Tödlicher Wahnsinn

  • So, da ich heute vormittag nicht arbeiten muss, dachte ich mir, ich stelle noch einen Teil ein. Wenn ihr brav seid, kommt heute abend vielleicht noch was, mal sehen. :rolleyes::D
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    „Du hast wohl immer noch nicht genug, Bulle.“
    Lerchs Stimme hatte wieder diesen gefährlichen Ton, der nichts Gutes ahnen ließ.
    „Na gut, du willst es ja nicht anders. Ich schwöre dir, wenn ich mit dir fertig bin, wirst du mir aus der Hand fressen.“
    Ben grinste müde.
    „Darauf kannst du lange warten!
    Er rappelte sich mühsam hoch. Dann wandte er sich zu Bruno.
    „Wieso machst du das mit? Der nützt dich doch nur aus, weil er sich nicht selbst die Hände schmutzig machen will. Du bist doch im Grunde gar nicht so. Du willst das hier alles doch gar nicht.“
    Ben redete auf Bruno ein wie auf ein kleines Kind. Vielleicht konnte er auf seine Seite bringen, dann würde er auch mit Lerch fertig werden. Aber er hatte keinen Erfolg. Bruno stand nur da und grinste dümmlich. Er war irgendwie wie ein Roboter, der nur reagierte, wenn Lerch etwas sagte und ansonsten stumm in der Ecke stand.


    Nun war es Lerch, der sich über Ben´s vergebliche Bemühungen amüsierte.
    „Spar dir das Gesülze, Jäger. Bruno ist mir treu ergeben. Er tut nur das, was ich ihm sage.“
    Er drehte sich zu Bruno um und gab ihm ein Zeichen, worauf dieser auf Ben zutrat und ihm die freie Hand wieder an die Eisenstange kettete. Lerch griff in die Hosentasche, holte seinen Schlagring heraus und streifte ihn langsam über die rechte Hand. Ben wusste, was nun kam.
    Er würde wieder Prügel kassieren.
    Und so, wie er hier stand, mit den Armen festgebunden, die Füße durch eine kurze Kette verbunden, hatte er wiederum nicht die kleinste Chance auf Gegenwehr. Er hatte noch nicht zu Ende gedacht, da trommelten schon die Schläge Lerchs auf ihn ein. Ben hatte das Gefühl, dass der die ganze Wut auf ihn und Semir in die Wucht seiner Schläge legte. Als Lerch endlich von ihm abließ, war sich Ben sicher, nicht einen einzigen heilen Knochen mehr im Leib zu haben. Jeder Atemzug, den er vorsichtig tat, bereitete ihm grässliche Schmerzen. Er war nach der Tortur auf den Boden gesunken, wurde jetzt aber von Bruno wieder brutal auf die Füße gezogen. Als er aufblickte, sah er Lerch, der ein paar Schritte zurück getreten war und nun mit einer Waffe in der Hand vor ihm stand, die er auf ihn richtete.


    Ben konnte sich kaum auf den Beinen halten. ‚Er starrte in den Lauf der Waffe und schluckte. Er spürte, wie die Angst in ihm hoch kroch. Sein Puls raste, seine Kehle wurde trocken.
    War das jetzt das Ende?
    Würde dieser Irre ihn jetzt und hier abknallen wie einen räudigen Hund?

  • Wenn es so war, dann konnte er es nicht ändern. Aber er beschloss, vor Lerch nicht um sein Leben zu winseln und trat die Flucht nach vorn an. Er wusste, dass er von Lerch keine Gnade erwarten konnte, also hatte er absolut nichts zu verlieren. Deshalb nahm er seine verbliebenen Kräfte zusammen, um seine Stimme nicht allzu kläglich klingen zu lassen und blaffte Lerch an:


    „Du bist doch total irre…….schieß doch endlich………oder traust du dich nicht? Na los, schieß schon…..“ Ben stand aufrecht da und schrie die Worte in seiner Verzweiflung hinaus. Wenn Lerch jetzt schoss, dann hatte er wenigstens alles hinter sich. Im Moment war ihm alles egal, wer wusste, was ihm dann alles erspart bleiben würde.


    Lerch stand ruhig da mit der Waffe in der Hand. Nachdem er seine Wut und seinen Hass für den Augenblick an Ben ausgelassen hatte, war er wieder die Ruhe selbst. Grinsend griff er neben sich und drückte den Auslöser der Videokamera.
    „Wir wollen das doch für die Nachwelt festhalten – und für deinen Freund,“ fügte er hinzu. Ben blickte wieder in die irren Augen von Lerch und Sekunden später hörte er einen lauten Knall und spürte gleichzeitig einen scharfen Schmerz an der linken Brust.


    .Die Wucht des Projektils hatte Ben nach hinten geworfen, mit dem malträtierten Rücken gegen die Wand. Ben hätte am liebsten laut geschrien, so groß war der Schmerz, aber er biss die Zähne zusammen und rutschte langsam zu Boden. Mehr erstaunt, als entsetzt sah er auf die Wunde unterhalb des Schlüsselbeins, aus der ziemlich viel Blut floss. Dann blickte er zu Lerch, der breitbeinig vor ihm stand und teuflisch grinste. Er deutete mit dem Finger auf die Kamera neben sich, die immer noch eingeschaltet war.
    „Na, willst du jemanden grüßen, Jäger? Das ist die Gelegenheit, in wenigen Minuten kann man dich im Internet bewundern.“
    Ben starrte sein Gegenüber hasserfüllt an.
    „Sie sind doch irre, einfach nur total irre……“ brachte er mit schmerzverzerrter Stimme mühsam hervor, dann wurde ihm schwindlig. Er schloss die Augen und kämpfte mit aller ihm noch verbliebenen Kraft gegen die drohende Bewusstlosigkeit.

  • „Hier!“
    Semir deutete mit dem Finger auf eine Stelle in der Akte, die vor ihm auf dem Schreibtisch lag und sah Kim Krüger an.
    „In dieser Anstalt sitzt Lerch seit seiner Verurteilung – oder sollte er zumindest. Ich werde jetzt dem Leiter, diesem Becker, mal einen Besuch abstatten und mich nach Victor Lerch erkundigen.“


    Kurze Zeit später saß er zusammen mit Kim Krüger, die darauf bestanden hatte, ihn zu begleiten, vor dem Schreibtisch von Hermann Becker, dem Leiter der Anstalt.
    „Was führt sie zu mir, meine Herrschaften,“ fragte er und lehnte sich in seinem ledernen Schreibtischsessel zurück.


    „Victor Lerch,“ begann Semir ohne Umschweife. „Er müsste meines Wissens hier in ihrer Anstalt sitzen und zwar lebenslang.“
    Becker sah Semir an und überlegte.
    „Einen kleinen Moment bitte, ich lasse die Akte von Lerch kommen.“
    Er drückte eine Taste an seinem Telefon.
    „Frau Gutting, bringen sie mir bitte die Akte Lerch.“


    Keine Minute später kam die Sekretärin herein und legte die Akte auf Beckers Schreibtisch, ehe sie wieder mit schwingenden Hüften den Raum verließ. In einer anderen Situation hätte Semir ihr wahrscheinlich hinterher geschaut, aber heute waren seine Gedanken nur bei Ben.
    Becker hatte sich die Lesebrille aufgesetzt und studierte kurz die Akte.
    „Ja, jetzt weiss ich es wieder,“ begann er und legte die Akte vor sich auf den Tisch.
    „Victor Lerch war fast 6 Jahre hier in unserer Einrichtung.“
    „War?“ unterbrach ihn Semir und zog die Augenbraue hoch.
    „Ja, Herr Lerch hat vorzügliche Fortschritte gemacht. Er hat sehr gut mitgearbeitet und sich ausgezeichnet geführt. Vor einigen Wochen wurde er auf Veranlassung seines Anwaltes einer gründlichen Untersuchung unterzogen, wobei wir zu dem Schluss kamen, dass man ihn ohne weiteres in eine offene Wohngruppe eingliedern konnte. Die Hoffnungen auf eine vollständige Heilung sind ausgezeichnet.“


    Becker hatte seine Brille abgenommen und drehte sie in den Händen, während er sprach. Semir verstand die Welt nicht mehr. Er brauchte einen Moment, um das, was Becker da soeben gesagt hatte, zu verdauen.


    „Wie bitte? Offene Wohngruppe? Lerch ist ein mehrfacher Mörder….!!!“ Semir war etwas laut geworden, als er das sagte und Becker sah ihn missbilligend an.
    „Ja sicher, aber unsere Aufgabe hier ist es nicht, die Menschen unter Verschluss zu halten, wenn es eine andere Möglichkeit gibt. Unser Ziel ist es, sie wieder in ein normales Leben zu integrieren.“ Becker versuchte, sich zu verteidigen.


    Semir war aufgesprungen, stützte sich mit den Händen auf Beckers Schreibtisch und lehnte sich so weit vor, bis er den Anstaltsleiter fast berührte.


    „Integrieren also? Soll ich ihnen mal was sagen? Lerch hat meinen Kollegen entführt und foltert ihn zu Tode. Verstehen Sie das unter Integration??? Was würden Sie sagen, wenn er das mit ihrer Frau oder einem guten Freund von ihnen machen würde? Würden Sie auch dann noch von Integration sprechen????“


    Semir war so wütend, wie schon lange nicht mehr. Sein Freund wurde langsam von diesem Irren umgebracht, und dieser Mann hier, sprach von Ìntegration`.


    Frau Krüger legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm, obwohl auch sie entsetzt war über das, was sie hier hörte.

  • „Herr Becker, wir würden uns gerne die Wohngruppe ansehen. Die Insassen werden dort doch sicher auch betreut, nehme ich mal an.“
    Becker nickte etwas unsicher. „Ja sicher, obwohl……“
    „Obwohl was?“, fragte Semir scharf.
    „Na ja, seit 3 Tagen ist Lerch nicht mehr von einem Ausgang zurückgekommen – und mit ihm sein Mitinsasse Bruno Göppert.“
    Man merkte dem Mann an, dass er sich plötzlich nicht mehr wohl in seiner Haut fühlte. Nervös drehte er seine Brille in den Händen, legte sie auf den Tisch, nur um sie gleich darauf wieder zu greifen.


    „Göppert,“ fuhr Becker zögerlich fort, „Göppert hat sich mit Lerch angefreundet, oder besser gesagt, Lerch mit ihm. Er hat sich in den letzten Wochen vorbildlich um ihn gekümmert. Sie müssen wissen, Göppert war stark gestört, als er zu uns kam. Er spricht bis heute nicht. Nur Lerch brachte es fertig eine Bindung zu ihm aufzubauen.“


    Semir und die Chefin konnten kaum glauben, was sie da soeben gehört hatten. Nicht genug, dass man einen psychisch gestörten Schwerverbrecher in eine offene Wohngruppe steckte, nein, er war auch schon einige Tage verschwunden, ohne dass die Polizei informiert worden war.


    Wortlos drehte sich Semir um und rannte aus dem Raum. Er hielt es keine Sekunde mehr hier aus. Er musste an die frische Luft. Frau Krüger sah ihm kurz nach, dann wandte sie sich noch mal Becker zu.
    „Das wird für sie noch Konsequenzen haben, das verspreche ich ihnen.“
    Dann verließ auch sie den Raum. Auf dem Parkplatz sah sie Semir am Dienstwagen stehen. Er stützte sich mit beiden Händen am Wagen ab und ließ den Kopf hängen. Sie glaubte sogar ein leises Beben seiner Schultern zu erkennen. Semir weinte!


    Es tat ihr in der Seele weh, ihn so zu sehen. Ihr Beamter, der sonst so stark war, stand da wie ein Häufchen Elend. Sie konnte seine Angst um Ben gut nachvollziehen, ihr erging es kaum besser. Sie mussten Ben lebend finden, sie mussten einfach. Ansonsten würde sie zwei gute Beamte verlieren, da war sie sich ganz sicher.


    Sie blieb noch einen kurzen Moment stehen, ehe sie zu Semir ging. Als er sie bemerkte, hob er den Kopf und sah sie an. In seinem Blick lag so viel Verzweiflung und Angst, dass es ihr fast das Herz abschnürte.
    „Chefin…..,“ begann er, aber Kim Krüger legte ihm nur die Hand auf die Schulter und blickte ihm in die feuchten Augen.
    „Semir, wir werden Ben finden, ganz sicher. Etwas anderes dürfen Sie gar nicht in Erwägung ziehen. Wir fahren jetzt in die PAST und hören uns an, was Hartmut rausgefunden hat.“ Semir nickte und setzte sich hinters Steuer. Kim Krüger blickte ihn von der Seite an. „Soll ich nicht lieber fahren?“
    Nun brachte Semir doch ein Lächeln zustande.
    „Nein, lassen sie mal. Für das Schrotten der Dienstwagen bin immer noch ich zuständig.“ Dann startete er den Motor und fuhr in Richtung PAST.


    Hartmut fuhr fast zeitgleich auf den Parkplatz der Dienststelle und stieg aus.
    „Hast du was gefunden?“ überfiel ihn Semir sofort. Er hoffte, nun endlich irgendeinen Anhaltspunkt zu finden, der ihnen half, Ben aufzustöbern.

  • „Lassen Sie uns doch erstmal rein gehen,“ meinte Kim Krüger und deutete auf den Eingang. Im Büro angekommen, saß Susanne wieder an ihrem Schreibtisch. Auf den fragenden Blick von Krüger, meinte sie: „Es geht schon wieder. Entschuldigen Sie bitte meine Reaktion, aber……“
    Die Chefin lächelte ihre Sekretärin an. „Da gibt es doch nichts zu entschuldigen. Aber wäre es nicht besser, wenn sie nach Hause fahren und sich etwas ausruhen?“
    Nun schüttelte Susanne vehement den Kopf.
    „Nein, nein…..ich will lieber hier bleiben und mithelfen, Ben zu finden.“
    Kim Krüger nickte verstehend und wandte sich nun Hartmut zu, der mit Semir einige Schritte entfernt wartete.
    „Herr Freund? Was haben sie herausgefunden?“ Die Chefin, Semir und alle anderen im Raum, blickten den jungen Techniker erwartungsvoll an. Sie hatten alle Hoffnung in das gelegt, was Hartmut eventuell herausgefunden hatte.


    „Na ja,“ Hartmut räusperte sich. „Über den Provider kommen wir nicht an den Kerl ran, aber damit habe ich auch nicht gerechnet. Und das Video……“, Hartmut machte eine kurze Pause und fuhr dann zögerlich fort.
    „Ich hab mir das Video x-mal angesehen – obwohl ich mir das gern erspart hätte.“ Man sah ihm an, dass ihn das, was mit Ben geschah nicht kalt ließ.
    „Und? Hast du was herausgefunden?“ Semir war wie immer ungeduldig. Er brauchte Fakten.
    Hartmut sah ihn an und zuckte die Schultern.
    „Viel ist es nicht. Ich hab jede Sequenz vergrößert, versucht die Hintergrundgeräusche herauszufiltern, aber nichts. Wenigstens nichts, was uns weiterhelfen könnte. Das einzige was ich sagen kann, ist, dass Ben in einem Raum eingesperrt ist, dessen Boden und Wände gekachelt sind. Und hier…..,“ Hartmut hatte inzwischen das mitgebrachte Notebook aufgeklappt und deutete auf das Foto, das er soeben geöffnet hatte.
    „Hier, seht ihr das? An der Decke verlaufen so eine Art Schienen….man kann es nur schlecht erkennen, aber so ist es.“
    Alle, die um ihn herumstanden reckten die Hälse, um sehen zu können, was Hartmut meinte. Dabei fiel ihr Blick natürlich auch auf Ben, der auf dem Bildschirm zu sehen war.
    „Und was heisst das?“
    Wieder war es Semir, der die Frage stellte.
    „Na ja, ich vermute mal, dass es sich hier um einen Schlachthof oder eine Schlachterei handelt. An den Schienen an der Decke werden die Tierhälften transportiert. Und die Kacheln würden auch zu meiner Theorie passen.“
    Er klappte das Notebook wieder zu und hob bedauernd die Hände.
    „Tut mir leid, dass ich nicht mehr sagen kann.“ Hartmut machte ein betroffenes Gesicht. Es wäre ihm auch lieber gewesen, wenn er konkrete Ansagen hätte machen können, die geholfen hätten, Ben so schnell wie möglich zu finden.


    „Semir?“
    Susanne sah von ihrem Bildschirm auf und blickte Semir an, der sie fragend ansah.
    „Hier ist wieder eine mail….“
    Semir sah zur Chefin und ging zögerlich auf Susannes PC zu. Er hatte plötzlich ein flaues Gefühl in der Magengegend. Was würden sie jetzt wieder zu sehen bekommen? Eigentlich wollte er es gar nicht wissen und doch mussten sie sich das Video ansehen. Susanne war aufgestanden und neben ihren Stuhl getreten. Sie fürchtete sich vor dem öffnen des Videoclips.

  • „Ich kann das nicht…..Hartmut bitte……“ flehend sah sie ihren Kollegen an, der sich mit einem kurzen Kopfnicken auf den Stuhl setzte und den Link anklickte, der die email enthielt. Für einen Moment war es im Büro so still, dass man eine Stecknadel hätte fallen hören. Alle starrten gebannt auf den Bildschirm.


    Als das Videoportal sich öffnete, sprang Semir zuerst die Anzahl der Klicks ins Auge: Über 5000 User hatten den Clip mit Ben schon gesehen – und sich wahrscheinlich an seiner Hilflosigkeit und seinen Schmerzen ergötzt.


    In ihm stieg eine immense Wut auf.


    Wut auf Lerch, der Ben das antat.


    Wut auf sich selbst, dass Ben das alles nur wegen ihm durchmachen musste.


    Und Wut auf alle, die sich das angesehen hatten und noch ansehen würden.


    Und letztendlich Wut auf die eigene Hilflosigkeit.



    Dann hatte Hartmut den Clip gestartet. Im ersten Moment war Semir erleichtert. Ben stand aufrecht da und wirkte nicht so, als ob er schwerer verletzt wäre. Er hatte zwar einige Blessuren im Gesicht, aber er stand auf seinen eigenen Beinen da. Er war nicht mehr an die Decke gekettet, sondern mit beiden Armen an eine Eisenstange, die hinter ihm an der Wand verlief. Semir sah auch, dass Ben wütend war und hörte dann die Worte „Schieß doch endlich……“ Bei den Worten, die Ben ausstieß, zuckte Semir augenblicklich zusammen und schon in der nächsten Sekunde hörte man einen Schuss. Ben wurde an die Wand geworfen und rutschte zu Boden. Auf seiner linken Seite sah man deutlich ein kleines Loch, aus dem Blut floss. Ben sagte noch etwas, was man aber nicht verstand, dann fiel sein Kopf auf die Brust.


    „Oh mein Gott………“ Susanne stieß einen entsetzten Schrei aus, drehte sich um und verließ fluchtartig den Raum.


    Semir stand wie versteinert da! Er schluckte ein paar Mal, um die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Er konnte einfach nicht fassen, was er da eben gesehen hatte. Dieser Lerch hatte Ben einfach niedergeschossen – vielleicht war Ben soeben vor aller Augen gestorben.


    Doch plötzlich kam Leben in ihn.


    „ Wir haben lange genug untätig herumgesessen. Wir werden jetzt alle Schlachthöfe und Metzgereien in Köln und Umgebung abklappern. Wir werden Ben finden!“


    Zur Bekräftigung seiner Worte hatte er mit der Faust auf Susannes Schreibtisch geschlagen, dass alle Anwesenden erschrocken zusammenzuckten.


    „Nein!“
    Semir ruckte zur Chefin herum, die das vernichtende Wort soeben ausgestossen hatte.
    „Wenn wir das tun und Lerch merkt, dass wir ihn schnappen, dann wird er Ben töten. Das ist viel zu gefährlich.“


    Semir starrte die Chefin verständnislos an. Dann zeigte er mit der flachen Hand auf den Bildschirm, auf dem man noch immer das Foto von Ben sah.


    „Vielleicht hat er ihn schon getötet? Und wenn Ben noch lebt, müssen wir so schnell wie möglich handeln! Es ist wohl jedem hier klar, dass Ben´s Uhr abläuft. Lerch wird keine Skrupel haben, Ben zu töten – so oder so! Wir müssen was tun!“


    Semir war laut geworden, als er das sagte. Er blickte Kim Krüger an und fügte etwas leiser hinzu: „Bitte!“


    Sein flehender Blick drückte die ganze Angst um Ben und seine Hilflosigkeit aus.

  • Kim Krüger überlegte kurz, ehe sie langsam nickte.
    „Also gut. Ich werde sämtliche verfügbaren Männer mobilisieren. Herzberger, sie machen eine Liste aller Objekte, die in Frage kommen – Bonrath, sie kümmern sich um Susanne.


    „Das ist nicht nötig,“ kam es leise von der Tür. Niemand hatte bemerkt, dass Susanne wieder zurückgekommen war. Ihr Make-up war verschmiert, aber sie wirkte gefasst.


    „Ich werde das machen Hotte, ich glaube ich kann das etwas besser.“
    Susanne lächelte tapfer und setzte sich an den PC. Sie warf noch einen letzten Blick auf Ben, ehe sie die Seite abklickte und mit der Arbeit begann.


    Die Chefin lächelte erleichtert.
    „Na dann kanns ja losgehen. Herzberger, Bonrath, sie werden dann einen Suchtrupp leiten. Sobald Susanne die Liste hat, kommen sie alle in mein Büro, damit wir den Einsatz koordinieren können. An die Arbeit meine Herren.“


    Semir war froh, dass endlich Bewegung in die Sache kam. Er hoffte, dass es nur noch kurze Zeit dauern würde, bis sie Ben gefunden hatten. Und obwohl er mit der Kirche eigentlich nichts am Hut hatte, ertappte er sich im Stillen dabei, wie er ein kurzes Stoßgebet zum Himmel schickte, dass Ben dann noch leben möge.



    Ben saß auf den kalten Fließen und hatte alle Mühe, nicht wegzutreten. Die Schusswunde blutete immer noch und tat höllisch weh, sein geschundener Rücken brannte wie Feuer, da waren ihm die kalten Kacheln der Wand gerade recht, so konnte er wenigstens die brennenden Striemen, die die Peitsche hinterlassen hatten, etwas kühlen. Er fragte sich, was Lerch und dieser Bruno noch alles mit ihm anstellen würden. Viel schlimmer konnte es ja nicht mehr kommen, oder etwa doch?


    „Bruno, du kommst mit mir. Wir werden uns einen Nachfolger für Jäger aussuchen. Ich fürchte, dass wir uns bald von ihm verabschieden müssen. Und wir wollen doch nicht, dass Gerkhan auf seine Videos verzichten muss.“
    Verächtlich blickte er auf Ben herab, der mehr tot als lebendig vor ihm auf dem Boden saß.


    Als Ben die Worte hörte, hob er kurz den Kopf. Die Kerle wollten also schon ihr nächstes Opfer aussuchen. Das durfte nicht sein. Es reichte, wenn er hier krepierte, aber zu wissen, dass einem seiner Kollegen und Freunde das gleiche Schicksal beschieden sein sollte, das machte ihn fertig. Mit letzter Kraft zerrte er an seinen Fesseln. Aber es lag nicht wirklich Kraft in seinen Bewegungen, er spürte, dass er nicht mehr lange durchhalten würde, dass mit jeder Stunde, die er hier verbringen musste, seine Chance auf ein Weiterleben dahinschmolz. Langsam begann er zu resignieren.


    „Ihr Schweine…..“ mehr brachte er nicht mehr heraus, ehe er endgültig in der Bewusstlosigkeit versank.


    Lerch ließ die Kamera noch etwas laufen und hielt das Objektiv nah an Ben, damit man ihn in Großaufnahme sehen konnte. Er spürte Genugtuung, wenn er daran dachte, wie Semir Gerkhan sich diese Bilder ansehen musste. Zu gerne wäre er dabei gewesen.


    „Hier ist die Liste.“
    Susanne war in Kim Krügers Büro getreten und legte ihr den Computerausdruck auf den Tisch.
    „Ich habe alle Schlachthöfe und Metzgereien in Köln und Umgebung aufgelistet. Zuerst die, die nicht mehr in Betrieb sind und da unten auch noch die anderen.“

  • Kim Krüger nahm die Liste und sah sie kurz durch.
    „Gut gemacht, Susanne, damit haben wir eine reelle Chance, Ben zu finden.“
    Susanne stand mit hängendem Kopf vor ihr. Die Chefin merkte, dass sie etwas sagen wollte und ließ ihr einen Moment Zeit.
    „Frau Krüger……..bitte…….ich meine……bitte finden Sie Ben lebend. Ich…..wir beide……naja,…..“
    Susanne stockte und kämpfte mit den Tränen. Sie hatte sich zwar fest vorgenommen, sich zusammen zu reissen, aber wenn sie an die Videos dachte, die sie von Ben gesehen hatte, dann wurde die Angst um ihn übermächtig.
    Kim Krüger war um ihren Schreibtisch herum gekommen und legte Susanne den Arm um die Schulter.
    „Wir werden alles tun, um Ben zu finden, Susanne, das verspreche ich ihnen. Und ich bin mir sicher, dass wir ihn lebend finden. Ben gibt nicht so leicht auf, das wissen sie. Er wird es schaffen.“


    Die Worte, die Kim Krüger zu Susanne sprach, sollten nicht nur die Sekretärin, sondern auch sie selbst beruhigen und ihr Mut machen. Sie war nämlich absolut nicht sicher, dass diese Sache für Ben noch gut ausgehen würde. Aber solange auch nur die kleinste Chance bestand, Ben lebend zu finden, durften sie nicht den Mut verlieren – sonst war auch Ben verloren.


    Susanne blickte ihrer Chefin in die Augen und nickte erleichtert.
    „Danke! Ja, er wird es schaffen, ganz bestimmt.“ Stieß sie erleichtert aus und verließ das Büro.


    Die Chefin rief schnell ihre verfügbaren Einsatzkräfte zusammen, teilte die Liste auf und innerhalb kürzester Zeit waren alle Beamten unterwegs, um ihren Kollegen zu suchen.


    Auch Semir war in seinen Dienstwagen gesprungen, um zusammen mit Dieter und Hotte, die hinter ihm fuhren, ein paar der Objekte abzuklappern. Er hoffte inständig, dass sie Ben bald finden würden. Und dann würde er sich diesen Lerch vorknöpfen! Er war so in Gedanken versunken, dass er beinahe die rote Ampel übersehen hätte und stieg in die Eisen. Hinter ihm tat Dieter das selbe, um nicht auf Semirs Wagen aufzufahren.
    „Verdammt noch mal, was soll das denn?“ Dieter fuchtelte wild mit den Armen.
    Semir drehte sich um und hob bedauernd die Schulter, als er Dieter wild gestikulieren sah. Er drehte sich wieder um und sah gerade noch den dunklen Van, der aus der Seitenstraße einbog……und erstarrte!
    Er hatte Lerch gesehen! Das war eindeutig Lerch gewesen, der den Wagen gefahren hatte. In den letzten Stunden hatte sich das Bild des Kerls förmlich in Semirs Gehirn gebrannt. Er war sich hundertprozentig sicher!


    Ohne Rücksicht auf die anderen Verkehrsteilnehmer, ließ er den Motor aufheulen, knallte den Gang rein und wendete mitten auf der Kreuzung, um dem Wagen zu folgen.
    Prompt plärrte aus dem Funk Dieters Stimme:
    „Semir – spinnst du?“ Dieter war offenbar völlig aus der Fassung über Semirs Aktion.
    Während Semir gebannt auf die Straße starrte, um den Wagen nicht aus den Augen zu verlieren, schnappte er sich das Funkgerät.


    „Das war eben Lerch, ich habe ihn gesehen! Er fährt Richtung Innenstadt! Wir müssen ihn kriegen!“ Mehr sagte Semir nicht, er hatte alle Mühe, dem Van in dem Verkehrsgetümmel zu folgen.

  • Hotte sah Dieter an.
    „Na los, hinterher!“
    Er hatte noch nicht ausgesprochen, da hatte auch Dieter die Richtung gewechselt, nicht ohne ein wildes Hupkonzert und einige Blechschäden hinter sich zu lassen. Aber das war im Moment zweitrangig. Er war sich sicher, dass selbst die Staatsanwältin diese gewagte Aktion verstehen würde. Es ging ja schließlich um Ben! Und wenn es nicht so war, dann wars ihm auch egal. Ben war wichtiger, als irgendwelche Dienstvorschriften oder Konsequenzen, die er danach zu tragen hatte.


    Die rasante Verfolgungsjagd ging über die Straßen Kölns, bis zum Stadtrand, wo schließlich ein LKW dem dramatischen Rennen ein jähes Ende bereitete. Lerch, der seinen Verfolger bemerkt hatte, versuchte natürlich zu entkommen und trieb seinen Wagen mit Höchstgeschwindigkeit über die Straße. Es grenzte fast an ein Wunder, dass dabei kein Mensch zu Schaden kam, aber die Schneise der Verwüstung, die er und Semir hinter sich herzogen, war beträchtlich. Schließlich passierte es! Lerch sah gerade nach hinten, um abzuschätzen, wie weit Semir noch von ihm weg war, als genau in dem Moment ein LKW die Straße kreuzte. Lerch versuchte zwar noch auszuweichen, aber er schaffte es nicht mehr und knallte mit voller Wucht unter den LKW. Es gab einen ohrenbetäubenden Knall und die Funken sprühten. Semir, der knapp 100 m hinter Lerch gefahren war, kurbelte wild am Lenkrad und stieg voll auf die Bremse, so dass sein Wagen kurz vor der Unfallstelle zum Stehen kam.


    Einen Moment musste er kurz durchatmen, ehe er aus dem Auto stieg und zu dem völlig demolierten Van rannte. Der Beifahrer Lerchs hing schlaff im Sitz, den Kopf im Nacken, und man musste kein Arzt sein, um zu erkennen, dass für ihn jede Hilfe zu spät kam, er hatte offenbar das Genick gebrochen.


    Aber Lerch war noch am Leben. Er war anscheinend schwer verletzt, aber bei Bewusstsein, denn er starrte Semir an und plötzlich ging ein spöttisches Grinsen über sein Gesicht.
    Semir beugte sich über ihn.
    „Wo ist Ben? Wo ist mein Partner? Rede mit mir!“
    Mit jedem Wort war Semir lauter geworden.
    Lerch grinste immer noch, aber man sah ihm an, dass er starke Schmerzen hatte.
    „Dein Partner wird sterben, Gerkhan,“ flüsterte er schwach.
    „Er wird sterben und du wirst ihm nicht helfen können. Du wirst ihn nicht rechtzeitig finden…….“
    Lerchs Stimme wurde immer schwächer und Semir überfiel Panik. Wenn Lerch jetzt starb, dann hatten sie so gut wie keine Chance, Ben zu finden. Verzweifelt packte er den Verletzten am Kragen.
    „Wo ist Ben! Sag es mir, oder ich werde es aus dir herausprügeln!“
    Semir war wie von Sinnen. Die Angst um Ben ließ ihn nicht mehr klar denken.


    Plötzlich spürte er, wie er von zwei starken Armen zurückgezogen wurde. Dieter, der inzwischen mit Hotte ebenfalls am Unfallort angekommen war, versuchte, ihn von Lerch wegzuzerren.


    „Semir, das hat doch keinen Sinn, er ist tot.“


    Wütend schüttelte Semir Dieters Hände ab und sah entsetzt auf Lerch. Der hatte die Augen geöffnet und aus seinem Mundwinkel lief ein dünner Blutfaden. Aber selbst im Tod sah man ihm den Triumph noch an, den er verspürt hatte, kurz bevor er starb.

  • Semir stand einen Moment wie versteinert da. Alles, was um ihn herum passierte, die Kollegen, die gerade dazugekommen waren, der Krankenwagen, der mit Blaulicht heranfuhr, die Passanten, die in einem dichten Kreis in einiger Entfernung dastanden und gafften, alles das nahm er nicht wahr.

    Lerch war tot!


    Er konnte ihnen nicht mehr sagen, wo er Ben versteckt hielt. Wie sollten sie ihn jetzt finden? Die Verzweiflung trieb ihm die Tränen ins Gesicht. Alles, was sie bisher getan hatten, um Ben zu retten, war schief gelaufen. Ben lag irgendwo schwer verletzt da und wartete auf Rettung und er, Semir, hatte bisher kläglich versagt! Wenn Ben starb, würde sich Semir das niemals verzeihen. Verzweifelt wischte sich Semir mit dem Ärmel seiner Jacke die Tränen aus dem Gesicht. Wie in Trance ging er zu seinem Dienstwagen, wo er sich auf den Fahrersitz sinken ließ und die Hände vors Gesicht schlug.


    Es war vorbei!
    Sie würden Ben niemals rechtzeitig finden!
    Er, Semir, hatte die einzige Chance verspielt!



    Ben wachte auf und fror entsetzlich. Gleichzeitig war ihm siedend heiß. Er blickte sich verständnislos um. Wo war er hier? Was war passiert? Nur bruchstückhaft kam die Erinnerung wieder zurück.
    Die Erinnerung an Lerch und Bruno.
    Die Erinnerung an die Folter, die er hatte erleiden müssen.
    Und die Erinnerung an die Worte Lerchs, dass er einen seiner Kollegen holen wollte, um ihn ebenfalls zu Tode zu foltern.


    Dieser Gedanke ließ Ben urplötzlich hellwach werden und mit den klaren Gedanken kamen auch die Schmerzen wieder mit aller Macht zurück, die seinen ganzen Körper durchzogen. Er drehte den Kopf und sah auf die Schusswunde oberhalb seiner linken Brust. Die Wundränder waren stark gerötet, aber es blutete nicht mehr. Sein Rücken war zu einer einzigen, schmerzenden Fläche geworden. Ben biss die Zähne zusammen. Er spürte Wut in sich aufsteigen. Verzweifelt zerrte er an den stählernen Fesseln, mit denen seine Arme immer noch an die Eisenstange gekettet waren. Irgendwie musste es doch möglich sein, die Dinger loszubekommen. Mit aller Kraft, die ihm verblieben war, riss und zerrte er daran, bis ihm die Handgelenke schmerzten. Er stieß einen wütenden Schrei aus und sackte schließlich kraftlos zusammen.


    Wie lange war er eigentlich schon hier?
    Und wann würden seine Peiniger wieder zurückkommen?
    Er wusste nicht, wie viel Zeit verstrichen war, seit die beiden verschwunden waren. Eigentlich verspürte er keine Lust, die beiden wieder zu sehen, andererseits wäre dann wenigstens jemand hier gewesen, der ihm zu trinken gegeben hätte. Denn er verspürte plötzlich unbändigen Durst. Seine Kehle war trocken und rau wie Schleifpapier und seine Lippen waren rissig und aufgesprungen. Sein Blick suchte die Wasserflasche, die nicht weit von ihm in der Ecke stand. Es waren nicht einmal 2 Meter, aber für ihn hätte sie auch auf dem Mond stehen können – sie war unerreichbar. Der Blick auf das köstliche Nass, das seinen Durst hätte stillen können, ließ ihn schier verzweifeln.
    Es hatte doch alles keinen Zweck mehr.
    Wozu sollte er noch kämpfen?
    Spätestens, wenn Lerch und Bruno zurück kamen, würden sie ihn töten, um sich den nächsten seiner Kollegen vorzunehmen.

  • Er hatte mit Semir schon so manche brenzlige Situation durchgestanden, aber hier gab es wohl kein Entkommen. Sein Schicksal war besiegelt.


    Der Gedanke an Semir ließ ein Lächeln über sein Gesicht huschen. Semir war ihm zum Freund geworden, zum besten Freund, den er je hatte. Und ausgerechnet die Freundschaft zu Semir sollte ihm jetzt zum Verhängnis werden. Es war einfach grotesk. Genau genommen, saß er ja nur deshalb hier und wartete auf sein Ende. Er hoffte nur, dass Semir sich nicht allzu große Vorwürfe machen würde. Er konnte ja nichts dafür. Was würde er darum geben, ihm das noch sagen zu können?


    Ben spürte, wie sich in seinem Hals ein großer Kloß bildete. Er spürte die Tränen aufsteigen, die sich ihren Weg nach draußen bahnen wollten – und nach anfänglichem Zögern ließ er ihnen freien Lauf. Die Tränen liefen ihm über das geschundene Gesicht, er spürte den salzigen Geschmack auf den Lippen. Ben schloss die Augen, sah Semir im Geiste vor sich und flüsterte:
    „Du kannst nichts dafür, Partner! Mach dir keine Vorwürfe! Du kannst nichts dafür!“

    Wie er Semir kannte, würde der nach seinem Tod alles tun, um ihn zu rächen und sich dadurch wahrscheinlich selbst in große Gefahr bringen. Und das wollte Ben nicht. Semir sollte leben. Leben für Andrea und die Kinder. So gesehen war es sogar gut, dass Lerch sich nicht Semir, sondern ihn gegriffen hatte. Er würde an Semirs Stelle sterben und es machte ihm nicht einmal etwas aus. Er gab sein Leben gerne für seinen Freund und er wusste, dass dieser es für ihn auch getan hätte. Es tat ihm nur leid, dass er nicht mehr miterleben konnte, wie sein Patenkind Layla und ihre Schwester Aida groß wurden. Und es tat ihm leid, nicht mehr erleben zu dürfen, irgendwann ein eigenes Kind in den Armen zu halten. Vielleicht das Kind, dass ihm Susanne irgendwann geschenkt hätte. Bei dem Gedanken an Susanne krampfte sich sein Herz zusammen. Sie hatten sich in letzter Zeit angenähert und aus der anfänglichen Freundschaft und Sympathie hätte Liebe werden können, wenn sie nur noch mehr Zeit gehabt hätten. Aber wahrscheinlich sollte es einfach nicht sein.



    Zurück in der Dienststelle ging Semir in das Büro, dass er mit Ben teilte. Der Aktenberg, den er Ben hatte aufs Auge drücken wollte, lag immer noch auf dem Schreibtisch und wartete, dass sich jemand seiner erbarmte. Bei seinem Anblick stieß Semir einen wütenden Schrei aus und fegte die Papiere mit dem Arm vom Tisch, so dass sie sich im ganzen Raum verteilten. Er knallte mit der Faust auf die Schreibtischplatte, dass sämtliche Utensilien, die noch da lagen, durcheinander gewirbelt wurden und schließlich auf dem Boden landeten. Semir war wie von Sinnen. Seine ganze Angst um Ben entlud sich in diesem Wutausbruch, bis er schließlich auf Ben´s Stuhl sank und das Gesicht in den Händen vergrub.

  • Durch den Lärm, den er veranstaltet hatte, waren natürlich die Kollegen aufmerksam geworden und Dieter blickte vorsichtig durch die Tür. Er sah Semir wie ein Häufchen Elend an Ben´s Schreibtisch sitzen, ging zu ihm und legte ihm zögerlich die Hand auf die Schulter.
    „Semir.“
    Mehr sagte er nicht. Was sollte er auch sagen? Dass sie Ben finden würden? So langsam glaubte niemand der Kollegen mehr, dass ihnen das rechtzeitig gelingen würde. Ben war nun schon fast 4 Tage verschwunden und davon waren 2 Tage vergangen, seit er angeschossen worden war und keiner wusste, wie lange Ben mit der Verletzung durchhalten würde. Die Suchaktion in den Schlachtereien hatte keinen Erfolg gehabt. Einen anderen Anhaltspunkt hatten sie nicht. Wie sollte er Semir dann trösten?


    Semir blickte auf und sah, dass die Kollegen vor seinem Büro standen und ihn mitleidig ansahen. Hartmut räusperte sich.
    „Semir, es tut mir leid, ich dachte wirklich, dass das ein Anhaltspunkt wäre, aber…….“ Er hob bedauernd die Schultern. Hartmut war am Ende seines Lateins, auch er wusste momentan keinen Rat mehr, und das kam selten vor.


    „Wir haben ganz Köln und Umgebung umgekrempelt – nichts,“ meldete sich jetzt auch Hotte zu Wort. Ich weiss nicht, wo wir noch suchen könnten.


    Plötzlich straffte sich Semir. Natürlich, wieso war er nicht schon eher darauf gekommen? In seinem Blick lag auf einmal wieder etwas Hoffnung, als er in die Runde blickte.
    „Wieso nur Köln und Umgebung? Wer sagt uns denn, dass Lerch Ben hier versteckt hat? Vielleicht hat er ihn weiter weggebracht, nach Düsseldorf oder Bonn? Wir müssen die Suche ausweiten.“


    Entgeistert sahen ihn die anderen an. Daran hatte noch niemand gedacht.
    „Aber wir können doch nicht ganz NRW absuchen,“ warf Dieter ein.
    „Und warum nicht? Wenn es sein muss, werde ich die ganze BRD absuchen, bis ich Ben gefunden habe und wenn ich es alleine tun muss.“ Semirs Stimme klang schärfer, als er das gewollt hatte, aber er war dazu entschlossen. Sie durften nicht aufgeben.


    „Nun mal langsam, meine Herren. Keine Schnellschüsse bitte. Wenn wir wie die kopflosen Hühner durcheinander rennen, dann bringt das auch nichts. Aber Semir hat Recht. Ben kann überall sein. Aber wir müssen überlegt vorgehen. Herr Jäger muss schnellstmöglich gefunden werden. Viel Zeit haben wir nicht mehr.“


    Kim Krüger war dazu getreten und sah zu Semir, der ihr dankbar zunickte.


    „Was schlagen sie vor, Chefin?“ fragte er und war gespannt auf ihren Vorschlag.
    Semir blickte seine Chefin verblüfft an. Anfangs war er von ihr nicht so begeistert gewesen und hatte lange Anna Engelhardt nachgetrauert, aber jetzt bewies sie wieder einmal, dass ihr das Wohlergehen ihrer Mitarbeiter sehr wohl am Herzen lag und sie voll hinter ihren Leuten stand.
    „Wir werden die Kollegen in den umliegenden Städten um Hilfe bitten und ausserdem einen Aufruf im Fernsehen starten. Vielleicht hat jemand den Wagen Lerchs oder Lerch und seinen Kompagnon selbst, in den letzten Tagen in der Nähe einer Schlachterei gesehen. Wir müssen nach jedem Strohhalm greifen, der sich uns bietet. Den Aufruf habe ich übrigens schon in die Wege geleitet, er wird in einer halben Stunde gesendet.“

  • „Danke, Chefin,“ meinte er und lächelte sie an.
    „Und das hier…..,“ er zeigte mit einer ausschweifenden Handbewegung auf das Chaos, das er angerichtet hatte, „….das werde ich natürlich wieder aufräumen, versprochen.“


    Nun musste auch Kim Krüger lächeln.
    „Ich nehme sie beim Wort, Gerkhan. Aber nun an die Arbeit.“


    Es begann eine groß angelegte Suche nach Ben. Zuerst einmal mussten alle in Frage kommenden Objekte bestimmt werden. Anschließend wurden alle Reviere Nordrhein Westfalens informiert und um Mithilfe gebeten. Den Aufruf im Fernsehen verfolgten alle Kollegen und hofften, so schneller eine Spur von Ben zu finden.


    In einem Vorort von Bonn saß zur gleichen Zeit der 12-jährige Oliver mit seinen Eltern vor dem Fernsehgerät und sah die Nachrichten. Der Junge war ziemlich sauer, weil auf dem anderen Programm seine Lieblingsserie ausgestrahlt wurde, aber wenn seine Eltern Nachrichten sahen, dann musste er sich eben gedulden. Sein Vater meinte immer: „Junge, man muss doch wissen, was in der Welt vor sich geht. Das schadet nie. Wer weiss, wofür es mal gut ist.“


    Oliver konnte den Spruch seines Vaters nicht mehr hören, deshalb ergab er sich allabendlich in sein Schicksal und sah sich mit den Eltern das Neueste vom Tage an, wenn auch missmutig. Er schielte gerade unauffällig zur Uhr, als die blonde Nachrichtensprecherin noch etwas anfügte.


    „Und hier noch eine Suchmeldung der Kölner Autobahnpolizei. Vermisst wird seit 4 Tagen Hauptkommissar Ben Jäger von der Kölner Autobahnpolizei. Er wurde entführt und wird vermutlich in einem stillgelegten Schlachthof oder einer ähnlichen Räumlichkeit im weiteren Umkreis von Köln festgehalten. Die beiden Entführer kamen heute bei einer Verfolgungsjagd ums Leben und konnten keine Angaben mehr über den Aufenthaltsort von Herrn Jäger machen. Da man aus sicherer Quelle weiss, dass der Beamte schwer verletzt ist, ist es wichtig, ihn schnell zu finden. Deshalb bitten seine Kollegen um ihre Mithilfe.


    Wer hat in den letzten Tagen diesen schwarzen Van oder einen dieser beiden Männer vor einem in Frage kommenden Gebäude gesehen?“
    Oliver starrte plötzlich wie gebannt auf den Bildschirm, als Fotos des Wagens und der Entführer gezeigt wurden. Zuerst glaubte er, sich zu irren, aber dann war er mit einem Mal ganz sicher: er hatte den Wagen gesehen und auch einen der Männer.


    „Wir bitten Sie, sich bei der Polizei zu melden, wenn sie sachdienliche Hinweise machen können. Und nun wünschen wir Ihnen noch einen schönen Abend.“
    „Papa!“
    Oliver zupfte seinen Vater am Ärmel.
    „Ja, mein Junge, jetzt kannst du deine Sendung zu Ende sehen, wie versprochen,“ meinte sein Vater und schaltete auf das gewünschte Programm.


    „Papa – ich hab das Auto und einen der Männer gesehen.“ Oliver war ganz aufgeregt und sah seine Eltern erwartungsvoll an.


    „Aber Junge, was redest du da? Wo willst du das denn gesehen haben?“
    Olivers Vater schüttelte missbilligend den Kopf. Der Junge hatte einfach zu viel Fantasie.

  • Oliver war aufgestanden und hatte sich vor seinen Eltern aufgebaut.
    „Aber ich habs wirklich gesehen – bei dem alten Gasthof! Und der hatte doch auch eine Schlachterei, oder etwa nicht? Ich bin ein paar Mal mit Jan zusammen mit dem Fahrrad dort gewesen. Als die Männer kamen, haben wir uns immer versteckt. Wir haben uns auch noch gewundert, was die da machen, haben uns aber dann doch nicht getraut, nachzusehen.“ Als Oliver merkte, dass ihn seine Eltern nicht für voll nahmen, fügte er hinzu: „Bitte, es stimmt. Wir müssen zur Polizei! Vielleicht können wir helfen, den Mann zu finden.“ Flehend und schon fast etwas verzweifelt sah er seine Eltern an.


    „Also gut, rufen wir dort an.“ Olivers Vater glaubte inzwischen auch, dass an der Sache was dran sein könnte. Sein Sohn sah nicht so aus, als ob er Spass machen würde. Es kostete ja nur einen Anruf. Er griff zum Telefon und wählte die 110.


    Ben ging es inzwischen gar nicht gut. Schüttelfrost ließ ihn erzittern, während er gleichzeitig meinte, zu verglühen. Der Durst war übermächtig geworden. Ben versuchte, etwas Speichel zu bilden, um wenigstens etwas Feuchtigkeit zu bekommen, aber eigentlich hatte er aufgegeben. Er glaubte einfach nicht mehr daran, gefunden zu werden. Irgendwann vielleicht, aber bis dahin würde Semir wohl nur noch seine Überreste finden. Es war für ihn schon fast eine kleine Ewigkeit vergangen, seit Lerch und Bruno ihn alleine gelassen hatten. Irgendetwas musste passiert sein, sonst wären sie schon längst wieder aufgetaucht. Und alles wäre Ben jetzt lieber gewesen, jede Quälerei hätte er gerne in Kauf genommen, wenn er nur einen Schluck Wasser bekommen hätte. Er hatte fast nicht einmal mehr die Kraft, den Kopf zu heben. Resignierend hoffte er nur noch, dass es nicht mehr allzu lange dauern würde, bis es vorbei war, bis er endlich die Schmerzen und den Durst nicht mehr spüren musste.


    Susanne hatte die Tür zum Büro der Chefin aufgerissen, in dem auch Semir saß und rief aufgeregt: „Semir komm schnell, die Notrufzentrale hat einen Anruf durchgestellt. Da weiss vielleicht jemand, wo Ben ist……!“
    Semir sprang wie von der Tarantel gestochen auf und rannte zu Susannes Telefon.
    „Gerkhan, Kripo Autobahn – Sie wissen, wo mein Kollege ist?“
    Er hörte eine ganze Weile zu, ohne etwas zu sagen und auch die Kollegen hatten inne gehalten und warteten gespannt, darauf was Semir erfahren hatte.


    Als Semir schließlich auflegte, huschte ein freudiges Lächeln über sein Gesicht.
    „Ein Herr Krapp hat angerufen – sein Sohn hat den Van und einen der Männer gesehen……..in der Nähe von Bonn bei einem alten Gasthof. Ich fahr da sofort hin, in einer halben Stunde treffen wir uns da.“
    Semir wollte schon aus dem Büro stürmen, als ihn die Chefin zurückhielt.
    „Ich komme mit Ihnen. Bonrath, Herzberger, sie fahren uns hinterher. Unterwegs werden wir den RTW und den Notarzt benachrichtigen – ich fürchte, den brauchen wir.“

  • Es waren keine 2 Minuten seit dem Anruf vergangen, als die PAST bis auf Susanne und zwei weitere Mitarbeiter vollkommen verlassen war. Susanne wäre nur allzu gerne mitgefahren, aber irgendjemand musste ja die Stellung halten. Die Chefin hatte ihr versprochen, sie sofort zu informieren, wenn sie Ben gefunden hatten. Sie schickte ein Stossgebet nach dem anderen zum Himmel, in dem sie um Bens Rettung bat.


    Die Fahrt nach Bonn verlief schweigend. Semir lenkte den Wagen konzentriert und fuhr so schnell, wie er es nur irgendwie verantworten konnte. Kim Krüger saß auf dem Beifahrersitz und hing auch ihren Gedanken nach. Ab und zu blickte sie kurz zu ihrem Beamten hinüber. Sie konnte förmlich sehen, wie es in Semirs Kopf arbeitete. Insgeheim befürchtete sie, dass die Rettung für Ben zu spät kommen würde. Wie würde Semir darauf reagieren? Sie wusste, dass er schon drei Partner verloren hatte und war sich sicher, dass er das nicht noch einmal durchstehen würde. Sie wusste von den Kollegen, wie ihm der Tod Tom Kranichs damals zu Herzen gegangen war. Er selbst hatte nie darüber gesprochen. Aber sie hatte einmal mit Semirs Frau Andrea gesprochen, die ihr alles erzählt hatte. Sie wusste von ihr auch, dass die Freundschaft zwischen Semir und Ben genauso intensiv war, wie damals zwischen Tom Kranich und Semir. Würde er noch einmal einen solchen Verlust überwinden? Sie musste sich eingestehen, dass sie Angst um alle beide hatte und wünschte sich nichts sehnlicher, als einen guten Ausgang.


    „Da vorne ist es. Da steht der Vater mit seinem Jungen.“


    Semirs Stimme riss sie aus ihren Gedanken. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass sie fast am Ziel waren und spürte Unruhe in sich aufkeimen. Die nächsten Minuten würden Klarheit bringen – so oder so!
    Semir hatte den Wagen zum Stehen gebracht und war bereits ausgestiegen. Er ging mit schnellen Schritten auf den Mann zu, der da mit seinem Sohn auf ihn wartete.


    „Herr Krapp?“ Semir gab ihm die Hand und blickte Oliver an.
    „Und du hast den Wagen hier gesehen?“
    Oliver nickte aufgeregt. Die ganze Sache hier war mehr als spannend. Wenn er das morgen in der Schule erzählen würde, bekämen die anderen vor Staunen die Münder bestimmt nicht mehr zu. Einen Polizeieinsatz live hatte noch keiner von seinen Kameraden erlebt.


    „O. K. ! Wir gehen jetzt da rein. Sie beide warten hier in sicherer Entfernung. Ich will keine Überraschung erleben.“


    Semir gab den Kollegen, die inzwischen auch eingetroffen waren, ein paar Anweisungen, wie sie vorgehen wollten. Lerch und Bruno waren zwar tot, aber niemand wusste, ob nicht noch ein dritter in die Sache verwickelt war. Sie wollten vorsichtig vorgehen und nichts riskieren – obwohl er am liebsten schnurstracks in das Gebäude gelaufen wäre und nach Ben gesucht hätte.


    Mit gezückten Waffen gingen Semir, Kim Krüger und die anderen langsam auf das Gebäude zu. Einige Beamte gingen um das Haus herum, um eine Flucht eines eventuellen Komplizen zu verhindern.


    Semir spürte sein Herz schmerzhaft gegen den Brustkorb hämmern. Würden sie Ben hier finden? Und wenn ja, in welchem Zustand? Oder war das ganze eine falsche Spur und nur vertane Zeit im Rennen um Bens Leben?

  • ...und weiter gehts!


    Semir ging durch das große Tor, das in den Innenhof führte. Das hier musste einmal ein wunderschöner Landgasthof gewesen sein, aber jetzt sah alles heruntergekommen und ungepflegt aus. Von der Fassade des Hauses war stellenweise der Putz abgeblättert, die Farbe der Fenster und Türen war ausgebleicht und überall wuchs mehr oder weniger Unkraut. Er sah aber sofort, dass der Kies auf dem Boden aufgewühlt war. Hier war vor nicht allzu langer Zeit ein Auto gefahren – oder mehrere. Er spürte, dass sie hier richtig waren. Seine innere Erregung stieg mit jeder Sekunde und jede Faser seines Körpers stand buchstäblich unter Strom. Er blieb kurz stehen und sah sich um. Wo könnte hier der Eingang zu einer Schlachterei sein? Schließlich sah er ein großes Tor an der äußeren rechten Seite des Geländes. Das musste es sein! Mit einem Wink bedeutete er den Kollegen, ihm zu folgen. Kim Krüger ging dicht hinter ihm. Auch sie war konzentriert und angespannt. Gleich würden sie wissen, ob Ben da drin war – und ob er noch lebte!


    Semir öffnete die große Tür, die in einen Vorraum führte, an die sich eine weitere Tür anschloss, die aus Stahl war und mit einer Kette und einem Vorhängeschloss gesichert war. Das Schloss war neu, was Semirs Vermutung, dass sie hier richtig waren, zusätzlich bestätigte.

    „Dieter, hol mal einen Seitenschneider,“ bat er seinen Kollegen. Und obwohl dieser sofort zum Einsatzwagen rannte, um das Werkzeug zu holen, kamen Semir diese paar Minuten vor, wie eine Ewigkeit. Was würde sie hinter der Tür erwarten?


    Mit dem Seitenschneider war die Kette ruckzuck durchtrennt und der Weg frei. Semir atmete kurz tief ein, ehe er weiterging. Er kam in einen gekachelten Gang, von dem Abzweigungen in einzelne Räumlichkeiten durch dicke Plastikplanen getrennt waren, die die Türen ersetzten. Langsam ging er weiter, blickte in jeden Raum, immer mit seiner Waffe sichernd. Als er schon fast die Hoffnung aufgegeben hatte, und den letzten Raum betrat, blieb ihm beinahe das Herz stehen……!


    Da war Ben!


    Er hing mit Ketten gefesselt an der Eisenstange, die Semir schon im Video gesehen hatte. Sein Kopf war auf die Brust gefallen – und er zeigte keinerlei Regung.


    „BEN!“


    Semir schrie den Namen seines Freundes förmlich hinaus. In seinem Schrei lag zugleich die Freude darüber, dass sie ihn endlich gefunden hatten und die Angst, ob er noch leben würde. Er steckte die Waffe ins Holster, rannte zu Ben und ging neben ihm in die Knie. Ben bot einen erbarmungswürdigen Anblick. Seine Haare klebten nass an seinem Kopf, Schweissperlen glitzerten in seinem dunklen Bart, die Schusswunde an seinem Oberkörper war entzündet, alles war blutverschmiert. Semir nahm beide Hände und hob behutsam Ben´s Kopf. Mit zwei Fingern fühlte er den Puls am Hals, der zwar sehr schwach war, aber er war zu spüren – Ben lebte!


    „Ben….Ben….hörst du mich? Es ist vorbei…..bitte Ben…..mach die Augen auf.“


    Semir drehte sich zu Dieter um, der hinter ihn getreten war.


    „Schnell, hol den Seitenschneider, wir müssen ihn erst mal losmachen – und bring eine Decke mit……….beeeil dich……….wo bleibt denn der Notarzt?“

  • So, hier kommt noch ein klitzekleines Stück - aber ihr habt ja heute schon einen Teil gehabt, dann muss das für heute reichen.
    Ich wünsch euch dann mal eine gute Nacht..... ^^^^:D
    ........................................................................


    Semir hielt Ben in den Armen, als Dieter die Ketten durchtrennte und ließ den schlaffen Körper behutsam auf die ausgebreitete Decke gleiten. Seine Augen füllten sich mit Tränen, als er kurz den zerschundenen Rücken von Ben sah, und vor seinem inneren Augen erschien wieder die Szene aus dem Video, wo sein Freund brutal ausgepeitscht worden war. Die stählernen Handfesseln hatten Bens Handgelenke blutig gescheuert. Er musste verzweifelt versucht haben, sich zu befreien.


    Semir kniete neben Ben und hielt dessen Kopf im Schoß. Er legte ihm die Hand auf die glutheisse Stirn. Da fiel sein Blick auf die Wasserflasche, die für Ben unerreichbar in der Ecke stand. Die Chefin, die Semirs Blick gesehen hatte, reichte ihm die Flasche und ein sauberes Taschentuch, das sie immer bei sich hatte. Semir benetzte das Tuch mit Wasser und tupfte damit Ben´s Lippen ab. Plötzlich meinte er zu sehen, wie Ben´s Augenlider flatterten und sich seine Lippen ganz leicht bewegten.


    Und tatsächlich öffnete Ben die Augen. Nur ganz kurz und es schien ihn unsagbare Kraft zu kosten. Semir merkte, dass Ben etwas sagen wollte, aber zu schwach war, um sich verständlich zu machen. Er beugte sich ganz nah zu ihm und hielt sein Ohr an Ben´s Lippen. Zuerst spürte er nur den fiebrigen Atem, dann hörte er ganz leise Ben´s Worte: „Semir…….du…….kannst……..nichts…….dafür.“ Es war nur ein Hauchen, aber Semir konnte es deutlich verstehen. Dann fiel Ben´s Kopf zur Seite.

  • Semir starrte entsetzt auf Ben!
    Nein, das durfte jetzt einfach nicht sein – er würde nicht zulassen, dass Ben jetzt starb! Jetzt, wo sie ihn endlich gefunden hatten.
    „BEN………BEN……!“
    Verzweifelt tätschelte er ihm die Wange, doch Ben reagierte nicht.
    „BEN…….verdammt noch mal…….du hast es bis jetzt geschafft, da kannst du doch jetzt nicht aufgeben……BITTE!“
    Semir beugte sich mit Tränen in den Augen über Ben, rüttelte ihn an den Schultern und nahm ihn schließlich wie ein kleines Kind in die Arme. Die umstehenden Kollegen, die diese Szene sahen, kämpften alle ebenfalls mit den Tränen.


    „Ben….bitte……gib nicht auf…..bitte.“


    Er war so in seinem Schmerz gefangen, dass er gar nicht bemerkt hatte, dass inzwischen der Notarzt eingetroffen war. Semir wurde von starken Armen gepackt und von Ben weggezogen. Es war Dieter, der das getan hatte. Erst jetzt realisierte Semir wieder, was um ihn herum vor sich ging. Er sah, wie der Notarzt sich über Ben beugte, seine Vitalfunktionen überprüfte und seinem Assistenten kurze und knappe Anweisungen gab, aber er verstand kein Wort. Um ihn herum schien alles so unwirklich. Ben lag da und rührte sich noch immer nicht, aber der Arzt bewahrte die Ruhe und tat routinemäßig seine Arbeit.


    „Fordern Sie einen Rettungshubschrauber an, in diesem Zustand würde ihr Kollege den Transport im RTW nicht überstehen.“


    Der Arzt hatte sich kurz zu Semir umgedreht und sah ihn bei diesen Worten auffordernd an. Als er Semirs verständnislosen Blick sah, lächelte er kurz.
    „Ja, ihr Kollege lebt…..aber er muss schnellstmöglich in die Klinik.“
    Diese Worte weckten Semir wieder aus seiner Lethargie. Ben lebte! Für ihn gab es in diesem Moment nichts schöneres, als die Worte des Arztes.
    Ben lebte – und er würde es schaffen. Er wollte gerade das Handy zücken, um den Hubschrauber anzufordern, da legte ihm die Chefin lächelnd die Hand auf den Arm.
    „Ist schon erledigt,“ kam es knapp von ihr und Semir lächelte dankbar.


    Es dauerte noch einige Zeit, bis der Notarzt Ben soweit versorgt hatte, dass er transportfähig war. Er hatte ihm eine Infusion gelegt, um ihm die fehlende Flüssigkeit zuzuführen.
    Semir stand die ganze Zeit über daneben und fühlte sich furchtbar hilf- und nutzlos. Schließlich fragte er leise:
    „Wird er es schaffen?“


    Der Arzt zuckte kurz mit den Schultern.
    „Er ist noch lange nicht über den Berg, aber er hat eine Chance….aber er muss kämpfen - und es wird ein harter Kampf werden.“
    Der Arzt blickte zu Ben und sagte mehr zu sich selbst, als zu Semir: „Wie kann man einem Menschen nur so etwas antun…..“
    Dann wandte er sich seinen Kollegen vom Rettungshubschrauber zu, die soeben den Raum betreten hatten und Ben mit geübten Handgriffen auf die Trage luden und im Laufschritt zum Hubschrauber transportierten. Eile war geboten.

  • Semir stand noch eine Weile wie erstarrt da und blickte auf die Stelle, an der Ben tagelang um sein Leben gekämpft hatte. Die Kacheln an der Wand waren blutverschmiert, von der Decke hingen noch die Ketten, mit denen man Ben dort festgebunden hatte und auf einem kleinen Tisch lag die Lederpeitsche, mit der sein Freund gefoltert worden war. Daneben stand die Videokamera auf dem Stativ.


    Dann fiel sein Blick auf das T-Shirt von Ben, das ihm Bruno vom Leib gerissen hatte und das nun achtlos in der Ecke lag. Semir ging in die Knie und hob es auf. Gedankenverloren sah er auf den zerrissenen Stoff in seinen Händen. Wieder musste er gegen die aufsteigenden Tränen kämpfen. Tränen der Wut und Verzweiflung, dass ein Mensch einen anderen Menschen so quälen konnte. Und er fühlte sich schuldig, auch wenn Ben ihm mit seinen letzten Worten auch etwas anderes gesagt hatte.


    „Kommen Sie, Semir, wir fahren in die Klinik, sie sollten bei Ben sein, wenn er aufwacht. Die Kollegen werden die Spuren hier sichern.“
    Frau Krüger war neben ihn getreten und sah ihn auffordernd an. Semir nickte nur dankbar und folgte ihr. Er war froh, dass jetzt alles vorbei war.
    Aber war es wirklich vorbei?
    Ben´s Kampf um sein Leben war noch nicht vorbei, aber er schwor sich, dass er nicht von seinem Bett weichen würde, bis er auch diesen Kampf gewonnen hatte. Er würde auf jeden Fall alles tun, um ihm zu helfen. Das war er ihm einfach schuldig.


    Als er mit Kim Krüger das Gebäude verließ, startete gerade der Helikopter mit Ben in Richtung Krankenhaus. Semir´s Blick fiel auf Herrn Krapp, der mit seinem Sohn etwas abseits stand. Beide hatten die Köpfe in den Nacken gelegt und sahen dem Heli nach. Semir ging auf die beiden zu.


    „Wird ihr Kollege durchkommen?“ fragte Herr Krapp und blickte Semir fragend entgegen.
    „Wir wissen es noch nicht, er ist sehr schwer verletzt und war schon ziemlich lange hier gefangen ohne Essen und Trinken.“
    Semir legte Oliver die Hand auf die Schulter und lächelte ihn an.
    „Wenn er es schafft, dann hat er es nur dir zu verdanken. Ohne deine Hilfe hätte er keine Chance gehabt. Ich glaube, wenn er das alles überstanden hat, würde er sich freuen, dich kennen zu lernen, Oliver. Danke!“
    Semir wuschelte dem Jungen durchs dunkle Haar, der sich stolz zu seinem Vater umdrehte.
    „Siehst du, Papa, und du und Mama wollten mir nicht glauben.“
    Olivers Vater nahm seinen Jungen in den Arm und drückte ihn.
    „In Zukunft werden wir dir alles glauben, mein Junge. Das hast du prima gemacht.“
    Dann wandte er sich an Semir und gab ihm die Hand.
    „Ich wünsche ihrem Kollegen alles Gute. Ich hoffe, er schafft es.“
    Semir erwiderte den festen Händedruck.
    „Das hoffen wir alle, aber Ben ist stark, ich bin mir sicher, er wird durchkommen.“


    Zusammen mit der Chefin machte er sich auf den Weg zur Klinik, in die man Ben gebracht hatte.

  • Inzwischen waren über 3 Stunden vergangen, in denen Semir zusammen mit Susanne, die von der Chefin informiert worden war, und Kim Krüger unruhig auf dem Krankenhausflur saßen und immer wieder mit sorgenvollen Gesichtern auf die Tür des OPs sahen. Kim Krüger hatte es sich nicht nehmen lassen, mit ihren Mitarbeitern hier zu warten. Im Büro hätte sie sowieso keinen klaren Gedanken fassen können. Semir rechnete ihr das hoch an. Er wusste inzwischen, dass seiner Chefin sehr viel an ihren Leuten lag und sie keinen im Stich ließ, wenn es darauf ankam.


    Semir spürte, wie die vergangenen Stunden und Tage an ihm gezehrt hatten. Er war müde und abgeschlagen, aber an Schlaf war nicht zu denken, solange man nicht wusste, wie es um Ben stand. Nervös knetete er die Hände und dachte immer wieder an Ben´s letzte Worte: „Semir, du kannst nichts dafür.“ Offenbar war es Ben ein Bedürfnis gewesen, ihm das noch zu sagen. Ben machte ihm keine Vorwürfe. Aber Semir machte sich selbst die größten Vorwürfe. Er fühlte sich schuldig, an dem was Ben passiert war, egal was die anderen sagten.


    Er hatte insgeheim beschlossen, dass er den Dienst quittieren würde, wenn Ben starb.
    Er konnte dann nicht einfach so weitermachen, wie bisher.
    Weitermachen, als ob nichts geschehen wäre.
    Weitermachen mit einem neuen Partner – den er vielleicht auch wieder verlieren würde.


    Es war zuviel passiert in den vergangenen Jahren, als dass er noch mal den Verlust eines Partners verkraften würde. Wenn Ben starb, dann wollte er nicht mehr. Wenn Ben starb, dann würde auch ein Teil von ihm sterben!


    Er wurde aus seinen düsteren Gedanken gerissen, als plötzlich ein Arzt aus dem OP trat, und auf die kleine Gruppe zukam. Sofort standen alle auf und blickten ihn an. Keiner wagte, als erster zu fragen, wie es um Ben stand. Alle hatten Angst, vor einer schlechten Nachricht.


    „Sie sind die Kollegen von Herrn Jäger?“
    Der Arzt blickte in die Runde und fuhr fort, ohne auf eine Antwort zu warten.
    „Ich bin Doktor Faißt, ich habe ihren Kollegen operiert. Wir haben die Kugel entfernt und die entzündeten Wunden auf seinem Rücken versorgt. Herr Jäger war völlig dehydriert und erhält immer noch Infusionen, um den Flüssigkeitsverlust auszugleichen.“
    Dr Faißt machte eine kurze Pause. Semir wagte es schließlich, die Frage zu stellen, die allen unter den Nägeln brannte:
    „Wird er es schaffen, Doktor?“
    Dr. Faißt vergrub die Hände in den Taschen seines weißen Kittels und räusperte sich.
    „Nun ja, Herr Jäger wurde keine Stunde zu früh gefunden. Sein Zustand ist sehr kritisch, aber nicht hoffnungslos. Wenn er kämpft, hat er Chancen, dieses Abenteuer zu überstehen. Wir können jetzt nur abwarten.“


    Semir blickte betreten zu Boden und Dr. Faißt fügte hinzu: „Wenn sie wollen, können sie gerne zu ihm, er kann Unterstützung brauchen. Aber bitte nur einer.“
    Er lächelte den Anwesenden noch mal aufmunternd zu und verabschiedete sich. Er hatte getan, was er konnte, hier war jetzt jemand ganz anderes zuständig.

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