schmerzen oder die Schwäche.


    Nicht nur die Schussverletzung machte ihm so zu schaffen. Dieser Kerl hatte ihm mindestens eine Rippe gebrochen. Ein Pulsieren kam aus dem Bereich und jedes Einatmen wurde wegen der leider nachlassenden Schmerzmittel zur Höllenqual. Ben hatte langsam wieder Schwierigkeiten richtig Luft zu bekommen. Er versuchte sich darauf zu konzentrieren langsam ein- und auszuatmen. Doch selbst das war eine Anstrengung, die ihm fast erneut das Bewusstsein raubte. Kalter Schweiß rann an seinem Gesicht herunter und brannte wie Feuer in den Kratzern an seiner Wange. Seine Welt wurde in Schwarz und Weiß unterteilt, wobei das Schwarz immer wieder versuchte die Oberhand zu gewinnen. “Ben?” Ein rütteln an seiner unverletzten Schulter brachte in wieder zurück in die Realität und der Schmerz in seiner Seite flammte sofort wieder auf. Er musste keuchen, als er kurzzeitig überhaupt keine Luft mehr bekam. “Mhm…?” fragte er schwach und senkte den Kopf in ihre Richtung. Nina versuchte ihn irgendwie wach zu halten. “Keine Angst Ben, wir kommen bald hier raus. Semir ist schon auf dem Weg zu uns. Er wird uns finden. Du musst nur ein klein wenig noch durchhalten, hörst du? Ich bin bei dir". Sie strich ihm immer wieder über das Gesicht und zwang ihn ihr in die Augen zu sehen. Bens Augen waren ganz trüb und glasig. Das Fieber schien noch weiter zu steigen. Kein Wunder, bei dem Dreck in diesem Loch, das sich da seine Wunde entzündet hatte. Doch seine Augen suchten nur weiter den Boden ab, nur um etwas Ablenkung zwischen den Schmerzattacken zu finden. Nina merkte, dass er langsam wieder abdriftete und hoffte inständig Semir würde bald kommen.

  • Währenddessen hatte Semir mit Kim Krüger natürlich schon alles in die Wege geleitet und über Peilsender Nina bis zu ihrem Ziel verfolgt. Es war eine alte Villa weit außerhalb der Stadt. “Gerkan, sie unternehmen nichts, bevor nicht das SEK dort eingetroffen ist” ermahnte ihn Kim. Doch Semir war schon längst auf dem Weg. Er durfte keine Zeit verlieren. Mit viel zu hoher Geschwindigkeit raste er über die Autobahn. Er musste die Beiden da raus holen. Er musste schnell handeln. Hoffentlich ging ihr Plan auf. Semir wollte sich nicht vorstellen dort anzukommen und nur Nina, oder noch schlimmer keinen der beiden vorzufinden. Dann war die ganze Mühe umsonst. Und es würde Ben vielleicht noch mehr in Gefahr bringen. Das könnte er sich niemals verzeihen. Die Ungewissheit ließ Semir nur das Pedal noch stärker durchdrücken.


    Derweilen, im oberen Stock der Villa, stapft Runge unruhig hin und her. Er musste nachdenken. Musste seine nächsten Schritte planen. Thorsten musterte ihn vom Sofa aus. Er hatte es sich gemütlich gemacht und zog an seiner Zigarette. “Was überlegt du so angestrengt. Wir haben das Geld. Lass die beiden da unten verrecken und wir machen uns ein schönes Leben”.
    “Nein, das wäre zu einfach”. Runge brachte eine guten Plan. Einen besseren Plan. Er musste Rache nehmen. Melanie hatte es ihm in ihren Gesprächen mit ihm im Gefängnis immer wieder eingebläut. Sie mussten leiden. Sie mussten dafür bezahlen, was sie seiner geliebten Melanie angetan hatten. Aber ihm wollte nichts rechtes einfallen. Sie beide in einen Sarg stecken, wie es Wolf schon mal getan hatte? Das würde diesem Jäger bestimmt den Rest geben. Aber das wäre zu einfach und würde ihm nicht die Befriedigung geben, die er suchte. Sie sollten um ihr Leben flehen. Sie sollten leiden. Sie sollten sterben.
    Thorsten riss ihn wieder aus seinen Gedanken. “Aber vielleicht solltest du die Kleine doch lieber mir überlassen. Sie scheint ja ganz süß zu sein. Wie eine Wildkatze”.
    “Jetzt reicht´s” fuhr ihn Marco an, nahm dabei seine Waffe aus dem hinteren Hosenbund und richtete sie voller Wut direkt auf Thorsten. “Wow, ganz ruhig. Ich meinte doch nur…”
    “Halt den Mund! Halt endlich den Mund! Du weist doch überhaupt nicht, worum es hier überhaupt geht” schrie ihn Marco an. Er hatte wirklich kein Ahnung. Und langsam wurde Thorsten ihm auch lästig. Er hatte ihn nur für etwas Unterstützung gebraucht. Den Rest würde er eigentlich auch alleine schaffen. Marco sah nur noch Rot vor Wut. Er entsicherte seine Waffe und drückte einfach ab.
    Ein Schuss durchfuhr die Stille. Thorsten Seeger sank mit ausdruckslosem Blick in sich auf dem Sofa zusammen. Die Kippe in seiner Hand fiel dabei auf den hochflorigen Teppich und glimmte unbemerkt weiter.
    Die quitschenden Reifen eines bremsenden Wagens waren zu vernehmen und so eilte Runge ans Fenster um zu sehen, was sich dort tat. Im Hof konnte er einen silbernen BMW erkennen. Ein Mann stieg aus. Er hatte ebenfalls eine Waffe in der Hand. “Gerkan!” stieß Runge wütend aus und verließ mit schnellen Schritten den Raum. Er bemerkte nicht, das sich durch die zurückgelassene Kippe ein kleines Feuer gebildet hatte, das sich in sekundenschnelle weiter ausbreitete.

  • Nina hatte Bens Kopf auf ihre Beine gebettet und ihre Jacke auf ihn gelegt. Sein Körper zitterte zwischendurch, aber dennoch glühte er vor Fieber. Er schien schon Wahnvorstellungen zu haben, denn er wurde zeitweise immer unruhiger und wand seinen Kopf wild umher während er unverständliche Worte in seinem Schlaf murmelte. Vermutlich war es weniger Schlaf als vielmehr Erschöpfung und Fieber. Zwischendurch stöhnte er auf und das zittern seines Körpers fuhr immer wieder wie Wellen über ihn herein. Nina zerriss es das Herz ihn so zu sehen. Sie konnte im Moment nichts für ihn tun. So strich sie ihm immer und immer wieder über den Kopf, redete ihm beruhigend zu, hielt seine Hand.


    Plötzlich schlug Ben wieder die Augen ein Stück weit auf und blickte sie an. Sie waren trübe und verschleiert. Er schien durch Nina hindurch zu blicken. “Semir wird bald hier sein und dann wird dir geholfen” begann Nina wieder. “Nina, du musst…” wollte Ben ansetzten, doch er brach ab und hustete stark. Ein kleines Rinnsal Blut floss aus seinem Munde. Das war kein gutes Zeichen. Dennoch war es das erste mal, dass er sie direkt ansprach und sich bewusst war, dass sie sich auch im Raum befand. „Nicht sprechen Ben. Streng dich nicht so viel an“ ermahnte ihn Nina. Doch Ben lies sich nicht abbringen. „Bitte, du… du musst fliehen… Lass… lass mich hier und rette dich…“ Er verfing sich wieder in einem Hustenanfall, was nur noch mehr Blut zutage förderte. Ben belasteten seine Gedanken schwer. Wegen ihm war sie nur hier gefangen. Und nur Gott wusste, was auf sie zukommen würde. Runge und sein Gehilfe waren wirklich unberechenbar und schreckten vor nichts zurück. Das musste Ben in den letzten Stunden schmerzlich herausfinden. Und nun war sie hier. Um ihm zu helfen. Er musste sie so schnell wie möglich hier raus schaffen. Aber wie? Er konnte sich aus eigener Kraft nicht einen Zentimeter bewegen. Und er merkte wie er immer schwächer wurde. Ihre einzige Chance war die Flucht.
    Nina war so schockiert von Bens Aussage. Sie nahm sein Gesicht in beide Hände und zwang ihn sie anzusehen. “Ich werde nirgendwo hingehen, hörst du? Ich lasse dich nicht allein. Wir kommen hier raus. Wir werden das schaffen. Gemeinsam! Ich bin bei dir…”
    Ben hörte ihre Worte. Er konnte nichts mehr erwidern. Was sollte er auch sagen. Sie hatte genauso einen Sturkopf wie Semir. So saßen beide da uns sahen sich in die Augen. Es war alles gesagt. Ben brachte ein lächeln zustande und hob seinen Arm um ihr Gesicht zu berühren. Doch seine Bemühungen wurden jäh unterbrochen als ein weiterer Krampfanfall seinen Körper erzittern ließ und er unter Nina besorgtem Blick wieder der Realität entfloh.

  • Semir sah sich in dem Hof um. Er konnte den Transporter von der Raststätte wieder erkennen. Hier war er richtig. Er entsicherte seine Dienstwaffe und begab sich die Treppe hinauf zum Eingang. Langsam öffnete der die Tür. Sie war nicht verschlossen. Semir sah sich kurz im Eingangsbereich um und wollte gerade den ersten Raum betreten, als er eine Bewegung hinter ihm aus dem Augenwinkel vernahm. Runge hatte sich hinter der Tür versteckt und eine riesige Vase in der Hand. Gerade wollte er sie auf Semir niederschmettern. Doch Semir hatte die Aktion gerade noch rechtzeitig bemerkt. Er drehte sich blitzschnell und hob den Arm, sodass die Vase ihn nicht am Kopf traf, sondern an seinem Unterarm zerschellte. Runge bemerkte schnell, dass seine Attacke nicht fruchtete und zog seine Waffe. Nun standen sich beide genau gegenüber, die Waffen aufeinander richtend und keiner war bereit nachzugeben. Semir ergriff das Wort. “Geben Sie auf Runge. Das hat doch alles keinen wert. Sagen Sie mir, wo sie meine Freunde versteckt halten und lassen Sie sie frei. Dann kann ich ein gutes Wort für Sie einlegen. Machen Sie dem ein Ende. Sie haben doch keine Chance mehr”.
    Doch Runge ließ sich von Semir nicht beeindrucken. “Irrtum Gerkan. Sie machen jetzt, was ich sage, oder Sie sehen Ihre Freunde nie wieder!”
    Semir gab sich vermeintlich geschlagen und ließ seine Waffe langsam sinken. Runge sah sich schon als Sieger hervorgehen, als Semir plötzlich seine Waffe wieder anhob und abdrückte. Ein erneuter Schuss hallte durch das Gebäude. Runge stand immer noch da und sah mit weit aufgerissen Augen ungläubig auf Semir und dann an sich herunter auf das Loch in seiner Brust, um das sich langsam ein roter Fleck immer weiter ausbreitete.
    “Tut mir Leid, aber wer meine Freunde bedroht muss dafür büßen”. Semir sah, wie Runge zusammen brach und die Augen langsam schloss. `Endlich hat dieser Alptraum ein Ende´ dachte sich Semir. Dabei war er leider noch lange nicht zu Ende. Doch für Semir war es im Moment die einzig richtige Reaktion gewesen. Und er wusste, er musste schnell handeln. Für Ben und für Nina. Wer weiß, was dieser Kerl noch alles mit ihnen angestellt hätte, wenn er nichts unternommen hätte. Semir hatte ja auf dem Foto schon gesehen wie schlecht es Ben ging. Er brauchte sicher dringend Hilfe. Jetzt musste er die beiden erst einmal suchen. Semir würde als erstes im Keller nachsehen.

  • Als Semir gerade die Kellertür gefunden hatte blieb er noch einmal abrupt sehen. `Was roch denn hier so komisch? So … nach Rauch?´. Semir hatte keine gutes Gefühl. Er ging kurz wieder zurück in den Eingangsbereich und blickte an der Treppe nach oben. Was er sah, ließ ihm den Atem stocken. Das obere Stockwerk stand bereits komplett in Flammen. Irgendetwas musste sich entzündet haben. Das hatte Semir beim eintreffen gar nicht bemerkt. Nun war schnelles handeln gefragt. Er stürmte in den Keller hinunter und durchsuchte die Räume. Irgendwo müssen sie doch sein. Doch jeder Raum war leer. Enttäuschung machte sich in Semir breit. Ganz hinten war die letzte Tür. Sie war verschlossen.


    Semir hämmerte gegen die Tür. „Ben? Nina? Seid ihr da drin?“ Prompt kam die Antwort. „Semir? Gott sei Dank, du bist endlich da. Ja, wir sind hier drin. Die Tür ist verschlossen, ich kann sie nicht öffnen“ kam die dumpfe Stimme von drinnen. Semirs Herz machte einen Satz, als er Ninas Stimme hörte. Endlich hatte er sie gefunden. „Wartet kurz“. Semir suchte die Räume ab, um etwas passendes zu finden die Tür öffnen zu können. Er fand ein Metallrohr. Zwar nicht das idealste, aber es könnte ihm als Brechstange dienen. „Geht bitte von der Tür weg. Ich versuch sie aufzubrechen“. Semir stemmte all seine Kraft hinein und nach einigen Versuchen gab die Tür tatsächlich nach und wurde mit einem lauten Knarren von der Hebelwirkung aufgestoßen.


    “Semir! Endlich bist du da!” fiel ihm Nina sogleich um den Hals und wollte sich gar nicht mehr von ihm lösen. “Wo sind die anderen?”
    “Hilfe ist schon unterwegs. Das SEK müsste gleich da sein”. Seit Semirs eintreffen waren ungefähr 15 Minuten vergangen. Das SEK dürfe bestimmt noch eine halbe Stunde brauchen, bevor sie hier waren. Aber das war im Moment nicht mehr wichtig, denn Semir hatte die Situation ja bereits entschärft. Aber der Rettungsdienst müsste allerdings genauso lang brauchen, bis er eintraf. Das machte ihm im Moment mehr Sorgen. Denn sobald Semir eintraf viel sein Blick auf Ben, der am Boden lag und sich nicht rührte.

  • „Geht es dir gut?“ frage Semir zuerst kurz an Nina gewandt. Doch sie schien äußerlich nicht verletzt zu sein. Nina nickte ohne ein Wort. “Und wie geht es Ben?” fragte Semir, als er sich zu seinem Partner kniete und auf ihn hinab sah. Er sah schlecht aus. “Nicht sehr gut. Er reagiert kaum noch. Sein Puls ist schwach, die Atmung flach. Er hat hohes Fieber. Er muss sofort hier weg”.


    Ben hörte Stimmen um sich herum reden. Er war zwar teilweise wach, konnte aber seine Augen nicht öffnen. Er wurde augenblicklich wieder müde, unterdrückte den Schwindel, der die Mündigkeit begleitete und zwang sich hinzuhören. Hatte er etwa Semirs Stimme gehört? Oder bildete er sich das nur ein? Schließlich hatte er hohes Fieber und das könnte ihm einen Streich spielen. Seine Lunge schien stärker zu schmerzen als je zuvor und er musste wieder stoßweise atmen um irgendwie Luft zu bekommen.


    “Wir müssen Ben sofort hier raus schaffen. Es geht ihm von Minute zu Minute schlechter”. Nina wollte ihn anheben und bemerkte, dass er wach zu sein schien. Dann öffneten sich seine Augen wieder für einen kleinen Spalt. “Hey Ben, Semir ist jetzt hier, siehst du? Wir bringen dich hier raus. Kannst du aufstehen?” Semir kniete sich ebenfalls zu seinem Partner hinunter. Er sah so schrecklich aus. Er war ganz blass. Seine Augen lagen tief. Er schwitzte und zitterte kaum merklich. Doch bewegte er sich keinen Zentimeter. Er starrte nur an die Decke. Semir registrierte, dass Ben sie wohl kaum verstanden hatte. Sie mussten so schnell wie möglich hier raus. Ben merkte noch, dass er gepackt und hochgezogen wurde. Dann schwand wieder alles.


    Rauch hatte sich bereits schon überall gebildet. Das Feuer schien sich rasend schnell auszubreiten. Sobald sie aus der Tür traten stieg ihnen sofort der Rauchgeruch in die Nase. Nina musste sofort husten, denn der Rauch biss ihr in den Lungen und im Hals. “Was ist hier passiert?” fragte sie Semir, der auch bereits zu husten angefangen hatte. “Im oberen Stockwerk ist Feuer ausgebrochen. Ich weiß nicht wie, aber es breitet sich schnell aus. Oben steht schon alles in Flammen. Wir müssen so schnell wie möglich aus dem Gebäude raus”.
    Semir und Nina hasteten die Treppe hoch, mit Ben in ihrer Mitte. Da sie beide nicht besonders groß waren hatten sie Mühe den hochgewachsenen Ben aufrecht zu halten. “Schnell, wir müssen zum Ausgang” schrie Semir. Er wusste, dass sie, je länger sie hier waren, nur noch mehr Rauch einatmen würden. Und das war nicht gut. Mit einer Rauchvergiftung ist nicht zu spaßen. Und das würde ihnen jetzt in dieser Situation gerade noch fehlen. Jede Sekunde zählte. Nun ging alles ganz schnell.

  • “Vorsicht!!!” schrie Nina plötzlich. Ein Balken von der Decke hatte sich durch den Brand gelöst. Nina ließ los und stieß Semir mit Ben im Arm noch mit letzter Kraft von sich, bevor der Balken krachend zu Boden ging. “Nina? Nina!” schrie Semir über das Feuer hinweg. Er konnte sie in dem Rauch nicht mehr erkennen. Die herab gefallenen Trümmerteile von der Decke versperrten ihm zudem jede Sicht.


    “Alles ok!” rief Nina ihm endlich nach einer Ewigkeit zu. “Und bei euch?”. “Ja, alles gut. Ich seh schon die Tür! Was ist mit dir?”, gab Semir zurück. “Der Balken versperrt mir den Weg. Bring Ben zuerst in Sicherheit!”. Semir musste durch den vielen Rauch bereits heftig husten. “Aber…” wollte er entgegen, doch Nina unterbrach ihn. “Los, bring Ben raus! Das ist wichtiger! Vielleicht kann ich…” Ein lautes Krachen ertönte und ein weiterer Balken fiel zu Boden, der nun jeden Kontakt unmöglich machte.


    Semir packte Ben mit all seiner Kraft und schleifte ihn zum Ausgang. An der Tür angekommen nahm er ihn über die Schulter und trug ihn die Eingangstreppen hinunter, raus aus dem brennenden Gebäude. Nach einigen Metern ließ er ihn langsam und bedacht auf den Grünstreifen vor der Villa sinken. Gerade in dem Moment als er sich umdrehen und wieder loslaufen wollte vernahm er einen ohrenbetäubenden Knall! Eine Druckwelle erfasste ihn und warf ihn beinahe zu Boden. “NEIN!… NINA!” schrie er aus voller Seele. “NEIN, nein, nein… das kann nicht sein… das darf nicht sein…” Er blickte auf ein vollkommen in Flammen stehendes und zertrümmertes Haus. Nina! Semir ging ein paar Schritte auf die Villa zu. Sie war noch da drin. Er musste sie holen. Doch Semir kam nicht weit, dann musste er schon seinen Arm heben, denn die Hitze war unbeschreiblich. Er konnte nichts mehr tun. Er starrte fassungslos auf das Inferno. Es war zu spät. Sie hat sich selbst geopfert, damit er Ben retten konnte. Sie hatte ihr Schicksal in seine Hände gelegt. Und nun wer er machtlos. Er hatte kläglich versagt.

  • Einige Sekunden stand Semir noch da und starrte auf die brennende und zerstörte Villa. Doch jetzt galt seine Aufmerksamkeit wieder Ben, der noch immer bewegungslos neben ihm lag. Er kniete sich zu ihm hinunter. Vorsichtig legte er ihm eine Hand auf den Arm. Sofort spürte er die unnatürliche Hitze, die von ihm ausging, verursacht durch das Fieber. Semirs Finger suchten instinktiv an seinem rußgeschwärzten Hals nach dem Herzschlag bevor er sich um die Verletzungen kümmern konnte. Ben stöhnte leicht auf, als er die Berührung spürte und Semir seufzte innerlich. `Memo an mich: Keine Alleingänge mehr für Ben` dachte sich Semir insgeheim. “Keine Angst Ben. Ich bin´s, Semir. Bleib ruhig liegen, Hilfe ist unterwegs” sage er, als Ben Anstalten machte seine Augen wieder zu öffnen. Semir legte seine Hand erst an seine Wange, dann auf seine Stirn. Das Fieber war viel zu hoch. Wahrscheinlich hatte sich die Schusswunde in seiner Schulter entzündet. Die Kugel steckte immer noch drin, denn es war keine Austrittswunde zu sehen. “Ben!” er gab ihm mehrmals ein paar Klapse auf die Wange, doch er erhielt noch keine vernünftige Reaktion. Semir konnte nur ein weiteres Stöhnen vernehmen. “Tut mir Leid, Kumpel. Aber du musst wach bleiben. Nicht einschlafen hörst du? Mach die Augen auf. Sieh mich an”. Es tat Semir ein wenig weh so harsch zu Ben zu sein. Aber wenn er jetzt das Bewusstsein verlor, konnte das Lebensgefährlich sein. Das wusste Semir. Ben öffnete die Augen ein Stück weit und blinzelte Semir an, doch wollte er sie gleich wieder schließen. “Komm schon Ben, bleib wach!”, ermahnte in Semir nochmals und schlug ihm wieder vorsichtig gegen die Wange, bis Ben seinem Befehl endlich folge leistete. “Schön die Augen auflassen, hörst du?”
    “Se…Semi…Semir…?” fragte Ben schwach und versuchte ihn zu fokussieren. “Ja, ich bin´s”, sagte Semir nun etwas zärtlicher. “Du stehst unter Schock. Beweg dich einfach so wenig wie möglich. Die Rettung ist gleich da". “Ahh…” entfuhr es Ben und er wollte seinen Arm zu seiner Schulter heben, die durch die Rettungsaktion arg in Mitleidenschaft gezogen wurde. Doch Semir ließ es nicht zu. “Bleib ganz ruhig” sagte er nochmals sanft. “Wo… Wo ist …Nina?” frage Ben, noch immer total verwirrt. Semir krampfte das Herz bei dieser Frage zusammen. Doch er konnte ihm nicht die Wahrheit sagen. Nicht jetzt. “Shhh, nicht sprechen. Ganz ruhig”, antwortete Semir dagegen nur und strich Ben zur Beruhigung mehrmals über seinen Kopf. Wir sollte er Ben beibringen, dass er ihn gerettet hatte und es dann zu spät war. Ben würde das nie akzeptieren. Außerdem war er jetzt nicht in der Verfassung für solch schlechte Nachrichten. Ben musste erste einmal wieder gesund werden und zu Kräften kommen. Das hatte jetzt oberste Priorität. Bens Muskeln verkrampfen sich sichtbar bei jedem Atemzug und Semir wusste das Ben nicht mehr lange durchhalten würde. Semir konnte von fern schon die Sirenen vernehmen.

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