Heimweg [Kurzgeschichte - reloaded]

  • Ihr Lieben,


    diese kleine Kurzgeschichte ist in ihrer Grundidee schon etwas älter, und der eine oder andere wird sie in der ersten Fassung auch schon mal gelesen haben. Ich habe sie allerdings in den letzten Monaten komplett überarbeitet und wollte jetzt natürlich gerne wissen., was ihr davon haltet.


    Für alle, die die Geschichte noch nie gelesen haben, ganz kurz: Ich habe diese Story geschrieben, als ich damals zum ersten mal gehört habe, dass René Steinke alias Tom Kranich nach zwei Jahren Pause zu Cobra 11 zurückkehren würde. Spontan habe ich mich gefragt, was Tom wohl dazu bewogen haben mochte, seine Job bei der Autobahnpolizei wieder aufzunehmen. Aus der Frage habe ich dann diese kleine Geschichte gesponnen.
    Sie passt natürlich nicht mehr ganz zu Serie, weil das tatsächliche "Comeback" natürlich anders aussah. Außerdem ist sie an machen Stellen ein wenig sentimental aber ich hoffe, das stört nicht.


    So, nun aber genug geredet, ich hoffe, die neue Version gefällt euch.


    Mia
    (aka felina)


  • Heimweg


    Teil 1


    Schon seit Stunden hockte der Mann fast bewegungslos vor dem Tresen. Er saß mit gebeugtem Rücken, die Arme auf der Theke abgestützt, die Schultern ein wenig hochgezogen. Zwischen den Fingern drehte er ein Whiskeyglas. Ab und an hob er es zum Mund und nahm einen Schluck. Nur wenn er dem Barkeeper das Glas zuschob, damit der es wieder füllte, schaute er auf, Ansonsten starrte er ausdruckslos in die goldene Flüssigkeit. Seitdem er die Bar betreten hatte, hatte er noch kein Wort gesprochen.
    Der Mann war sich nicht mehr sicher, wie und warum er hergekommen war. Es war wohl ein spontaner Entschluss gewesen, weil er nicht wusste, wohin. Der Barkeeper kannte ihn und wusste, dass er in dieser Stimmung in Ruhe gelassen werden wollte. Und zu seinem Glück war der Besitzer der Bar nicht da. Warum war er überhaupt hierher zurückgelehrt? Er hatte diese Stadt vor fast drei Jahren verlassen mit dem festen Vorsatz, nie wieder zurück zu kommen. Sein Schmerz hatte ihn um die halbe Welt getrieben. Immer auf der Flucht vor den dunklen Erinnerungen, immer auf der Suche nach etwas, das die Leere in seinem Inneren zu füllen vermochte. Und am Ende war er doch wieder hier gestrandet. Zufall oder Schicksal? Er wusste es nicht.


    Eine Bewegung neben ihm, störte ihn aus seinen Gedanken auf. Ein anderer Mann war an den Tresen herangetreten. Auch er schien hier bekannt zu sein, denn kaum hatte der Andere sich auf dem Barhocker neben ihm niedergelassen, schob der Barkeeper ihm auch schon einen Whiskey zu. Er musterte den Neuankömmling aus dem Augenwinkel. Er war recht groß gewachsen und trug das kurze dunkle Haar mit Gel strähnig verstrubbelt. Gekleidet war er in einen dunklen Anzug und ein dunkles Hemd. Trotzdem wirkte er in keiner Weise streng oder korrekt, eher ein wenig rebellisch und jungenhaft. Ganz so, wie jemand, der einen seriösen Eindruck erwecken wollte, oder musste, es aber nicht im herkömmlichen Sinne war. Seine Ausstrahlung hätte man insgesamt als sympathisch beschreiben können, doch die sensible Beobachtungsgabe des Mannes registriert etwas darin, was nicht so recht dazu passen wollte. In den lausbübischen Charme des Anderen mischte sich etwas Trauriges, ein vager Hauch von Melancholie.
    „Sie sehen nachdenklich aus“, sprach der Fremde ihn plötzlich an.
    Der Mann schaute auf und blickte direkt in zwei dunkle Augen, die ihn intensiv, aber freundlich musterten.
    „Ich denke darüber nach, warum ich zurückgekehrt bin“, antwortet er automatisch.
    Er wusste nicht, warum er dem Anderen wahrheitsgemäß antwortete. Seit damals hatte er niemanden mehr an seinen Gedanken und Gefühlen teilhaben lassen. Selbst von seinen besten Freunden hatte er sich zurückgezogen. Und jetzt sprach er einfach mit einem vollkommen Fremden.
    „Warum?“, fragte der Fremde und nahm einen Schluck von seinem Whiskey.
    „Weil ich die Stadt vor drei Jahren mit dem festen Vorsatz verlassen habe, niemals wieder hierher zurückzukehren.“
    „Warum sind Sie überhaupt gegangen?“, wollte der Andere nun wissen.
    Der Mann zögerte. Nachdenklich bewegte er das Glas in seinen Händen und lauschte dem leisen Klirren der Eiswürfel. Sollte er die größte Niederlage seines Lebens wirklich vor einem vollkommen Fremden ausbreiten? Drei Jahre hatte er sich vollkommen abgeschottet, war immer gegangen, wenn ihm jemand zu nah kam. Aber vielleicht war es jetzt an der Zeit. Er leerte sein Glas mit einem tiefen Zug, dann begann er zu erzählen.


    „Wissen Sie, ich bin Polizist gewesen. Ich habe damals mit meinem Partner einen international operierenden Drogenhändler gejagt. Der Fall schien eigentlich schon erledigt. Wir hatten die Bande eingekreist. Der Mann hat noch versucht, sich seiner Festnahme durch eine Flucht in seinem Wagen zu entziehen, aber am Ende ist er mit samt seinem Wagen explodiert. Seine Komplizen wurden verhaftet. Aber ich hatte damals ohnehin ganz andere Dinge im Kopf. Meine Lebensgefährtin war schwanger, wir wollten heiraten.“
    Der Mann hielt inne. Er betrachtete einen Moment das leere Glas in seinen Händen. Eigentlich sollte er nicht mehr trinken, das wusste er. Er spürte schon deutlich, wie ihm der Alkohol in den Kopf stieg. Trotzdem schob er dem Barkeeper sein Glas noch einmal zu. Er war sich nicht sicher, ob er sonst die Geschichte zu Ende bringen würde.
    „Aber es kam alles anders. Der Mann, der Drogenhändler hatte den Unfall überlebt. Mit schweren Verbrennungen, zwar, entstellt für den Rest seines Lebens, aber überlebt. Und er gab mir die Schuld daran. Ich weiß bis heute nicht warum. Vielleicht, weil ich damals den Wagen gefahren bin, als wie ihn verfolgt haben, vielleicht weil ich den Fall so intensiv bearbeitet habe. Vielleicht auch einfach, weil Elena mit mir leben wollte, obwohl sie zuvor seine Lebensgefährtin war. Ich weiß es nicht.“
    Wieder stockte er, zog die Schultern ein wenig hoch und ließ sie hilflos wieder fallen. Dankbar griff er nach dem Glas, das der Barkeeper vor ihn hinstellte. Er führte es zum Mund und nahm einen tiefen Schluck von der goldenen Flüssigkeit, fühlte ihr nach, wie sie langsam seine Kehle hinab rann, bis in den Magen, spürte die trügerische Wärme, die sich in seinem Körper ausbreitete. Er wusste, dass er nur Zeit schinden wollte, bevor das unvermeidliche erzählte und er ahnte, dass der Andere es auch wusste. Dennoch konnte er nicht anders. Aber auch das schien der Mann neben ihm zu wissen. Auch er nahm einen Schluck von seinem Whiskey und wartete geduldig bis er mit seiner Geschichte fortfuhr.
    „An jenem Morgen, wollte ich eigentlich nur schnell in der Dienststelle anrufen, um meine Kollegen wissen lassen, dass ich ein bisschen später kommen würde, weil Elena und ich noch ein paar Dinge erledigen wollten. Aber mein Partner hatte mal wieder den Mund nicht halten können, er hatte schon allen erzählt, dass ich Vater würde, dass ich heiraten wollte. Natürlich wollten mir alle gratulieren, einer nach dem anderen wollte mich sprechen. Wahrscheinlich haben sie mir damit das Leben gerettet, aber bis heute kann ich ihnen dafür nicht dankbar sein.“
    Er schluckte schwer und schloss die Augen. Bis heute hatte er niemandem davon er-zählt. Seinem Partner hatte er damals nichts erzählen müssen, der hatte ja alles selbst mit angesehen. Und danach hatte er sich immer geweigert. Sein Partner hatte das Reden übernommen und von seinen Kollegen hatte es niemand gewagt nachzufragen. Für einen Augenblick spielte er mit den Gedanken, seine Erzählung abzubrechen, den Fremden hier einfach sitzen zu lassen und zu gehen. Doch irgendetwas, eine seltsame Macht in ihm, trieb ihn dazu weiterzusprechen. Er musste einfach erzählen, das spürte er.
    „Elena ist jedenfalls ziemlich bald ungeduldig geworden. Sie hat sich den Autoschlüssel geholt und ist schon mal vorgegangen. Ich konnte aus dem Fenster sehen, wie sie untern vor dem Wagen stand und genervt zu mir hoch gestikuliert hat. Endlich hatte ich die Kollegen abgewürgt und wollte ihr folgen. Doch kaum hatte ich den Hörer auf die Gabel geworfen, klingelte das Telefon schon wieder. Diesmal war es mein Partner. Er hat mich informiert, dass der Drogenhändler noch lebte. Der Tote, denn wir gefunden hatten war jemand andere gewesen. Und dann habe ich seinen Wagen gesehen, direkt vor meinem Haus in einer Parkbucht. Elena stand vor meinem Wagen, die Fernbedienung für die Schlossentriegelung in der erhobenen Hand. Ich weiß nicht, woher die Erkenntnis kam, aber mit einem Mal wusste ich genau, warum der Kerl vor meinen Haus wartete. Ich habe den Telefonhörer fallen lassen und bin hinunter auf die Straße gestürmt, aber ich kam zu spät. Grade als ich über die Straße gerannt bin, hat sie den Zündschlüssel umgedreht und damit die Bombe ausgelöst. Elena und unser ungeborenes Kind sind damals gestorben. Danach war für mich nicht mehr, wie zuvor.“
    Der Mann verstummte abermals. Geistesabwesend drehte er das Glas in seinen Händen. Wieder nahm er einen Schluck von seinem Whiskey, ehe er weitersprach.

    „Ich wollte kein Bulle mehr sein. Mit einem Mal schien mir alles so sinnlos. Ich fühlte mich vollkommen leer, hatte einfach keine Kraft mehr, weiter zu machen. In all den Jahren, die ich bei der Polizei war, hatte ich so viele Menschen vor diesem Schicksal bewahrt. Mein Partner und ich hatten mehr als einmal unser Leben riskiert, um das von anderen zu retten. Aber meine Familie konnte ich nicht schützen. Ich hätte mit Elena mein Leben verbringen können, aber ich kam zu spät. Den Fall brachte ich noch zu Ende, das war ich ihr und unserem Baby schuldig. Aber dann habe ich die Stadt verlassen. Ich ließ einfach alles hinter mir. Meine Arbeit, die mir bis dahin so viel bedeutet hatte, meine Kollegen, die mir auch immer gute Freunde gewesen waren und nicht zuletzt meinen Partner, mit dem mich soviel mehr verbunden hatte, als nur unsere Arbeit.“
    Der Mann hob den Kopf und sah den Fremden nachdenklich an. Sein Ausdruck hatte sich kaum verändert. Noch immer ruhte der aufmerksame Blick aus diesen dunklen Augen auf ihm und der Andere schien interessiert zuzuhören.
    „Nie wieder wollte ich solchen Schmerz empfinden müssen. Ziellos trieb ich um die Welt, immer auf der Flucht vor dem Gefühl der Leere in mir, gejagt von meinen Erinne-rungen. Aber am Ende bin ich doch wieder hier gestrandet.“
    „Vielleicht weil Sie wissen, dass Sie es nur hier zu Ende bringen könne. Nur hier können Sie ihn besiegen.
    Der Fremde starrte nun seinerseits gedankenverloren in die goldene Flüssigkeit, die in seinem Glas hin und her schwang.
    „Wen besiegen?“, fragte der Mann irritiert.
    „Den, der ihnen das angetan hat“, war die ruhige Antwort des Anderen.
    „Er ist besiegt. Er sitzt seit drei Jahren im Knast und wird ihn vermutlich lebend nicht mehr verlassen“, erwiderte er über einem weiteren Schluck Whiskey.
    „Er ist vielleicht eingesperrt, aber besiegt haben Sie ihn nicht“, beharrte der Fremde.
    Der Mann schaute den Fremden verständnislos an. Er wurde nicht schlau aus diesem Gerede. Zürs war eingesperrt. Er würde sein ganzes Leben dafür zahlen, was er Elena und ihrem Baby angetan hatte. Niemals wieder würde er als freier Mann auf die Straße gehen. Der Fremde konnte doch nicht wirklich meinen, dass er Zürs umbringen sollte. Der Kerl war es einfach nicht wert, dass man sich an ihm die Finger schmutzig machte. Nein, wenn es soweit kam, dann hatte Zürs wirklich gewonnen.
    Der Fremde schien zu erkennen, dass der Mann nicht wirklich verstand, was er hatte sagen wollen. Er schaute einen Moment in die Luft, als suche er nach geeigneten Worten, ehe er antwortete.
    „Sie haben zugelassen, dass er sich ihres Lebens bemächtig.“
    Der Mann verstand immer noch nicht. Es ergab einfach keinen Sinn, was der Andere da redet. Er hatte überhaupt nicht zugelassen. Er war im entscheidenden Moment einfach zu langsam gewesen, um es zu verhindern.
    „Wie meinen Sie das?“, fragte er dennoch, um dem Fremden wenigstens noch eine Chance zu geben, seine Position zu erklären.
    „Es ist ein bisschen schwierig, dass so abstrakt zu erklären. Erlauben Sie, dass ich eine kleine Geschichte erzähle? Vielleicht verstehen Sie dann besser, was ich meine.“
    Der Mann nickte nur leicht und der Fremde begann zu erzählen.


    Fortsetzung folgt ...

    Einmal editiert, zuletzt von felina ()

  • Teil 2


    „Wissen Sie, ich war selbst auch Polizist, Kripo Autobahn. Aber ich habe vor drei Monaten den Dienst quittiert.“
    Der Blick des Fremden ging in weite Ferne. Der Mann spürte deutlich, dass der andere nur noch körperlich anwesend war. Er war sich nicht ganz sicher, ob er sich seines Zuhörers überhaupt noch bewusst war, dennoch war er gewillt, die Geschichte des Anderen zu hören.
    „Mein Partner und ich haben damals gegen einen außerordentlich grausamen Kinder-pornoring ermittelt. Die Ermittlungen zogen sich hin. Wir haben immer wieder neue Opfer gefunden, aber wir kamen der Bande einfach nicht näher. Alle Spuren verliefen im Sande, alle Verdächtigen hatten absolut wasserdichte Alibis. Und irgendwann war plötzlich mein Patenkind verschwunden, die Tochter meines besten Freundes. Ich habe versucht, meine Angst um die Kleine zu verdrängen, habe versucht, mir einzureden, dass es hunderte von Möglichkeiten gibt, wo sie sein könnte. Aber als wir zum nächsten Fundort gerufen wurden, waren meine schlimmsten Befürchtungen wahr geworden. An diesem Tag schwor ich Rache. Ich wollte diese Bande zur Strecke bringen, wollte ihnen gegenüberstehen und sie für das bezahlen lassen, was sie all diesen Kindern und ihren Familien angetan hatten.“
    Der Fremde verstummte für einen Moment. Schweigend schüttelte er den Kopf, als sei er noch heute fassungslos über den Hass, den er damals empfunden hatte.
    „Irgendwann kam der Tag. Wir hatten das Versteck der Bande endlich aufgespürt, das SEK hatte die meisten Mitglieder längst festgenagelt, nur der Boss unternahm noch einen Fluchtversuch. Ich weiß nicht, wie er es geschafft hat, sich aus der Einkreisung heraus zu stehlen, aber auch er kam nicht weit. Und plötzlich war sie da, die Situation, die ich die ganze Zeit herbeigesehnt hatte. Wir standen uns gegenüber, Auge in Auge, mit gezogenen Waffen. Er drückte ab, aber es passierte nichts: Sein Magazin war leer. Mit einem Mal lag alles in meiner Hand. Ich stand einfach da und zielte auf seinen Kopf, genau zwischen die Augen. Die ganzen Bilder von den grausam zugerichteten Kinderleichen zogen durch meinen Sinn, der Schmerz in den Gesichtern der Angehörigen, wenn wir ihnen die schreckliche Nachricht überbringen mussten. Und immer wieder Lily, mein kleines Patenkind. Ich kämpfte mit mir. Ich wollte das Schwein einfach erschießen, aber ich wusste genau, dass ich das nicht durfte. Ich habe den Kampf verloren. In dem Moment, als mein Partner um die Ecke kam, habe ich geschossen.“
    Wieder pausierte der Fremde in seiner Erzählung. Grüblerisch dreht er das Whiskeyglas in seinen Händen.
    „Hat man ein Verfahren gegen Sie eingeleitet?“, fragte der Mann.
    Er war lange genug Polizist gewesen, um die Dienstvorschriften zu kennen, auch wenn er sie nur selten sklavisch beachtet hatte.
    „Nein. Mein Partner hat mich nicht verraten, wenn Sie das meinen“, erwiderte der Andere. „Er kam heran und hat die ganze Szene nur stumm betrachtet. Irgendwie sah er dabei traurig aus. Ich habe sein Verhalten nicht verstanden und ihn gefragt, ob es ihm um den Kerl etwa leid täte. Er hat nur den Kopf geschüttelt und dann hat er etwas gesagt, dass ich lange Zeit nicht verstanden habe: ‚Nein, es tut mir um meinen Partner leid.‘ Mit diesem Worten hat er sich umgedreht und ist gegangen. Der Fall wurde offiziell als Notwehr zu den Akten gelegt. Mein Partner hat die Wahrheit nie gesagt.“
    Wieder schüttelte der Fremde leicht den Kopf. Seinem Gesicht war anzusehen, dass ihn sein Verhalten noch immer beschäftigte und vor allem, dass er es inzwischen bitter bereute.
    „Diese Sache hat mein ganzes Leben verändert. Wir hatten diesen Kinderpornoring gesprengt, die meisten Mitglieder saßen im Gefängnis, der Boss war tot, aber verloren hatte ich trotzdem. Meine Tat ließ mich nicht mehr los. Mir wurde bewusst, dass ich damit alles verraten hatte, was mich einst den Weg zur Polizei hatte nehmen lassen. Ich war Polizist geworden, weil ich daran geglaubt habe, dass die Gesetze dieses Staates einen Sinn haben, weil ich glaubte, dass es wichtig und richtig ist, dass nicht jeder Mensch erlittenes Unrecht selbst vergelten darf. Und dann habe ich mich selbst zum Richter über Leben und Tod eines anderen Menschen aufgeschwungen. Mein Leben zerbrach daran. Meinen Job, der mir so wichtig gewesen war, meine Kollegen und meinen Partner, die mir fast eine Art Familie waren, meine innersten Überzeugungen, all das hatte ich mit meiner Tat verraten. Mit einem Mal begriff ich, was mein Partner schon damals erkannt hatte. Und auch wenn mich kein Gericht dafür angeklagt hat, so fühlte und fühle ich mich doch als Mörder.“
    Der Fremde verstummte. Er leerte sein Glas in einem letzten tiefen Zug, dann schob er es gemeinsam mit einem Zehn-Euro-Schein dem Barkeeper zu. Er ließ sich elegant von seinem Barhocker gleiten und schaute dem Mann ein letztes Mal intensiv in die Augen.
    „Machen Sie nicht den gleichen Fehler wie ich. Besiegen Sie ihn und holen Sie sich Ihr Leben zurück!“ Mit diesen Worten verließ der Andere die Bar.


    Der Mann widmete sich wieder seinem Whiskeyglas. Er dacht über die Geschichte des Fremden nach und über seine eigene. Er konnte den Kampf, den der Fremde mit sich ausgefochten hatte, nur zu gut nachvollziehen. Auch er hatte mit einer Waffe in der Hand über Zürs gestanden und er hatte auch geschossen – in die Luft! Aber eben nur beinahe, das war doch der entscheidende Unterschied. Im letzten Moment hatte er die Waffe hochgerissen und das ganze Magazin einfach leergefeuert. Nicht weil er geglaubt hatte, dass das die richtige Entscheidung gewesen war, nein, das ganz sicher nicht. Bis heute ertappte er sich bisweilen bei dem Gedanken, dass er es bereute, Zürs damals nicht erschossen zu haben. Es war Zürs‘ Gesichtsausdruck gewesen, das Wissen, dass der seinen Tod herbeisehnte. Zürs‘ selbstmitleidige Tirade von Schmerz und Verlust hatte er noch deutlich in Erinnerung. Er hatte ihn damals nicht erschossen, weil er in diesem Moment an Gerechtigkeit und Justiz geglaubte hatte, sondern weil er gesehen hatte, dass er dem Kerl damit den größten Gefallen seines erbärmlichen Lebens getan hätte. Langsam begriff der Mann, was der Fremde gemeint hatte – und dass er Recht gehabt hatte.
    Er war damals aus Köln geflohen und hatte sein ganzes Leben einfach hinter sich gelassen. Seine Kollegen und Freunde, alle Menschen, die ihm etwas bedeuteten, vor allem aber Semir. Er erinnerte sich noch gut, wie Semir versucht hatte, seinen Schmerz über den Weggang des Freundes zu verbergen, wie er sich mit Berichten herausgeredet hatte, um den Abschied nicht viel schwerer zu machen, als er ohnehin schon war. Und er erinnert sich noch sehr genau an Semirs letzte Worte, bevor er in das wartende Taxi gestiegen war. ‚Mach’s gut, Partner.‘ Vielleicht nur ein Abschied, vielleicht eine letzte Bitte, doch zu bleiben, vielleicht nur ein Versprechen. Er wusste es nicht, er hatte damals nicht mehr darauf reagiert. War einfach in sein Taxi gestiegen und davon gefahren. Nur wenige Tage später hatte er die Stadt endgültig verlassen.
    Allem, was ihm lieb und wichtig gewesen war, hatte er den Rücken zugekehrt. Ruhelos hatte er sich um die halbe Welt treiben lassen, immer auf der Flucht vor den Erinnerungen, hatte zugelassen, das Zürs und seine grausame Tat sein ganzes Leben beherrschten. Nacht für Nacht träumte er Elenas Tod. Nacht für Nacht sah er sie vor sich, wie sie ungeduldig auf der Straße gestikulierte, wie sie in den Wagen stieg, wie sie sich von der Beifahrerseite hinüberlehnte zum Lenkrad, wie sie den Schlüssel im Zündschloss drehte. Nacht für Nacht sah er sich selbst, wie er den Telefonhörer fallen ließ, aus der Wohnung und die Treppen hinab stürmte, über die Straße rannte und ihren Namen schrie. Nacht für Nacht kam er zu spät. Bald hatte er eine richtiggehende Panik vor dem Schlafen gehen entwickelt. Hatte sich wachgehalten, oft zwei, drei Nächte am Stück, in der Hoffnung, dann zu erschöpft zu sein für Alpträume, nur um dann doch wieder von den gleichen grausamen Bildern aus dem Schlaf gerissen zu werden. Und immer häufiger, wenn er nichts mehr gefunden hatte, um sich von dem Schmerz und der Leere in seinem Inneren abzulenken, hatte er versucht, sie zu betäuben. Erst mit Alkohol und als das nichts mehr half auch mit härteren Sachen. Es war ein steter Tanz an Abgrund gewesen und mehr als nur einmal war er sehr nahe daran gewesen abzustürzen. Es grenzte schon an ein Wunder, dass er unversehrt hierher zurück gekehrt war. Und vielleicht war es auch ein bisschen Schicksal. Es hatte mit einem Wink des Schicksals begonnen, damals vor drei Jahren, als er die Wahrsagerin besucht hatte, warum sollte es nicht auch mit einem solchen enden? Vielleicht waren Semirs Worte damals doch ein Versprechen gewesen.
    Der Mann nahm den letzten Schluck von seinem Whiskey und schob das Glas zusammen mit dem Geld dem Barkeeper zu. Er hatte einen Entschluss gefasst. Der Fremde hatte Recht. Es war an der Zeit, dass er seine Dämonen endlich besiegte und sich sein Leben zurückeroberte. Erst dann konnte er sagen, dass Zürs wirklich besiegt war. Erst dann konnten Elena und ihr Baby in Frieden ruhen.


    Mit schnellen Schritten lief er durch die nächtlichen Straßen. Auch nach so langer Zeit kannte er den Weg noch auswendig. Es war längst weit nach Mitternacht, doch das störte ihn bei seinem Vorhaben wenig. Wenn das Band noch bestand, wenn Semirs Worte wirklich ein Versprechen gewesen waren, dann würde der Freund verstehen, das wusste er.
    Dann endlich, nach einem schier endlosen Weg stand er vor der ersehnten Tür. Mit zitternden Fingern drückte er die Klingel. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, hoffte einfach nur, dass er nicht enttäuscht würde. Angespannt lauschte er in die Wohnung. Ein leises Tappen war zu hören, wie von bloßen Füßen auf Linoleum oder Laminat. Mit einem leisen Klirren wurde die Kette zurückgeschoben, dann öffnete sich vorsichtig die Tür.
    Braune Augen trafen grau-grüne. Die Zeit schien stehen geblieben zu sein. Die Gedanken fuhren Achterbahn. Es war, als wäre er gestern erst gegangen. Die drei Jahre waren wie weggefegt. Noch immer konnte er in diesen Augen lesen wie in einem offenen Buch. Erstaunen, Fassungslosigkeit, Unglauben, aber vor allem Freundschaft und unbändige Freude.
    „Tom …?!“, mehr brachte der Braunäugige nicht heraus.
    Im nächsten Moment fand er sich in einer herzlichen Umarmung, die er nur zu gerne erwiderte. Er war immer noch willkommen. Das Band bestand noch.
    „Du bist zurück …“, murmelte Semir in seine Schulter.
    Zum ersten Mal seit drei Jahren war er einfach nur glücklich. Die quälende Leere und der tiefe Schmerz in seinem Inneren waren zurückgedrängt. Was zählte war das Hier und Jetzt.
    „Ja, Semir, ich bin zurückgekehrt“, erwiderte er leise.



    Ende

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