Angst und Vertrauen

  • Hallo zusammen!
    Obwohl Elvira mich schon vor Wochen ermutigt hatte, habe ich erst jetzt den Mut meine Geschichte einzustellen. Der Schluss ist noch nicht ganz fertig (schreibe ihn bereits das dritte Mal um), hoffe aber, das ich durch den Zugzwang endlich mal in die Pötte komme. :D


    Ich hoffe, sie gefällt Euch und über ehrliche Meinungen wäre ich sehr dankbar!


    Kleiner Hinweis: Die Geschichte spielt noch vor "Nemesis"!


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    Angst und Vertrauen


    Roman Gehlen saß in seiner Zelle der JVA und nach außen wirkte er ruhig und gelassen. Doch in seinem Innern tobte es schon seit Wochen. Dem anfänglichen Schock über den Tod seinens Sohnes waren die Gefühle von Wut und Hass sowie das unstillbare Verlangen nach Rache gewichen.


    Ihm war längst klar, das er nicht mehr aus dem Gefängnis raus kam. In seinem Kopf drehte sich deshalb alles nur noch um den Gedanken an Rache! Er wollte die Mörder seines Sohnes leiden sehen. Koste es was es wolle! Was machten da schon ein paar Jahre Knast mehr!


    Er sprach wenig mit den anderen Häftlingen und noch weniger mit den Wärtern. Er behandelte sie alle mit seiner ihm typischen Mischung aus Verachtung und arroganter Selbstherrlichkeit.


    So kam es, dass die einzige Gelegenheit, bei der er seit Wochen mehr als einen Satz sprach, war, als ihn sein Anwalt Kurt Janzen wieder mal besuchte. Ihm gab er gleich zu Anfang zu verstehen, was er von ihm verlangte.
    Er hatte genügend Kontakte in der Unterwelt, die ihm noch was schuldeten und er ließ keinen Zweifel daran, dass er jeden, der ihm nicht half, mit in dieses Dreckloch ziehen würde, in dem er saß.


    So verbreitete sich die Nachricht schnell: Schadet den beiden Polizisten nachhaltig, bringt Gehlen Beweise das sie leiden.... ansonsten tötet sie!
    Jetzt wartete Roman Gehlen geduldig darauf, das seine Rache ausgeführt wurde....


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    Semir saß gedankenverloren an seinem Schreibtisch und starrte aus dem Fenster. Obwohl auf dem Parkplatz der PAST reges Treiben herrschte, nahm er davon nichts wahr. Wie so oft in letzter Zeit kreisten seine Gedanken immer wieder um das selbe Thema: Er vermisste Tom!


    Die schrecklichen Ereignisse um seinen Tod lagen bereits Wochen zurück und noch immer hatte er diesen tiefen Schmerz in sich. Und erst jetzt, im nachhinein, wurde ihm bewusst, wie tief seine Freundschaft zu Tom gewesen war. Er vermisste seinen Humor, seine notorische Unpünktlichkeit, seine chaotische Art mit den Berichten umzugehen ... aber am meisten das Gefühl von Sicherheit, wenn er mit ihm unterwegs war.
    Oft genug hatten sie sich gegenseitig aus brenzligen Situationen rausgeholt und es hatte nie einen Zweifel gegeben, das der einen den anderen im Stich lassen könnte. Undenkbar!
    Und doch war es passiert und er mußte damit fertig werden.


    Am meisten vermisste Semir die Gespräche, die sie oft stundenlang miteinander geführt hatten. Gespräche, in denen sie sich - fast - alles erzählten: ihre Erlebnisse, Familien- und Freundinnengeschichten und manchmal auch ihre Ängste.


    Vor einigen Tagen hatte sich Semir dabei ertappt, wie er an Tom’s Grab stehend, laut die neusten Story’s von der Autobahn erzählte. Erst das Räuspern einer alten Dame am Nachbargrab hatte ihn bewusst werden lassen, was er getan hatte.
    Jetzt war alles anders....


    Auf der PAST war inzwischen der Alltag zurückgekehrt und er versuchte mit seinem neuen Partner Chris warm zu werden.
    Wobei er ja zugeben musste, das sich Chris in beruflicher Hinsicht nach einigen Anpassungsschwierigkeiten gut gemacht hatte. Und er war sich sicher, das Chris ihm auf dieser beruflichen Basis vertraute. Schließlich hatte er sich an ihn gewandt, als er im Fall Gehlen nicht mehr weiter wusste. Und wieso sonst hätte er Kopf und Kragen riskieren sollen, um sich kopfüber aus einem Helikopter zu hängen, damit er ihn aus dem Wasser ziehen konnte?


    Aber für Semir bedeutete eine gute Zusammenarbeit mehr! Mal ein Bier miteinander trinken, gemeinsam über die Schoten von Hotte und Bonrath zu lachen... und ein bisschen auch das Private.


    Doch was das anging ließ Chris niemanden an sich heran! Fragen in der Richtung ließ er unbeantwortet oder lenkte schnell vom Thema ab. Andrea hatte gemeint, er solle ihm mehr Zeit geben. Inzwischen hatte er es jedoch aufgegeben.


    Nach einigen Minuten blinzelte er heftig, um sich in die Realität zurück zu holen. Dabei fiel sein Blick auf ein Foto, welches auf seinem Schreibtisch neben dem von seiner Frau Andrea und seiner Tochter Aida stand. Mit einem Seufzer nahm er es in die Hand und betrachtete es.
    Darauf waren er und Tom zu sehen, wie sie lachend bei Hartmut’s letzter Geburtstagsfeier mit einem Bier anstoßen. Hotte hatte es geschossen und es ihnen später mit den Worten: „Ihr seid wirklich ein Taumpaar!“ überreicht. In Erinnerung an diese Aussage strich Semir sanft mit seinen Fingern über das Bild und murmelte leise: „Ja, das waren wir!“
    Dann stellte er es mit einem leisen Lächeln wieder an seinen Platz und wandte sich schweren Herzens dem Papierkram zu.





    Zur gleichen Zeit stand Chris in der kleinen Teeküche und holte neuen Kaffee. Susanne, die gerade Pause machte, schaute ihn von der Seite her an und fragte: „Na, Chris, alles klar?“


    Chris verzog leicht das Gesicht, stieß einen gottergebenen Seufzer aus und stöhnte: „Diese verhassten Berichte bringen mich noch um! Ich habe gar nicht gewusst, auf was ich mich da einlasse. In meiner Zeit als verdeckter Ermittler habe ich meinem Chef Bernd Simon zwischendurch mal einen mündlichen Bericht abgegeben. Den Rest hat er dann erledigt.“


    „Was? Du willst mir doch nicht erzählen, dass Du noch nie einen Bericht geschrieben hast?“ warf Susanne entrüstet ein.
    „Doch, doch, das schon..... na ja......manchmal....... ab und zu..... Aber im Vergleich dazu ist das hier Schwerstarbeit!“ rechtfertigte sich Chris.
    Susanne blickte ihn vorwurfsvoll an. „Außerdem vergisst Du immer die Unterschriften! Ich habe auf meinem Schreibtisch wieder drei Berichte liegen, die nicht korrekt sind. Ich reiche sie Dir gleich nach der Pause rein.“
    Chris verdrehte die Augen und sagte mit einem schiefen Grinsen: „Lass Dir ruhig Zeit!“


    Dann nahm er die beiden Tassen mit heißem Kaffee und wandte sich zum Gehen. Als er an der Tür angekam, blieb er kurz stehen und ließ seinen Blick durch die Räumlichkeiten der PAST streifen.
    Da war es wieder - dieses komische Gefühl - welches er in den letzten zehn Jahren nur selten gespürt hatte: Geborgenheit!
    In den letzten Wochen hatte er hier in diesen Räumen so viel Vertrautheit, Freundschaft und Loyalität unter den Kollegen erfahren, wie in den ganzen Jahren davor nicht zusammen.


    Und doch fiel es ihm schwer sich dieser Vertrautheit zu öffnen. Die Mauer, die er in all den Jahren um sich aufgebaut hatte, ließ sich nicht so einfach niederreißen. Manchmal hatte er das Gefühl, selber hinter dieser Mauer gefangen zu sein.
    Semir hatte in den ersten Tagen ihrer Partnerschaft oft versucht ihn auszufragen. Doch er hatte jeden Versuch abgeblockt. Noch immer hatte er Angst davor jemandem voll und ganz zu vertrauen.


    Chris schaute in die Richtung, wo ihr gemeinsames Büro war. Durch die große Scheibe konnte er sehen, wie Semir gerade das Foto mit Tom wieder an seinen Platz stellte. Er wußte aus Gesprächen der Kollegen untereinander, wie nah sich die beiden gestanden hatten. Chris wußte auch, das Semir Tom stark vermisste und mit ihm, Chris, gern eine ähnlich intensive Partnerschft aufbauen würde. Doch er war noch nicht bereit dafür. Vielleicht mit der Zeit, aber jetzt nocht nicht.
    Es tat Chris ein wenig weh Semir so zu sehen. Er mochte ihn und hätte gerne mehr ausser einer beruflichen Partnerschaft. Auch er sehnte sich nach echter Freundschaft.


    Doch leider saßen manche Ängste tief – besonders die vor Verrat und Verletzbarkeit – die dieses verhinderten. Schmerzliche Erfahrungen kamen vor seinem geistigen Auge empor. Schnell dachte er an Bernd, um auf andere Gedanken zu kommen.
    „Wenn Du mit dem Rücken zur Wand stehst, wag den Sprung ins kalte Wasser. Du kannst nichts verlieren, sondern nur gewinnen!“ hatte Bernd Simon ihm einmal in einer ausweglosen Situation gesagt.
    ‚Du hast ja recht, Bernd!’ dachte Chris bei sich. ‚In den nächsten Tagen werde ich es versuchen.’


    Dann gab er sich einen Ruck und ging zu Semir, der über der Tastatur grübelte.
    „Hier, Dein Kaffee!“ sagte Chris und stellte ihm die Tasse mit einem leichten Lächeln hin.
    Semir schaute kurz auf und bedankte sich. Dann machten sich beide wieder schweigend an die Arbeit.

  • Einen kleinen Hinweis habe ich heute morgen in meiner Nervosität vergessen zu erwähnen: Ich habe Chris' familären Hintergrund etwas abgeändert.
    Aber Ihr werdet es schon merken, wenn es so weit ist! :D

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    Anna Engelhardt hatte von ihrem Büro aus die Szene beobachtet.
    ‚Das wird noch ein hartes Stück Arbeit mit den beiden’ dachte sie teils amüsiert, teils besorgt. Dann wandte sie sich Frau Schrankmann zu, die ihr gegenübersaß und sie mit gerunzelter Stirn anschaute.


    „Probleme?“ fragte die Staatsanwältin direkt.
    „Nein, nein!“ wimmelte die Chefin sie ab.
    Doch die Staatsanwältin war in ihrem Element: „Wie macht sich denn der Neue?“
    Die Chefin warf ihr einen frostigen Blick zu und meinte mit kühler Stimme: „Der ‚Neue’, wie sie ihn nennen, hat einen Namen. Chris Ritter, falls er ihnen entfallen sein sollte.“


    Auf ihre Männer ließ Anna Engelhardt nichts kommen. Auch wenn Chris für sie noch fremd war und sie ihm noch nicht ganz vertraute, war er dennoch einer aus ihrem Team und nur das zählte!


    Sie holte tief Luft und fuhr dann im normalen Ton weiter: „Nach einigen Anfangsschwierigkeiten die Regeln betreffend läuft es im Moment ganz gut. Wir geben ihm Zeit.“
    „Hoffentlich bereuen Sie das nicht eines Tages.“ antwortete die Schrankmann von oben herab.
    „Das lassen Sie mal meine Sorge sein!“ lächelte die Chefin mit zusammengebissenen Zähnen und reichte ihr einen Stapel Berichte.





    Später am Nachmittag, Semir und Chris hatten gerade ihre Runde auf der Autobahn beendet, kam Susanne ihnen entgegen. Als sie die beiden sah, stemmte sie ihre Hände in die Hüfte und funkelte Chris an.


    „Chris, auf deinem Schreibtisch liegen immer noch die Berichte mit den fehlenden Unterschriften. Könntest Du das bitte gleich erledigen? Die Chefin möchte sie gerne sehen.“
    Verlegen kratzte Chris sich am Kopf und stammelte: „Klar, komm eben mit. Dann kannst Du sie sofort mitnehmen.“ Er ging ins Büro, gefolgt von Susanne und Semir, die sich beide kaum das Grinsen verkneifen konnten.


    Während Chris seine Unterschriften unter die Berichte setzte, sagte Susanne: „Außerdem habe ich noch eine Nachricht von der Staatsanwältin. Die erste Anhörung im Fall Gehlen ist in vier Wochen. Sie möchte sich mit Euch beiden vorher noch ein paar Mal treffen, um die Aussagen zu besprechen.“


    Semir und Chris schauten sich ernst an, dann wandte sich Semir ihr wieder zu. „Danke, Susanne. Wenn Du das nächste Mal mit der Schrankmann sprichst, kannst Du ihr ausrichten, das wir gut vorbereitet sind.“
    „Hoffentlich ist es die Staatsanwältin auch,“ fügte Chris mit steinerner Miene hinzu. „Sonst waren alle Opfer umsonst!“


    Für einen Moment herrschte bedrückendes Schweigen im Raum, dann nahm Susanne die Berichte an sich und nach einem kurzen Nicken ging sie hinaus.


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    Einige Tage später erhielt Roman Gehlen wieder Besuch von seinem Anwalt. Dieser wurde von Frank Lorenz, einem „Geschäftspartner“ Gehlen’s, begleitet. Eigentlich mochte Gehlen Lorenz nicht sonderlich. Für ihn war Lorenz ein Opportunist, der sich gerne an die Erfolge anderer hängte und selbst nichts auf die Beinen stellen konnte. Aber, und das musste man ihm lassen, er hatte immer seine Männer, die für ihn die Drecksarbeit erledigten, ohne Fragen zu stellen.


    Nach der Begrüßung kam Frank Lorenz gleich zur Sache.
    „Wie ich gehört habe, möchtest Du Dich an diesem Mark Jäger rächen?“


    „Mark Jäger!“ schnaubte Gehlen. „Ich hatte damals gleich den Verdacht, das mit der Ratte was nicht stimmt. Das Schwein war ein verdeckter Ermittler und heißt eigentlich Chris Ritter.“ Er spuckt die Worte mit tiefer Verachtung aus. „Er und dieser andere Polizist, mit dem Ritter zusammen gearbeitet hat, haben Erik auf dem Gewissen.“
    Er ballte die Hände zu Fäusten, das die Knöchel an seinen Fingern weiß hervortraten. „Ich will sie leiden sehen! Sie sollen so leiden wie ich. Danach könnt ihr sie meinetwegen umbringen.“ Schwer atmend ließ er sich in seinen Stuhl zurückfallen.


    Lorenz wartete geduldig den Ausbruch ab. Er wußte von früheren Begebenheiten, zu was Gehlen fähig war. Auch wenn er ihm hier und jetzt nichts anhaben konnte, wußte er doch, wie lang Gehlen’s Arm nach draußen war.


    Als er merkte, wie sich sein gegenüber langsam wieder beruhigte, räusperte er sich:
    „Vielleicht gehst Du die Sache einfach falsch an? Ich hätte da eine Idee wie wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen könnten.“


    Sofort hatte er Gehlen’s Aufmerksamkeit. Der gab ihm mit einer Kopfbewegung zu verstehen, dass er fortfahren solle.
    „So wie ich das sehe, hängt Deine Verurteilung nur von den Aussagen der beiden Polizisten ab. Richtig?“


    „Genau“, warf der Anwalt ein. „Die Aussagen der Mädchen sind in so fern nutzlos, da sie nur wissen, das sie als Kindermädchen nach Deutschland kommen sollten. Anders lautende Aussagen können wir als Mutmaßung herunterspielen. Den Verdacht der Schleuserei hängen wir mit etwas Glück dem Kapitän des Frachters an. Die letzte Zeugin ist tot und die früheren ‚Lieferungen’ lassen sich nur schwer zurück verfolgen.“


    Lorenz beugte sich leicht nach vorn, blickte Gehlen direkt ins Gesicht und sprach mit leiser Stimme: „Was wäre, wenn es keine Aussagen gäbe?“
    Sofort brauste der Anwalt auf: „Sind Sie verrückt? Wenn Sie die beiden jetzt umbringen, wirft das nur noch mehr Fragen auf. Dann wird sich die Staatsanwaltschaft nur noch intensiver mit uns befassen und wir können ganz einpacken!“


    Lorenz beachtete den Einwand nicht und ließ die ganze Zeit die Augen nicht von Gehlen. Mit einem bedrohlichen Unterton fuhr er fort: „Ich meine aber folgendes:... Was wäre, wenn die beiden ihre Aussagen widerrufen?“


    Gehlen’s Gesichtsausdruck verriet zuerst nichts. Dann verstand er langsam und es blitzte gefährlich in seinen Augen auf. „Hast Du schon eine Idee, wie Du das bewerkstelligen willst?“


    „Lass das mal meine Sorge sein. Ich habe mir deshalb schon ein paar Gedanken gemacht. Sobald der Plan anläuft sage ich Dir Bescheid.“
    Zufrieden lächelte Gehlen vor sich hin. „Ich kann es gar nicht abwarten, ihnen im Gerichtssaal gegenüber zu sitzen und ihr Gesichter zu sehen, wenn die Anklage zusammenfällt.“ Dann brach er in schallendes Gelächter aus ....

  • Kurze Zeit später saß Lorenz in seinem Wagen und telefonierte mit seinen Leuten.
    „Wir haben das OK von Gehlen. Macht Euch an die Arbeit und bis Ende nächster Woche will ich Ergebnisse haben. Dann müssen wir zuschlagen können, denn die Anhörung ist schon die Woche drauf. Und seid vorsichtig! Ritter und der andere Typ dürfen nichts merken!“
    Zufrieden legte er auf, denn er wusste, dass der Apparat ins laufen gekommen war.


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    Chris und Semir kamen aus der KTU und holten tief Luft. Chris steckte sich eine Zigarette an und beobachtete Semir. Der stand kurz vor einer verbalen Explsion.
    Er gab ihm einen Klaps auf die Schulter: „Komm, beruhig Dich! Hartmut meint es doch nur gut. Er kann halt nicht anders.“


    Semir schnaubte: „Eines Tages...“ und fuchtelte dabei wild mit seinem Zeigefinger in der Gegend herum „...werde ich ihn mal umbringen und dabei auch so gestochen daher reden!... Erst erzählt er uns etwas lang und breit über ölige Faktoren....“


    „Olfaktorisch“ korrigierte ihn Chris, wonach er sofort einen weiteren bösen Blick von Semir erntete und abwehrend die Hände hob.


    „Von mir aus auch das!“ tobte Semir weiter. „Und dann erzählt er uns mit seinem süffisanten Lächeln, das jemand russisches Rasierwasser im LKW verschüttet hat. Das hätte er doch gleich sagen können. Oder?... Und gerochen hatte ich es schon lange!“


    Chris wollte gerade antworten, als Semir’s Handy klingelte.
    „Ja, Susanne, was gibt’s?“ blaffte er ins Handy, nachdem er dem Display entnommen hatte wer der Anrufer war. „Und bitte kurz und präzise. Sonst lege ich einfach auf.“


    Er hörte kurz zu, unterbrach die Verbindung und sagte: „Unfall mit Fahrerflucht auf der A 59! Wir sollen uns darum kümmern.“
    Er drehte sich auf dem Absatz um und stapfte zum Wagen. Kopfschüttelnd folgte ihm Chris.





    Als sie später am Nachmittag zurück in der PAST waren, hatte sich Semir beruhigt und konnte auch schon wieder über die ganze Sachen lachen. Er ging zu Susanne, um sich bei ihr zu entschuldigen.


    „Susanne, es tut mir leid. Ich wollte Dich vorhin nicht anschnauzen. Aber Hartmut hat mich mal wieder mit seinem Fachchinesisch zur Weißglut gebracht.“


    Susanne schaute ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.
    „Also,… ich finde das ‚Fachchinesisch’, wie Du es nennst, immer recht interessant. Hartmut kann die die Sachen sehr gut auf den Punkt bringen. Man muss nur richtig zuhören.“
    Nach einem verträumten Augenaufschlag fügte sie wie in Gedanken hinzu: „Und dann erst dieses Lächeln...!!“


    Semir starrte sie einige Sekunden mit großen Augen und offenem Mund an. Dann fand er seine Sprache wieder und polterte los: „ Sag bloß, da läuft was zwischen Euch beiden?!“
    Einen Moment konnte Susanne sich noch beherrschen, dann fing sie an zu lachen.
    „Quatsch! Aber dieser Ausdruck auf Deinem Gesicht... köstlich! Das hat mich für Deinen Anraunzer entschädigt!“


    Hinter Semir’s Rücken konnte sich Chris kaum noch das Grinsen verkneifen. Er wollte gerade ins Büro verschwinden, als Susanne ihn zurück rief:
    „Ach übrigens, Chris, die Chefin will Dich sehen.“ Dabei deutete sie mit dem Kopf in die Richtung von Engelhardts Büro.


    Sofort verging ihm das Lachen. „Mich?“ fragte er nach. „Aber weswegen?“
    „Keinen Ahnung!“ antwortete Susanne die Schulter zuckend. „Geh rein, dann erfährst Du es.“
    „Na, was hast Du jetzt wieder angestellt?“ wollte Semir wissen.


    „Nichts.... Jedenfalls nicht das ich wüsste.“ Fieberhaft dachte Chris nach. Er hatte seit Tagen kein Auto zu Schrott gefahren, die Berichte waren seines Wissens nach korrekt, bei den Verhören nahm er sich zurück und er versuchte allen Kollegen gegenüber höflich zu sein.


    Mit ernster Miene ging er zu Engelhardts Büro. Durch die Scheibe bemerkte er, das sie gerade am telefonieren war und zögerte. Sie sah ihn und noch während er überlegte, ob er anklopfen sollte, winkte sie ihn herein.
    Mit der freien Hand deutet sie auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch und bedeutete ihm sich zu setzen. Sichtlich unwohl nahm Chris Platz. Noch immer überlegte er, was er falsch gemacht haben könnte.


    Nach einer Minute, die ihm wie eine Ewigkeit vorkam, beendete sie das Gespräch. Während sie sich ihm zuwandte, öffnete sie eine Akte, die vor ihr auf dem Tisch lag.
    ‚Jetzt kommt’s’ dachte Chris bei sich und wappnete sich gegen eine weitere Abmahnung.

  • „Herr Ritter, ich komme gleich zur Sache....“ fing Anna Engelhardt an.
    ‚Oje, wenn sie schon so anfängt!’ Chris hielt automatisch die Luft an.
    „....Erinnern Sie sich an einen Lars Peters?“ fuhr sie fort.
    Sichtlich verwirrt über die Frage stieß er die Luft aus und überlegte kurz. „Lars Peters...“


    Dann erinnerte er sich. „Klar, den kenne ich. Ist aber schon sehr lange her. Wir haben uns vor einigen Jahren bei einer Fortbildung kennen gelernt. Eine kurze Zeit haben wir auch mal zusammen gearbeitet und eine Falschgeldbande hochgehen lassen. So weit ich weiß, ließ er sich vor 1 ½ - 2 Jahren zum Zoll versetzen und arbeitet jetzt in Hamburg.“


    Anna Engelhardt nickte. „Genau,... das hat er mir auch erzählt.“ Sie reichte ihm einen Zettel mit einer Telefonnummer.
    „Er möchte gern, das sie sich bei ihm melden. Wie sich herausstellte, haben Sie wohl vor ein paar Tagen jemanden festgenommen, den Herr Peters zur Fahndung ausgeschrieben hat. Als er nun Ihren Namen im Bericht las, wollte er sich gleich mit Ihnen in Verbindung setzen und wissen wie es Ihnen geht.“


    „Danke“, antwortete Chris und schaute nachdenklich auf den Zettel. Anna bemerkte, das ihn etwas beschäftigte und wartete ab.
    „Der Gefangene... Soll er nach Hamburg überführt werden?“ fragte Chris nach einigen Augenblicken zögerlich.


    Als die Engelhardt nickte, stand er auf und ging zur Tür. Er legte die Hand auf die Klinke... hielt dann aber inne. Nach 1-2 Sekunden drehte er sich um und fragte vorsichtig: „Hätten Sie etwas dagegen, wenn Semir und ich das erledigen?“


    Erstaunt hob Anna die Augenbrauen. „Sie beide? Aber wieso?“
    Chris nahm die Hand von der Türklinke und ging langsam zurück zum Schreibtisch. Er schien nach den richtigen Worten zu suchen.


    „Zum einen könnte ich einen alten Bekannten wiedersehen. Zum anderen, und das wäre der Hauptgrund, wäre das die Gelegenheit, bei der Semir und ich unsere Partnerschaft verbessern könnten.“


    Anna schaute ihm ins Gesicht und versuchte darin zu lesen. Sie konnte in seinen Augen sehen, wie wichtig es für ihn war und wie schwer ihm diese Anfrage gefallen sein musste.
    Es war wahrscheinlich der leichte Hauch von Verzweiflung, die in Chris’ Stimme mitschwang, die Anna weich werden ließ.
    Sie lächelte. „Geben Sie mir eine Stunde Zeit. Ich kläre das ab.“
    Erleichtert atmete Chris auf. „Danke!“ Dann ging er in sein Büro.





    Dort angekommen antwortete er auf Semir’s fragenden Blick hin nur: „Ich erkläre es Dir später. Ich muss erst auf einen Anruf warten.“


    Die nächste halbe Stunde zog sich für Chris hin wie Kaugummi. Gerne wäre er nach draußen gegangen, um sich eine Zigarette zu rauchen. Aber dann hätte er vielleicht den Anruf verpasst.
    Er merkte, wie die Ungeduld in ihm zunahm. Nervös schaute er immer wieder zum Büro der Chefin. Doch die telefonierte und telefonierte.


    Als Chris einmal kurz aus dem Fenster schaute, klingelte plötzlich sein Anschluß. Das Blinken der grünen Taste zeigte ihm, das es ein interner Anruf war. Hastig nahm er ab.
    „Ja?“ fragte er kurz in den Hörer, gefolgt von einem: „Ich komme.“


    Chris legte auf, schaute Semir mit einem vielsagenden Blick an und sagte beim hinausgehen: „Drück mal die Daumen. Mit etwas Glück kommen wir beide hier für ein paar Tage raus.“
    „Hä?“ Verständnislos schaute Semir ihm hinterher. Er wurde einfach nicht schlau aus Chris.





    Anna Engelhardt hatte gute Nachrichten.
    „Sie dürfen den Gefangenen in zwei Tagen nach Hamburg bringen. Wenn Sie früh genug los fahren, könnten Sie Abends wieder zurück sein. Herr Peters erwartet sie auf jeden Fall schon. Rufen Sie ihn gleich an und klären alles weitere mit ihm ab.“


    „Danke, das werde ich“ versprach Chris. Er zögerte kurz. „Dürfte ich Sie noch um einen weiteren Gefallen bitten?“
    Als die Chefin ihn fragend anschaute, fuhr er fort: „Können wir einen Tag länger bleiben? Ich möchte Semir gern etwas zeigen.“
    Noch immer schaute die Chefin ihn mit einem fragenden Blick an.
    „Wir könnten Überstunden abbauen!?“ argumentierte Chris vorsichtig.


    Nach einem kurzen Schweigen nickte Anna Engelhardt entschieden.
    „OK! Aber...“ fügte sie in einem ernstenTonfall hinzu, „... ich will sie beide am Mittwoch hier topfit im Büro sehen. Sie beide haben Termine bei der Staatsanwaltschaft ihre Aussage betreffend. Und ich weiß, wie viel ihnen an diesem Fall liegt. Enttäuschen Sie mich nicht.“
    Auf Chris’ Gesicht spiegelte sich Erleichterung. „Ganz bestimmt nicht. Und noch einmal: Danke!“





    Später am Abend saß Chris bei sich zu Hause und führte ein langes Telefonat.
    Als er auflegte, fühlte er sich auf der einen Seite befreit. Auf der anderen Seite merkte er, wie wieder die alten Ängsten in ihm hochkrochen.
    Er wusste, dass dies die beste Gelegenheit war Semir einzuweihen.
    ‚Vertrauen, Chris! Einfach mal vertrauen.’ dachte er bei sich. ‚Was kann schon schief gehen?’
    Dann überflog ein Grinsen sein Gesicht. ‚Auf das Gesicht von Semir bin ich jetzt schon gespannt!’

  • Zwei Tage später holte Chris Semir sehr früh von zu Hause ab. Andrea stand mit Aida auf dem Arm an der Tür und begrüßte ihn.
    „Guten Morgen, Chris. Komm doch kurz rein. Semir ist gleich fertig.“


    Chris ging zögerlich ins Haus. Nervös ließ er seinen Blick umherschweifen.
    „Möchtest Du, solange Du wartest, einen Kaffee?“ fragte Andrea freundlich, als sie merkte das Chris sich in seiner Haut nicht wohl fühlte.
    ‚Ist wahrscheinlich die Aufregung wegen der Einsatzes’ mutmaßte sie in Gedanken.


    „Schwarz, ohne Zucker?“ hakte sie nach, als Chris nicht sofort antwortete.
    „Danke,... aber nein“, meinte Chris mit einem nervösen Lächeln. „Ich möchte gerne so schnell wie möglich los kommen.“


    Im selben Moment kam Semir die Treppe herunter. „Na, Partner? Alles klar?“
    „Alles klar“, antwortete Chris und deutete mit der Hand in Richtung Tür. „Soll ich schon einmal Deine Tasche zum Auto bringen, während Du Dich von Deiner Familie verabschiedest?“
    „So eilig?“ fragte Semir erstaunt.


    Chris murmelte was von „Berufsverkehr“, „LKW’s“ und „voller Autobahn“. Dann hob er zum Abschied die Hand in Richtung Andrea und nahm beim Hinausgehen die Reisetasche von Semir mit, die in der Nähe der Eingangstür stand. Andrea und Semir schauten sich kurz an, dann ihm hinterher.
    „Frag’ nicht“, seufzte Semir mit einem Schulterzucken. „So ist er immer!“


    Dann nahm er seine Frau und Tochter liebevoll in den Arm und verabschiedete sich von ihnen.
    „Pass auf Dich auf, mein Schatz! Ich rufe Dich an, sobald ich Zeit habe.“
    Andrea strich mit ihrer Hand über Semir’s Gesicht, schaute ihm in die Augen und flüsterte: „Pass Du auf Dich auf! Wir kommen schon klar. Und denk immer daran: Wir beide lieben Dich!“
    Sie gab ihm einen Kuss und als der Mercedes kurz danach abfuhr, stand sie noch lange mit Aida an der Tür und winkte.





    Die Strasse etwas weiter runter ließ ein Mann in einem dunkelroten Auto die Kamera sinken und machte sich ein paar Notizen.
    Er griff zum Handy, wählte eine Nummer und nach kurzer Zeit meldete sich sein Gesprächspartner: „Die beiden sind gerade losgefahren. Bleibt an ihnen dran. Aber unauffällig! Ich bleibe auf meinem Posten.“
    Er legte auf und schaute durch ein Fernglas zum Haus. Alles war ruhig, die Frau war noch da.
    ‚Gut!’ dachte er. Dann wartete er weiter.





    Chris und Semir holten ihre „Fracht“ ab und waren kurze Zeit später auf dem Weg. Sie bemerkten nicht den dunkelgrünen Wagen, der ihnen im großen Abstand folgte.
    Sie sprachen wenig miteinander, was zum Teil auch an der fremden Person mit im Auto lag. Die meiste Zeit hing jeder seinen Gedanken nach.


    Die Fahrt verlief ohne Probleme, so das sie kurz vor Mittag in Hamburg ankamen. Sie brachten den Gefangenen gleich zur JVA, wo sich Chris und Herr Peters herzlich begrüßten.


    „Chris, ist das schön Dich zu sehen! Ich habe so lange nichts mehr von Dir gehört. Ich dachte schon, Du wärst drauf gegangen.“
    „Ein paar Mal war es schon recht knapp“, erwiderte Chris ernst. „Doch darf ich Dir erst einmal meinen neuen Partner Semir Gerkhan vorstellen?“ Er deutete mit seiner rechten Hand zu Semir.


    „Klar,... sicher.“ Mit einem entschuldigendem Blick wandte er sich an Semir und gab ihm die Hand.
    „Hallo, es freut mich Sie kennenzulernen. Mein Name ist Lars Peters. Aber sagen Sie einfach Lars zu mir.“
    Semir schüttelte die Hand von Herrn Peters. „Hallo, ich bin Semir. Es freut mir sehr einen alten Kollegen von Chris kennenzulernen.“
    Er deutete mit einer Kopfbewegung in die Richtung von Chris. „Sie kennen ihn schon lange?“


    „Naja, wie man’s nimmt. Chris und ich haben uns vor vielen Jahren bei einer Fortbildung kennengelernt und sind uns später bei einer verdeckten Ermittlung über den Weg gelaufen... Wie lang ist das eigentlich her?“ fragte er Chris.
    „Neun Jahre“, antwortete Chris nach kurzem überlegen.


    Lars Peters schüttelte leicht den Kopf. „Schon so lange?! Nun ja, wie dem auch sei, eine Zeit lang haben wir noch versucht Kontakt miteinander zu halten. Aber das ist nicht so leicht in diesem Job.“
    Mit einem Augenzwinkern fragte er Semir: „Wie macht er sich? Hat er immer noch die gleichen Macken wie früher? Mich hat er zum Beispiel immer in den Wahnsinn getrieben, wenn er....“


    „So, nun ist aber gut“, fuhr Chris dazwischen. „Wir sind hier um Deinen Gefangenen abzuliefern.“
    Mit einer ausholenden Handbewegung zeigte er auf das Auto. „Könnten wir uns jetzt wieder unseren Aufgaben zuwenden?“


    „Ungeduldig wie früher... Aber Du hast ja recht. Dann kommt mal mit. Übrigens, habt Ihr zwei gleich noch ein bisschen Zeit? Wir könnten dann zu Mittag essen gehen.“
    An Semir gewandt feixte er: „Da kann ich noch mehr Sachen erzählen!“
    Semir zog amüsiert die Augenbrauen hoch. „Das hört sich gut an. Ich hätte Zeit!“


    Chris drehte sich zu den beiden Männern um und wollte ihnen gerade den Marsch blasen, als er merkte, das sie ihn auf den Arm nahmen. Heftig stieß er die angehaltene Luft durch die zusammen gebissenen Zähnen hindurch und zischte: „Ach, macht doch was Ihr wollt!“
    Ungehalten zerrte er den Gefangenen aus dem Auto und zog ihn unsanft zum Büro.

  • Nachdem der Papierkram erledigt war, gingen sie in einem kleinen Lokal essen. Lars erzählte während des Essens viel Interessantes über das, was er in den letzten Jahren erlebt hat.
    Nach einiger Zeit hakte Chris nach: „Warum hast Du eigentlich aufgehört als verdeckter Ermittler zu arbeiten? Du warst doch gut.“


    „Ich habe den Druck nicht mehr ausgehalten. Deswegen habe ich mich vor 1 ½ Jahren zum Zoll versetzen lassen. Jetzt habe ich regelmäßige Arbeitszeiten, geregelten Urlaub und wenn die Leute mich in der Uniform sehen, wissen sie, mit wem sie es zu tun haben. Das macht vieles leichter!... Was ist mit Dir? Was hast Du so erlebt?“


    Chris nahm den letzten Zug seiner Zigarette, drückte sie im Aschenbecher aus und ließ dabei seinen Blick durch das Lokal streifen. Semir kannte das und wußte, was jetzt kommen würde. Und er sollte recht behalten.


    „Bei mir?“ fragte Chris wie beiläufig. „Eigentlich nichts besonderes. Mal eine kleine Bande hier, mal einen Wucherer da.... nichts großartiges.“
    Lars merkte, das Chris nichts weiter zu dem Thema sagen wollte. Er versuchte es anders. „Hast Du deshalb aufgehört? Wohl zu wenig Action für Dich.“


    Bevor Chris antworten konnte, hob Semir zum Sprechen an.
    „Das ist zum Teil meine Schuld.“ Nach einer kurzen Pause fuhr er mit belegter Stimme fort:
    „Vor ein paar Wochen wurde mein Partner eiskalt erschossen. Ich hatte Chris in Verdacht und habe mich an ihn rangehängt. Dadurch habe ich seine Tarnung gefährdet und einige Leute misstrauisch gemacht. Ehe wir uns versahen, mussten wir zusammenarbeiten, um seine Haut zu retten… Naja, seit dem versuchen wir uns zusammen zu raufen.“


    Chris schaute Semir an. Täuschte er sich, oder schwang in der Stimme von Semir ein Hauch von Bitterkeit? In seinem Gesicht konnte er jedenfalls einen leichten Anflug von Traurigkeit lesen.
    Er empfand Mitleid mit ihm, daher sagte er schnell: „Auf jeden Fall wäre ich ohne Semir nicht mehr hier. Hätte er mich nicht rechtzeitig gefunden, läge ich jetzt wahrscheinlich mit `ner Kugel im Kopf in irgendeiner Sandgrube verscharrt.“ Dabei warf er einen dankbaren Blick zu Semir.
    Dieser lächelte leicht, legte kurz den Kopf etwas schräg und meinte: „Schon ok!“


    Chris wechselte schnell das Thema und nach zehn Minuten schaute er auf die Uhr.
    „So, Lars, es tut mir leid, aber wir müssen weiter. Wir haben noch eine andere Verabredung.“
    „Ach ja?“ fragte Semir erstaunt. „Da weiß ich ja noch gar nichts von!“
    „Ist `ne Überraschung. Also frag nicht weiter“, beantwortete Chris seine Frage knapp.


    Die Männer bezahlten und gingen hinaus. Lars schüttelte Chris die Hand: „Es war sehr schön Dich nach all den Jahren wieder zu sehen. Lass uns weiter in Kontakt bleiben... Wer weiß, vielleicht können wir mal wieder den einen oder anderen Fall zusammen lösen?!“


    „Ja, wer weiß das schon. Aber möglich ist alles.“ Chris schien mit seinen Gedanken plötzlich ganz woanders.
    „Semir, würdest Du mich einen Moment entschuldigen. Ich muss mal schnell telefonieren. Bin dann beim Auto.“
    Er drehte sich noch einmal kurz zu Lars um, hob zum Abschied die Hand und sagte: „Es war schön, Dich mal wieder zu sehen. Wir bleiben in Kontakt!“ Dann ging er zum Auto.


    Verwundert schauten Semir und Lars ihm hinterher, dann zeigte Lars mit dem Finger in die Richtung, in die Chris verschwunden war. „Hatte ich das nicht gerade gesagt?“
    Semir grinste kurz und meinte mit resignierter Stimme: „Willkommen im Klub! Mir geht es mit ihm genauso. Manchmal weiß man nicht, wo man bei ihm dran ist.“


    Dann reichte er ihm schmunzeld die Hand und sagte: „Es war schön, Dich kennengelernt zu haben. Und was den Kontakt angeht – es kann sein, das ich Dich mal in den nächsten Tagen anrufe. Dann kannst Du mir mehr über die erwähnten Macken von Chris erzählen.“
    Dabei zwinkerte er ihm verschmitzt zu und die beiden Männer schüttelten sich zum Abschied die Hände.





    Semir folgte Chris zum Wagen und hörte noch, wie sich dieser von jemandem verabschiedete. Er setzte sich auf den Beifahrersitz.
    „Erzählst mir jetzt wo es hingeht?“ fragte er.
    Chris schaute ihn nachdenklich an und nach einer Weile antwortete er: „Ich werde es Dir unterwegs erzählen. Einverstanden?“
    Semir nickte stumm. Er merkte, das es wichtig für Chris war.


    Chris ließ den Motor an und fuhr los. Sie durchquerten Hamburg und kurz darauf waren sie auf der Autobahn. Als nach einiger Zeit Chris immer noch nichts sagte, schaute Semir ihn verstohlen an. Dieser nagte an seiner Unterlippe und in seinem Gesicht spiegelte sich Nervosität.


    Sanft fragte er: „Chris, was ist los?“
    Chris atmete tief durch. ‚Jetzt oder nie’, mahnte er sich. ‚Du hast es versprochen!’
    Er warf Semir einen kurzen Blick zu und als er wieder auf die Strasse blickte, sagte er mit rauer Stimme: „Ich möchte Dir gerne etwas zeigen.“
    Überrascht drehte sich Semir in seinem Sitz ihm zu. „Was denn?“


    Chris schien nach den richtigen Worten zu suchen. Nach einigem Zögern sagte er:
    „Du hast es mit mir in den letzten Wochen nicht immer einfach gehabt... Und Du hast viele Fragen, das weiß ich. Aber gib mir bitte die Zeit sie in meiner Zeit zu beantworten... Ich möchte unserer Partnerschaft gern eine Chance geben und Dir daher gerne den Ort zeigen, an dem ich mich in den letzten Jahren zurückziehen konnte. Einen Ort, an dem ich Kraft für neue Einsätze tanken konnte und wo ich ganz einfach ich sein konnte... Für mich war er wie ein sicherer Hafen, in dem ich schon so manchen Sturm überstanden habe... Egal was war! ...Er bedeutet mir immer noch sehr viel ... und außer Bernd kannte ihn niemand... Vielleicht verstehst Du mich danach etwas besser.“


    Semir ließ die Worte auf sich wirken. Chris hatte zum Schluss mit immer leiser werdender Stimme, aber mit sehr viel Emotionen gesprochen.
    ‚Wow’, dachte er bei sich. ‚Was war denn das jetzt?’


    Nach einer Weile fragte er vorsichtig: „Darf ich erfahren, um was für einen Ort es sich handelt?“
    Chris’ Gesicht entspannte sich und ein leises Lächeln umspielte seine Mundwinkel. „Ist es ok, wenn ich es Dir erst sage, wenn wir da sind? Ich möchte Dich gern überraschen.“
    „Ich liebe Überraschungen!“


    Die nächsten knappen zwei Stunden Fahrt unterhielten sie sich über Lars Peters und anderen, teils belanglosen Dingen.
    Dann nahm Chris eine Ausfahrt von der Autobahn und und sie fuhren lange Zeit durch eine ländliche Gegend.





    Der Fahrer des dunkelgrünen Autos, das ihnen noch immer folgte, fluchte laut: „Verdammt! Wo wollen die denn jetzt hin? Erst gurken die durch halb Deutschland, dann durch diese gottverlassenen Gegend. In dieser offenen Landschaft kann ich ihnen kaum folgen, ohne das sie etwas merken.“


    „Bleib so lange an ihnen dran wie es geht“, brummte der Beifahrer. „Vielleicht haben wir Glück.“
    „Außerdem habe ich Hunger! Die haben schließlich gegessen und wir mussten nur mit einem Schokoriegel auskommen.“
    „Kannst Dich ja beim Boss beschweren! Aber warte, bis ich dabei bin. Das möchte ich auf keinen Fall verpassen.“ Der bissige Sarkasmus war nicht zu überhören.
    „Ist ja schon gut!“ Missmutig gab der Fahrer klein bei.


    Nach ein paar Minuten merkten sie, das der Wagen vor ihnen langsamer wurde und der Fahrer häufiger in den Rückspiegel schaute.
    „Scheiße! Ich glaube die haben etwas gemerkt!“ Der Fahrer schlug ärgerlich auf’s Lenkrad.
    „Verfall jetzt ja nicht Panik“, warnte ihn der Andere. „Er kann uns erst jetzt bemerkt haben. Fahr einfach an der nächsten Kreuzung in die andere Richtung. Vielleicht finden wir sie später wieder.“


    So unauffällig wie möglich fuhren sie an der nächsten Kreuzung in eine andere Richtung wie der blaue Mercedes. Kaum ausser Sichtweite drehten sie den Wagen und versuchten ihre Beute wieder zu finden.


    „Warum konnten wir auch keinen Peilsender anbringen? Das würde uns die ganze dämliche Rumjuckelei ersparen“, maulte der Fahrer.
    „Weil die ihre Autos regelmäßig kaputt fahren und somit häufig in der Werkstatt sind. Ein Sender hätte entdeckt werden können. Das Risiko war dem Boss zu hoch. Hör’ jetzt auf zu meckern und lass uns weiter suchen.“


    Doch sie hatten kein Glück. Als sie erkannten, das sie sie verloren hatten, rief der Beifahrer seinen Boss auf dem Handy an und erzählte von ihrem Misserfolg. Dann hörte er eine Zeit lang schweigend zu. Mit einem: „Wird erledigt!“ legte er auf und wandte sich dem Fahrer zu.


    „Der Boss ist ziemlich sauer. Wir sollen zurück kommen und uns in die Nähe der Wohnung von diesem Ritter postieren. Sobald er dort auftaucht, haben wir Meldung zu machen.“
    Schlecht gelaunt fuhren die beiden zurück zur Autobahn.

  • Chris, der wie immer, wenn er diese Strecke fuhr, aus lauter Gewohnheit regelmäßig in den Rückspiegel geschaut hatte, bemerkte den grünen Wagen. Als sie zwei Ortschaften weiter waren und er ihn wieder sah, wurde er leicht nervös.
    Gerade als er überlegte Semir davon zu erzählen, bog der Wagen in eine andere Richtung ab. Erleichtert atmete er innerlich auf.
    ‚Du siehst Gespenster!’ schalt er sich selber. ‚Bleib locker!’
    Kurze Zeit später maß er dem Ereignis keinerlei Bedeutung mehr zu.





    Semir, der von all dem nichts mitbekam, rätselte wohin Chris ihn bringen würde.
    ‚Der wird doch nicht etwa in einem Kloster gelebt haben!?’ schmunzelte er in sich hinein. Sogleich verwarf er den Gedanken. ‚Nee..., das wäre ja so, als würde man einen Ghettoblaster mit in die Oper nehmen!’


    Er schaute aus dem Fenster und bemerkte, das sie eine weitere kleine Ortschaft durchquerten.
    Amüsiert gab er zu bedenken: „Du weißt aber schon wohin Du fährst, oder?“
    Irritiert antwortete Chris: „Klar weiß ich das. Warum fragst Du?“
    „Nun, ich habe das Gefühl, das wir immer wieder durch den selben Ort fahren. Hier sieht’s immer irgendwie gleich aus: Felder und Wiesen, Weiden mit Kühen oder Schafen, Bauernhöfe, kleine Dorfkirche, Dorfplatz, Fachwerkhäuser usw.... Und Du bist Dir ganz sicher, das wir hier richtig sind?“


    Chris lachte kurz auf: „Ja, ich bin mir sogar ganz sicher! Gedulde Dich noch etwas... in etwa fünf Minuten sind wir da.“
    Semir sah Chris neugierig an. Es war das erste Mal, dass er hatte Chris lachen hören. Und als er ihn so betrachtete, konnte er auch erkennen, wie entspannt er wirkte.
    „Du machst es aber ganz schön spannend. Kannst Du mir nicht einen kleinen Hinweis geben?“


    Bevor Chris antwortete, schaute er sich wie gewohnt um, auch im Rückspiegel, und als er merkte, das sie allein waren fuhr er rechts ran, nahm den Gang raus und schaltete die Warnblinkanlage an. Er blickte Semir ernst an.


    „Du hast Dich doch letztens gewundert, dass ich an den Wochenenden nur schwer oder gar nicht erreichbar bin.“
    Als Semir nickte, fuhr er fort: „Wie bereits erwähnt, möchte ich Dir einen Ort zeigen, der mir sehr, sehr wichtig ist. Dabei geht es mir vor allem darum, Dir die vier wichtigsten Personen in meinem Leben vorzustellen.“


    Semir machte den Mund auf, um eine Frage zu stellen. Doch Chris gab ihm mit einer Handbewegung zu verstehen, das er mit seiner Erklärung noch nicht fertig war.
    „Du musst mir eins versprechen:... Was immer ich Dir hier zeige oder erzähle, musst Du für Dich behalten. Kannst Du das?“
    Bittend schaute er dabei Semir an.


    Dieser war im ersten Augenblick sprachlos, dann nickte er: „Wenn es Dir denn so wichtig ist, verspreche ich es Dir hoch und heilig!“
    Dabei hob er wie zum Eid die Hand.
    Chris lächelte leicht: „Na, dann mal los. Wir werden schon erwartet.“

  • Dann will ich Euch mal nicht länger auf die Folter spannen! :D
    Und wenn Ihr noch beim Frühstück seid, verschluckt Euch nicht!! ;)
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    Er schaltete die Warnblinkanlage aus, legte den Gang wieder rein und fuhr die Strasse weiter runter. Nach einer langgezogenen Linkskurve passierten sie ein Ortsschild und Semir schaute sich neugierig um.


    Ihm fiel auf, das dieser Ort ein kleines bisschen größer war als die anderen Ortschaften, durch sie bisher gekommen waren. Nach ein paar hundert Metern bog Chris von der Hauptstrasse ab. Sie kamen an Bauernhöfen, alten Fachwerkhäusern und an Häusern neuerer Bauweise vorbei.


    Eine ältere Dame fegte vor ihrem Haus das erste Herbstlaub weg. Sie bemerkte Chris’ Wagen, hob erstaunt den Kopf und als sie ihn erkannte winkte sie ihm zu.
    ‚Na toll!’ dachte Chris gequält während er zurück winkte, ‚Bis zum Abendessen weiß jeder im Ort das ich da bin!’


    Kurz danach lenkte er den Wagen in eine Einfahrt und kam vor einem alten Gutsherrenhaus zum Stehen. Semir blickte erstaunt aus der Frontscheibe und ließ seinen Blick über das Haus schweifen.
    Die Fassade war in einem leichten Gelbton getüncht und die Fenster hatten weiße Rahmen mit eben solchen Läden aus Holz. Die Eingangstür wurde durch zwei Säulen eingerahmt. Links vom Haus stand eine mächtige Kastanie, die ihren Schatten auf die Einfahrt warf.


    Chris riss ihn aus seiner Betrachtung: „Wir sind da! Herzlich willkommen in meinem sicheren Hafen!... Komm, ich zeig Dir alles.“
    Damit stieg er aus und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Er atmete durch und merkte, wie alle Anspanung von ihm abfiel. Er freute sich wieder hier zu sein.
    Semir, der inzwischen auch ausgestiegen war, fragte mit großem Erstaunen in der Stimme: „Und wer wohnt hier?“


    Bevor Chris antworten konnte, wurde die Tür geöffnet. Eine Frau von Ende Dreißig mit langen, dunkelbraunen Haaren, die sie zu einem Zopf gebunden hatte, trat heraus, breitete die Arme aus, lief lachend auf sie zu und rief freudig: „CHRIS!“


    „Gaby!“ antwortete Chris als er sie bemerkte. Er drehte sich um und ging ihr lachend mit großen Schritten entgegen. Die beiden fielen sich in die Arme und umarmten sich sehr herzlich.


    Chris schloss für einen Moment die Augen, atmete tief ein und ließ den Moment der Geborgenheit auf sich wirken. Wie sehr hatte er sich danach gesehnt! Auch wenn es noch nicht lange her war, freute er sich immer wieder, wenn er hierher kommen konnte. Sie in den Armen halten zu dürfen gab ihm Kraft.


    Gaby schien es genauso zu gehen, denn ihre Umarmung war fest und intensiv.
    Nach einigen Sekunden lösten sie sich voneinander. Gaby legte ihre Hände auf seine Wangen, studierte einige Augenblicke lang sein Gesicht und mit einem sanften Lächeln meinte sie: „Gut siehst Du aus. Müde, aber entspannt! ... Es ist schön, das Du so kurzfristig vorbeikommen konntest. Die Kinder sind schon ganz aufgeregt und freuen sich Dich zu sehen!“
    Flüsternd fügte sie hinzu: „Du wirst sehen, es war eine gute Idee!... Vertrau mir!“


    Chris nahm ihre Hände in die seinen, zog sie zu sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Danach legte er seine Stirn auf die ihre und flüsterte mit geschlossen Augen: „Ich weiß: Vertrauen!“
    Zwei, drei Sekunden verharrte er so, dann löste er sich von ihr und drehte sich zu Semir um.


    Der stand da wie vom Donner gerührt! In seinem Kopf brandeten tausend Fragen auf.
    ‚Ich glaub es nicht! Chris hat eine Frau? ...Und Kinder? Nie im Leben! ...Nicht dieser Chris!... Dieser Eisblock... Dieser Griesgram!... Das kann doch nicht wahr sein!’


    „Semir!“ Plötzlich wurde er aus seinen Gedanken gerissen. Chris hatte seinen linken Arm um die Frau gelegt und kam auf ihn zu. Mit der rechten Hand deutete er auf ihn. „Gaby, darf ich Dir Semir Gerkhan vorstellen, meinen neuen Partner?“
    Die Frau machte einen Schritt auf Semir zu und reichte ihm mit einem Lächeln die Hand.
    Chris fuhr fort: „ Semir, darf ich Dir Gaby vorstellen?... Meine Schwester!“

  • Semir, der in der Zwischenzeit die angebotene Hand ergriffen hatte, stockte, blickte von einem zum anderen und war endgültig verwirrt: „Deine Schwester?... Aber ich dachte, Du... und sie... ich meine,... ich dachte ihr zwei wärt...?“
    Gaby lächelte amüsiert: „Hallo Semir! Es ist schön Sie endlich einmal kennen zu lernen. Chris hat mir schon viel von Ihnen erzählt.“


    „Ach, hat er das?“ Vorwurfsvoll warf er einen Blick zu Chris. „Von Ihnen hat er nicht ein Sterbenswörtchen erzählt!“
    Erschrocken nahm er eine Hand zum Mund. „Sorry, so meinte ich das nicht! Ich bin nur so überrascht. Ich meine,… er hat so ein Geheimnis um das alles hier gemacht.“ Dabei machte er eine ausladenen Handbewegung, die alles umfassen sollte, aber auch seine Hilflosigkeit zum Ausdruck brachte.


    Gaby lachte laut auf: „Schon ok! Ich weiß wie Sie es gemeint haben. Und Chris ist gut darin Geheimnisse zu verbergen. Ich habe da auch so meine Erfahrungen.“
    Sie knuffte ihren Bruder in die Seite. „Nun holt Eure Sachen aus dem Auto und kommt rein. Ich habe schon Kaffee gekocht!“


    Während die Männer ihre Taschen holten, fragte Chris: „Wo sind denn die Kinder? Ich habe sie noch gar nicht gesehen.“
    „Du hast sie knapp verpasst. Die beiden Jungs sind beim Fußball. Sie haben heute ein Auswärtsspiel und werden erst kurz vorm Abendessen zurück sein. Johanna ist mit ihrer Freundin beim Tanztraining. Sie müßte in einer guten halben Stunde wieder hier sein. Die Kinder hätten am liebsten alles abgesagt, als sie hörten, das Du kommst… Ich glaube, sie werden heute für den Nachhauseweg nicht so lange brauchen wie sonst“, fügte sie mit einem Schmunzeln hinzu.


    Die Männer folgten ihr ins Haus. „Stellt Eure Taschen erst hier unten ab. Chris, zeigst Du Semir wo das Bad ist? Dann könnt Ihr Euch etwas frisch machen. Kommt dann in den Wintergarten. Dort können wir noch ein bisschen die Herbstsonne genießen. Ich hole schon einmal den Kaffee.“



    Fünf Minuten später betraten die Männer den lichtdurchfluteten Wintergarten, der einen herrlichen Ausblick auf einen parkähnlichen Garten gab. Besonders ins Auge fiel eine mächtige Trauerweide am Ende des Gartens und ein großer Teich, der sich rechts in die Landschaft schmiegte. Vorm Wintergarten erstreckte sich eine breite Holzterrasse. Ein schmaler Kiesweg führte zu einer Hütte, die durch Büsche und Sträucher verdeckt stand. Durch die ersten Herbstfärbungen des Laubes zeigte sich der Garten in einem prächtigen Farbenspiel.


    „Ich zeige Ihnen nachher gern den Garten wenn Sie möchten.“ Gaby hatte Semir’s Blick bemerkt.
    Verlegen wehrte Semir ab: „Oh, tut mir leid. Ich wollte nicht unhöflich sein. Aber das ist ein wirklich toller Anblick! Macht bestimmt viel Arbeit?“
    „Ach, das geht“, antwortete Gaby leichthin. „Es gibt natürlich Zeiten, da ist richtig viel zu tun. Aber ich habe gute Freunde, die mir helfen. Und jetzt, wo Chris regelmäßiger kommen kann, habe ich immer ein paar Aufgaben für ihn.“ Dabei zwinkerte sie Chris zu.


    Der verschluckte sich fast an seinem Kaffee: „Hast Du etwa vor mir auch heute was auf’s Auge zu drücken?“
    „Nein, nein“, lachte Gaby und legte ihm beruhigend eine Hand auf den Arm. „Schließlich hast Du Besuch mitgebracht.“
    „Och, lassen Sie sich durch mich nicht abhalten.“ Leichthin zuckte Semir mit den Schultern.
    „Danke, Partner!“ entgegnete ihm Chris im gespielt vorwurfvollen Ton. “Dir ist aber schon klar, das ich Dich mit rankriege, wenn ich zum Arbeiten verdonnert werde!? Wozu sind Partner sonst da?“


    Er nahm einen weiteren Schluck Kaffee und wandte sich an seine Schwester: „Wie geht es den Kindern?“
    „Die sind alle gesund und munter. Auch Jakob’s Arm ist wieder ok. Die Verletzung ist gut verheilt und er geht seit ein paar Tagen wieder zum Fußballtraining. In der Schule läuft es ganz gut. Richard hat einen leichten Hänger, aber da kommt er auch wieder raus. Der packt das schon. Ansonsten freuen sich die Kinder schon auf die Herbstferien übernächste Woche... Ach ja, ich muss Dich warnen: Johanna hat das Shoppen als neues Hobby für sich entdeckt! Mindestens einmal die Woche zieht sie mit ihren Freundinnen los. Also, mach Dich auf was gefasst.“


    In den nächsten Minuten erzählte Chris’ Schwester noch mehr von den Kindern und was sonst so im Ort und in der Nachbarschaft passiert ist. Semir hörte interessiert zu. Ihm brannten tausend Fragen auf der Zunge, doch er hatte Chris versprochen ihm Zeit zu geben.
    Unauffällig fiel sein Blick auf Chris, der so entspannt und locker war, wie Semir ihn noch nicht erlebt hatte. Da war nichts mehr von dieser kühlen, abweisenden Art zu sehen! Selbst das sonst reglos, manchmal versteinerte Gesicht wirkte plötzlich ganz anders. In den Augen spiegelte sich Zufriedenheit und um den Mundwinkel lag ein beständiges, leises Lächeln. Er hatte das Gefühl einen ganz anderen Menschen vor sich zu haben.


    Plötzlich war ein Geräusch an der Haustür zu vernehmen. Ein Schlüssel wurde umgedreht und die Tür geöffnet.
    „Ah, Johanna ist zurück!“ teilte Gaby den beiden Männern mit. Laut rief sie: „Wir sind im Wintergarten!“
    Während man jemanden durch den Flur und das Wohnzimmer rennen hörte, stellte Chris seine Tasse ab und stand auf. In der Tür stand plötzlich ein junges, dunkelblondes Mädchen, dessen Haare verschwitzt an der Stirn klebten und über das ganze Gesicht strahlte.
    „PAPA!“ quiekte sie voller Freude und sprang Chris in die Arme. Der hob sie kurz hoch und drückte sie an sich.

  • Als "Danke schön" für die lieben, netten Feeds ein extra langes Stück! :baby:
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    „Hallo mein Schatz! Ich habe Dich vermisst!“ Er setzte sie ab und sofort fragte das Mädchen: „Bleibst Du wirklich nur für eine Nacht?“
    Bedauernd nickte Chris: „Ja, leider! Ich muss morgen wieder bei der Arbeit sein. Ich habe es meiner Chefin versprochen. Außerdem habe ich in den nächsten Tagen ganz wichtige Termine, auf die ich mich vorbereiten muss. Aber...“ fügte er schnell hinzu, als er ihr enttäuschtes Gesicht sah, „ich habe eine Überraschung für Euch, mit der ich das wieder gut mache.“
    “Was denn?“ fragte Johanna eifrig nach.
    „Das erzähle ich erst, wenn die Jungs da sind. So lange musst Du Dich noch gedulden, meine Süsse!“


    „Och, Mann!“ schmollte das Mädchen kurz. Dann zeigte sie auf Semir. “Ist das der Mann, mit dem Du jetzt zusammenarbeitest?“
    Ohne eine Antwort abzuwarten ging sie auf ihn zu und hielt ihm die Hand hin: „Hallo, ich bin Johanna!“


    Semir, der inzwischen gar nichts mehr verstand und nun völlig verwirrt war, nahm die Hand und schüttelte sie: „Hallo Johanna. Ich bin Semir... Und ja, ich arbeite mit dem da zusammen.“ Dabei zeigte er auf Chris.
    „Und?... Wie findest Du meinen Papa?“ hakte sie mit begeisterter Stimme und strahlenden Augen nach. Der Stolz auf ihren Vater war ihr ins Gesicht geschrieben.


    Bevor Semir antwortete, schaute er kurz zu Chris, dann wieder zu dem Mädchen.
    „Im Moment überlege ich, ob ich ihn nicht in Einzelhaft bei Wasser und Brot stecken soll, weil er mir nichts von seiner hübschen Tochter erzählt hat.“


    Das Mädchen lächelte verlegen. Als sie den Mund aufmachen wollte, ging Gaby dazwischen:
    „So, junge Dame, genug für’s erste. Du gehst jetzt nach oben, duscht Dich und ziehst Dich um. Du bist noch ganz verschwitzt vom Training. Weitere Fragen kannst Du später stellen.“
    Mit diesen Worten schob sie das protestierende Mädchen energisch vor sich her und sie verschwanden durch das Wohnzimmer.



    Fragend schaute Semir Chris an und breitete mit einer hilflosen Geste die Arme aus.
    „Deine Tochter?… Du hast eine Tochter?… Als Ihr von den Kindern spracht, habe ich angenommen, es handelte sich dabei um die Kinder Deiner Schwester!... Jetzt musst Du mir erst einmal einiges erklären. Ich hab das Gefühl ich bin im falschen Film!“


    Chris stand auf, ging zu einer der großen Fensterscheiben und blickte nachdenklich hinaus. Er steckte die Hände in die Hosentaschen, zog kurz die Schultern hoch und atmete tief aus. Einen Moment befürchtete Semir, er würde wieder blocken. Doch dann seufzte Chris:
    „Komm, lass uns in den Garten gehen. Ich brauch ´ne Zigarette. Dabei erzähle ich Dir ein paar Dinge.“


    Ohne Semir’s Reaktion abzuwarten, öffnete er die Terrassentür und trat hinaus. Er zündete sich eine Zigarette an und nahm einen tiefen Zug. Als er merkte, das Semir neben ihm stand, fing er an zu erzählen:


    „Das Ganze ist ein bisschen komlipiziert. Ich hoffe, das ich es Dir richtig erklären kann.
    Außer meiner Tochter Johanna habe ich noch einen Sohn...Jakob. Richard wiederum ist der Sohn von Gaby. Meine Kinder leben hier, seit meine Frau Bea vor zehn Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben kam. Da ich zu der Zeit schon als verdeckter Ermittler arbeitete, nahm Gaby mit ihrem Mann die Kinder bei sich auf. Sie hatten sich gerade dieses tolle Haus gekauft und renoviert. Sie wollten immer viele Kinder und taten es daher gern. Die Kinder waren noch sehr klein, als sie hierher kamen. Johanna war gerade erst zwei Jahr alt geworden und Jakob war vier. Gaby’s Sohn war drei Jahre. So wuchsen die Kinder wie Geschwister auf.“
    Er machte eine kurze Pause, schien sich die nächsten Worte zu überlegen.


    „Da meine Arbeit mitunter sehr gefährlich war und sie die Kinder nicht ängstigen wollte, erzählte Gaby ihnen, das ich im Ausland arbeiten würde. Erst seit etwa einem Jahr wissen sie, was ich wirklich mache.“
    In Erinnerung an das Gespräch hielt er einige Sekunden inne. Er hatte sich sehr dagegen gesträubt, aber Gaby hatte ihm erklärt, das die Kinder anfingen Fragen zu stellen. Zu seinem Erstaunen hatten sie es positiv aufgenommen. Er konnte sich noch sehr gut an seine Erleichterung erinnern.


    „Zwischen meinen Einsätzen oder wenn ich mich für ein paar Tage loseisen konnte, bin ich hierher gekommen. Leider war das nicht so oft. Manchmal habe ich sie monatelang nicht gesehen. Ab und zu telefonierten wir miteinander, doch auch das war schwierig. Es durfte ja keiner mitbekommen, das es sie gibt!“ Chris trat seine Zigarette aus, hob den Stummel auf und betrachtete ihn nachdenklich, bevor er ihn in seine Hosentasche steckte.


    Mit einem Seufzen erzählte er weiter:
    „Es gab immer mal wieder Unterwelter, die bei mir nach Schwachstellen gesucht haben. Und Familienangehörige sind für einige Gangster das ideale Druckmittel. Ich habe zweimal erlebt, wie Kollegen mit ihren Familien untertauchen mussten, weil sie in Gefahr waren. Das wollte ich Gaby und den Kindern ersparen. Der einzige, der von ihnen wusste war Bernd Simon. Er hielt auch den Kontakt mit ihnen, wenn ich mich nicht melden konnte.“


    Ohne das er es gemerkt hatte, war er durch den Garten zum Teich spaziert. Gedankenverloren betrachtete er im Wasser sein Spiegelbild und schien für einige Augenblicke meilenweit weg zu sein. Mit einem leichten Zittern in der Stimme fuhr er fort:
    „Weißt Du,… da draußen gibt es immer noch ein paar Leute, die eine offene Rechnung mit mir haben und die ganz gewiss nicht zimperlich sind. Mit dem Wissen um meine Familie hätten sie ein Druckmittel, das sie gegen mich einsetzen könnten. Ich würde es mir nie verzeihen, wenn ihnen etwas passiert!“


    Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, bevor er weiter redete: „Du musst wissen, Gaby hat mich in all den Jahren bei allem unterstützt. Nicht nur, das sie meine Kinder aufgezogen hat. Sie war auch immer für mich da wenn es mir schlecht ging... Niemals hat sie meinen Beruf in Frage gestellt! Nie!... Ihr Rat hat mir immer viel bedeutet und ich konnte mich immer auf sie verlassen… Sie hat viele Opfer auf sich genommen und sich nie unterkriegen lassen. In all den Jahren hatte sie es nicht immer leicht… Sie war und ist auch heute noch für mich der Fels in der Brandung. Ich bewundere sie für ihre Stärke! Nicht ohne Grund nenne ich diesen Ort meine Zuflucht,... meinen sicheren Hafen… Hier kann ich der echte Chris Ritter sein!“


    Semir, der schweigend neben Chris stand, kickte mit seinem Fuß einen kleinen Stein ins Wasser. Eine Zeit lang beobachtete er, wie sich die Wellen kreisförmig ausbreiteten und sich dann am Ufer brachen.
    „Warum kannst Du nicht immer der echte Chris Ritter sein? Warum fällt es Dir so schwer, Dich von Deiner alten Rolle zu lösen?“ fragte er vorsichtig.


    Als Chris antwortete, schwang Resignation in seiner Stimme mit: „Semir, glaub’ mir, ich wünschte ich könnte das so einfach. Aber in den mehr als zehn Jahren als verdeckter Ermittler habe ich so viel grausames und nur wenig schönes erlebt. Ich brauchte diese Mauer, um mich zu schützen… Und Vertrauen heißt für mich, diese Mauer zu öffnen. Doch in dem Augenblick, wo ich mich jemandem öffne, werde ich angreifbar.“


    Nach einer kurzen Pause fügte er sehr leise hinzu: „Ich habe es erlebt! Es war schrecklich! Das will ich nicht noch einmal mitmachen.“
    Semir, der den letzten Satz nicht mitbekommen hatte, drehte sich zu Chris und blickte ihm fest ins Gesicht: „Was ist mit mir? Vertraust Du mir?“


    Chris hielt dem Blick stand. Nach einigen Augenblicken breitete er die Arme aus. „Indem ich Dir das alles hier zeige und Dir davon erzähle, zeige ich Dir, das ich Dir vertraue. Unsere Partnerschaft bedeutet mir sehr viel, auch wenn ich das in den letzten Wochen nicht immer gezeigt habe. Und wenn wir morgen wieder zurück sind, werde ich wieder der alte Chris sein. So einfach komme ich von dieser Rolle nicht runter. Aber ich hoffe, das Du mich ab jetzt etwas besser verstehst.“


    Als Semir nicht sofort antwortete, fügte er mit trauriger Stimme hinzu: „Ich weiß, das Du Deinen alten Partner sehr vermisst und das ihr zwei mehr ward wie nur Partner... Mir ist auch absolut bewusst, das wir nie so eine Partnerschaft, wie Du sie mit Tom hattest, haben werden. Aber vielleicht finden wir eine andere Basis, auf der wir aufbauen können. Ich wäre für eine Chance wirklich dankbar!… Um das einzige, um das ich Dich wirklich bitte, ist Zeit!“


    Semir ließ die Worte auf sich wirken und dachte nach.
    Er hatte in den letzten Stunden einen ganz anderen Chris kennen gelernt. Einen Chris, der lachen konnte, der sich öffnete (wenn auch nur zögerlich, aber immerhin), ... der sogar ein Privatleben hatte! Er mochte diesen Chris.
    War er in der Lage wieder den alten, wortkargen Chris zu akzeptieren? Er musste sich diese Frage mit ‚Ja’ beantworten. Jetzt da er wusste, dass das alles nur Fassade war. Er hatte einen kleinen Blick dahinter werfen dürfen und es bestand die Hoffnung, das Chris irgendwann einmal diese Maske fallen lassen würde. Warum sollte er ihm diese Chance nicht geben?


    Semir’s Schweigen machte Chris nervös. Unruhig suchte in seinen Taschen nach den Zigaretten, kramte sie heraus und zündete sich eine an.
    Mit einem Augenzwinkern lächelte Semir Chris an: „Wenn das mit unserer Partnerschaft funktionieren soll, solltest Du Dir überlegen damit aufzuhören!“
    Chris drehte die Augen ´gen Himmel und seufzte: „Du hörst Dich schon wie meine Schwester an!“
    Dann lachten beide und gingen zurück zum Haus.

  • Gegen Abend kamen die beiden Jungen nach Hause und begrüßten Chris euphorisch. Semir registrierte sofort die große Ähnlichkeit zwischen Jakob und Chris. Man hatte das Gefühl eine jüngere Ausgabe von Chris vor sich zu haben.


    Das Abendessen wurde eine muntere Angelegenheit. Die Kinder sprudelten nur so über mit Geschichten die sie zu erzählen hatte. Die Jungs berichteten von ihrem gewonnen Match, Johanna erzählte von ihren Freundinnen und alle drei ärgerten sich über die Lehrer in der Schule.
    „Gott sei Dank sind ja bald Ferien!“ trällerte Johanna, die sich gerade Tee eingoß.
    Richard schluckte seinen Bissen vom Schinkenbrot hinunter. „Kommst Du uns in den Ferien besuchen, Onkel Chris?“


    Sofort waren alle Kinderaugen auf Chris gerichtet und blickten ihn hoffnungsvoll an. Der schluckte verlegen und blickte dann ernst von einem zum anderen.
    „Leider kann ich in den nächsten zwei bis drei Wochen gar nicht hierher kommen. Semir und ich müssen eine wichtige Aussage bei einer Anhörung machen und dafür müssen wir uns noch vorbereiten.“


    Auf den Gesichtern der Kinder breitete sich Enttäuschung aus und sie senkten traurig die Köpfe. Für einen Moment herrschte eine betrübte Stimmung am Tisch. Plötzlich funkelte es in Chris’ Augen und er zwinkerte Gaby zu. Sie nickte unmerklich.
    „Was würdet Ihr aber davon halten, wenn Ihr statt dessen zu mir kommt und ein paar Tage bei mir verbringt?“


    Zuerst sagte keiner was, dann brach ein Stimmengewirr aus. Alle Kinder sprachen gleichzeitig:
    „Wir dürfen zu Dir kommen? In Deine neue Wohnung? ...“
    „Kannst Du uns dann auch mal Deine Arbeitsstelle zeigen? Den Verhörraum und so...?“
    „Juchu, wir fahren in die große Stadt. Tolle Modegeschäfte! Shoppen! Oho, wenn das meine Freundinnen hören...“


    Beschwichtigend hob Chris seine Hände. „Erst mal langsam mit den jungen Pferden. Zuerst sollten wir Gaby fragen. Vielleicht hat sie ja schon andere Pläne für die Ferien.“
    Gleichzeitig flogen die drei Köpfe zu Gaby herum und bettelten im Chor: „Bitte! Bitte! Bitte! Dürfen wir?“


    Chris’ Schwester betrachtete die erwartungsvollen Gesichter. Dann nickte sie.
    „Aber nur unter einer Bedingung!“ schob sie gleich mit Nachdruck hinterher, als die Kinder anfangen wollten zu jubeln. Gespannt hielten sie die Luft an.
    „Ich möchte in der Zeit gerne einmal den Kölner Dom besuchen!“
    Erleichtert atmeten sie aus und jubelten. „Hurra! Wir fahren in die große Stadt!“


    Der Rest des Abendessens wurde damit verbracht, die vielen Fragen der Kinder zu beantworten und Pläne zu schmieden. Selbst Semir ließ sich von der Begeisterung anstecken und gab gute Tipps für Ausflugsziele.


    Doch irgendwann kam die Zeit für die Kinder ins Bett zu gehen.
    „Können wir heute nicht etwas länger aufbleiben?“
    „Schließlich haben wir Besuch!“ maulten Jakob und Richard.
    „Nix da!“, entgegnete Gaby energisch. „Ihr habt morgen Schule. Und da gibt es keine Diskussionen. Das wisst Ihr!“
    „Papa, sag doch auch mal was!“ bettelte Johanna.


    Doch Chris schüttelte den Kopf.
    „Ihr habt gehört was die Dame des Hauses gesagt hat. Und sie hat Recht! Aber geht doch schon einmal nach oben und macht Euch für’s Bett fertig. Ich komme gleich nach und sage jedem von Euch gute Nacht. Ist das ok?“
    Die Kinder nickten, standen vom Tisch auf und wünschten Semir eine gute Nacht. Von Gaby holte sich jeder noch einen Gutenachtkuss ab.


    An der Tür drehte sich Jakob noch einmal um. „Papa, würdest Du uns morgen früh mit Deinem Wagen zur Schule fahren? Das wäre echt toll!“
    Chris sah kurz zu Semir, der leicht nickte.
    „Solange Du nicht das Blaulicht einschaltest oder den Wagen zu Schrott fährst, ist das schon in Ordnung.“
    Jakob riss die Augen auf. „Du hast ein Auto geschrottet?“
    „Nicht nur eins!“ warf Semir hinterher.
    Dem Jungen fiel die Kinnlade herunter. „Davon hast Du uns ja noch gar nichts erzählt!“
    Chris’ böser Blick fiel auf Semir. Der zuckte unschuldig mit den Schultern.


    „Das ließ sich nicht vermeiden. Wir haben einen Verdächtigen verfolgt... da kann so was schon mal vorkommen“, rechtfertigte sich Chris seinem Sohn gegenüber.
    Jakob wollte gerade noch weitere Fragen stellen, als Chris ihm mit einer Geste zu verstehen gab lieber den Mund zu halten.
    „Ein Wort noch und Ihr könnt zu Fuß zur Schule gehen! Klar?“
    „Schon klar!“, grinste Jakob und verschwand.


    Kaum hatte der Junge die Tür hinter sich zugezogen, grinste Chris gequält zu Semir.
    „Danke, dass Du gerade meinen Ruf lädiert hast!“
    Der grinste zurück: „Gern geschehen. Allerdings hatte ich eher den Eindruck das Du gerade in der Coolheitsskala mindestens fünf Punkte nach oben gestiegen bist!“
    „Das will ich für Dich hoffen! Sonst muss ich mal ein ernstes Wörtchen mit Deiner Tochter reden und ihr ein paar haarsträubende Gehichten von Dir erzählen.“
    „Die ist noch viel zu klein. Die wird gar nicht wissen wovon Du überhaupt redest“, behauptete Semir selbstsicher.


    Mit einem vielsagenden Blick stand Chris auf. „Noch, Semir, noch! Aber auch sie wird älter!“
    Dann drehte er sich um und ging auf die Terrasse um zu rauchen.

  • Die Geschichete war echt super!


    Sehr gut geschrieben und mit Gefühl! Einfach klasse :)!


    Schreib so weiter, vielleicht kommt eines Tages dann einer vorbei und verlegt deine Geschichten!!!

  • So, Ihr Lieben!
    Diese Stück müsst Ihr Euch übers Wochenende aufteilen! :P
    Bin gleich zum Kindertraining weg :baby: und morgen findet unser großes Sommerfest vom Aikido statt. Werde nicht vor Sonntag Abend ansprechbar sein. :D Sollte ich fit sein, gibt es dann einen kleinen Teil.


    Ansonsten freut Euch auf Montag: Setze dann wieder einen etwas längeren Teil ein!
    Nun wieder viel Spass beim Lesen!! :] Und Feeds nicht vergessen! Danke!!
    -----------------------------------------------------------------------


    Während Chris den Kindern oben gute Nacht sagte, half Semir den Tisch abzuräumen. Gaby hatte erst abgelehnt, - schließlich sei er ja Gast -, aber er hatte drauf bestanden. Anschließend holte Gaby eine Flasche Wein aus dem Keller und sie gingen sich ins Wohnzimmer.


    Semir war schon am Nachmittag eine Wand mit vielen Fotos aufgefallen.
    „Darf ich?“, fragte er neugierig und deutete zur Wand.
    „Klar! Tun Sie sich keinen Zwang an.“


    Während Gaby Weingläser aus einer Vitrine holte und die Flasche öffnete, betrachtete Semir interessiert die Bilder.
    Auf den meisten waren die Kinder in verschiedenen Lebenssituationen zu sehen: bei der Einschulung; im Garten beim spielen im Sandkasten; mit Freunden auf den Bäumen; die Jungs verschwitzt, aber stolz mit Pokalen oder Medaillen bei einem Fußballtunier; das Mädchen beim schaukeln oder Ponyreiten usw.

    Es gab auch einige Fotos mit Gaby, ihrem Mann und den Kindern. Zumindest vermutete Semir das. Zur Sicherheit hakte er nach und fragte über die Schulter: „Ist das Ihr Mann?“
    Gaby blickte kurz auf und nickte: „Ja, das ist Peter.“ Ein Schatten legte sich dabei über ihr Gesicht, den Semir aber nicht wahrnahm.


    Er hatte bereits ein anderes Foto entdeckt.
    „Das ist ja ein tolles Foto von Chris mit den Kindern!“
    Gaby nahm ein Weinglas, kam zu Semir und reichte es ihm. Als sie sah, welches Bild er meinte, lächelte sie gedankenverloren.


    „Ja, das ist auch mein Lieblingbild. An dem Tag war er sehr glücklich. Er hatte kurz zuvor gute Neuigkeiten erhalten und er... .“
    Sie stockte einen Moment und fuhr dann fort: „Ach, das wird er Ihnen bestimmt irgendwann einmal selber erzählen.“
    Semir runzelte die Stirn. In Gabys Augen konnte er verdrängte Angst sehen.
    ‚Noch mehr Geheimnisse!’, dachte er bei sich, fragte aber nicht nach. Er wollte das gerade gewonnene Vetrauen nicht kaputt machen.


    „Chris braucht ziemlich lange um gute Nacht zu sagen“, schmunzelte Semir nach einer Weile, um vom Thema abzulenken.
    „Ach, das ist normal“, erwiderte Gaby gelassen, ging zum Sofa und setzte sich. „Er geniesst es, mit jedem Kind noch ein paar Minuten allein zu reden. Und die Kinder geniessen es auch. Ein männlicher Ansprechpartner hat ihnen vor allem in den letzten Jahren doch sehr gefehlt.“
    Semir stutzte: „Wo ist denn Ihr Mann? Ich dachte Sie wären verheiratet?“


    Dabei ging sein Blick zurück auf die „Familienfotos“. Erst jetzt fiel ihm auf, das diese schon ein paar Jahre alt sein mussten. Die Kinder waren noch recht klein. Auf einem sassen alle dick vermummt auf einem riesigen Schlitten und ein anderes zeigte alle beim Wandern. Johanna sass auf denn Schultern des Mannes und winkte fröhlich.


    Gaby folgte Semir’s Blick. Bei der Erinnerung an die Aufnahmen lächelte sie liebevoll vor sich hin. Plötzlich spürte sie, das Semir sie anschaute. Sie nahm ihr Weinglas zu Hand, blickte hinein und erklärte mit trauriger Stimme: „Mein Mann starb vor sechs Jahren an Leukämie.“
    „Das tut mir leid!“ sagte Semir in das anschließende Schweigen hinein. Er wusste nicht was er sonst sagen sollte.


    Wie zu sich selbst sprach sie weiter: „Es ist jetzt schon so lange her … und wäre Chris nicht gewesen… Ich weiß nicht ob ich es gepackt hätte.“
    Sie fuhr fort, als sie seinen interessiert fragenden Blick bemerkte: „Als mein Mann krank wurde, hat Chris viel riskiert und ist von heute auf morgen zu uns gekommen, um uns zu unterstützen… Wir mussten mit ansehen, wie mein Mann innerhalb kürzester Zeit starb. Noch heute spüre ich die Hilflosigkeit, die ich oft an seinem Krankenbett fühlte. Zu wissen, das ihn die besten Ärzte und die moderne Medizin nicht retten können und mit ansehen zu müssen, wie dieser Mensch, den man über alles liebt dahin siecht,… dieses Gefühl von Ohnmacht, zerreißt mir auch heute noch das Herz.“


    Er studierte ihr Gesicht und sah den gleichen Schmerz, den er immer fühlte, wenn er an Tom dachte. Augenblicklich fühlte er sich mit ihr verbunden.
    „Sie vermissen ihn, nicht wahr?“
    Als sie nickte, fuhr er vorsichtig fort: „Ich weiss wie sie sich fühlen.“
    Wissend schaute sie ihn an. „Sie vermissen Ihren alten Partner... Tom war sein Name, richtig?“


    Semir’s Erstaunen brachte sie zum Lächeln: „Chris hat mir einiges erzählt. Wie es passiert ist und das Sie über den Verlust noch nicht ganz hinweg gekommen sind. Er hat mir auch erzählt, das Sie oft minutenlang aus dem Fenster starren und manchmal gedankenverloren mit einem Stift `Tom´ irgendwo hin kritzeln... Oder das Sie ihm aus Versehen ein paar Mal Gummibärchen an Raststätten gekauft haben... Das Sie oft das Grab ihres Partners besuchen usw.“


    Semir blieb fast die Spucke weg: „Das alles hat er Ihnen erzählt? Und ich dachte immer, es würde ihn nicht interessieren!“
    „Oh doch! Sie ahnen ja gar nicht wie sehr! Er hat mit mir sehr oft in den letzten Wochen telefoniert und mich um Rat gefragt. Und wenn er hier zu Besuch war, haben wir uns so manche Nächte um die Ohren geschlagen... Mir erging es damals genauso als mein Mann gestorben ist. Ich kann nachvollziehen wie Sie sich fühlen.“

    Nach einem kurzen Schweigen fragte sie: „Würde es Ihnen was ausmachen mir ein bisschen über ihn, also Ihrem alten Partner, zu erzählen?“
    Ehe sich Semir versah, erzählte er ihr von Tom. Er spürte, dass sie echtes Interesse hatte und nach einer Weile fühlte er sich irgendwie leichter. Es tat gut darüber zu reden und eine Welle der Dankbarkeit durchflutete ihn! Nach ein paar Minuten hörte Semir, wie jemand die Treppe herunter kam.
    Er verstummte und lehnte sich mit einem innerlichen Lächeln zurück.


    Als Chris in der Wohnzimmertür erschien, lächelte Gaby mitleidig.
    „Na, wer hat Dich am meisten über Semir ausgefragt?“
    „Wer wohl?“ seufzte Chris und ließ sich in einen Sessel fallen.
    „Lass mich raten... Johanna?!“ Lachend reichte Gaby ihm ein Weinglas.


    Dankbar nahm Chris es entgegen und fuhr mit leichter Entrüstung fort: „Wie kann ein Mensch allein so viele Fragen haben? Alles will sie wissen! Jedes kleine Detail! In einer Tour ist sie am erzählen. Von wem sie das nur hat? Bestimmt nicht von mir!“
    „Bestimmt nicht!“ sagten Gaby und Semir aus einem Mund. Sie sahen sich an und lachten.


    Es wurde noch ein netter Abend, bei dem sie sich viel unterhielten. Semir erzählte Gaby von seiner Frau und seiner Tochter. Irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie das meiste schon wußte. Aber sie hörte trotzdem interessiert zu und stellte ab und zu Fragen.
    Semir erfuhr, das Gaby als Lehrerin in einer Berufsschule arbeitet („Nicht Vollzeit, nur ein paar Stunden!“) und ihr Mann früher ein kleines Unternehmen hatte.


    Kurz nach Mitternacht gingen sie dann endlich in die Betten. Gaby hatten ihnen zwei Zimmer im Dachgeschoss vorbereitet. Das eine war ihr Arbeitszimmer mit einer Schlafcouch, das andere, das Zimmer, in dem Chris immer schlief wenn er zu Besuch war.
    Während Chris recht schnell einschlief, lag Semir noch lange wach und dachte über vieles nach.

  • Zur gleichen Zeit verließ Maria Becker, die Putzfrau der PAST, ihre Arbeitsstelle. Sie ging zu ihrem Auto und schloss es mit fahrigen Fingern auf. Sie setzte sich hinein und atmete erleichtert aus. Plötzlich klingelte ihr Handy und sie zuckte erschrocken zusammen. Nervös nahm sie das Gespräch entgegen.


    „Ist der Job erledigt? Haben Sie alles so gemacht, wie wir es Ihnen gesagt haben?“ fragte eine tiefe Männerstimme am anderen Ende der Leitung.
    „Ja!“ Maria’s Stimme zitterte. „Ich habe die Wanzen und Minikameras an den Stellen in den Büroräumen angebracht, die sie mir beschrieben haben. Sie müssten funktionieren.“


    „Dann schauen wir mal!“
    Einen Moment herrschte Stille und sie hörte wie Knöpfe gedrückt oder Schalter gedreht wurden.
    Dann fuhr die Stimme fort: „Wir haben ein gutes Bild und einen klaren Ton. Perfekt! Das haben sie gut gemacht!“
    „Wann bekomme ich die Fotos?“ Maria’s Stimme versagte ihr fast den Dienst.


    Die Männerstimme lachte höhnisch auf: „Sobald das hier alles erledigt ist, lassen wir sie Ihnen zukommen. Sie werden von uns hören!“
    Dann war das Gespräch unterbrochen.
    Maria unterdrückte ein Schluchzen und blickte sich ängstlich um. In was war sie da nur hinein geraten? Sie holte ein paar Mal tief Luft und fuhr kurze Zeit später zu ihrem Mann nach Hause.


    ---------


    Am nächsten Morgen erwachte Semir von ungewohnten Geräuschen. Zuerst war er etwas orientierungslos, aber dann fiel ihm wieder ein wo er war. Von unten hörte er gedämpfte Stimmen und leises Klappern von Geschirr. Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte 7:30 Uhr an. Erschrocken fuhr Semir hoch.


    ‚Verdammt’ dachte er bei sich, ‚wieso hat Chris mich nicht geweckt!?’
    Gerade, als er aus die Bettdecke zurückwarf, hörte er, wie sich die Kinder von Gaby verabschiedeten und aus dem Haus gingen. Kurz danach fuhr der Wagen weg.


    Semir zog sich an und ging ins Bad um sich zu waschen.
    Als er ein paar Minuten später zurück im Zimmer war, trat er ans offene Fenster und warf nachdenklich einen Blick hinaus. Von hier oben hatte er einen schönen Ausblick auf den kleinen Ort. Alles wirkte ruhig und friedlich; fast so, als wäre die Zeit stehen geblieben. Er lauschte. Bis auf ein gelegentliches Auto, was vorbeifuhr, oder Stimmen, die sich einen guten Morgen wünschten, war es sehr still. Plötzlich konnte er verstehen, warum sich Chris hier sicher und geborgen fühlte!


    Nach einigen weiteren Augenblicken löste er sich von dem Anblick und packte seine Sachen in die Tasche.
    Dann ging er hinunter zur Küche. Gaby war gerade dabei den Tisch neu zu decken.


    „Guten Morgen!“, wünschte er.
    „Guten Morgen, Semir! Haben Sie gut geschlafen?“ erkundigte sich Gaby.
    „Danke! Ich habe sehr gut geschlafen“, antwortete Semir munter. „Doch warum hat Chris mich nicht geweckt?“
    Chris’ Schwester schmunzelte: „Ich habe es ihm verboten. Sie sollten ausschlafen. Erstens sind Sie unser Gast und zweitens, weiß ich noch wie das ist wenn die Kinder klein sind. Da ist man für jede Stunde Schlaf dankbar.“


    Sie ging zur Kaffeemaschine und holte die Kanne mit frischgebrühtem Kaffee. Sie warf Semir einen fragenden Blick zu: „Möchten Sie schon einmal eine Tasse Kaffee? Chris holt auf dem Weg von der Schule frische Brötchen. Er müsste gleich zurück sein.“
    Semir nickte und sie schüttete ihnen beiden die Tassen voll. Nachdenklich schaute er sie an. „Wie kommt es, das Sie so ganz anders sind wie Chris?“
    Gaby zog kurz die Augenbrauen nach oben: „Wie meinen Sie das?“
    Sie stellte die Kanne zurück und setzte sich zu Semir an den Tisch.


    „Sie sind so locker, offen und immer freundlich... Eben halt ganz anders wie Chris“, erklärte Semir.
    Gaby dachte kurz nach... schien ihre Gedanken zu sortieren.
    „Glauben Sie mir, Chris war nicht immer so! Früher war Chris genauso locker und fröhlich. Doch der Tod seiner Frau und vor allem sein Beruf haben ihn hart werden lassen.“
    Sie machte eine kleine Pause. „Deswegen habe ich in all den Jahren versucht hier einen Gegenpol für ihn zu schaffen. So fand er immer wieder zu sich zurück.“
    „Chris scheint ja einige schlimme Dinge erlebt zu haben.“ stellte Semir nebenbei fest.


    Den Blick, den sie ihm im nächsten Augenblick zuwarf, würde er so schnell nicht vergessen. Für den Bruchteil einer Sekunde flackerten Angst, Schrecken, Schmerz, Verzweiflung und unterdrückte Wut auf. Sie drehte den Kopf weg und schaute einen Augenblick aus dem Fenster.


    Wie in Gedanken sprach sie leise:
    „Ja, Chris hat viele Dinge erlebt, die er nicht verdient hat... Erlebnisse, an denen er fast zerbrochen wäre.“
    Sie schaute ihm ernst in die Augen. „Ich kann sie Ihnen nicht erzählen; auch wenn ich es gerne tun würde, damit Sie ihn besser verstehen. Aber das muss Chris machen. Unser gutes Verhältnis zueinander beruht auf tiefem Vertrauen und dem Wissen, das einer für den anderen da ist. Egal was ist!... Und das werde ich niemals aufs Spiel setzen! Das verstehen Sie hoffentlich!“


    Semir legte eine Hand auf ihren Arm. „Ich verstehe das... Und es tut mir leid. Ich wollte Sie nicht aufregen.“ Dabei lächelte er ihr entschuldigend zu.
    Gaby legte ihre Hand auf die seine und ein sanftes Lächeln überflog ihr Gesicht.
    „Ist schon ok. Ich weiß, das Sie es nur gut meinen... Wissen Sie, Chris hält große Stücke auf Sie. Inzwischen sehe ich auch, warum! Sie sind ein wirklich netter Kerl!“
    „Danke!“, grinste er verlegen. „Das habe ich schon öfters gehört.“


    Im selben Augenblick hörte man wie der Wagen vorfuhr. Kurz danach stand Chris in der Küche und legte eine Tüte mit lecker duftenden Brötchen auf den Tisch.
    „Entschuldigt, das es so lange gedauert hat. Aber ich habe beim Bäcker die alte Frau Baumann getroffen und die hat mich in ein Gespräch verwickelt.“ Dabei verzog er leicht das Gesicht.
    Erklärend wandte er sich an Semir: „Das ist die alte Dame, die mir gestern zugewunken hat, als wir hier ankamen. Vielleicht erinnerst Du Dich?!“


    Semir grinste teuflisch: „Ich glaub es nicht! Der sonst so harte Chris, der sonst mit den bösen Halunken kein großes Federlesen macht, lässt sich von einer alten Dame einwickeln und bequatschen!“
    Er lachte laut auf und Gaby stimmte mit ein. Nach einem Moment der Verblüffung musst auch Chris lachen.

  • Nach einem gemütlichen und ruhigen Frühstück kam leider die Zeit des Abschieds.
    Draussen am Wagen gab Semir Gaby die Hand und verabschiedete sich: „Es war wirklich sehr nett Sie kennen zu lernen. Vielen Dank für die Gastfreundschaft und für die netten Gespräche. Besonders das ich über Tom reden durfte, hat mir viel bedeutet.“


    Er drückte ihre Hand etwas fester und in seinen Augen leuchtete Dankbarkeit auf.
    „Wenn Sie mit den Kindern zu Chris kommen, würde ich mich freuen, mich revanchieren zu dürfen. Wie wäre es mit einem Abendessen bei mir und meiner Familie? Meine Frau würde sich bestimmt auch freuen sie kennen zu lernen.“


    „Danke, sehr gerne!“, antwortete Gaby. „Aber klären Sie das besser mit Chris. Ich weiß nicht, was er davon hält und was für Pläne er mit uns hat.“
    Mit einem Augenzwinkern grinste Semir: „Ich lasse mir was einfallen!“
    Dann drückte er Gaby noch einmal herzlich die Hand und ging schon mal zum Wagen.


    Chris, der etwas abseits gestanden hatte, um noch schnell eine Zigarette vor der Abfahrt zu rauchen, kam jetzt auf Gaby zu. Die beiden nahmen sich ohne Worte in den Arm und verharrten so ein paar Sekunden.


    „Siehst Du? So schlimm war es doch nicht, oder?“, flüsterte ihm seine Schwester ins Ohr.
    Chris seufzte tief und murmelte: „Ja, Du hattest Recht. Ich fühle mich gut... nein,... ich fühle mich jetzt viel besser!“
    „Ich habe ein gutes Gefühl was Semir angeht. Ich glaube das ihr beiden euch ideal ergänzt. Bleib auf diesem Weg und alles wird gut! Denk immer daran: Hab Vertrauen!“


    Chris drückte sie noch einmal innig und löste sich etwas von ihr. Er hielt sie an den Schultern fest und blickte sie mit traurigen Augen an. „Schade, das ich schon wieder los muss... Gib den Kindern heute Mittag noch einmal einen Kuss von mir und ich rufe Euch heute Abend an.“


    „Das mache ich“, sagte Gaby. „Wir sehen uns ja schon bald wieder. Ich freue mich schon darauf!“
    Damit gab sie ihm einen Kuss auf die Wange, drehte sich aus seinem Griff, schob ihn zum Wagen und lachte: „Nun aber los... Semir wartet schon!“


    Widerwillig ging Chris zum Auto, öffnete die Tür und bevor er einstieg, rief er ihr zu: „Und das mir keine Klagen kommen. Macht keinen Blödsinn!“
    „Dito!“ rief Gaby zurück und hob in gespielter Entrüstung ihren Zeigefinger. „Das sagt gerade der Richtige!“


    Lachend winkte sie denn beiden hinterher, bis der Wagen aus der Einfahrt verschwunden war. Kaum war er nicht mehr zu sehen, erstarb ihr Lachen und sie drehte sich abrupt um. Eilig ging sie ins Haus, damit niemand ihre Tränen sah. Sie hasste die Abschiede von ihrem Bruder.
    Sie wusste nie, ob es nicht vielleicht der letzte war…





    Die Rückfahrt verlief ohne große Probleme und die beiden Männer kamen zügig voran. Unterwegs nahm Chris Semir noch einmal das Verprechen ab niemandem etwas zu erzählen. Selbst Andrea nicht.
    Doch Semir sträubte sich dagegen seine Frau anlügen zu müssen. Und nach einiger Diskussion hatte er Chris so weit, das er einlenkte und versprach, mit Gaby und den Kinder zum Essen vorbei zu kommen, wenn sie zu Besuch sind.


    „Du kannst Andrea vertrauen. Die wird bestimmt niemandem etwas sagen“, hatte Semir gesagt und spitzbübisch hinzugefügt: „Und Gaby wird sich freuen, wenn sie noch ein paar andere Gesichter sieht!“
    Nach etwas mehr als zwei Stunden setzte Chris Semir zu Hause ab.


    Zuerst wollte Chris auch nach Hause fahren, doch dann überlegte er es sich anders und fuhr zur PAST. Er gab der überraschten Engelhardt mündlich einen kurzen, knappen Bericht, ging dann in sein Büro und schloss hinter sich die Tür.
    Er setzte sich an seinen Schreibtisch, schrieb seinen Bericht und arbeitete noch einige andere Dinge ab. Er kam nur raus, um sich Kaffee zu holen oder um bei Susanne was nachzufragen.
    Auf die Kollegen machte er den Eindruck, das er wie immer allein gelassen werden wollte.


    In Wirklichkeit aber war Chris hier, weil er in seiner Wohnung nicht allein sein wollte...

  • Ihre Rückkehr war nicht unbemerkt geblieben. Der Überwachungsposten in Semir’s Strasse ließ es sofort Lorenz wissen.
    Als dieser dann kurze Zeit später auch eine visuelle Bestätigung von seinem Techniker bekam, das sich Ritter in der PAST aufhält, konnte er sich auf den nächsten Teil seines Planes konzentrieren.
    Eine halbe Stunde später betrat er ein altes, verlassenes Gebäude und inspizierte die Örtlichkeit.
    Zufrieden nickte er: „Perfekt! Bereitet alles vor! Unseren Gästen soll es hier an nichts fehlen.“
    Seine Begleiter lachten hart auf.


    ---------


    Die nächsten Tage waren geprägt von nervöser Hektik und angespanntem Stress.
    Neben ihrer normalen Arbeit wurden Chris und Semir fast jeden Tag ins Büro der Staatsanwältin Schrankmann bestellt. Diese ging immer und immer wieder ihre Aussagen mit ihnen durch.


    Besonders Chris nahm sie hart ran, da ihr seine Aussage besonders wichtig war. Sie wollte ganz sicher sein, das er nichts vergessen hatte und ihr jedes Detail erzählt hatte.
    Obwohl es für ihn nichts wichtigeres gab, nämlich Roman Gehlen hinter Schloss und Riegel zu bringen, sah Chris manchmal nicht ein, warum er immer wieder das gleiche erzählen sollte.
    Er hatte es satt, sich ständig wiederholen zu müssen! Er war sich sicher mit dem, was er bei der Anhörung zu sage hatte!


    Es kam, wie es kommen musste: An einem Freitag, fünf Tage vor der Anhörung bei der vorletzten Besprechung, platzte ihm der Kragen!
    Zuerst brüllte er die Schrankmann an, knallte anschließend ihre Bürotür so hart zu, das die Fensterscheiben klirrten und verließ vor Wut kochend das Gebäude.


    Als er zurück in der PAST war, wurde er gleich zur Chefin beordert. Die hatte in der Zwischenzeit einen wütenden Anruf erhalten und hatte sich von der tobenden Staatsanwältin sagen lassen müssen, was für inkompetente Männer sie doch in ihrem Team hätte. Das war auch für eine Anna Engelhardt zu viel gewesen!

    Sie lieferte sich ein heftiges Wortgefecht mit Chris und wollte ihm gerade mit Beurlaubung drohen, als sich plötzlich Semir schützend vor Chris stellte und ihn verteidigte.
    Nach einigen Minuten, nachdem alle ein paar Mal tief durchgeatmet hatten, beruhigten sie sich und Chris versprach, wenn auch zähneknirschend, sich bei der Schrankmann zu entschuldigen.


    Anna schaute die beiden Männer stumm an und ließ ihren Blick zwischen ihnen hin und her wandern.
    Nach einer Weile schlich sich ein vorsichtiges, schelmisches Lächeln auf ihr Gesicht: „Warten Sie mit Ihrer Entschuldigung noch bis Dienstag. Soll doch die Frau Staatsanwältin ein unruhiges Wochenende haben… Niemand tituliert meine Männer ungestraft als inkompetent!“


    Als sie sah, wie auch Chris sich etwas entspannte, fuhr sie ernst fort: „Wir sind alle nervös und angespannt. Doch wir verfolgen alle das gleiche Ziel. Vergessen Sie das nicht!“
    Semir nickte und auch Chris’ Gesichtszüge verrieten einen Hauch von Verständnis.
    Mit sanfter werdender Stimme fügte sie hinzu:
    „Meine Herren, ich schlage vor, sie nehmen sich den Rest des Tages frei. Verbringen Sie ein ruhiges Wochenende. Am Montag will ich Sie beide erholt hier wieder sehen. Klar?“
    „Danke, Chefin!“, murmelte Semir, während Chris nur mit dem Kopf nickte.
    Sie verließen das Zimmer und gingen hinüber in ihr Büro. Kaum hatten sie die Tür geschlossen, wandte sich Chris an Semir: „Danke!“
    Müde ließ er sich in seinen Stuhl fallen.


    Semir setzte sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch, betrachtete ihn neugierig und fragte dann leise mit einem Schmunzeln: „Kann es vielleicht sein, das Du auch wegen etwas anderem nervös bist?“
    Chris, der sich gerade die Augen gerieben hatte, blickte Semir durch gespreizte Finger an. Er holte tief Luft und stieß sie nach einer Weile wieder langsam aus.
    „Nervös ist vielleicht der falsche Ausdruck.“ Er grinste schief zu Semir hinüber. „Panisch trifft es schon eher!“


    Semir lachte kurz auf. „Na komm, so schlimm wird es schon nicht werden. Du freust Dich doch auch, das sie kommen, oder?“
    „Auf jeden Fall! Ich kann es gar nicht abwarten bis Gaby mit den Kindern morgen kommt. Ich freue mich schon so sehr darauf sie wieder zu sehen. Und wie ich beim letzten Telefonat hören konnte, sind die Kinder auch schon ganz aufgeregt. Ich hoffe nur, sie sind hinterher nicht allzu enttäuscht. Schließlich könnten sie ihre Herbstferien auch woanders verbringen.“
    „Ach, Quatsch! Glaub mir, die freuen sich ganz einfach Dich zu sehen!“ beruhigte ihn Semir.


    Chris stand auf, nahm seine Jacke von der Stuhllehne und deutete mit dem Kopf in Richtung Engelhardts Büro.
    „Wir sollten uns lieber vom Acker machen, bevor es sich die Engelhardt anders überlegt.“
    Gemeinsam verließen sie das Gebäude und auf dem Parkplatz verabschiedeten sie sich.


    „Wir sehen uns morgen Abend zum Essen?! Um halb acht?“ hakte Semir nach. „Ich will keine Ausreden hören! Andrea freut sich schon und ist ganz gespannt. Ich habe ihr nichts verraten! So wie ich es Dir versprochen habe!“
    Mit einem diebischen Grinsen rieb er sich die Hände: „Ich kann es gar nicht abwarten zu sehen, wie sie reagieren wird! Das wird ein Spaß!“


    „Naja!... Wenn ich mich da an Deinen Gesichtsausdruck erinnere…Schlimmer als bei Dir kann es nicht werden!“
    Chris stieg in seinen Wagen und ließ einen verdatterten Semir zurück.

  • In ihrem Büro nahm Anna Engelhardt einen Schluck vom frisch gebrühten Tee. Die Wärme der Tasse strömte durch ihre Finger und verteilte sich durch die Arme in den Schultern. Langsam spürte sie, wie sie sich etwas entspannte.
    Sie lehnte sich leicht in ihren Sessel zurück und dachte nach. Irgend etwas war heute anders als sonst. Sie wusste auch, was.


    Zum ersten Mal seit langer Zeit hatte sie wieder das Gefühl ein richtiges Team zu haben!
    Semir’s Reaktion bei der Eskalation mit Chris und Chris’ Reaktion auf sein Eingreifen, hatte ihr das gezeigt.
    Seit die beiden in Hamburg waren, hatte sich etwas verändert. Sie konnte nicht sagen was, aber es war spürbar.
    ‚Ich glaube, die beiden sind auf dem richtigen Weg’, dachte sie zufrieden bei sich.




    Zu selben Zeit erhielt Lorenz einen aufgeregten Anruf von seinem Techniker:
    „Ich habe gerade ein interessantes Gespräch zwischen diesen beiden Polizisten mitbekommen! So wie es sich anhört, hat dieser Ritter doch eine Familie! Er sprach von einer Frau und Kindern, die ihn am Wochenende besuchen kommen. Wenn ich es richtig verstanden habe, bleiben sie ein paar Tage.“


    Lorenz bedankte sich für die Info und legte auf. Schnell überlegte er. Das brachte zwar seine Pläne etwas durcheinander, aber so war es doch viel besser. Er nahm das Telefon zur Hand, rief einiger seiner Leute an und erteilte ihnen neue Anweisungen.
    Bis Sonntag Abend musste alles fertig sein. Viel mehr Zeit blieb ihnen nicht. Dann mussten sie handeln!
    Er wollte Gehlen nicht enttäuschen. Schließlich hoffte er auf dessen Dankbarkeit und auf lukrative Geschäfte, wenn er wieder auf freien Fuß war.


    ---------


    Da Gaby lange Strecken nicht gern mit dem Auto fuhr, hatte sie beschlossen mit dem Zug zu kommen. So kamen sie am Samstag gegen Mittag am Bahnhof an. Kaum stand der Zug und die Türen wurden geöffnet, stürmten die Kinder auf den Bahnsteig und auf Chris zu, begrüßten ihn mit großem Hallo und lautem Jubel und fielen ihm reihenweise um den Hals.


    Erst nach Gaby’s Ermahnung ihre Koffer zu holen („Sonst habt ihr in den nächsten Tagen nichts zum anziehen!“), ließen sie von ihm ab. Schnell suchten sie alles zusammen und anschließend brachte Chris sie mit dem Auto zu seiner Wohnung.




    Da die Kinder so aufgeregt waren und Chris während der Fahrt mit Fragen bombardierten, bemerkte dieser nicht, das ihnen jemand folgte. Bereits am Bahnhof hatte die Person unauffällig Fotos von allen gemacht. Als sie bei der Wohnung hielten und ausstiegen, machte der Mann noch weitere Fotos.


    Anschließend rief er Lorenz an:
    „Der Technikfreak hatte Recht! Dieser Bulle hat eine Frau und Kinder. Sie sind vorhin mit dem Zug angekommen und befinden sich jetzt in seiner Wohnung. Leider konnte ich nicht nah genug heran, um zu hören was sie sprechen. Aber ich habe Fotos gemacht und schicke sie Euch jetzt rüber.“


    „Sehr gut!“, lobte ihn sein Boss. „Bleib an ihnen dran. Ich will wissen, was sie in den nächsten 36 Stunden machen und wo sie sich aufhalten. Und…“ fügte er drohend hinzu, „…keine Fehler! Lasst sie nicht wieder entkommen. Nimm Dir noch ein paar Männer, die Dir bei der Überwachung helfen. Dieser Ritter ist gerissen. Also passt auf! Hast Du verstanden?“


    „Verstanden!“, grummelte der Mann. Danach rief er einige Männer an und gab ihnen die Anweisungen von Lorenz weiter. Als das erledigt war, schmiss er leicht sauer das Handy auf den Beifahrersitz.
    ‚Du entwischt mir nicht noch mal!’ dachte er verbissen und seine Hände umfassten fest das Lenkrad.




    Lorenz, der mit seinen Leuten zusammen saß um die letzten Details zu besprechen, ließ nach dem Anruf mit einem kalten Lächeln das Telefon sinken.
    „Meine Herren! Unser Verdacht hat sich bestätigt. Wir werden also mehr ‚Gäste’ haben. Kommen wir damit klar?“ wandte er sich an einen Mann links von ihm, der durch eine lange Narbe am Kinn auffiel. Sein Name war Jens Borchert.


    Dieser antwortete geflissentlich: „Wir haben alles vorbereitet. Die Räume sind abgedunkelt und die Türen mit weiteren Schlössern gesichert. Die Männer für die Bewachung haben genaue Instruktionen und warten auf ihren Einsatz.“


    „Gut!… Was ist mit dem Dienstplan? Wissen wir schon, wann die beiden Bullen in den nächsten Tagen arbeiten müssen?“, hakte Lorenz das nächste Thema auf seiner Liste ab.


    Sofort reagierte ein bulliger Typ am Ende des Tisches: „Durch unsere ‚Informantin’ in der Dienststelle haben wir in Erfahrung bringen können, das beide an diesem Wochenende frei haben und am Montag um 9.00 Uhr zum Dienst erscheinen müssen. Am Dienstag haben sie um 10.00 Uhr eine letzte Besprechung bei der Staatsanwaltschaft. Und den Termin am Mittwoch vor Gericht wissen Sie ja selber!“


    Ein Mann von gedrungener Statur hob kurz die Hand. „Wann und wo schlagen wir zu?“
    Daraufhin holte Jens Borchert, der Mann mit der Kinnnarbe, einen Plan hervor, breitete ihn auf dem Tisch aus und erklärte den Anwesenden, wie der Übergriff stattfinden soll. Als alle wussten, wie die Sache ablaufen sollte, blickten sie gespannt zu Lorenz.


    Dieser nickte und in seinen Augen blitzte es gefährlich auf. „Das heißt, wir werden am Montag zuschlagen! Sagen Sie es ihren Leuten. Ich will saubere Arbeit sehen! Ist das klar? Wer seine Sache versaut, bekommt es mit mir zu tun.“
    Die Männer am Tisch bejahten und gingen daran ihre Aufgaben zu erledigen.




    In der Zwischenzeit herrschte in Chris’ Wohnung geschäftige Aufregung.
    Zuerst zeigte er den Kindern, wo sie schlafen sollten. Er hatte dafür extra das separate Zimmer, was eigentlich sein Arbeitszimmer werden sollte, neu gestaltet. So war jetzt genügend Patz für zwei breite Schlafsofa und einem Schrank, wo die Kinder ihre Sachen unterbringen konnten.


    Auf die Frage von Gaby, wo er denn jetzt seinen Arbeitsbereich gestalten wollte, antwortete Chris mit einem Augenzwinkern: „Im Büro! Das reicht mir längst... Außerdem hoffe ich ja doch, das ihr mich jetzt öfter besuchen kommt!“


    Nachdem alle Sachen verstaut waren, fuhren sie in die Düsseldorfer Innenstadt. Die Jungen hätten gern die PAST besichtigt, aber Chris erklärte ihnen, dass er erst seine Chefin fragen müsste. Er versprach ihnen aber, sich nach der Anhörung darum zu kümmern. Damit waren sie zufrieden.


    Zunächst nahmen sie in einem kleinen Lokal eine Kleinigkeit zu Essen zu sich, dann verbrachten sie die nächsten Stunden beim Bummeln und Einkaufen durch die vielen Geschäfte.


    Am frühen Abend fuhren sie zurück, um sich für das Essen bei Semir frisch zu machen…



    …und die ganze Zeit folgten ihnen unbemerkt verschiedene Männer, die sich bei der Beschattung abwechselten.

  • Pünktlich um 19.30 Uhr hielt Chris den Wagen vor Semir’s Haus.
    Als er ausstieg, blickte er sich unbemerkt um. Etwas kam ihm seltsam vor,... irritierte ihn.
    Doch als er auch beim zweiten Blick die Strasse runter nichts Auffälliges bemerkte, schalt er sich selbst.
    ‚Werd jetzt nicht paranoid! Genieß den Abend. Gaby hat so darauf gefreut.’
    Dann folgte er ihr und den Kindern, die schon zum Haus vorgegangen waren. Dort wurden sie bereits von Semir erwartet.




    Vorsichtig lugte der Fahrer des dunkelgrünen Wagens hinter dem Lenkrad durch die Windschutzscheibe und peilte die Lage. Als plötzlich das Auto von Chris in die Strasse eingebogen war, hatte er sich schnell geduckt. Jetzt atmete er erleichtert auf. Anscheinend hatte der Bulle nichts bemerkt.


    Zorn stieg in ihm hoch. Wütend griff er zum Handy und wählte eine Nummer. Kaum nahm jemand am anderen Ende der Leitung ab, brüllte er los: „Wer von Euch Pfeifen hat da wieder nicht aufgepasst? Um ein Haar wäre ich entdeckt worden. Warum habt Ihr mich nicht gewarnt?“


    Nach einem kurzen Zuhören sagte er zynisch: „Ach, eine rote Ampel und ihr habt ihn verloren?! Was seid ihr denn für Anfänger? Jetzt macht, das Ihr Euch hierher bewegt. Ihr könnt mich ablösen. Ein Haus zu beobachten werdet Ihr hoffentlich besser hinbekommen. Das kann Euch wenigstens nicht abhängen!“
    Mit einem gehässigen Grunzen legte er auf.




    Während dessen im Haus stellte Semir Andrea ihre Gäste vor. Ihre Überraschung war mindestens genauso groß wie die damals von Semir, nur das sie sich besser im Griff hatte. Sie gab den Kinder die Hand und begrüßte Gaby und Chris mit einer herzlich Umarmung.


    Sie schmunzelte Chris zu: „Du glaubst nicht, was hier in den letzten Tagen los war! Auf der einen Seite spannte mich mein Göttergatte immer wieder mit Andeutungen auf die Folter und im nächsten Augenblick sprang er wie ein kleines Rumpelstilzchen durch die Gegend und rief immer wieder: ’Das erräst Du nie!’“ Dabei äffte sie ihren Mann nach.


    Semir tat beleidigt: „So schlimm war ich nicht!“
    „Nein, mein Schatz“, gurrte Andrea und gab ihm einen Kuss, „Du warst noch viel schlimmer!“
    Alle mussten herzlich lachen.
    Dann gingen sie ins Esszimmer, wo es schon verführerisch roch. Andrea erwies sich als gute Köchin und Semir als angenehmer Gastgeber.


    Es wurde ein sehr schöner Abend, bei dem sich alle richtig gut kennen lernten. Gaby und Semir gaben endlich das ‚Sie’ auf und duzten sich fortan. Die Kinder, besonders die Jungs, lauschten mit wachsender Begeisterung den Geschichten, die Semir zu erzählen hatte. Johanna stellte wie immer viele Fragen. Doch auch die beantwortete Semir mit viel Geduld.


    Besonders als er die Story erzählte, wie er damals Chris durch die Düsseldorfer Innenstadt verfolgte, kam bei den Kinder besonders gut an.
    Die Autos waren plötzlich schneller, die Straßen voller, die Kurven schärfer und die Verfolgung dauerte mindestens eine Stunde!
    Chris ließ ihn gewähren. Die leuchtenden Augen der Kinder waren es wert. Allerdings... am Schluss griff er dann doch ein: Semir wollte verschweigen, das er die Premierenbesucher eines Filmes unter Wasser gesetzt hatte und festgenommen worden war.
    Die beiden Frauen hörten schmunzelnd zu und sahen sich zwischendurch augenzwinkernd an.


    Um kurz nach 23.00 Uhr forderte jedoch der anstrengende Tag seinen Tribut. Die Kinder wurden müde und Johanna schlief fast auf Chris’ Schoss ein. Auch Gaby musste sich das eine oder andere Gähnen verkneifen.
    Bald darauf verabschiedeten sie sich von Semir und Andrea. Gaby bedankte sich ganz herzlich für den netten Abend.


    Am Wagen blickte sich Chris wie immer unauffällig um. Doch diesmal erregte nichts sein Misstrauen. Trotzdem… irgendwo in seinem Inneren meldete sich leise eine Alarmglocke.
    ‚Diese Gehlen-Sache macht mich noch ganz kirre. Wird Zeit, das die Angelegenheit abgehakt wird!’, dachte Chris bei sich. Dann fuhren sie nach Hause.




    Kaum war der Mercedes an ihnen vorbei gefahren, gaben die Männer in einem blauen Jeep die Nachricht weiter. Der Beobachtungsposten in der Nähe von Chris’ Haus erwartete sie schon...

  • Am Sonntag unternahmen sie einem langen Spaziergang in einem nahe gelegenen Park. Während die Kinder durch den Park tobten, unterhielten sich Chris und Gaby.


    „Bist Du nervös wegen der Anhörung am Mittwoch?“ erkundigte sich Gaby.
    Chris versuchte locker zu klingen: „Nee..eigentlich eher das Gegenteil. Ich bin froh, das es endlich los geht und wir Bernd’s Mörder endgültig wegsperren können… Aber die ganzen Vorbereitungen waren viel, viel schlimmer. Die Staatsanwältin raubt mir den letzten Nerv!“


    „Wäre es nicht besser gewesen, wenn wir erst gekommen wären, wenn alles vorbei ist? Dann hättest Du den Kopf freier!“ Gaby blickte ihn mit leichten Zweifeln an.
    Chris legte einen Arm um ihre Schulter und drückte sie an sich. „Glaub mir, ich bin froh, das Ihr hier seid. So bin ich etwas abgelenkt und komme auch mal auf andere Gedanken. Sonst würde ich jetzt allein zu Hause brüten. Und Du weißt, dass mir das nicht bekommt.“


    „Oje,... erzähl,… wem Du hast diesmal den Kopf abgerissen?!“
    Chris grinste verlegen: „Du kennst mich einfach zu gut.“ Dann erzählte er ihr von dem Zwischenfall vor zwei Tagen.


    Kurz danach kickten die Jungs und Chris einen Ball über die große Wiese. Gaby und Johanna saßen auf einer Bank und feuerten sie eifrig an.
    Chris, der ab und zu in ihre Richtung blickte, stutzte plötzlich. Der Mann, der in der Nähe der Bank stand… sein Bauchgefühl sagte ihm, das was mit ihm nicht stimmte. Er versuchte sich wieder auf das Spiel zu konzentrieren, aber so richtig wollte es nicht gelingen.
    Nach ein paar Minuten war der Mann verschwunden.


    Chris ließ seinen Blick durch den Park schweifen, sah aber nichts verdächtiges: Familien, Spaziergänger, Hundebesitzer, Radfahrer… alle genossen die letzten warmen Sonnenstrahlen an diesem schönen Herbsttag.


    Er versuchte sich zu beruhigen, aber das ungute Gefühl blieb. Unter einem Vorwand brach er das Spiel ab und sie schlenderten zur Wohnung zurück. Dort blickte er immer wieder unruhig aus dem Fenster.


    Als die Kinder Abends im Bett lagen, sprach ihn Gaby auf sein sonderbares Verhalten an.
    Chris zündete sich ungehalten eine Zigarette an, schmiss das Feuerzeug auf die Küchentheke und antwortete schroff: „Ach,.. ich weiß auch nicht! Ich habe nur dieses komische Gefühl…“
    Er blies den Rauch wütend durch die Nase aus und drehte ihr den Rücken zu.


    Gaby, die seine Launen zu nehmen wusste, trat von hinten an ihn heran und legte ihre Arme um ihn.
    Sanft flüsterte sie: „Du stehst im Moment unter großer Anspannung... Du weißt, das ich Dir blind vertraue… Hast Du das Gefühl, dass wir in Gefahr sind?"


    Chris dachte kurz nach, dann entspannte er sich. „Nein… doch… ach was, ... wahrscheinlich hast Dur Recht. Ich bin nur angespannt.“
    Schief lächelte er: „Ich weiß nicht, wie Du das machst!“


    Als Gaby ihm einen fragenden Blick zuwarf, fuhr er fort. „Wenn Du in meiner Nähe bist, fühle ich mich einfach sicher. Dabei sollte es doch eigentlich umgekehrt sein!“
    Gaby lachte: „Wozu sonst sind große Schwestern da?“


    ---------


    Die Sonne war noch nicht aufgegangen und die meisten rechtschaffenden Menschen schliefen noch, als sich Lorenz Männer zur letzten Besprechung trafen. Jeder wusste, was er zu tun hatte und allen war klar, das sie sich keine Fehler erlauben durften.


    Eine halbe Stunde später bezogen sie ihre Posten warteten auf das Signal…

  • Heute noch ein kurzes, leicht verdauliches Stück, bevor es dann morgen richtig rund geht! Versprochen!! :]


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    Um 8.30 Uhr fuhr Semir mit seinem BMW bei Chris’ Wohnung vor. Er ging, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hoch und klingelte an seiner Appartementtür. Von innen hörte er eine inzwischen vertraute Stimme. Eine über das ganze Gesicht strahlende Johanna öffnete ihm die Tür und begrüßte ihn freudig.


    Chris, der direkt hinter ihr war, bat ihn kurz rein: „Bin sofort fertig. Ich hole nur schnell meine Jacke.“
    „OK. Aber bitte beeil Dich. Ich habe mein Handy zu Hause liegen lassen. Wir müssen daher noch mal schnell bei mir vorbei fahren. Sorry!“
    Chris vorwurfsvoller Blick sagte mehr als tausend Worte und Semir zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Kann doch mal passieren!“ gab er kleinlaut zu.


    Er erblickte Gaby und erleichtert ging er zu ihr. Sie begrüßten sich mit einer leichten Umarmung.
    „Guten Morgen, Semir! Schön Dich zu sehen. Ich möchte mich noch einmal für den wirklich netten Abend bedanken. Es war sehr schön Deine Frau kennen zu lernen. Und dann erst Deine süsse Tochter. Johanna hat das ganze Wochenende von ihr geschwärmt!“
    „Ja, sie ist wirklich süss, nicht wahr?“ antwortete Semir verträumt, fuhr dann aber ernster fort: „Und,... was habt ihr heute vor?“


    „Wir wollen in die Kölner Innenstadt“, rief Jakob, der just in dem Moment mit Richard aus dem Gästezimmer kam.
    „Mama will unbedingt den Dom sehen!“ fügte Richard mit gespielt angenervter Miene hinzu.
    Gaby legte mit gespielten Erstaunen die Stirn in Falten. „Ich dachte, wir hatten einen Deal? Wenn Ihr nicht wollt, können wir auch wieder fahren....!“
    Doch die Jungens lachten, denn sie wussten, das sie nur so tat, als ob sie sauer wäre. „Quatsch! Wir freuen uns drauf! Ehrlich!“


    Chris kam die Treppe vom Schlafzimmer hinunter, ging zu den Kindern und verabschiedete sich von ihnen.
    Gaby ging noch bis zur Tür mit. Sie wandte sich an Chris und in ihrer Stimme schwang leichter Zweifel:
    „Und Du bist sicher, das es kein Problem ist, wenn wir heute Deinen Wagen nehmen? Ich will nicht, das Du hinterher Ärger mit Deiner Chefin bekommst. Wir können auch mit dem Bus oder der S-Bahn fahren.“


    Bevor Chris antworten konnte, grinste Semir: „Gaby, glaub mir... wenn die Chefin wüsste, das Du mit seinem Auto fährst, wäre sie allemal beruhigter, als wenn der damit fährt.“ Dabei zeigte er mit dem Daumen in Chris’ Richtung.


    Der öffnete mit einem Schnauben die Tür, schob Semir hinaus und gab Gaby schnell einen Kuss auf die Wange: „Hör nicht auf ihn! Wie ich gesagt habe; das geht schon klar! Ich wünsche Euch jedenfalls einen schönen Tag. Bis heute Abend!“
    Er folgte Semir. „Wenn was sein sollte, kannst Du mich jederzeit auf dem Handy erreichen“, rief er über die Schulter und war im Treppenhaus verschwunden.


    Gaby schmunzelte und schloss die Tür.
    Zu den Kindern rief sie: „Abfahrt in einer halben Stunde! Wer nicht fertig ist, bleibt hier!“
    Nervös murmelte sie: „Und wenn ich dieses Schlachtschiff von Auto heil zurück bringe, geht’s mir auch besser!“





    Die Abfahrt der beiden Männer wurde vom Beobachtungsposten an Jens Borchert weitergeleitet. Der informierte sofort seine Leute.
    „OK, es kann los gehen! Die beiden Polizisten sind auf dem Weg zur Arbeit. Wir gehen vor wie besprochen. In spätestens zwei Stunden will Euch mit den Geiseln am Treffpunkt sehen. Und macht keine Fehler!“


    Als nächstes rief er Lorenz an: „Die Sache steigt. Bis zum Mittag haben Sie was sie wollen!“
    „Geben Sie mir Bescheid, wenn alles erledigt ist. Dann gebe ich Ihnen weitere Instruktionen.“
    Zufrieden legte Lorenz auf und ließ sich als nächstes mit Kurt Janzen, Gehlen’s Anwalt, verbinden.


    Ohne ihn zu begrüßen erklärte er knapp: „Sagen Sie Ihrem Mandanten, das er seinen Koffer packen kann. Ende der Woche ist er ein freier Mann!“
    Er beendete das Telefonat und rieb sich die Hände. Er war sich seiner Sache sehr sicher. Auf Bocherts Leute war bis jetzt immer Verlass!

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