Von den Lebenden und den Toten

  • 15.April 2004


    Rheinbach Wald, 12:17 Uhr



    Ben und Semir kamen gerade noch rechtzeitig am Rande der kleinen Lichtung an, auf der die Hütte stand, dass sie sehen konnten wie Fux und ihre Vorgesetzte mit hinter den Köpfen verschränkten Händen unsanft in die Hütte bugsiert wurden, während man zwei Waffen auf sie richtete.


    „Ich hab‘s gewusst! Dieser Idiot! Ich trete denen so dermaßen in den Hintern!“ brummte Gerkhan.


    „Wem genau? Fux oder der Chefin?“


    „Beiden!“


    Ben verzog kurz belustigt den Mund. Das würde er zu gerne sehen...!

    Dann sagte er:

    „Ich werde dich sicher nicht aufhalten, aber dafür müssen wir uns was einfallen lassen, wie wir sie da wieder herausbekommen... Immer hin wissen wir jetzt, dass wir hier richtig sind!“


    Das war sie eindeutig, ja! Kurz darauf hörte Semir, Ben hinter sich fluchen: „Kein Netz! Verstärkung wird also schwer!“

    Das war ja wieder klar... Wenn es wichtig war, hatte man natürlich keinen Empfang! Typisch!


    „Na dann muss Onkel Semir wohl wieder alleine den Tag retten...“, murmelte Gerkhan, fügte dann aber noch gnädig hinzu: „Und du darfst helfen, Jäger!“


    „Das ist aber nett, dass ich helfen darf...“ Ben wirkte leicht pikiert, während sie ein Stück näher an die Hütte heranpirschten.


    Als sie vorsichtig durch eins, der nicht von Fensterläden verschlossenen Fenster spähten, erkannten die Kommissare sofort das sie es mit ziemlich brutalen Schlägern zu tun hatten.

    Just in dem Moment als sie durch das Fenster ins Innere der Hütte sehen konnten, wurde Fux von einem der Typen eine kräftige Faust in den Magen gerammt und er krümmte sich vor Schmerzen.

    Und soweit sie sehen konnten, hatte auch die Chefin schon eine blutige Nase.


    „Kannst du den Jungen irgendwo sehen?“ Ben schüttelte den Kopf. Der war vermutlich im Nebenraum, den sie nicht einsehen konnten.


    „Glaubst du da sind noch mehr Verbrecher im Haus als die vier?“


    Ben wog den Kopf hin und her. Es war möglich, aber sehr unwahrscheinlich, weshalb er nach kurzem Zögern sagte: „Ich denke nicht...“


    Während Semir noch fieberhaft überlegte, was sie am besten tun sollten, eskalierte die Situation in der Hütte in einer rasanten Geschwindigkeit!

    Die zwei Polizisten konnten nicht genau hören was gesagt, oder besser, was gebrüllt wurde aber von der einen auf die andere Sekunde wussten sie das sie handeln mussten.


    Und zwar sofort!




    Im Hauptraum der Hütte fing sich Fux einen weiteren Schlag in den Magen ein, während einer der Männer, vermutlich der Anführer, ihn zum zweiten Mal fragte, was sie hier taten und ob noch mehr Bullen in der Nähe waren.


    „Ich habe keine Ahnung wovon sie da reden... Wir haben unseren Hund gesucht... Balto!“ keuchte André und hatte trotz allem noch immer ein leicht herablassendes Grinsen auf den Lippen.


    „Natürlich... Es ist also purer Zufall das die kleine Bullenbraut hier uns gestern Abend kontrolliert hat und ihr heute hier vor der Tür steht!“ Der Kerl sah abfällig auf Fux herab, der keuchend auf dem Boden kniete.


    „Ein letztes Mal: Sind hier noch mehr Bullen?! Und wer schickt euch?!“


    „Willst du mich nicht verstehen? Wir sind hier zufällig spazieren gegangen...“ Der Kerl der Fragen stellte, bewegte sich mit einer rasanten Geschwindigkeit, als er ein Butterfly Messer aus seiner Hosentasche zog und mit dem offenen Messer auf die Chefin zu trat.

    Er packte sie grob in den Haaren und im nächsten Moment fühlte sie die scharfe Klinge an ihrem Hals.

    Bereits im nächsten Augenblick flossen die ersten Tropfen Blut, als der Verbrecher einige Zentimeter Haut dicht neben ihrer Halsschlagader anritzte.


    „Wenn du mir nicht sofort sagst, was ich wissen will, du Penner, gibt’s hier gleich eine riesen Sauerei!“


    Und die Sauerei gab es tatsächlich.


    Allerdings ein wenig anderes als der Mann es gedacht hatte. Während Fux erstarrte und auch die Chefin sich keinen Millimeter mehr bewegte, handelten Ben und Semir!




    Die Polizisten waren beide erfahren genug, um zu sehen, wenn umgehendes Handeln ohne Zögern gefragt war!

    Weder Ben noch Semir hegten den kleinsten Zweifel daran, dass der Typ ihrer Chefin, ohne zu zögern, die Kehle aufschlitzen würde.

    Es kam ihnen in dem Moment enorm zugute, das sie sich blind und ohne Worte verstanden. Zeitgleich standen sie auf, legten an und schossen auf ihr jeweiliges Ziel!


    Die Kugeln schlugen durch die Scheibe und trafen Dead-Center!


    In Semirs Fall traf die von ihm abgefeuerte Kugel den Kopf des Mannes, der die Engelhardt festhielt und mit dem Messer bedrohte.

    Bens Kugel ging in die Brust des Mannes, der seine Waffe auf Fux richtete.


    Als Anna den Knall hörte, griff sie Reflexartig in die Klinge an ihrem Hals.

    Eine Bewegung, die ihr vermutlich das Leben rettete.

    Der Typ, der sie gerade noch festgehalten hatte, fiel wie ein nasser Sack in sich zusammen, während ein Teil seines Schädels und seines Gehirns sich an der nächstgelegenen Wand verteilte.

    Dabei riss er sie mit sich zu Boden und hätte ihr wohl den Hals aufgeschnitten.

    So schnitte die scharfe Klinge des Messers nur ihre Handflächen auf.


    Fux hatte sich in Windeseile aufgerappelt und auf eine der noch übrig gebliebenen Männer gestürzt, während Ben und Semir weitere Kugel durch die Fenster feuerten und so den vierten im Bunde zum Rückzug zwangen.

    Die Chefin rappelte sich nun ihrerseits auf und sah sich kurz um. Dabei blieb ihr Blick an einer Holztür zu ihrer linken hängen. Sie eilte darauf zu, nur um festzustellen, dass sie abgeschlossen war.


    André und der grobschlächtige Hüne, den sie nach ‚Balto‘ gefragt hatten, lieferten sich derweil eine heftige Schlägerei, in der keiner dem Anderen etwas schenkte. Aus dem Augenwinkel sah Anna mit wachsendem Entsetzen, das soeben einer der Vorhänge abgerissen wurde und sich ein Teil des Stoffes im Kamin verfing, in dem ein Feuer brannte, welches den Vorhang sofort entzündete.


    Das war nicht gut!



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  • 15. April 2004


    Rheinbach Wald, 12:21 Uhr




    Vor der Hütte lieferten sich Ben und Semir derweil eine Schießerei mit dem vierten Verbrecher, der versuchte zu entkommen.

    Dabei war es dem Man gelungen ein großkalibriges Maschinengewehr aus dem vor der Hütte parkenden Jeep zu holen.


    „Wo kommt das Ding denn jetzt her?“, beschwerte sich Ben lautstark, während er und Semir hinter einem Baumstamm auf dem Boden kauerten, während unzählige Kugeln in ihre Richtung flogen.


    „Ja, aus dem Auto kommt das!“


    „Ja scheiße auch!“ Gerkhan konnte seinem jungen Kollegen nicht widersprechen! Das war scheiße! Das jetzt dichter schwarzen Qualm anfing aus der Hütte aufzusteigen, war allerdings auch scheiße.

    Und das ihnen langsam die Munition ausging, war noch viel beschissener!


    „Wie viel Schuss hast du noch?“, fragte Semir, während er sein eigenes Magazin überprüfte.


    „Vier! Du?“


    „Drei!“ Der Deutschtürke schüttelte missbilligenden den Kopf. Das war eindeutig zu wenig!


    Ben sah sich bereits fieberhaft um, da er wusste, dass sie sich etwas einfallen lassen mussten. Und das schleunigst! Mit sieben Kugeln kamen sie nicht weit.

    Er wandte sich um und blickte entlang des Waldwegs, über den der Jeep gekommen war. Hatte er im Vorbeirennen nicht einen Stapel Baumstämme gesehen, die am Wegrand lagerten...?

    Jäger dachte kurz nach, war sich dann aber ziemlich sicher, dass er in der Tat einen Stapel gesehen hatte.


    „Ich habe eine Idee Semir! Gib mit zwei Minuten und dann lass den Kerl wegfahren!“


    „Bitte was...?“ Ihn wegfahren lassen? Gerkhan war durchaus verwirrt, konnte aber nicht mehr nachfragen, da Ben ihm seine Dienstwaffe dagelassen hatte und schon durchs Unterholz verschwand.


    Semir hoffte inständig, dass sein junger Kollege wusste, was er da tat...




    In der kleinen Hütte brannte mittlerweile nicht nur der Vorhang, sondern auch das Sofa hatte bereits Feuer gefangen, genau wie neben den Kamin lagerndes Brennholz.

    Der dadurch entstehende Rauch ließ die Augen der Chefin tränen und sie musste immer wieder husten, als sie einen kleinen Tisch mit mehrfach mit aller Kraft vor das Schloss der verschlossenen Tür schlug.

    Ihr recht stark blutenden Hände machte es ihr jedoch immer schwerer den Tisch richtig zu greifen. Außerdem tat es höllisch weh.

    Anna hoffe inständig, dass das Schloss jetzt nachgeben würde, als sie den Tisch beiseite warf und stattdessen mit dem Fuß knapp unter die Türklinke trat.

    Beim dritten Tritt gab das Holz endlich nach und die Tür flog mit einem Krachen auf.


    Sofort schlug der Polizistin ein unangenehmer Geruch entgegen, den sie selbst durch den immer dichter werdenden, beißenden Rauch wahrnahm.

    Der kleine, dunkle Raum, war nicht viel größer als eine Abstellkammer, in den nicht viel mehr hereinpasste, als die am Boden liegende Matratze und ein in einer Ecke stehenden Eimer.

    Der Anblick, des auf der Matratze kauernden, abgemagerten Junge, der offensichtlich nicht bei vollem Bewusstsein war, ging Anna umgehend durch Mark und Bein und trieb ihr Zornesröte auf die Wangen!

    So umsichtig wie es in der Situation möglich war, trat sie an das Kind heran.


    „Salute Arnaud. Je m’appelle Anna...“ stellte sie sich kurz mit einem Lächeln vor, auch wenn sie sich nicht sicher war, dass er sie überhaupt verstand. „Je suis une officier de police et je suis là pour aider!“


    Die Chefin konnte die Hitze des sich schnell ausbreitenden Feuers mittlerweile im Rücken fühlen und wusste, dass sie sich beeilen musste.

    Sie hustete erneut, schaffte es aber den Jungen schon beim ersten Versuch hochzuheben und ihn sich halb über die Schulter zu legen.

    Der Rauch war inzwischen so dicht, dass sie die Tür, die ins Frei führte, kaum noch sehen konnte.


    Anna nahm eine Bewegung zu ihrer rechten wahr und fürchtete schon, dass einer der Verbrecher auf sie zukam, nur um in der nächsten Sekunde das blutige Gesicht von André zu erkennen. Umgehend fühlte sie, wie das Gewicht des Jungen von ihren Schultern genommen wurde und sie halb blind vom Rauch mit Fux in Richtung Ausgang stolperte.


    Die frische Luft einzuatmen, die ihnen entgegenschlug, als sie ins Freie taumelten, war unbeschreiblich!




    Bens Plan, den Jeep fahren zu lassen und ihn nicht weiter aufzuhalten stellte sich als goldrichtig heraus, musste Semir in dem Moment feststellen!

    Hätte sie das nicht getan, wären Fux und die Chefin, die soeben mit dem Jungen aus der inzwischen im Vollbrand stehenden Hütte herauskamen, vermutlich in den offenen Kugelhagel des Maschinengewehrs gelaufen!


    Wie Ben es ihm gesagt hatte, hatte Semir keine 30 Sekunden zuvor aufgehört auf den Typen zu schießen der daraufhin sofort die Chance zur Flucht mit dem Jeep genutzt hatte.

    Ein Stück den Weg hinunter hatte Ben jedoch in Rekordzeit herausgefunden, welchen der am Wegrand liegenden Baumstämme, er als erstes ins Rollen bringen musste, damit ein paar weitere Folgen würden.

    Und genau das tat er, als der Geländewagen in seine Richtung raste:


    Mit aller Kraft stemmte er sich gegen einen der Stämme und brachte ihn schließlich in Bewegung. Dabei wäre er fast noch selber von den nachfolgenden Baumstämmen erfasst worden, konnte sich aber noch gerade so mit einem Satz in Sicherheit bringen.

    Der Fahrer des Jeeps hatte weniger Glück:


    Er schaffte es nicht mehr rechtzeitig zu Bremsen oder auszuweichen und wurde im Auto von den Tonnenschweren Stämmen überrollt. Ben hatte sich ordentlich ins Zeug gelegt und anstelle von ein paar Stämmen, waren gleich alle ins Rollen gekommen.

    Das war so nicht geplant gewesen, aber Ben hatte nur sehr wenig Mitleid mit dem Verbrecher, dessen Leiche nun in dem Autowrack eingeklemmt war.




    Als Jäger wieder vor der lichterloh brennenden Hütte ankam, hatten sich die anderen drei schon so gut es ging, um den halb bewusstlosen Jungen gekümmert.

    Es war deutlich, dass er schnellstens ins Krankenhaus musste und bei seinem Anblick hatte Ben noch gleich weniger Mitleide mit den vier Verbrechern, die ihre Begegnung mit ihnen alle nicht überlebt hatten.


    Aber wer einem wehrlosen Kind gegenüber derart grausam war, hatte nichts Besseres verdient!


    Arnaud war abgemagert, halb verdurstet und hatte anscheinen hohes Fieber, was wohl durch die so gut wie nicht versorgte Wunde an seiner linken Hand kam, an der sie ihm stümperhaft den Finger abgetrennt hatten.




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  • 15 April 2004


    Ambulanz Uniklinik Köln, 16:04 Uhr



    André Fux saß recht erschöpft, aber unendlich erleichtert im Wartebereich der Ambulanz.


    Seine leichten Verletzungen, die er sich bei dem Kampf in der Hütte zugezogen hatte, waren versorgt worden und man hatte ihm Sauerstoff gegeben, da er sich eine leichte Rauchgasvergiftung zugezogen hatte.


    Neben ihm auf einem der Plastikstühle saß seine ehemalige Chefin. Auch ihre Hände waren versorgt und anschließend verbunden worden. Die Schnitte waren nicht allzu tief und es waren keine Sehnen und Nerven verletzt worden.

    Es tat zwar weh, war letztlich aber nicht schlimm und würde komplett verheilen. Da sie ebenfalls eine leichte Rauchgasvergiftung hatte, hatte man auch ihr Sauerstoff gegeben.


    Momentan warteten sie auf ihre Entlassungspapiere und auf Ben und Semir, die Arnaud Berthold und seine Eltern mit auf Station begleitet hatten, in der Hoffnung das der Junge ihnen vielleicht noch etwas sagen konnte. Außerdem wollten sie sicherstellen, dass er alle Hilfe bekam, die er brauchte und standen den Eltern Rede und Antwort.



    „Die ‚Balto-Nummer‘ wäre je beinahe ganz schön schiefgegangen...“ durchbrach Anna schließlich die Stille und brachte Fux damit zum Schmunzeln. Wobei es ein schuldbewusstes Schmunzeln war.


    „Ja... Das war so nicht ganz geplant gewesen...“ gestand er ein und grinste dann frech: „Da wird der kleine Ben sicher ganz schön enttäuscht sein, dass wir seinen Hund nicht wiedergefunden haben...“


    Auch die Chefin schnaubt jetzt belustigt. „Und die andere drei erst...“


    „Ah, der Große wird’s überleben. Aber stimmt... Die ganz kleinen werden sicherlich sehr enttäuscht sein...“ Er wog kurz den Kopf hin und her. „Wobei vier Kinder schon recht stattlich ist, oder? Da habe ich vielleicht ein bisschen übertrieben...“


    „Ein bisschen?“


    „Na gut... Vielleicht habe ich auch ein bisschen sehr übertrieben.“ Fux wurde wieder ernster als er hinzufügte:


    „Aber wir haben den Jungen da rausgeholt. Und das ist alles was zählt.“


    Anna nickte genauso ernst.

    Ja, das hatten sie. Und das war wirklich das Wichtigste. Bei den Gedanken an den Jungen lief es ihr erneut kalt den Rücken herunter. Diese Unmenschlichkeit, die ihm widerfahren war, ging ihr einfach nicht in den Kopf! Und einmal mehr alles nur wegen des verdammten Geldes!



    Das Erscheinen von Ben und Semir am Ende des Gangs holte sie jedoch aus diesen düsteren Gedanken und sie sah ihren Kommissaren entgegen.

    Semir baute sich vor ihr und André auf und sah kritisch vom einem zum anderen.


    „Keine Alleingänge, ja? Das hat ja wieder richtig gut geklappt!“


    Die Chefin hob erstaunt die Augenbrauen und sah ihren Hauptkommissar perplex an.

    War das nicht eigentlich ihr Text?

    Auch der junge Kommissar Jäger stand mit vor der Brust verschränkten Armen vor ihnen und sah sie tadelnd an.


    „Hach ja... Wie schnell die Kleinen doch Erwachsen werden.“ Seufzte André neben ihr theatralisch. „Und dann fangen sie an dir auf der Nase herumzutanzen...“


    „Welche Kleinen?“, fragte Ben und sah zwischen seiner Chefin und dem Totgeglaubten hin und her, die Beide amüsiert grinsten. Als sich Anna an Semir wandte sah sie jedoch schon wieder ernster drein.


    „Sie haben recht Semir. Die Aktion war keine gute Idee. Aber es ist ja zum Glück und dank ihnen beiden, alles nochmal gut gegangen. Es wird aber nicht wieder vorkommen.“ Nun war es Gerkhan, der schmunzelte. Das war eigentlich sein Text...


    „Wie geht es dem Jungen?“ Fragte Fux nach einer kurzen Pause.


    „Er liegt jetzt zur Beobachtung auf der Kinderintensiv, ist aber stabile und die Ärzte sind einigermaßen positiv gestimmt.“

    Anna und André nickten beide erleichtert. Das war immerhin ein Hoffnungsschimmer.

    Zeit zum Verschnaufen hatten sie aber noch nicht ganz.


    „Wir müssen uns alle zusammen mit Herrn Berthold Unterhalten. Und zwar sofort.“ Verkündete die Chefin schließlich. „Bringen sie ihn bitte auf die Dienststelle?“ Das galt Semir und Ben. An André gewandt sagte sie: „Bereit, langsam wieder in die Welt der Lebenden zu treten, Herr Fux?“






    15. April 2004


    PAST, 17:00 Uhr



    André war im Wagen der Chefin hinter Ben und Semir hergefahren, die Albert Berthold dabeihatte.

    Schon auf der Fahrt hatte Anna Fux von ihrer Unterhaltung am Morgen mit Berthold erzählt. Und dem ‚Angebot‘ was sie ihm unterbreitet hatte.


    Er war sich nicht ganz sicher, was er davon halten sollte.

    Auf der einen Seite war er durchaus sehr positiv überrascht, dass sie sich schon jetzt derart für ihn einsetzte.

    Auf der anderen Seite überkam ihn umgehend ein schlechtes Gewissen.

    Albert hatte ihm das Leben gerettet und ihm die letzten fünf Jahre seines Lebens einen Job und ein Dach über dem Kopf gegeben.


    Im Augenblick war es jedoch noch wichtiger, was sie mit Van Beust machen sollten. Er hatte mit Sicherheit schon Verdacht geschöpft, dass etwas nicht stimmte. Und sie mussten sich Gedanken machen, was sie Neumann vom LKA erzählen wollten.

    Am nervösesten machte ihn jedoch die Tatsache, dass er zum ersten Mal seit fünf Jahren das Revier der Autobahnpolizei wieder betreten würde und einem Großteil seiner ehemaligen Kollegen begegnen würde...



    André stellte den Motor des Lexus ab und ließ seinen Blick über den Parkplatz vor der PAST schweifen. Gleich neben ihm stand der Polizei Porsche und weiterer Streifenwagen.

    Im Rückspielgel konnte er ein Paar der Buchstaben erkennen, die das markante Schild mit der ‚Autobahnpolizei‘ formten.

    Es kam ihm alles sofort unglaublich vertraut vor. Fast, als wäre er nie weg gewesen. Fux beobachtete Semir und Ben, die schon ausgestiegen waren und nun mit Berthold durch den Eingang der PAST in das Gebäude gingen.


    „Nervös?“ Die Frage vom Beifahrersitz holte ihn in das Hier und Jetzt zurück und Fux antwortete reflexartig:


    „Nein!“ Nur um sofort ertappt zu grinsen und sich zu verbessern. „Also... Ja, schon. Aber nur ein bisschen!“


    „Möchten sie lieber im Auto warten?“ Die Chefin musterte ihn von der Seite.


    „Nein... Nein, ganz sicher nicht.“ Er straffte die Schultern und öffnete schließlich die Fahrertür.


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  • 15. April 2004


    PAST, 17:04 Uhr




    Im Hauptbüro der PAST hatte Ben Berthold schon in das Büro der Chefin gebracht, während Semir auf direktem Weg zu Andrea gegangen war, die schon mehr als ungeduldig auf ihn gewartet hatte.


    „Mensch! Was macht ihr denn wieder für Sachen?! Geht’s euch gut?“ Natürlich hatte sich der Vorfall im Wald schon durch den Polizei-Busch-Funk herumgesprochen. Aber wie immer wusste niemand genaues und die ersten wilden Theorien machten bereits die Runde.


    „Alles gut, nur ein paar kleine Kratzer... Ich kann dir das alles heute Abend ganz in Ruhe erklären... Jetzt erschrick dich gleich nur nicht...“


    Die Warnung kam allerdings ein paar Sekunden zu spät.


    Auch wenn Andrea von Semir ja bereits wusste, dass André Fux am Leben war, entfuhr ihr ein spitzer Schrei der Überraschung, als genau dieser in dem Moment in das Großraumbüro trat.

    Die Sekretärin schlug sich beide Hände vor den Mund und brachte keinen weiteren Ton mehr hervor, als sie den totgeglaubten Kollegen und Freund anstarrte, der etwas verloren, stehen geblieben war und von einem der anwesenden Polizisten zum nächsten sah.


    Bonrath und Herzberger starrten André einfach nur mit weit aufgerissenen Mündern an und zwei weitere Kollegen rieben sich doch glatt über die Augen, offensichtlich nicht sicher, ob sie da richtig sahen.

    Andrea löste sich schließlich aus ihrer Erstarrung und stürmte auf Fux zu, dem sie auch schon im nächsten Moment um den Hals fiel.


    „Ich glaub das einfach nicht!“, lachte sie schließlich und musste ein, zwei Tränchen verdrücken. „Du bist wirklich am Leben!“


    „Dieter, kneif mich mal! Ich glaub ich spinne!“ murmelte Hotter derweil und konnte noch immer nicht glaube was, oder besser, wen er da sah.


    „Ich bin mir durchaus bewusst, dass das eine ziemliche Überraschung für sie alle sein muss, aber die Wiedersehensfeier muss leider noch ein klein bisschen warten. Herr Fux?“ sagte die Chefin schließlich und deutete auf ihr Büro, wo Ben schon wartete.





    Ein eigenartiges Gefühl befiel André, als er hinter Anna das Büro der Dienststellenleitung betrat, erinnerte er sich doch genau an den Moment, als er es das letzte Mal verlassen hatte.

    Genau wie im Rest der PAST, hatte sich auch hier die Einrichtung ein wenig verändert, nichtsdestotrotz erkannte er alles umgehen wieder.

    Gerkhan schloss hinter ihm die Tür und die Chefin deutete auf die Sitzecke und sagte an Berthold gewandt.


    „Sie können sich sicher denken, dass wir noch einiges zu besprechen haben und ein paar Dinge klären müssen, bevor das LKA hier auftaucht und einige etwas unangenehme Fragen stellen wird.“ Den Blick, mit dem sie ihn durchbohrte, während sie sprach, war eindeutig und Albert wusste, was sie ihm damit zu verstehen gab.


    Jetzt lag es an ihm, wie es weiter gehen würde.


    Da sein Sohn, dank ihrer und der Hilfe der anderen beiden Polizisten aber endlich in Sicherheit und wieder bei ihm war, war er durchaus bereit seinen Teil der Abmachung zu erfüllen.


    Sein Kind war sicher und nichts anderes zählte.



    Für Ben und Semir kam es zwar ziemlich überraschend, dass Berthold bereit war die komplette Schuld auf sich zu nehmen und André aus allem heraus zu halten, beide Kommissare hatten aber eine Fantasie davon, wo seine Bereitschaft, ihrem Ex-Kollegen zu helfen, herkam.

    Die einschüchternden Blicke, mit denen die Engelhardt den Mann durchgehend durchbohrte, sprach Bände.


    „Das ist ja alles schön und gut... Aber wie erklären wir dem LKA warum Arnaud entführt wurde? Und wie dieser Van Beust da mit drinsteckt?“ gab Ben nach einer Weile zu Bedenken.


    „Und wenn wir ihnen eben nicht alles erklären?“ Während Berthold gesprochen hatte, hatte sich Fux bereits seine Gedanken gemacht.


    „Wie meinst du das?“ Semir sah seinen Ex-Partner ein wenig skeptisch an.


    „Wir sagen nichts von Van Beust. Sagen das die vier Toten aus der Hütte die Entführung und Lösegeldforderungen alleine geplant haben.“ Er wandte sich direkt an Berthold:


    „Weil du das Geld nicht hattest, musstest du die Juweliere überfallen und hast, nach dem der letzte Überfall schiefgegangen ist, dass Mädchen entführt. Aber dir ist sofort klar geworden, dass du einen riesen Fehler gemacht hast und hast sie deswegen umgehen frei gelassen. Ich als dein Bodyguard habe mich auf wundersame Weise an meine wahre Identität erinnert, als ich Semir gesehen habe und ihn um Hilfe gebeten. Und so haben wir dann die Hütte gefunden.“ Fux zuckte mit den Schultern. „Das muss natürlich noch ein bisschen dilatierter besprochen werden, aber so in etwa...“


    „Und Van Beust? Was machen wir mit dem?“ Ben war noch nicht überzeugt.


    „Ich denke nicht, dass er zur Polizei gehen wird... Arnaud und Camille stehen unter Polizeischutz und vor ihm sich sicher. Außerdem...“ André machte eine Pause, sah von einem zum anderen. „Außerdem glaube ich nicht, dass Van Beust noch lange ein Problem sein wird...“


    Nacheinander fielen bei allen Anwesenden die Groschen und sie begriffen, was Fux damit andeutete.

    Wenn Van Beust nicht schleunigst die verlorenen Millionen auftreiben würde, würde sich die Triade seiner annehmen.

    Auf den Gesichtern der Polizisten war durchaus zu sehen, dass sie kein allzu großes Problem damit hatten, Van Beust seinem Schicksal zu überlassen. Nicht nach allem, was er dem Jungen angetan hatte.


    „Ich verspreche ihnen, dass wir alle ein gutes Wort für sie einlegen werden, Herr Berthold. Um eine Haftstrafe werden sie vermutlich nicht herumkommen, aber ich bin mir sicher, dass sie nicht allzu lange sein wird. Vielleicht ein, zwei Jahre.“ Sagte die Chefin an Albert gewandt, was dieser mit einem nicken zur Kenntnis nahm. Das würde er schon irgendwie verkraften...


    Schließlich hätte alles noch viel, viel schlimmer kommen können!




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  • Sonntag, 09. Mai 2004


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg 17:10 Uhr



    André Fux lief leichtfüßig die Stufen in den ersten Stock hinauf.


    In der einen Hand hielt er eine Flasche französischen Rotwein, in der anderen ein in Geschenkpapier eingepacktes Buch.

    In der Wohnungstür stand auch schon die Besitzerin der Wohnung und lächelte ihm freundlich entgegen.

    Als er bei ihr ankam, begrüßte er sie mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange und hielt ihr die Dinge in seinen Händen entgegen.


    „Noch mal alles Gute zum Geburtstag, nachträglich!“, sagte er breit lächelnd. Anna hatte erst am Tag zuvor Geburtstag gehabt und war 42 geworden.


    „Vielen Dank! Aber das wäre nicht nötig gewesen!“ sagte sie ebenfalls lächelnd, während Fux Schuhe und Jacke ablegte.


    Seit Mitte April hatten sich die Dinge rasant entwickelt und es war recht viel passiert, sodass sie bis jetzt keine Gelegenheit gehabt hatten, sich in Ruhe zu unterhalten.

    Albert Berthold hatte Wortgehalten und André aus allen Dingen herausgehalten. Ihre nicht ganz der Wahrheit entsprechende Geschichte hatte das LKA geschluckt, auch wenn Fux vermutete das dies nur daran lag, weil Kriminalrat Neumann vom LKA nicht allzu viele kritisch Fragen stellte.

    Was wiederum, einzig und allein daran lag, dass er seiner Kollegin von der Autobahnpolizei, nach einem recht langen und ausführlichen Gespräch, einen Gefallen tat.


    Der Komplize, den Ben verhaftete hatte, sagte nur, was er sage musste. Dass er an den Überfällen beteilig war, aber nicht wisse, wer seine Mittäter sein. Berthold nannte auch keine Namen und die Beschreibung, die er von Alain Duvért als dritten Täter gab, war mehr als wage.

    Fux hatte durchblicken lassen, dass der von Ben geschnappte Mann seinen Lohn bereits erhalten hatte und nur zu gerne bereit war eine kurze Haftstrafe abzusitzen.

    Die Staatsanwaltschaft hatte auch schon durchblicken lassen, dass sie im anstehenden Prozess gegen Berthold Milde walten lassen würde.


    Was an den gegebenen Umständen lag, hauptsächlich aber wohl daran, dass sämtliche erbeuteten Diamanten und Schmuckstücke zurückgegeben worden waren und bei den Überfällen niemand zu Schaden gekommen war.

    Und natürlich daran, dass sich die Kollegen der Autobahnpolizei für Albert einsetzten. Arnaud Berthold war auf dem besten Weg der Genesung und würde voraussichtlich in ein paar Tagen das Krankenhaus verlassen können.


    André selber hatte die letzten Wochen mit unzähligen Behördengängen zu tun gehabt und mit der ein oder anderen Befragung, unter anderem bei der Polizeigewerkschaft, die genau wissen, wollten was vor fünf Jahren geschehen war.

    Von den Toten aufzuerstehen, war recht umständlich, wie er feststellen musste. Aber seit zwei Tagen gehörte er als ‚André Fux‘ ganz offiziell wieder zu den Lebenden und nicht mehr zu den Toten.

    Und jetzt hatten er und Anna auch endlich die Zeit gefunden, in Ruhe miteinander zu Reden.



    „Hallo André!“, wurde er im nächsten Moment von Leonie begrüßt die im Wohnzimmer auf dem Boden saß und mit Duplo Steinen einen Turm oder etwas in der Art zu bauen.


    „Hallo Leonie!“, grüßte er lächelnd, aber mit einer gehörigen Portion Unsicherheit. Auch nach drei Wochen konnte er noch nicht so wirklich begreifen, dass da seine Tochter saß.


    Anna blieb die Unsicherheit keineswegs verborgen und sie gab ihm die Gelegenheit sich ein wenig allein mit Leo zu unterhalten, während sie in der Küche anfing das Abendessen zu machen.


    „Onkel Semir hat erzählt das er schon mit seinem Auto geflogen ist!“, hörte Anna die Tochter irgendwann begeistertet erzählen und sah daraufhin ein wenig skeptisch ins Wohnzimmer.


    „Hat er das?“ André nickte nachdenklich. „Hat der Onkel Semir auch gesagt wer ihm beigebracht hat, wie man ein Auto zum Fliegen bringt?“


    Oh nein...


    Die Chefin schlug innerlich die Hände über dem Kopf zusammen, rang sicher aber dazu durch, im letzten Moment nichts zu sagen, sondern Fux weiter erzählen zu lassen.


    „Wer denn?“, fragte Leo auch schon mit großen Augen.


    „Na von mir. Ich war auch mal Polizist und habe mit Semir zusammengearbeitet.“


    „Wie Ben?“, fragte die Vierjährige und bekam noch größere Augen.


    „Ganz genau, wie Ben. Und ich habe Semir gezeigt, wie man mit Autos über andere Autos springt und sie ein Stück fliegen lässt...“


    „Kannst du mir das auch zeigen?!“ Leonies Augen hatten wieder das schelmische Leuchten, das er schon vor drei Wochen wiedererkannt hatte.


    „Na ja, aber du kannst doch noch gar kein Autofahren, junge Dame.“ Gab Fux zu bedanken, da er langsam begriffe, dass er vermutlich soeben die Büchse der Pandora geöffnet hatte.


    „Kannst du mir dann zeigen, wie man Auto fährt?“


    Oh ja.

    Die Büchse stand sperrangelweit auf, was auch der Blick bestätigte, den die Mutter ihm aus der Küche zuwarf. Der Blick gab ihm auch eindeutig zu verstehen, dass er beim Schließen der Büchse auf sich allein gestellt war.


    „Ja, aber dafür musst du größer werden.“


    „Wie groß?“ Himmel, das Kind war hartnäckig!


    „So groß wie deine Mama. Sonst kommst du nicht an die Pedale im Auto.“ Er grinste, zufrieden mit sich selbst, dass er doch so einfach aus der Nummer hinausgekommen war. Leo nickt ein wenig enttäuscht, hielt dann jedoch inne.


    „Aber Onkel Semir ist kleiner als meine Mama! Und der fährt Auto.“ André bekam große Augen. Das Kind war für ihr Alter eindeutig zu clever!


    „Na gut, dann musst du so groß werden wie Onkel Semir.“ Sagte er schließlich und Leonie nickte ein wenig zufriedener. „Dann ist das schon bald. Der ist nämlich nicht so groß...“


    Jetzt konnte Fux es endgültig nicht mehr verhindern das ihm die Kinnlade herunterklappte.



    ***



    Später am Abend, und nachdem Leonie im Bett lag und tief und fest schlief, saßen sich André und Anna im Wohnzimmer gegenüber und Fux kam nicht umher, sich ein wenig in den Abend von vor etwas mehr als fünf Jahren zurückversetzt zu fühlen, wo sich schon einmal ganz ähnlich gegenüber gesessen hatten.


    „Irgendwie habe ich grade ein Déjà Vu...“ Er grinste. „Aber ich habe ja schon vor meiner Abreise nach Mallorca gesagt, das wir uns noch einmal unterhalten sollten.“ Fux hob die Schultern. „Und hier bin ich! Hat alles ein bisschen länger gedauert als geplant... Aber besser spät als nie!“

    Die Chefin konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.

    Da war er wieder.

    Der Mann, mit dem sie sich von Anfang an gut verstanden hatte und mit dem sie unzählige Male zusammen gelacht hatte.


    „Das hat wirklich ganz schön lange gedauert...“, sagte sie schließlich und nippte an ihrem Wein.


    „Ich habe mich auf dem Weg zurück das ein oder andere Mal verfahren...“


    „Ah, verstehe... Ich fürchte in der Zwischenzeit ist die Liste der Dinge, über die wir uns unterhalten sollten, ein bisschen länger geworden...“


    Oh ja... Das war sie allerdings.


    Weswegen es auch bereits 02:00 Uhr in der Früh am Montagmorgen war, als er wieder in seine, vor einer Woche bezogene Wohnung fuhr.

    Aber sie hatten tatsächlich über fast alle die Dinge gesprochen, die in den letzten fünf Jahren passiert waren.

    Und auch über das, was kurz vor seinem Verschwinden geschehen war.


    Sie waren beide recht schnell zu der Erkenntnis gekommen, dass es nichts bracht darüber nachzugrübeln, was hätte sein können, wenn er nicht verschollen wäre, da sie es eh nie erfahren würden. Außerdem war einfach zu viel Zeit vergangen und sie hatten sich beide verändert.

    Was blieb, war die Tatsache, dass sie in ihrer gemeinsamen Nacht, ein Kind gezeugt hatten und dafür gleichermaßen verantwortlich waren. Und André war nur zu gerne bereit dazu, dieser Verantwortung nach all den Jahren nachzukommen.




    Im Laufe des Abends hatte Anna ihm ein Fotoalbum gezeigt und er hatte seine Tochter im Zeitraffer älter werden sehen. Gleichzeitig hatte er auf den Bildern der Verwandlung seiner damaligen Vorgesetzten zusehen können.

    Angefangen von einem der ersten Bilder in dem Album das Weihnachten 1999 kurz vor der Geburt der Tochter aufgenommen worden war und sie hochschwanger zeigte, zum nächsten Bild, was von ihrer Schwester, die bei Leonies Geburt dabei gewesen war, sehr kurz nachdem die Kleine auf der Welt war, aufgenommen wurde.

    Auch wenn er nicht umher kam zu sagen, dass sie auf dem Bild vor allem völlig fertig aussah, glaubte er schon dort eine Veränderung erkannt zu haben, die sich über die Jahre fortsetzte, bis hin zu der Frau, die heute vor ihm saß.


    „Mir ist bewusst, dass fünf Jahre eine recht lange Zeit ist und wir vermutlich nicht mehr die Menschen sind, die wir damals waren. Jedenfalls nicht genau die Menschen. Aber ich würde mich freuen, wenn wir uns vielleicht wieder kennenlernen würden. Genau wie ich Leonie sehr gerne, noch besser kennenlernen möchte, wenn du es erlaubst.“ Hatte sich André schließlich verabschiedet.





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  • Teil 3


    Zukunft





    'Für immer und ewig'



    25. September 2004


    Kölner Ringe, Club ‚Nachtflug‘ 23:58 Uhr




    „Prost!“


    Die Truppe um Semir stieß mit einer neuen Runde Tequila an. Der Deutschtürke hatte keine Ahnung, die wievielte Runde es war, aber ganz sicher nicht die zweite oder dritte.

    Ben hatte ihn unter einem Vorwand in die Stadt gelockt, wo einige Freunde und Kollegen bereits auf ihn gewartete hatten, um ihn mit einer Party zu seinem Junggesellen Abschied zu überraschen. In genau einer Woche würde er Andrea heiraten.

    Nach einem lustigen, noch recht gemütlichen Essen beim Italiener, waren sie schließlich in den Club, wo sie sich noch immer befanden, gezogen und hatten es bereits ordentlich krachen lassen.


    André Fux hatte sich schon den ganzen Abend über Ben und Semir lustig gemacht, da sie vor drei Tagen ihre Kripomarken hatten abgeben müssen und derzeit wieder in Uniform Streife fuhren, nach dem sie während einer Verfolgungsjagd die Hochzeitslimousine der Tochter des Polizeipräsidenten geschrotet hatten.

    Deren frisch angetrauter Mann, ebenfalls ein Polizist und Kollege, hatte dadurch die Hochzeitsnacht im Krankenhaus verbringen dürfen.

    Aus zuverlässiger Quelle wusste er, dass der Polizeipräsident am Toben war und auch sein Schwiegersohn, Kriminalhauptkommissar Kellermann vom LKA, nach Rache sinnte.



    „Ja Ha-Ha! Du hast gut lachen! Du musst dich auch nicht in Uniform zum Affen machen, sondern kannst dich auf deiner ‚Entschädigungs-Zahlung‘, oder was auch immer das war, ausruhen und dir ein Lotterleben machen!“ beschwerte sich der Bräutigam in Spe.


    Nachdem man ihn ja nun mal, fälschlicherweise, für tot erklärt hatte und er dadurch de facto, die ganzen Jahre über weiter in einem Beamtenverhältnis gewesen war, hatte André vor ein paar Wochen einen Großteil seiner fünf Jahres Löhne ausgezahlt bekommen, die ihm dadurch zustanden.

    Sofort danach hatte er allerdings endgültig seine Kündigung für den Polizeidienst eingereicht. Er war sich noch nicht ganz sicher, was er machen wollte, aber Polizist würde er unter keinen Umständen mehr sein, das stand fest.

    Schon als sich Fux und Gerkhan vor drei Monaten das erste Mal richtig ausgesprochen hatten, hatte er Semir gestanden, dass er sich bereits, bevor sie nach Mallorca aufgebrochen waren, nicht mehr sicher gewesen war, ob Polizist noch der richtige Job für ihn war.


    „Ja ja... Ihr hättet ja einfach nur einen anderen Wagen demolieren müssen!“ feixte Fux weiter.


    „Ja, aber dieses Mal konnten wir wirklich nichts dafür!“ beharrte nun Ben.


    Das habe ich auch immer gesagt... Die Ausrede hat aber damals schon nicht funktioniert...“


    „Dieses Mal ist es aber keine Ausrede! Aber wie, dem auch sei: Magst du uns nicht was erzählen?“ jetzt war es Jäger der feixte.


    „Oh ja, genau! Magst du uns nicht was zu erzählen?“ schlug auch Semir gleich in dieselbe Kerbe und die zwei Kommissare sahen ihre jetzt ganz offiziell Ex-Kollegen auffordernd an.


    „Was sollte ich euch zu erzählen haben?“, konterte André, aber es war offensichtlich, dass jetzt er es war, der nach Ausreden suchte.



    Bei einer zufälligen Unterhaltung mit Leonie ein paar Tage zuvor, hatte Semir von ihr am Rande erfahren, dass André anscheinend schon mal zum Frühstück dagewesen war, bevor sie in den Kindergarten gegangen war.

    Semir hatte daraus natürlich eindeutige Schlüsse gezogen und hatte es selbstverständlich auch gleich brühwarm seinem Partner erzählen müssen.

    Auch wenn sie es selbst unter Folter niemals zugeben würden, waren sie doch zwei kleine Klatschweiber. Jedenfalls hin und wieder. Und was gab es auch besseres, als derartigen Gossip, um sich die Zeit im Auto zu vertreiben...?


    „Och du, ich weiß auch nicht... Wie geht’s denn der Engelhardt so?“ fragte Ben wie die Unschuld vom Lande und nippte an seinem Drink.


    Fux Augen verengten sich für den Bruchteil einer Sekunde argwöhnisch, ehe er sich wieder im Griff hatte und unbeeindruckt mit den Schultern.


    „Du dürftest besser wissen, wie es deiner Chefin geht, Jägerch. Siehst sie ja jeden Tag.“


    Ben hatte jedoch, obwohl er nicht mehr nüchtern war, das kurze verräterische Zucken in Andrés Augen gesehen.

    Jetzt stieß der junge Polizist einen triumphierenden Laut aus und deutet auf Andrés Gesicht. „Er hat gezuckt! Ich hab‘s genau gesehen Semir! Er hat gezuckt!“

    Die Polizisten gaben sich ein ‚High-Five‘ und sahen dann André weiter auffordernd feixend an.


    „Uns kannst‘ es doch erzählen...“, sagte Semir schließlich verschlagen.


    „Da gibt’s nichts zu erzählen! Wir sehen uns hin und wieder, reden oder machen gemeinsam etwas mit Leo.“ Beharrte André weiter.



    Ben und Semir warfen sich daraufhin einen theatralischen Blick zu.


    „Sie Unternehmen hin und wieder was...“ äffte Ben, bevor Semir äffte:


    „Hmm... Und reden...“ Die Partner sahen gleichzeitig wieder zu Fux und Semir fuhr fort:


    „Müssen ja ganz schön lange Unternehmungen sein, wenn du schon zum Frühstück da bist...“ „...bevor Leonie in den Kindergarten geht.“ Beendete Ben den Satz und André begriff das es kein Entkommen mehr gab.


    Wie zum Teufen hatten die zwei Schlitzohren das jetzt wieder spitzbekommen?

    Ein paar Sekunden später glaube er jedoch schon zu wissen wie.

    Leo...

    Also zuckte Fux erneut lässig mit den Schultern und sagte:


    „Ja und? Was ist schon dabei, wenn ich einmal zum Frühstück da war? Wir sind ja alle schon Erwachsene, nicht wahr?“


    So richtig, konnte er tatsächlich selber nicht sagen, was das zwischen ihm und Anna war.

    Genau wie er gesagt hatte, hatten sie sich seit Mai immer mal wieder getroffen und gemeinsam etwas mit Leonie gemacht.

    Es war sehr schnell klar gewesen, dass sie sich, genau wie damals, noch immer gut verstanden und in vielen Dingen auf derselben Wellenlänge schwammen. Dass sie keine Kollegen mehr waren, hatte die ganze Sache natürlich verändert.

    Denn die Grenzen, die es mal gegeben hatte, bestanden nun mal nicht mehr.

    Dafür gab es jetzt andere.

    Welche Grenzen das jetzt aber genau waren, hatten sie noch nicht so ganz herausgefunden.

    Und es stimmte, dass er sogar schon zwei Mal über Nacht geblieben war und sie gemeinsam im Bett gelandet waren.

    Zusammen oder ein Paar waren sie jedoch ganz sicher nicht.



    „Was schon dabei ist...?“ Semir tat so als müsse er nachdenken. „Ich weiß nicht. Aber auch bei einem Mal kann schon ganz schön was passieren... Solltest du ja am besten wissen.“


    Er grinste frech und dem Alkohol in seinem Blut sein danke, fügte noch genauso frech hinzu:


    „Muss da vielleicht bald wieder jemand in Mutterschutz?“


    Ben prustete und André grinste nach ein paar Sekunden wie ein Harlekin, von einem Ohrläppchen zum anderen.


    „Wenn ich deiner Chefin sage, was du da grade gesagt hast, Semir, dann fährst du noch länger in Uniform Streife...!“


    Der Angesprochene dachte angestrengt über die Worte nach und sein eigenes Grinsen wurde ein bisschen weniger breit.

    Ben im Hintergrund wog abwiegend den Kopf hin und her, ehe er, matter of fact, verkündete: „Jo, da könnte was dran sein, Partner!“

    Keine Minute später lachten sie alle drei jedoch schon herzhaft darüber, stießen mit einer weiteren Runde Tequila an und Fux sagte, bereits ein wenig unartikuliert:


    „Aber bloß nicht Hotte sagen, dass ich vielleicht wieder mit seiner Angebeteten anbandele... Der muss noch den Schock verdauen, dass Leo keine jungfräuliche Empfängnis war...“

    Jäger und Gerkhan lachten daraufhin so laut und heftig, dass sie beide vom Barhocker fielen und auf dem Boden weiter lachen mussten.


    Draußen war es bereits wieder hell, als sie aus dem Club taumelten.



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  • 30. September 2004


    Haus von Andreas Eltern, Bergisch Gladbach, 20:45 Uhr



    „Ben, bist du dir sicher?“

    Semir sah seinen Partner etwas skeptisch an, der gerade das Abendessen mit seinen bald Schwiegereltern unterbrochen hatte, als er aus heiterem Himmel vor deren Haus aufgetaucht war.


    „Ja schon! Also zu 95 %... Ich glaube einfach nicht, dass die Vorfälle der letzten Tage Zufälle waren. Das passt alles zusammen! Und ich denke eben, dass es um diesen Goldtransport geht, den unsere Dienststelle morgen begleiten soll!“


    Jäger sprach vom Goldtransport, der am morgigen Tag von der Landeszentralbank in Düsseldorf zum dortigen Flughafen stattfinden würde und den die Autobahnpolizei bewachen sollte.

    Nahezu alle Beamten der PAST waren in die Aktion involviert... Außer sie beide.


    Anna Engelhardt hatte es mehr als deutlich gemacht, dass sie sie morgen weder auf dem Revier noch in der Nähe des Konvois sehen wollte.

    Grund dafür war noch immer ihr Missgeschick von vor sechs Tagen, als sie die Hochzeitslimousine von Hauptkommissar Kellermann geschrottet hatten. Denn niemand anderes als Kellermann leitete den Einsatz und die Chefin wollte ein Zusammentreffen ihrer Kommissare und Kellermann unter allen Umständen vermeiden.

    Semir musterte seinen Partner noch einen kurzen Moment, ehe er nickte.

    Ben hatte einen guten Instinkt und wenn er sich ziemlich sicher war, dann sollten sie dem auf jeden Fall nachgehen.


    „Problem ist nur, dass das nicht unser Fall ist... Was schlägst du also vor?“ fragte Semir schließlich.


    „Zur Engelhardt fahren und sie davon überzeugen, dass sie den Transport stoppt.“


    Gerkhan hob leicht fragend die Brauen, nickte dann aber erneut.

    Das sagte sich vermutlich leider nur leichter, als es letztlich sein würde, da sie sich heute einen erneuten Schnitzer geleistete hatten, der für recht viel Ärger gesorgt hatte.


    Ben und er hatten am Mittag aus Langeweile und Frust das nächstbeste Fahrzeug, das ihnen vor die Nase gefahren war, herausgewunken und den Fahrer und dessen Fahrzeug bei der anschließenden Kontrolle bis ins kleinste Detail auseinandergenommen.

    Da der Mann, zurecht, zunehmend gereizt auf die Kontrolle reagiert hatte, hatten sie ihn sogar zu einem Drogentest ins Krankenhaus gebracht.

    Dummerweise hatte sich herausgestellt, dass der Kerl Anwalt war und er war direkt vom Krankenhaus zu ihnen auf die Dienststelle gefahren, wo er der Chefin die Hölle heiß gemacht hatte.

    Hatte etwas von ‚Nötigung‘ und ‚Amtsmissbrauch‘ gebrüllt.

    Entsprechend ‚gut‘ war die Chefin momentan auf sie zu sprechen...



    Dennoch saßen sie keine fünf Minuten später in Bens Dienstwagen und waren auf dem Weg nach Marienburg.

    „Sorry, dass ich das Abendessen mit deinen sehr bald Schwiegereltern unterbrochen habe.“ entschuldigte Ben sich bei seinem Partner.


    „Du, kein Ding. Ich glaube eh, dass ich die Fische von Andreas Vater vergiftet habe...“ Ben bekam große Augen. „Was hast du?“


    „Ja, na ja.... Ich wollte sie Füttern. Die haben so hungrig ausgeschaut.“ Semir zuckte mit den Schultern. „Und dann ist mir die Fischfutterdose aufgegangen und der gesamte Inhalt ist ins Aquarium gefallen...“


    „Autsch! Respekt Partner! Du weißt, wie man seinen Schwiegervater für sich gewinnt...“ Jäger konnte sich ein Lachen nicht verkneifen.


    Auch, wenn es eigentlich nicht lustig war.


    „Meinst du, wir sollten die Engelhardt anrufen und unseren Besuch ankündigen?“, fragte Semir nach einer kurzen Pause.


    „Ich glaube nicht… Wir sind eh gleich da.“ Ben schüttelte mit dem Kopf, grinste im nächsten Moment jedoch wieder verschlagen und fügte hinzu:


    „Oder meinst du sie braucht Zeit, um André im Kleiderschrank zu verstecken?“ Sein Partner grinste daraufhin genauso verschlagen.


    Nein, er würde nicht anrufen.

    Auch wenn er nicht daran glaubte, dass er gleich seinem Ex-Partner begegnen würde, sollte es doch so sein, wollte er ihn auf keinen Fall vorwarnen…





    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 21:23 Uhr



    Anna Engelhardt fluchte laut, ungehalten und mehrfach hintereinander, als es an der Tür klingelte. Welcher Idiot...?!?

    Keine zwei Minuten zuvor war sie endlich in das wohlverdiente heiße Wasser der Badewanne gesunken, von dem sie hoffte, dass es ihre leichten Nackenschmerzen und die restlichen Verspannungen in ihrem Körper lösen würde. Und sie den Stress des Tages vergessen lassen würde.


    Nach Jägers und Gerkhans erneuten Meisterleistung heute, die sie ordentlich Nerven gekostet hatte, hatte zu Hause auch noch eine schlecht gelaunte und nörgelige Viereinhalb jährige auf sie gewartete, der im Kindergarten anscheinend eine Laus über die Leber gelaufen war, weil sie mit irgendeinem Spielzeug nicht hatte spielen dürfen.

    Deswegen war Leonie, nach einigem Gezeter, auch erst vor gut einer halben Stunde eingeschlafen, nach dem sie partout nicht ins Bett hatte gehen wollen.


    Einen weiteren Fluch murmelnd stieg Anna schließlich aus der Wanne, griff nach einem Handtuch, das sie sich eilig um den Körper schlang und stapfte missmutig in Richtung Tür.

    Wer immer da draußen vor der Tür war, sie würde ihm oder ihr den Hals umdrehen!


    „Was?!“ blaffte sie entsprechend gereizt in die Gegensprechanlage.


    „Chefin wir sind‘s...“ hörte sie im nächsten Moment Semirs Stimme, die ziemlich kleinlaut klang.


    Anna stöhnte laut auf!


    Natürlich... Wer auch sonst! Gerkhan und Jäger! Die Zwei würden sie noch ins Grab bringen!


    „Dürfen wir hochkommen?“, fragte jetzt Bens Stimme.


    Nein, eigentlich konnte sie jetzt gerade gut auf die Gesellschaft ihrer Kommissare verzichten. Andererseits konnte sie ihnen nur dann den Hals umdrehen, wenn sie hochkamen, weswegen sie schließlich auf den Türöffner drückte.




    „Wir hätten doch besser anrufen sollen...“, murmelte Semir als sie die letzten Stufen nahmen und ihre Vorgesetzte ihnen die Wohnungstür öffnete.


    Ihr Gesicht verhieß Sturm und das Handtuch, in das sie eingewickelt war, machte es deutlich, dass sie ziemlich ungelegen kamen.

    Als dann, gerade als sie durch die Tür traten, auch noch Leonie mit einem zerknautschen Gesichtsausdruck aus ihrem Zimmer kam, weil die Klingen sie geweckt hatte, wussten Semir und Ben, dass ihre Chefin sie in dem Moment auf den Mond, oder besser, auf den Mars wünschte. Vermutlich sogar an den Rand des Universums.

    Annas Laune war auch nicht besser, als sie 20 Minuten später in einem Bademantel vor ihnen stand und mit tödlichen Blicken durchbohrte.


    „Wenn es hier nicht um eine nationale Krise geht oder zu mindestens um Leben und Tod, dann haben sie beiden ein riesengroßes Problem!“


    „Ja, na ja... Also ich denke schon das es eine nationale Krise ist... Also vielleicht? Oder werden könnte...? Auf jeden Fall hat es das Potenzial für eine Krise...“ stammelte Ben.


    „Jäger kommen sie auf den Punkt! Ich will sie beide so schnelle es geht wieder loswerden! Also: Worum geht es?“


    Als Ben anfing zu erklären wurde die Chefin allerdings doch recht schnell wieder sachlich und stellte ihre schlechte Laune hinten an.


    „Sind sie sich sicher?“


    „Chefin so sicher, wie man sich sicher sein kann. Ich weiß das es vielleicht alles ein bisschen weit hergeholt klingt, aber ich glaube wirklich, dass die Vorfälle der letzten Tage zusammenhängen und es um den Goldtransport geht.“

    Anna sah von Ben zu Semir, der seinem Partner zu vertrauen schien und nickte.


    Schließlich atmete sie schwer aus. „Also schön. Ich werde sehen was ich machen kann. Ich fürchte aber, dass ich den Transport nicht mehr stoppen kann.“

    Sie schüttelte gequält grinsend den Kopf.

    „Und am besten bestelle ich mir auch schon mal eine Uniform... Denn wenn das schiefgeht, wird mich der Polizeipräsident vermutlich auch wieder Streife fahren lassen...“


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  • 01. Oktober 2004


    PAST, 09:04 Uhr



    „Wer bitte behauptet so einen Blödsinn, Frau Engelhardt?“


    Hauptkommissar Kellermann baute sich vor der Chefin auf und sah sie herablassend an, nachdem sie ihm von dem Verdacht, dass es einen Überfall auf den Goldtransport geben könnte berichtet hatte.


    „Zwei meiner besten Leute.“ Anna vermied es mit Absicht die Namen zu nennen.


    „Ist das so? Ihre Leute glauben also so gut zu sein, dass sie etwas sehen, was das LKA in den letzten drei Wochen Vorbereitung nicht gesehen hat, ja?“


    „Genauso ist es.“ Die Chefin wich keinen Zentimeter zurück, wusste aber, dass sie in dem Moment tatsächlich mit ihrer Kariere spielte.


    Es gab die ersten Anzeichen, dass man sie in nicht allzu ferne Zukunft zur Kriminalrätin befördern würde.

    Wenn die Nummer hier schiefging, müsste sie zwar vermutlich nicht wieder Streife fahren, Kriminalrätin, würde sie aber ganz sicher auch nicht werden.


    „Nun, Frau Kollegin: In dem Fall bin ich gerne bereit das Risiko einzugehen, das ihre Leute falsch liegen! Denn ich bin mir sicher, dass das LKA gründlicher arbeitet. Ihre Leute sind nur gut darin, unbeteiligten den Tag, oder gleich die Hochzeit zu versauen!“ zischte der Schwiegersohn des Polizeipräsidenten wütend.


    Dem konnte Anna nicht widersprechen:

    Ben und Semir waren Profis darin, andren den Tag zu verderben.

    In 97 % der Fälle waren das allerdings Verbrecher, denen sie in die Quere kamen und Straftaten vereitelten.


    „Es freut mich sehr für sie, dass sie ihren Leuten derart vertrauen. Ich vertraue meinen Leuten aber mindestens genauso sehr. Wenn, nicht sogar noch ein wenig mehr. Und ich bin nicht bereit, das Risiko einzugehen.“ Die Chefin machte eine kurze Pause.

    „Deswegen habe ich auch die Sicherheitsmaßnahmen angepasst.“


    „Sie haben WAS?“ Kellermann traute seinen Ohren nicht.


    „Ich habe die Eskorte verdoppelt und die Route geändert. Außerdem werden Gerkhan und Jäger den Konvoi begleiten.“


    Der LKA-Beamte hatte doch glatt das Bedürfnis, die vor ihm stehende Frau zu schlagen.

    Das hier war sein Fall!

    Er hatte die Einsatzleitung und nur er sollte solche Entscheidungen treffen können! Außerdem hatte er da gerade richtig gehört? Gerkhan und Jäger?!

    Die zwei Vollpfosten, die ihm die Hochzeit und Hochzeitsnacht ruiniert hatten, sollten seinen Konvoi begleiten?!?


    „Was fällt ihnen ein! Sie habe nicht das Recht...!“ Ihm blieben die Worte im Hals stecken, so wütend war er.


    „Vielleicht habe ich das Recht wirklich nicht... Ich habe es aber trotzdem gemacht. Und wenn ihnen das nicht passt, Herr Kellermann, dann können sie gerne den Schwiegerpapi anrufen und sich über mich beschweren!“ Damit nickte Anna, Ben und Semir zu, die sich das Spektakel zufrieden und breit grinsend angeschaut hatten.

    Auf ihrem Weg nach draußen, blieb Ben kurz neben Kellermann stehen, der die Chefin mit hochrotem Kopf und vor Wut sprühenden Augen anstarrte.


    „Ja, herzlichen Glückwunsch noch mal zur Hochzeit! Alles Gute für sie und ihre Frau!“


    Nun war es die Chefin, die ihrem jungen Kommissar gerne einen gepflegten Schlag in den Nacken verpasst hätte.

    Natürlich konnte Ben nicht einfach vorbei gehen...

    Nein, er musste einen Spruch klopfen und Kellermann noch weiter provozieren!

    Vielleicht würde sie bald doch wieder in Uniform Streife fahren...


    „Ja von mir auch alles Gute zur Hochzeit! Und grüßen Sie mir ihren Schwiegervater schön, wenn sie ihn sehen!“ stimmte jetzt auch Semir mit ein und goss damit noch weiter munter Öl ins Feuer, ehe er und Ben schnell das Weite suchten.


    Das war wieder einer der kurzen und seltenen Momente, in denen Anna sich fragte, was sie verbrochen hatte, dass man ihr Gerkhan und Jäger geschickt hatte...



    ***



    Gute fünf Stunden später, dankte die Chefin jedoch schon wieder den Göttern, das Semir und Ben zu ihrem Team gehörten.

    Die beiden Kommissare hatten mehr oder weniger im Alleingang verhindert, dass das Gold gestohlen wurde.

    Genau wie Ben es vermutet hatte, waren die Geschehnisse der letzten Tage Vorbereitungen auf den bevorstehenden Überfall gewesen. Eine rumänische Diebesbande hatte geplant, dass für die rumänische Regierung bestimmte Gold zu stehlen und für ihre eigene Zwecke zu missbrauchen.


    Und die Bande war gut organisiert und überaus brutal vorgegangen. Ben und Semir hatten mehr als einmal riesen Glück gehabt und waren wirklich nur um Haaresbreite mit dem Leben davongekommen. Insbesondere für Semir war es zum Schluss richtig, richtig knapp gewesen.

    Hätte Ben ihn nicht in letzter Sekunde aus dem LKW gezogen, wäre er in dem Führerhaus verbrannt.


    „Danke Partner! Das war wirklich knapp!“ Gerkhan hatte nach der Aktion noch immer leicht wackelige Beine, als er sich das Trümmerfeld, das mal die A44 gewesen war, begutachtete.


    „Dafür bin ich doch da! Das kann ich Andrea einfach nicht antun! Sie morgen alleine vor der Traualtar treten zu lassen.“ Ben neigte den Kopf zur Seite:


    „Wobei: Wenn‘s hart auf hart gekommen wäre, hätte ich ja einfach deinen Platz einnehmen können...“ Er grinste bubenhaft frech.


    „Wenn du mir nicht gerade den Hals gerettet hättest, würde ich dich jetzt schlagen, Partner!“, brummte der kleine Polizist, wurde im nächsten Augenblick aber auch von Bens Grinsen angesteckt.


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  • 02. Oktober 2004


    Hochzeitsfeier von Semir und Andrea Gerkhan, Schloss Eulenbroich, 19:54 Uhr




    „Du musst wirklich völlig übergeschnappt sein, den Kerl geheiratet zu haben!“ lachte Ben fröhlich und küsste Andrea auf die Wange als sie nach dem Abendessen zusammenstanden.


    „Oh ja! Da kann ich Ben nur recht geben! Völlig verrückt!“ lachte auch André und küsste die andere Wange der Braut.


    „Ist ja schön, dass ihr zwei euch da so einig seid!“ Semir sah kopfschüttelnd von seinem Partner zu seinem Ex-Partner. „Ihr seid ja nur neidisch, weil ihr nie ne Chance hattet! So sieht's nämlich aus!“


    „Da hat Semir leider recht...“ Andrea grinste von einem Ohr zum anderen.


    Ben griff sich theatralisch an die Brust. „Mein Armes Herz! Ich weiß nicht wie mein Ego so eine Abfuhr verkraften soll...“

    Nach der Nummer konnten sich die übrigen Vier ein weiteres Lachen nicht verkneifen und André klopfte dem jungen Mann auf die Schulter.


    „Trag es mit Fassung junger Padawan! Das wird nicht die letzte Abfuhr in deinem Leben gewesen sein... Lass dir das von einem alten Jedi Meister sagen! An der Bar gibt’s auch bestimmt was für dein Ego.“


    „Hör auf den alten Meister Joda, der kennt sich mit Abfuhren aus.“ Feixte nun Semir und sah Fux frech grinsend an, was dieser mit einem Augenverdrehen zur Kenntnis nahm.




    Während Semir und Andrea sich um einige ihrer anderen Gäste kümmerten, schlenderten Ben und André tatsächlich in Richtung Bar.

    „Weißt du jetzt eigentlich schon was du mach willst? Beruflich, meine ich?“ fragte Ben, nachdem sie angestoßen hatten.


    „Ich habe da eine Idee... Aber das ist alles noch in der Planungsphase und ich bin mir nicht sicher, ob das alles so klappt, wie ich mir das Vorstelle.“ Fux schwenkte den Alkohol in seinem Glas.


    „Was stellst du dir denn vor?“ André musterte Ben noch kurz ehe er sagte:


    „Aber nicht lachen, ja?“ Der junge Polizist schüttelte den Kopf, fing aber an sich zu fragen, was Fux wohl plante...


    Und die Antwort überraschte ihn in der Tat sehr.


    „Albert Berthold hat ein etwas in die Jahre gekommenes Landhaus in den Weinanbaugebieten bei Avignon. Zu dem Haus gehört auch ein einigermaßen großes Stück Land, auf dem Wein angebaut wird. Er hatte das Grundstück erst kurz bevor er sich verspekuliert hat gekauft und der Plan war es, das Haus zu renovieren und auf dem Land weiter ein bisschen Wein anzubauen.“ Fux zuckte mit den Schultern.


    „Camille muss das Grundstück verkaufen und ich hatte die fixe Idee es vielleicht zu kaufen. Aber mit der Finanzierung ist das nicht ganz so einfach und ich habe von Weinanbau nicht wirklich viel Ahnung. Aber die Idee hat mir gefallen.“


    Ben sah ihn recht perplex an und André setzte schon an sich zu verteidigen, als Jäger anerkennend nickte.

    „Ganz ehrlich? Das klingt nach einer sehr coolen Idee! Und die Gegend um Avignon ist bekannt für ihre fantastischen Weingüter!“


    „Ja ich weiß! Das Grundstück grenzt an das Anbaugebiet vom Chateauneuf du Pape.“


    „Wow! Da solltest du wirklich dranbleiben!“


    Fux nickte gedankenverloren und Ben bemerkte, dass er den Saal absuchte, bis sein Blick auf Leonie hängen blieb, die gerade gebannt Hartmut zuhörte.


    Ah. Ben schmunzelte. Es lang vermutlich nicht nur an der Finanzierung...




    „So wie ihr beiden hier steht, könnte man glatt den Eindruck bekommen, dass ihr etwas ausheckt...“ Die Stimme der Chefin, die von hinten an sie herangetreten war, ließ sich beide Männer umdrehen.


    Ben grinste. „Jap! Erwischt! Wir planen die Weltherrschaft! André hier wir Minister für Chaos, Semir Minister für Zerstörung und ich passe auf das die Beiden ihren Job richtig machen!“


    „Wissen sie was das Schlimme daran ist, Ben?“ Anna schüttelte lachen den Kopf. „Das ich ihnen Drei das ohne weiteres zutrauen würde...“


    „Wir sind eben gut...“ Ben wurde von Leo unterbrochen, die von Hartmut auf sie zu gelaufen kam.


    „Mama ich habe neue Worte gelernt!“


    „Ach ja? Was denn?“


    „Quan-ten-phy-sik! Und Re-la-tivi-täts-the-orie!“ Ben und André prusteten sofort los während Anna noch bemüht war ein ernstes Gesicht zu machen. Natürlich hatte ihr Hartmut so etwas beigebracht...


    „Ich weiß nicht was das ist, aber es klingt gut.“


    „Leonie das ist gar nicht schlimm, dass du nicht weißt, was das ist... Das weiß ich auch nicht.“ Lachte Ben.


    „Bist du nicht so schlau wie Hartmut?“ Ben fiel die Kinnlade herunter. Dieses freche kleine Monster!


    „Na ja, so kann man das auch nicht sagen, junge Dame! Natürlich bin ich so schlau wie Hartmut! Nur... anders schlau!“


    „Wie, anders?“


    „Anders halt!“


    „Wie?“




    Die Diskussion zwischen Jäger und Leonie fand erst ein Ende, als Semir und Andrea für den Eröffnungswalzer in die Mitte des Saals traten.

    Leo blickte fasziniert zu den Beiden und flüsterte mit Ehrfurcht in der Stimme:


    „Das ist wie in meinem Buch Mama! Andrea schaut aus wie eine Prinzessin! Und tanzt auch wie eine!“


    „Ja, das tut sie, mein Schatz.“ Nach und nach gesellten sich auch einige der Gäste auf die Tanzfläche.


    „Kannst du auch so tanzen?“ Die Kleine sah ihre Mutter mit großen Augen an.


    „Ich? Na ja, schon...“


    „Machst du das?“ Leo klatschte in die Hände und sah sie mit großen erwartungsvollen Augen an. „Bitteeeeee!“


    Anna überlegte fieberhaft, wie sie aus der Nummer wieder rauskam, als Ben überraschend vor sie trat.


    „Chefin: Darf ich bitten?“ Er streckte ihr erwartungsvoll eine Hand entgegen.


    An Leo gewandt sagte er: „Ich, kann wie ein Prinz tanzen. Das kann Hartmut nicht! Da bin ich schlauer!“

    Leonie nickte erneut begeisterte und während Jäger seine Chefin galant auf die Tanzfläche führte, notierte er sich mental einen Ausgleich mit deren Tochter.



    Zu Annas leichter Überraschung, war Ben in der Tat ein recht guter Tänzer, der den ¾ -Tackt, wesentlich besser beherrschte als der Bräutigam.


    „Ihr Bauchgefühl und ihre Kombinationsgabe, bezüglich des Goldtransports, war übrigens wirklich beeindruckend, Ben.“


    „Danke Chefin!“ Er grinste verlegen. „Ich bin ziemlich froh, dass ich da richtig gelegen habe...“


    „Und ich erst! Ich habe mich tatsächlich schon kurz wieder in Uniform Streifen fahren sehen...“


    „Danke das sie uns trotzdem vertraut, und uns unterstützt haben!“


    „Ben, sie haben sich mein Vertrauen und meine Unterstützung redlich verdient. Das war selbstverständlich.“ Jäger lächelte zufrieden. Das hatten sie wohl wirklich.





    Über Bens Schulter beobachtete Anna, wie André und Leonie am Rand der Tanzfläche herumalberten und musste unbewusst lächeln.

    Die Zwei waren schon jetzt ein eingespieltes Team und das, obwohl Leo erst seit knapp zwei Wochen wusste, wer André wirklich war.

    Sie und Fux wussten noch nicht, wie genau es weiter gehen sollte, aber er würde ganz klar weiterhin eine Rolle im Leben seiner Tochter spielen.


    Um kurz vor Mitternacht verabschiedete sich Anna schließlich vom Brautpaar und den noch anwesenden Kollegen.

    Obwohl sie beteuerte nicht müde zu sein, fielen Leonie immer wieder die Augen zu und es war höchste Zeit für sie ins Bett zu kommen.

    Auch Fux verabschiedete sich und trug die halb schlafende viereinhalb Jährige zu einem der wartenden Taxen. Er und Anna hatten spontan entschieden, sich das Taxi zu teilen, da André ca. eine halbe Stunde fußläufig von der Wohnung der Chefin wohnte.

    In Marienburg angekommen, trug er das mittlerweile tief und fest schlafende Mädchen auf direkten Weg in ihr Bett, wo sie sich zusammenrollte und ohne Unterbrechung einfach weiterschlief.


    „Danke, dass du sie noch hochgebracht hast!“ Anna lächelte ihm zu, als sie die Tür zum Kinderzimmer hinter sich zuzog und dabei aus ihren hochhackigen Schuhen schlüpfte, die sie recht unachtsam Richtung Schuhregal warf.


    „Selbstverständlich! Das habe ich sehr gerne gemacht.“ Er lächelte zurück, musterte sie dabei, wie sie ihren Mantel auszog und an die Garderobe hängte, sodass das hellblaue Spitzenkleid einmal mehr zum Vorschein kam, welches ihm unglaublich gut gefiel und ihr ausgezeichnet stand.


    „Ich sollte mich wohl langsam an die Wanderung nach Hause machen.“ Sagte er nach einer kurzen Pause trotzdem und ging einen Schritt in Richtung Wohnungstür.


    „Das muss doch nicht sein…“ Anna schüttelte noch immer lächelnd den Kopf. „Ich werde dich natürlich nicht aufhalten, wenn du gehen möchtest, aber ich habe auch überhaupt nichts dagegen, wenn du bleibst.“


    Das Lächeln auf Andrés Gesicht wurde für einen kurzen Moment noch breiter. Er hatte gehofft, dass sie das sagen würde.



    -



    Um 08:05 Uhr am nächsten Morgen stand Leonie mit ihrem Kuscheladler unterm Arm vor dem Bett der Mutter und war durchaus überrascht, André ebenfalls dort vor zu finden.

    Ihre Stirn legte sich in Falten, als sie angestrengt nachdachte und versuchte sich einen Reim auf das zu machen, was sie da sah. Beide schliefen noch tief und fest und André hatte einen Arm um ihre Mutter gelegt. Die Falten auf der Stirn des Mädchens wurden noch ein wenig tiefer.

    Sonntagmorgens, bevor es Frühstück gab, war ihre Mama-Kuschel-Zeit!


    Und nur ihre!


    Entschieden kletterte sie in das Bett und schob sich, noch viel entschiedener, zwischen die Erwachsenen, die nur langsam wach wurden.

    Fux staunte nicht schlecht, als Leo sich doch glatt anschickte, ihn aus dem Bett zu drücken.


    „Mein Schatz hier ist genug Platz…“, murmelte Anna im Halbschlaf und zog die Tochter zu sich heran.


    „U-hm…“ Leo nickte, legte den Kopf in ihre Halsbeuge und fing nach kurzer Zeit an mit den langen, dunklen Haaren der Mutter zu spielen. Dabei musterte sie André weiterhin ein wenig skeptisch.


    Das war ihre Mama!



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  • 'Flashback'



    11. Mai 2006:


    PAST, Büro der Dienststellenleitung, 13:09 Uhr




    „Die Frau kann sich an so gut wie nichts erinnern. Aber es ist sehr wahrscheinlich, dass sie etwas mit der Leiche zu tun hat, die wir ganz in der Nähe der Autobahn gefunden haben.“ Erklärte Ben soeben, während sein Partner unruhig auf seinem Stuhl auf und ab rutschte.


    „Was wissen wir über den Toten?“, fragte die Chefin und warf Semir einen kurzen, leicht genervten Blick zu, ehe sie wieder zu Jäger sah.


    „Leider nicht viel. Er hatte keine Papiere bei sich und wir warten noch auf den Bericht der KTU. Vielleicht können wir ihn über seine Fingerabdrücke identifizieren.“

    Anstelle seinem Partner zuzuhören, hatte Gerkhan soeben sein Handy gezückt, war von seinem Stuhl aufgestanden und hatte die Nummer seiner Frau gewählt.

    Andrea war im neunten Monat schwanger und der errechnete Geburtstermin war in zwei Tagen.

    Vorsorglich machte Semir seine Kollegen aber schon seit mehreren Wochen kirre und rief seine Frau gefühlt alle 10 Sekunden einmal an.


    Erst am Morgen war er, kurz nach Dienstbeginn, mit Ben in einer halsbrecherischen Geschwindigkeit zurück nach Hause gefahren, nach dem Andrea nicht ans Telefon gegangen war.

    Wie sich vor Ort herausgestellt hatte, war sie schlicht auf der Toilette gewesen und deshalb nicht ans Telefon gegangen...


    „Andrea geht nichts an Telefon...“ verkündete Semir jetzt erneut, leichte Panik im Blick. „Chefin, ich muss weg! Mein Kind kommt!“


    „Seeeemir! Das ist vor einer Stunde auch noch nicht gekommen...“ versuchte Ben ihn zu beruhigen.


    „Ja, vor einer Stunde nicht! Seitdem kann aber viel passiert sein!“

    Gerkhan bekam große Augen. „Vielleicht ist es auch schon da!“ Er griff nach seiner Jacke und war auch schon zur Tür heraus.

    Die Chefin konnte nur belustigt schmunzeln, während Ben die Augen verdrehte und stöhnte:


    „Der macht mich wahnsinnig... Ich frag mich echt, wie Andrea das aushält!“


    Die Chefin verzog die Lippen. „Das frage ich mich allerdings auch...“


    Jäger wollte gerade wieder ansetzen und die Chefin weiter ins Bild setzen, als Semir plötzlich doch wieder im Büro auftauchte.


    „War ein Fehlalarm... Sie ist doch an Telefon gegangen. Ist nur nicht schnell genug die Treppe heruntergekommen...“


    „Semir darf ich ihnen einen Tipp geben?“ Anna sah ihn mit hochgezogenen Augenbrauen an.


    „Was denn?“


    „Hören sie auf ihre Frau die Treppen rauf und runter zu schicken... Denn Treppen steigen mit einem Neunmonats-Babybauch ist überhaupt nicht lustig! Andrea wird sich schon melden, wenn es losgeht.“


    „Ja, aber wenn es dann zu spät ist? Und ich nicht mehr rechtzeitig da bin?“


    „Lassen sie mich ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass es durchaus recht lange dauern kann, bis ein Kind auf der Welt ist...“


    „Ja, aber es kann auch ganz schnell gehen! Das habe ich gelesen! Zack ist das Kind da!“


    „Genau, Zack ist das Kind da! Willst du nicht lieber doch nach Hause fahren?“ schlug Ben vor.


    „Das sollte ich vielleicht wirklich besser tun...“


    „Genau Semir, machen sie das. Wir kommen ausnahmsweise ohne sie zurecht...“


    „Danke Chefin!“ Damit war Semir auch schon wieder zur Tür hinaus.


    „Und Zack, ist endlich Ruhe! So schnell kann das gehen!“ Ben grinste höchst zufrieden. „Wo waren wir stehen geblieben?“


    Auch die Chefin schmunzelte erneut, gab aber zu bedenken: „Ich möchte sie sehen, wenn sie das erste Mal Vater werden...“

    Ben winkte ab. „Ach was, das wird ganz easy! Ich bleib da mit Sicherheit tiefen entspannt.“

    „Sicher Ben... Natürlich bleiben sie das...“



    Eine halbe Stunde später hatte Ben Andrea am Telefon, die erbost fragte, was ihnen einfallen würde, ihr Semir schon nach Hause zu schicken...



    ***



    Noch am selben Abend wurde aus dem Fehlalarm jedoch richtigen Alarm, als bei Andrea die Wehen einsetzten.


    Nachdem er am Mittag zu Hause von seiner Frau Rausgeschmissen worden war, war Semir doch noch mal zurück in die PAST, und hatte sich mit Ben zusammen weiter um den Fall des, wie sie inzwischen wussten, toten Privatdetektives, gekümmert. Nebenbei hatten sie sich auch um die Frau gekümmert, die den Detektiv engagiert hatte und die ihr Gedächtnis verloren hatte.

    Als ihn der Anruf aus dem Krankenhaus erreicht hatte, war Semir in Panik geraten und Ben hatte ihn in die Klinik gefahren, da es offensichtlich war, dass sein Partner besser kein Auto mehr fahren sollte.

    In den Morgenstunden des 12. Mai hatte Ayda Gerkhan schließlich das Licht der Welt erblickt und ihrem Vater zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.


    Außerdem hatte sie Ben Jäger zum Patenonkel gemacht.






    27. Mai 2006:


    Haus der Gerkhans, Leverkusen 15:04 Uhr



    Die frisch gebackenen, stolzen Eltern, hatten einen Teil der Kollegen und Freunde zu sich nach Hause eingeladen.

    Auch André Fux war dafür früher aus Frankreich gekommen, als er es eigentlich geplant hatte.

    Nach Semir und Andreas Hochzeit hatte er im November 2004 tatsächlich das alte Landhaus samt Grundstück von Camille Berthold gekauft.

    Möglich gemacht, hatte das auch Ben Jäger.


    Ihm hatte Andrés Idee wirklich gut gefallen und die beiden Männer hatten sich danach noch mehrere Male zusammengesetzt und ein Konzept erarbeitet, wie sie das Haus renovieren und das Land bestellen konnten.

    Jäger war es auch, der bei der Finanzierung mithalf. Ihn und André verband mittlerweile ein gutes, freundschaftliches Verhältnis.

    Zusammen mit Semir, hatten sie bereits zwei ‚Männer-Wochenenden‘ in Avignon verbracht.



    Für André war bereits vor knapp zwei Jahren ziemlich schnell klar gewesen, dass er nicht einfach so in sein altes Leben nach Köln zurückkehren können würde.

    Er hatte es zwar zu Anfang versucht, aber es war zügig deutlich geworden, dass das nicht so einfach sein würde.

    Und wenn er ehrlich war, wollte er das auch gar nicht.

    Schon vor dem Unglück auf Mallorca war er mit seinem Leben und wie es verlief, nicht mehr ganz zufrieden gewesen.

    Sein ungeplanter und eigentlich ungewollter Neuanfang in Frankreich, hatte also nicht nur etwas Schlechtes gehabt, da er sich dort durchaus wohlfühlte.


    Nichtsdestotrotz war Köln noch immer sein Zweites zu Hause.

    Es hatte einige Zeit gedauert, bis er und seine ehemalige Chefin gemeinsam rausgefunden hatten wie sie zueinanderstanden und was sie vom jeweils anderen erwarteten und wollten.

    Nach einigem hin und her hatten sie tatsächlich dem eine Chance gegeben, was vor seinem Verschwinden wohl undenkbar gewesen wäre:

    Sie hatten es miteinander versucht. Und zwar richtig.

    Nicht mehr nur freundschaftliche Treffen, die hin und wieder in einer gemeinsamen Nacht geendet hatten.


    Sie hatten sich von Anfang an wunderbar damit zurechtgefunden, dass André einen Teil der Zeit in Frankreich verbrachte und dort arbeitete.

    Ihren Urlaub verbrachte Anna im Gegenzug nahezu komplett in Frankreich.

    Auch wenn es für den ein oder anderen Außenstehenden vielleicht nicht ganz nachzuvollziehen war, hatten sie für sich einen Rhythmus gefunden, der wunderbar funktioniert. Vor allem auch für die gemeinsame Tochter.

    Gleichzeitig ließen sie sich dadurch gegenseitig ihre Freiräume.

    Für Leonie war die Zeit in Frankreich jedes Mal ein Abenteuer und sie hatte in dem Jahr bereits spielerisch eine recht beeindruckende Anzahl an französischen Vokabeln gelernt.

    Für einige kurze Sätze reichte es bereits. Und bei wichtigen Ereignissen in ihrem Leben war der Vater immer in Köln.



    „Ayda ist ja noch ganz, ganz klein!“ Leonie begutachtete fasziniert das Neugeborene, das momentan friedlich in seiner Wiege schlief.


    „Mein Engel, so klein warst du auch mal.“ Anna strich ihr über den Kopf, einmal mehr erschrocken darüber, wie schnell die Zeit verstrich. Im August würde Leo bereits eingeschult werden.

    Hinter ihnen waren auch Ben und André über die Wiege gebeugt.


    „Respekt Semir! Eine derart süße und hübsche Tochter hätte ich dir gar nicht zugetraut!“ Flachste Ben, strahlte den stolzen Papa aber zeitgleich an.


    „Das liegt nur daran, weil sie ganz nach der hübschen Mutter kommt!“ konnte auch Fux sich einen Spruch nicht verkneifen.

    Semir grinste nur und konterte sofort: „Glashaus und Steine, mein Freund...“ Dagegen konnte Fux nichts sagen, sondern nur ertappt grinsen.



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  • Im Angesicht des Todes




    13. September 2006:


    PAST, Büro der Chefin 14:53 Uhr



    „Die Tote heißt Susanna Liebher, 40 Jahre alt. Laut Gerichtsmediziner ist sie schon seit drei Tagen tot. Fundort ist nicht gleich Tatort. Der Täter hat die Frau erst misshandelt und dann mit einer Drahtschlinge erdrosselt.“ Berichtet Ben und reichte der Chefin den vorläufigen Bericht der Spurensicherung.


    „Wurde sie vergewaltigt?“


    „Wurde sie nicht, nein. Den verschiedenen Hämatomen und Verletzungen auf ihrem Körper nach zu schließen, wurde sie getreten und mit einem Gegenstand, vermutlich ein Stock oder Ähnlichem geschlagen. Aber nicht vergewaltigt.“ Erklärte nun Semir.


    Die Engelhardt nickte bedächtig. Das war eher ungewöhnlich. Die meisten Täter, die ihre Opfer erdrosselten, insbesondere wenn es sich bei den Opfern um Frauen handelte, handelten aus einer perfiden Machtfantasie heraus, und erlangten den absoluten Kick durch die Demütigung ihrer Opfer.

    Und eine Vergewaltigung hatte sich über die Jahrhunderte als wohl das effektivste Mittel etabliert.


    „Wissen die Angehörigen schon Bescheid?“ Anna sah zwischen den Kommissaren hin und her.


    „Sie war Single und hat keine Kinder. Aber einen Bruder. Ben und ich wollten gleich zu ihm fahren.“


    „Gut, machen sie das. Und halten sie mich auf dem Laufenden.“ Jäger und Gerkhan verabschiedeten sich mit einem knappen Nicken und machten sich an die unendlich undankbare Aufgabe, einem Angehörigen vom Tod eines geliebten Menschen zu berichten.



    In der Zeit, wo Ben und Semir unterwegs waren, warf die Chefin einen genaueren Blick auf den bisherigen Bericht der Rechtsmedizin und Spurensicherung.

    Ein Detail fiel ihr dabei besonders ins Auge:

    Die Tote hatte recht schwarze Finger und Hände. Die Analyse musste noch abgewartet werden, aber alles sah danach aus, dass es sich dabei um Asche handelte.


    „Asche...“, murmelte die Polizistin vor sich hin und fuhr sich dabei nachdenklich über das Kinn.


    Schon im nächsten Moment war sie aufgestanden und ging aus ihrem Büro hinüber zum Schreibtisch ihrer Sekretärin, Petra Schubert.


    „Petra können sie mir bitte alle Akten von ungeklärten Frauen Morden in NRW der letzten fünf Jahre kommen lassen?“


    „Ja, natürlich!“


    „Danke ihnen!“


    ***


    Als Semir und Ben gut zwei Stunden später wieder auf dem Revier eintrafen, hatten sie nicht wirklich viel zu Berichten.

    „Der Bruder der Toten ist am Boden zerstört. Er kann sich nicht vorstellen, wer seiner Schwester das angetan haben könnte.“ Semir schüttelte mürrisch den Kopf.


    „Das Einzige, was vielleicht etwas sein könnte, ist ein möglicher Liebhaber. Er war sich nicht sicher und Frau Liebher hat sich wohl auch ziemlich bedeckt gehalten, aber er vermutete, dass es da vielleicht jemanden gegeben haben könnte. Sie hat sich wohl in letzter Zeit recht viel in diversen Chaträumen im Internet aufgehalten. Hartmut ist schon dabei sich ihren Laptop anzuschauen.“


    „Gut, bleiben sie da dran.“ Es klopfte und Petra steckte den Kopf zu Tür herein. „Chefin die Akten, die sie haben wollten, sind da.“


    „Vielen Dank Petra. Das wärs dann auch für heute. Machen sie ruhig Feierabend!“ Petra lächelte und wünschte auch den drei Polizisten einen schönen Feierabend.


    „Was denn für Akten?“ Semir sah die Engelhardt fragend an.


    „Ach, mir ist in dem Bericht der Spurensicherung etwas aufgefallen, weswegen ich Alte Fallakten noch einmal durchsehen wollte. Ich kann mich aber auch täuschen.“ Winkte Anna ab und sah auf die Uhr. „Machen sie Schluss für heute.“

    Sie selber würde sich die Akten auch mit nach Hause nehmen und später noch einen Blick hineinwerfen.





    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 20:05 Uhr



    André war am Morgen aus Avignon gekommen und hatte, nach dem sie ihre Hausaufgaben gemacht hatte, den Nachmittag mit Leonie im Schwimmbad verbracht.

    Beim Abendessen hatte sie begeisterte von den vielen Rutschen im Schwimmbad erzählt und von dem neuen Wort, das sie heute in der Schule gelernt hatten zu schreiben.

    Dank der vielen Bewegung im Schwimmbad, war sie ohne Anstalten zu machen, zeitig ins Bett gegangen und binnen Minuten tief und fest eingeschlafen.


    Erst danach holte Anna die Akten aus ihrem Arbeitszimmer und setzte sich damit im Wohnzimmer an den großen Esstisch, was Fux mit hochgezogenen Augenbrauen beobachtete.

    Er war gerade dabei eine von seinen ersten eigenen Flaschen Rotwein zu entkorken, die er aus Frankreich mitgebracht hatte.

    Nachdem er zwei Gläser eingeschenkt hatte, ging er ebenfalls zum Esstisch hinüber und warf einen Blick über die Schulter seiner Partnerin.


    „Oh! Wie romantisch!“ Er stellte die Gläser auf dem Tisch ab und beugte sich dabei weiter nach vorne, mit seinen Lippen kurz Annas Hals streifend.

    „Mord und Totschlag!“ André grinste. „Genau so, habe ich mir unseren ersten gemeinsamen Abend seit knapp zwei Wochen vorgestellt!“


    Die Chefin verdrehte kurz die Augen, sah ihn dann aber doch ein wenig schuldbewusst an.

    Sie hatte sich den Abend ganz sicher auch nicht so vorgestellt...

    Aber sie hatte das Gefühl, das es wichtig war, sich die alten Fälle anzuschauen.


    „Tut mir leid... Das hatte ich so ganz sicher nicht geplant. Aber Semir und Ben haben heute Morgen zufällig eine Frauenleiche gefunden.“


    Nun war es André, der mit den Augen rollte, als er sich ihr gegenüber auf einen der Stühle setzte.

    Auf seine zwei Kumpel war also mal wieder verlass, dass sie ausgerechnet dann über eine Leiche stolperten, wenn er in der Stadt war und sich auf einige schöne, vor allem ruhige Tage, mit seiner Tochter und Lebensgefährtin gefreut hatte.


    „Um was geht es denn genau?“, fragte er dennoch.


    Das war das Praktische daran, das André selber mal bei der Polizei gewesen war. Anna konnte ihm hin und wieder Dinge erzählen, die sie belastete oder bei denen sie nicht weiterkam. Er konnte damit umgehen und wusste, wovon sie sprach. Außerdem konnte sie voll und ganz auf seine Verschwiegenheit zählen.


    Deswegen berichtete sie auch jetzt von der Toten und das sie glaubte, das mit der Asche an den Händen und Fingern schon mal irgendwo gelesen zu haben.

    Fux nickte nachdenklich und sah sie dann mit zur Seite geneigtem Kopf an.


    „Okay, ich habe einen Vorschlag, da ich ja durchaus zu Verhandlung bereit bin:


    Ich helfe dir bei der Durchsicht. In genau einer Stunde, also um Punkt 21:15 Uhr werden die Akten restlos beiseitegelegt und ich bestimme über das weiter Abendprogramm...“

    Der hungrige Ausdruck, der in seinem Blick lag, ließ keinen Zweifel daran, wie das Programm aussehen würde, aber dagegen hatte sie keinerlei Einwände, weswegen sie mit einem leicht anzüglichen Lächeln ihrerseits, nickte. „Deal!“



    Gemeinsam fanden sie tatsächlich recht schnell drei weitere Tote unter den ungeklärten Fällen, bei denen sich Asche an den Händen der Leichen befunden hatte. Auch dir Frauen waren erdrosselt worden.

    Und das war noch nicht die einzige Gemeinsamkeit.

    Auch die drei Frauen waren in etwa im selben Alter, zwischen 39 und 46, hatten Anfang Juni Geburtstag und hatte allesamt dunkle, mittellange Haare.

    André sagte es nicht laut, aber er fand, dass sie durchaus eine gewisse Ähnlichkeit mit Anna aufwiesen.


    Wie vereinbart, brachte diese die Akten um viertel nach neun zurück in ihr Büro, das sie sorgsam verschloss, um zu verhindern, dass Leo durch Zufall eine der Akten in die Finger bekommen würde.

    Im Wohnzimmer klatschte André in die Hände:


    „Wunderbar! Dann können wir ja jetzt endlich zum gemütlichen Teil des Abends übergehen...“


    „Allerdings, ich wollte mir noch ein Bad einlassen...“ Sie legte den Kopf kess zur Seite:

    „Magst du mitkommen...? Oder hattest du schon genug Wasser für heute...?“


    Fux hob die Brauen. Was bitte war das für eine überflüssige Frage?



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  • 14. September 2006


    PAST, 16:12 Uhr



    „Und es gibt keine Möglichkeit an die Identität von diesem ‚Gemini‘ zu kommen?“ fragte Semir zum gefühlt 100 Mal.


    „Nein, keine Chance!“ Hartmut schüttelte mit dem Kopf. „Und da er sich immer über öffentliches W-LAN ins Internet einwählt, ist es auch unmöglich ihn zeitnah zu lokalisieren.“


    Das war zwar ein Rückschlag, aber insgesamt waren sie im Laufe des Tages ein ganzes Stück weiter vorangekommen.

    Ähnlich wie die Chefin, hatte auch Hartmut ein paar Überstunden gemacht und war auf dem Laptop von der Toten, Susanna Liebher, auf einen Chatverlauf in einem Online-Flirtportal gestoßen.

    Und nach dem Chatverlauf zu schließen, hatte sie sich an ihrem Todestag mit einem anderen User getroffen, der sich ‚Gemini‘ nannte.


    Nach einem Besuch bei der Firma, die das Portal betrieb, hatten Ben und Semir herausgefunden, das Gemini in den letzten zwei Jahren bereits Kontakt mit mehreren Frauen hatte. Und eine konnten sie anhand ihres Usernames mit einem der ungeklärten Mordfälle in Verbindung bringen, die die Chefin am Abend zuvor gefunden hatte.

    Gegen Mittag war den Polizisten klar gewesen, dass sie durch Zufall auf einen Serien-Killer gestoßen waren.


    Die Chefin, Ben und Semir hatten sich daraufhin aufgeteilt und jeder der Kripobeamten war zu einem Angehörigen der ersten drei toten Frauen gefahren.

    Dabei wurde ihnen unabhängig voneinander bestätig, dass auch diese Frauen, regelmäßig auf Flirtportalen unterwegs gewesen waren.

    Es war also sehr wahrscheinlich, dass es sich bei diesem ‚Gemini‘ um den Mörder handelte.


    Noch am gestrigen Abend, während das Wasser in die Wanne gelaufen war, hatte die Chefin einen der LKA Psychologen via Mail gebeten, sich die Sache anzuschauen und ihn um eine Einschätzung gebeten.

    Schon vor Dienstbeginn hatte sie eine Antwort von ihm im Postfach, in der er ihr versicherte sich die Fälle anzusehen und im Laufe des Nachmittages auf der PAST vorbei zu kommen, um ihr eine erste Einschätzung seinerseits zu präsentieren.

    Genau diese Einschätzung gab der Psychologe, Dr. Martin Schäfer, ihnen jetzt, als sie zu viert im Büro der Dienststellenleitung saßen.


    „Ich kann ihren Verdacht, dass es sich hier um einen Serientäter handelt, nur bestätigen. Der Täter scheint einen ganz bestimmten Typ Frau derart zu hassen, dass er ihn wieder und wieder umbringen muss. Vermutlich ist er in seinem Leben von einer Frau, die den Opfern ähnlich ist, verletzt, enttäuscht oder abgewiesen worden. Seine Wut darüber, lässt er Stellvertretend, für die Frau, die ihm seiner Meinung nach, großes Unrecht angetan hat, an anderen Frauen aus.“ Dr. Schäfer nahm einen Schluck Kaffee aus seiner Tasse und fuhr dann fort:


    „Dabei steigert sich sein Gewaltpotential von Tat zu Tat. Das, soweit wir wissen erste Opfer, Almut Eggers, hat er nur erwürgt. Bei den weiteren Opfern hat er sich damit nicht mehr zufriedengegeben, sondern hat sie zunehmend misshandelt. Er ist auf den Geschmack gekommen. Das zeigen auch die immer kürzeren Abstände zwischen den Taten.“


    „Er wird also weiter morden.“ Stellte Semir mit Bitterkeit in der Stimme fest.


    „Ja, davon können wir ausgehen. Und ich denke, dass sich seine Gewaltbereitschaft noch weiter steigern wird.“


    „Warum glauben sie, dass er seine Opfer nicht vergewaltigt, wie die Meisten Triebtäter?“ fragte die Chefin.


    „Schwer zu sagen. Vielleicht weil ihn das weibliche Geschlecht einschüchtert und er deswegen nicht kann. Oder weil er generell nicht kann. Es kann aber auch noch unzählige andere Gründe geben. Aber ich gebe ihnen recht, Frau Engelhardt. Das ist eher untypisch für derartige Taten.“


    „Was können sie uns denn über den Täter sagen?“ Ben beugte sich in seinem Sitz vor und sah den Psychologen aufmerksam an.


    „Männlich, vermutlich zwischen 40 und 55 Jahren alt. Eher unscheinbar und nicht besonderes selbstbewusst. Deswegen agierte er auch aus der Anonymität des Internets heraus. Es ist möglich, dass er aus dem Umfeld des ersten Opfers kommt.“ Schäfer sah zur Chefin.


    „Haben sie sich nicht vorhin mit dem Sohn von Almut Eggers unterhalten?“ Anna nickte.


    „Ja, das habe ich. Er hat bis heute keine Vermutung, wer seine Mutter getötet haben könnte. Laut seiner Aussage hat es im Umfeld von Frau Eggers auch keinen Verehrer gegeben. Allerdings hat er bestätigt, dass sie einen Computer gehabt hat, und regelmäßig im Internet gesurft hat.“ Die Engelhardt deutete auf eine der Akten auf ihrem Schreibtisch.


    „Die Kollegen vom KK60 haben das Umfeld der Frau damals durchleuchtet, konnten aber anscheinend nichts auffälliges finden.“


    „Wobei es schon verwunderlich ist, dass bis jetzt niemand auf den Zusammenhang gestoßen ist! Da haben einige Kollegen ziemlich nachlässig gearbeitet!“ gab Jäger zu bedenken und keiner konnte ihm widersprechen.


    Da war ganz eindeutig kräftig geschlampt worden!






    PAST, 16:20 Uhr




    „Wir kennen also sein Pseudonym und wissen in etwa, wie er vorgeht. Wie kommen wir an ihn ran?“ Semir sah von einem zum anderen im Büro.


    „Schwierig, wenn sie nicht an seinen richtigen Namen kennen...“


    „Sollen wir einfach hier rumsitzen und warten bis noch eine Frau stirbt?!“ fragte die Chefin deutlich gereizt.


    „Ich wüsste nicht, was sie sonst tun können. So hart es klingt.“ Der Psychologe sah sie entschuldigend an.


    „Und wenn wir ihm einen Köder auswerfen?“ fragte sie nach einer kurzen Pause.


    „Sie meinen einen Lockvogel?“


    „Ja. Wir wissen, wo er seine Opfer findet. Wir erstellen ein Profil, das all seinen Kriterien entspricht und warten bis er sich meldet.“


    „Und was machen wir, wenn er sich meldet? Soll sich Semir dann eine Perücke aufsetzen?“ Ben grinste kurz und sein Partner verdrehte die Augen.


    „Ich dachte da weniger an den Kollegen Gerkhan...“


    „Oh nein, Chefin! Das halte ich für gar keine gute Idee!“ Semir begriff, was sie vorhatte.


    „Warum nicht? Es ist doch offensichtlich, dass ich in das Opferprofil passe. Dunkle Haare, Anfang bis Mitte 40 und das Sternzeichen Zwilling vorzutäuschen sollte auch kein Problem sein.“


    „Das funktioniert nicht!“ Ben schüttelte entschieden mit dem Kopf. „Sie sehen aus wie maximal Anfang 30!“


    Während die Chefin kurz mit den Augen rollte, dann aber doch grinste, murmelte Semir neben ihm: „Kleiner Schleimscheißer...“


    „Auch wenn sie in der Tat in das Profil des Täters passen, halte ich eine derartige Aktion für keine gute Idee. Der Mann ist gefährlich und schwer einzuschätzen. Sie würden ein kaum kalkulierbares Risiko eingehen, Frau Engelhardt.“ Mischte sich jetzt auch Dr. Schäfer ein.


    „Das bin ich gerne bereit zu tun, wenn wird dadurch einen weiteren Mord verhindern können!“


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  • Schon 15 Minuten später hatte Hartmut, ein Fake-Profil in der Singlebörse angelegt, auch wenn weder Ben noch Semir das für eine besonders gute Idee hielten.

    Auch Dr. Schäfer hatte noch einmal seinen Einwand bekundet. Die Chefin hatte sich jedoch entschieden über jegliche Bedenken hinweggesetzt.



    „Wenn sie eine bessere Idee haben, wie wir den Scheißkerl schnappen, bevor er erneut tötet, bin ich gerne bereit mir ihren Vorschlag anzuhören, meine Herren! Bis dahin, versuchen wir es so! Vier tote Frauen reichen mir!“


    „Natürlich wollen wir den Kerl auch so schnell wie möglich schnappen... Aber das ist gefährlich...“ versuchte es Semir ein letzte Mal.



    „Was ist gefährlich? Wie du Auto fährst?“ Keiner hatte André Fux bemerkt, der soeben durch das Hauptbüro schritt und kurz darauf mit Leo an der Hand grinsend das Büro der Kommissare betrat.

    Er war hier, um Anna abzuholen und dadurch sicherzustellen, dass sie nicht zu lange Arbeiten würde.



    „Ein Lockvogel-Einsatz:“ verkündete Gerkhan nach einem kurzen Moment, den eindeutigen Blick seiner Chefin, die ihn ermahnte, die Klappe zu halten, geflissentlich ignorierend.


    „Was für einen Lockvogel?“ Fux sah interessiert von einem zum anderen.

    Ben, der sofort begriff was sein Partner hier tat und wusste, dass hier vermutlich gleich die Fetzen fliegen würden, ging breit lächelnd auf Leonie zu.



    „Leo habe ich dir schon meinen neuen Dienstwagen gezeigt? Der hat ein ganz neues Blaulicht!“


    „Echt? Kann ich das sehen?“ Sie sah kurz ihren Vater an, der lächelnd „Na klar!“ sagte und die Tochter mit Ben ziehen ließ. Er ahnte schon, dass hier etwas im Busch war und sah seinen ehemaligen Partner auffordernd an.


    „Semir...!“ der scharfe, mahnende Ton seiner Vorgesetzten ließ den kleinen Polizisten dann aber doch den Mund halten. Immerhin ging es hier um Polizeiinterna. Und André war nun mal kein Polizist mehr.

    Der hatte jedoch bereits einen Blick auf den Computer Bildschirm am Schreibtisch geworfen und Hartmut, der das Spiel verstanden hatte, hatte ein paar Sekunden gezögert, bis er das Fake-Profil geschlossen hatte.



    Die Maus war ihm einfach aus der Hand gerutscht...


    Für die Aktion wurde er jetzt allerdings mit tödlichen Blicken von Seiten der Engelhardt durchbohrt, die das durchaus mitbekommen hatte.

    Schon im nächsten Augenblick fragte André leicht alarmiert und anklagend an Anna gewandt: „Was soll das denn?“


    Da er ja bereits ungefähr wusste, worum es ging, war es ein leichtes für ihn, 1 und 1 zusammen zu zählen.



    Gerkhan, Einstein und auch der Psychologe hatten die Zeichen der Zeit erkannt und verließen unauffällig das Büro, die Tür sorgfältig hinter sich schließend.

    In die folgende Diskussion würden sie sich ganz sicher nicht einmischen... Das sollten die Zwei schön unter sich ausmachen.



    Nach einer kurzen, hitzigen Diskussion war jedoch klar, dass sich die Chefin anscheinend durchgesetzt hatte.


    Während sie in ihr Büro ging, um Jacke und Tasche zu holen, gesellte sich Semir kurz zu seinem Freund, der missmutig und mit in die Seite gestemmten Armen in seinem ehemaligen Büro stand und den Kopf schüttelte.



    „Die Frau ist so unglaublich stur!“ beschwerte sich Fux auch gleich, als Semir vor ihm stand.


    „Das ist einfach unfassbar! Da kann so viel schief gehen!“


    „Das stimmt schon. Aber leider ist es momentan auch unsere beste Chance, den Kerl zu schnappen...“


    „Trotzdem!“


    „Naja, erst mal muss er überhaupt auf das Profil aufmerksam werden... Vielleicht klappt es ja auch gar nicht.“ Semir klopfte André beruhigend auf die Schulter. „Und wenn doch, sind Ben und ich da, um auf sie aufzupassen!“

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  • 15. September 2006


    PAST, 08:10 Uhr



    „Guten Morgen! Gibt es etwas Neues?“


    Mit einem Aktenordner unter dem Arm ging die Chefin schnurstracks auf Hartmut zu, der keine Minuten zuvor ebenfalls die PAST betreten hatten und in Ben und Semirs Büro platz genommen hatte.


    „Guten Morgen! Bis jetzt leider nichts, nein. Es haben sich zwar schon einige Interessenten auf die Anzeige gemeldet, aber unser Mann war nicht dabei...“

    Es war der Engelhardt deutlich anzusehen, dass ihr die Antwort missfiel.

    Semir, der auch schon an seinem Schreibtisch saß hatte jedoch den Verdacht, dass ihr nicht nur die Antwort missfiel.

    Er war sich ziemlich sicher, dass es André gestern Abend vermutlich nicht dabei belassen hatte und ihr zu Hause noch einmal deutlich gesagt hatte, was er von der Aktion hielt.

    Und das hatte ihr vermutlich ganz und gar nicht geschmeckt...


    Da er von ihr keinen ‚Guten Morgen‘ zu hören bekam, sondern Anna ihm nur einen angefressenen Blick zuwarf, da ja schließlich er es gewesen war, der Fux über die Lockvogel Nummer in Kenntnis gesetzt hatte, war sich Semir im nächsten Augenblick sicher, dass es genauso gewesen sein musste.


    „Guten Morgen!“, flötete Ben, der auch gerade die PAST betrat. „Morgen...“ knurrte die Chefin in seine Richtung und verschwand dann in ihrem Büro.


    „Na, da hat aber jemand richtig gute Laune!“ Er sah grinsend zu seinem Partner, da auch der junge Polizist sich denken konnte, warum sein Boss so angefressen war.


    Da Hartmut bezüglich der Lockvogelaktion alles im Griff hatte, beschlossen Semir und Ben den Morgen für eine Routinetour durch ihr Revier zu nutzen.

    Dabei würde, vor allem Semir, nämlich nicht den bösen Blicken der Chefin ausgesetzt sein.


    ***


    Im Laufe des Vormittags kam David Eggers, der Sohn des ersten Opfers auf die PAST, der um ein Gespräch mit der Chefin bat.


    „Was kann ich für sie tun, Herr Eggers?“, fragte sie doch ein wenig verwundert, als der junge Mann vor ihrem Schreibtisch platz nahm.


    „Ich habe noch einmal über unser Gespräch von gestern nachgedacht und bin ein paar der Dinge meiner Mutter durchgegangen. Dabei habe ich einen Notizzettel gefunden, auf dem sie sich ein Passwort für diese Seite aufgeschrien hat, von der sie gesprochen haben. Einen Username konnte ich aber nicht finden...“


    Anna sah ihn ein wenig überrascht an. „Vielen Dank, dass sie sich die Mühe gemacht haben, Herr Eggers. Das bestätigt unseren Verdacht, dass der Mörder ihrer Mutter, vermutlich so mit ihr in Kontakt getreten ist.“

    Der Uhrmacher starrte sie eine ganze Weile an und da lag etwas in seinem Blick, dass die Polizisten für einen Augenblick irritiert. Anna empfand die Art, wie er sie ansah, beinahe als unangenehm.


    „Herr Eggers?“, fragte sie schließlich und schien ihn damit wieder in die Realität zurückzuholen.


    „Tut mir leid... Es ist nur... Es ist schon schlimm genug, dass der Kerl meine Mutter getötet hat. Aber das er noch weitere Frauen...“ Er schüttelte den gesenkten Kopf.


    „Ich weiß. Aber wir sind ihm auf den Fersen. Und Ich garantiere ihnen, dass ich alles dafür geben werde, ihn aus dem Verkehr zu ziehen.“


    „Danke... Es tut gut, dass zu wissen.“ Eggers lächelte knapp und erhob sich dann von seinem Stuhl. Im Hinausgehen kam der Chefin noch ein Gedanke und sie fragte:


    „Sagen sie: Sagt ihnen der Name ‚Gemini‘ etwas?“


    Der junge Mann blieb stehen und hob die Augenbrauen. Nach kurzen überlegen schüttelte er jedoch den Kopf. „Nein. Sollte er? Das Einzige, was mir dazu einfällt, ist, dass meine Mutter vom Sternzeichen Zwilling war...“


    Anna nickte. Ja, das wussten sie bereits. Genau wie die anderen Opfer auch.


    „Gut, danke ihnen. Ich melde mich bei ihnen, wenn sich etwas ergibt.“ Damit verabschiedete sie sich von ihm und legte einen kurzen Stopp bei Hartmut ein, nur um zu erfahren, dass sich noch immer nichts getan hatte.


    Wie sie es doch hasste zu warten!



    ***



    Gut zwei Stunden später hatte das Warten jedoch endlich ein Ende als Hartmut aus dem Büro nebenan aufgeregt „Frau Engelhardt!“ rief und auf seinen Computer deutet.


    „Er ist es!“


    Ben und Semir, die von ihrer Tour zurück waren, sprangen ebenfalls von ihren Stühlen auf und stellten sich hinter Hartmut, um lesen zu können, was der vermeidliche mehrfach Mörder geschrieben hatte.

    Nach einigem hin und her, in dem Floskeln ausgetauscht wurden kamen sie recht schnell auf dem Punkt und keine 15 Minuten später stand ein Treffen, noch an diesem Abend um 19:30 an der Flora.

    Semir warf einen skeptischen Blick auf die Uhr an der Wand. Ihnen blieb nicht viel Zeit, den Einsatz vorzubereiten...

    Ein weiterer Punkt auf der List, die ihm in Bezug auf diese Lockvogel Aktion, nicht schmeckte. Ben neben ihm machte auch nicht wirklich einen glücklichen Eindruck.






    PAST, Verhörraum Nr.1, 22:23 Uhr



    „Sie waren also rein zufällig im Park der Flora, Herr Heinzmann, ja?“ Ben Jäger fuhr sich müde über das Gesicht. Er verhörte den Verdächtigen jetzt schon seit einer guten Stunde, war aber noch kaum ein Stück vorangekommen.


    „Ja, gut! Ich war nicht rein zufällig in dem Garten! Aber das darf meine Frau auf keinen Fall erfahren! Ich war verabredet...“


    „Das wissen wir bereits...“


    „Ja, aber ich verstehe nicht, was sie von mir wollen?! Und was soll das Gerede von toten Frauen? Damit habe ich ganz sicher nichts zu tun!“


    Hinter dem venezianischen Spiegel hatte die Chefin immer mehr den Eindruck, dass der Einsatz ein kräftiger Schlag ins Wasser gewesen war.

    Die Chancen standen gut, dass der Mann, den Ben und Semir da verhörten und der am Abend im Garten der Flora ihre Verabredung gewesen war, nicht der gesuchte Frauenmörder war.


    Obwohl es schon recht spät war, war David Eggers für eine Gegenüberstellung auf das Revier gekommen und hatte glaubwürdig bestätigt, dass er den Mann noch nie gesehen hatte. Auch ein Angehöriger des zweiten Opfers hatte versichert den Mann noch nie gesehen zu haben.

    Der LKA Psychologe, der jetzt neben ihr stand, war sich nicht zu 100 % sicher, glaubte aber auch nicht, dass er ins Profil passte.


    „Sind sie sich sicher, Herr Schäfer?“ Anna fuhr sich genervt mit beiden Händen über das Gesicht.


    „Ganz sicher kann man sich nie sein. Aber der Mann da, ist zwar mit Sicherheit kein vorzeigen Exemplar seiner Gattung und ein Ehebrecher, aber ich glaube nicht, dass er ein Mörder ist.“


    Die Chefin schüttelte resigniert den Kopf. So ein Mist!


    Im Verhörraum waren sich mittlerweile auch Ben und Semir sicher, dass sie es hier nicht mit dem Gesuchten zu tun hatten, da dieser ihnen soeben mitteilte, dass er nicht ‚Gemini‘, sondern ‚Latin-Lover‘ als Pseudonym benutzte und er mit einer ‚Gemini‘ geschrieben hatte und sich mit ihr für den Abend verabredet hatte.

    Keine fünf Minuten später bestätigte Hartmut diese Aussage.


    „Wir sind hier ganz schön verarscht worden!“, verkündete Einstein missmutig und traf es damit haargenau auf den Punkt.


    Sie waren verarscht worden! Und das ziemlich kräftig!




    Die Chefin kochte vor Wut und auch Gerkhan und Jäger waren nicht eitel Sonnenschein.

    Wie hatten sie sich so hinters Licht führen lassen können?

    In wildem Tatendrang gingen sie gemeinsam noch einmal alle Akten durch, nur um auch da nichts zu finden.

    Es war bereits kurz vor 04:00 Uhr morgens, als die Engelhardt völlig frustriert einen ganzen Stapel Akten von ihrem Tisch fegte.

    Ein eindeutiges Zeichen dafür, das vor allem sie dringend nach Hause gehen sollte.


    „Chefin, Ben und ich schauen uns die letzte drei Akten noch an und fahren dann auch. Sie sollten aber wirklich besser jetzt schon fahren.“ Sagte Semir eindringlich und Anna nickte matt.


    Das sollte sie wohl besser wirklich.

    In ihrem Gemütszustand und so müde wie sie war, würde sie vermutlich mehr Schaden anrichten als etwas Positives zu bewirken.



    Eine halbe Stunde später wollten auch die Kommissare endlich Feierabend machen als Hartmut, der auch geblieben war und die ganze Zeit über nach einem Weg gesucht hatte, wie sie vielleicht doch noch hinter die Identität von ‚Gemini‘ kommen konnten, aufgeregt nach ihnen rief:


    „Jungs! Kommt mal schnell her!“ Die Polizisten gingen mit fragenden Gesichtsausdrücken auf ihren Kollegen zu, der auf den Bildschirm seines Laptops deutet:


    „Gemini ist wieder online!“


    „Was?!“ Beide traten hinter Hartmut und starrten irritiert auf den Bildschirm, wo sie in dieser Sekunde lesen konnten:



    Netter Versuch, das mit dem Lockvogel! Viel Spaß mit dem ‚Latin-Lover‘!


    Ich gehe mir jetzt meine Polizistin holen!



    Ben und Semir rissen gleichzeitig entsetzt die Augen auf und riefen unisono: „Die Chefin!“


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  • 16. September 2006:


    Köln, Marienburg, 04:22 Uhr



    Anna hatte ihren Wagen gerade vor dem Haus geparkt und war ausgestiegen, als sie die Anwesenheit einer weiteren Person spürte.

    Müde drehte sie sich um, ein wenig verwundert, wer an einem Samstagmorgen um diese Uhrzeit sonst noch auf den Beinen sein könnte.

    Als sie den Mann erkannte, der von der anderen Straßenseite auf sie zukam, hob sie erstaunt die Brauen und fragte:


    „Herr Eggers, was...“ weiter kam sie jedoch nicht.


    Der junge Mann war mit einem letzten langen Schritt direkt bei ihr und ehe sie wirklich begriff, was gerade passierte, drückte er ihr mit einer Kraft, die sie ihm nicht zugetraut hätte, einen stinkenden, weißen Lappen auf Mund und Nase.

    Umgehen war sie hellwach und Panik stieg in ihr auf, als sie den unverwechselbaren Geruch von Chloroform erkannte.

    Die Chefin der Autobahnpolizei trat nach ihm, traf aber nur ins Leere und versuchte mit aller Kraft sich aus dem Klammergriff zu befreien.


    David Eggers drückte sie nach vorne, sodass sie mit dem Oberkörper auf die Motorhaube gepresst wurde. Eingeklemmt zwischen Auto und dem Körper des jungen Mannes, der einen guten Kopf größer war als sie, gab es kein Entkommen mehr.


    Und das Chloroform begann bereits ihre Sinne zu betäuben. Mit einem letzten klaren Gedanken zeichnete Anna etwas mit dem Finger auf die Motorhaube, von dem sie hoffte, dass es Ben und Semir einen Hinweis auf den Täter geben würde, ehe ihr die Sinne endgültig schwanden und sie bewusstlos zusammensackte.



    ***



    „Scheiße! Sie geht nicht an ihr Handy!“ fluchte Ben, während Semir den BMW durch die leeren Straßen prügelte.


    „Ruf André an!“


    „Gute Idee!“ Jäger scrollte schon durch sein Telefonbuch und wählte die Nummer von Fux.


    „Nu geh endlich ran...!“, murmelte der Kommissar ungeduldig, als es recht lange dauerte, bis am anderen Ende abgehoben wurde.


    „Ja?“ Fux klang verschlafen als er endlich rangegangen war.


    „Ist die Chefin bei dir?“, fragte Jäger ohne Umschweife.


    Im Schlafzimmer sah André sich, noch immer ein bisschen benommen vom Schlaf, um.

    Als er feststellte, dass das Bett neben ihm leer war, war er jedoch mit einem Schlag hellwach.

    Eigentlich hatte er wach bleiben wollen, bis Anna wieder zu Hause war. Irgendwann war er dann aber offensichtlich doch eingeschlafen.


    So ein Mist!


    Hastig schlug er die Bettdecke beiseite und suchte den Rest der Wohnung ab.


    „Nein, ist sie nicht! Was ist los?“


    „Ist sie vielleicht vor dem Haus?“ Fux trat an das Fenster im Wohnzimmer, von wo aus man die Straße gut einsehen konnte.


    „Ihr Auto steht vor dem Haus...“ Im nächsten Moment bekam er große Augen.


    Die Fahrertür stand sperrangelweit auf, von Anna war jedoch weit und breit nichts zu sehen. „Scheiße! Was zu Hölle ist los?!“ brüllte er ungehalten in sein Handy und war schon dabei hastig in ein Paar Schuhe zu schlüpfen, mit denen er nach draußen rannte.


    André ahnte jedoch bereits was los war.

    Er war lange genug Bulle gewesen, um zu begreifen, das etwas fürchterlich schiefgegangen sein musste!


    „Wir sind auf dem Weg zu dir und gleich da!“, hörte er Ben noch sagen, als er aus dem Haus und auf den offenen Wagen zustürzte.

    Auf der Straße sah sich Fux in alle Richtungen um, konnte aber nichts und niemanden sehen. Die Straße und der Gehweg waren menschenleer, was um die Uhrzeit auch nicht verwunderlich war.

    Neben der offenen Fahrertür des Mercedes CLK, den Anna seit gut einem Jahr fuhr, lag ihr Handy auf dem Asphalt. Gleich daneben ihre Tasche.


    „Oh Fuuuuuck!“, er konnte sich denken, was passiert war...


    Blaues Leuchten, das durch die Nacht zuckte, verkündete die Ankunft von Semir und Ben.

    Der BMW kam mit quietschenden Reifen neben dem Mercedes zum Stehen und schon sprangen die Polizisten aus dem Auto.


    „Und? Hast du irgendwas gesehen?“


    „Nein, nichts! Sie ist nicht hier!“ Fux raufte sich die Haare, ehe er anklagend zu seinem ehemaligen Partner sah. „Was zur Hölle ist passiert?“


    Semir berichtete mit knappen Worten was vorgefallen war und Angst keimte unaufhaltsam in Andrés Brust aus.


    „Ich habe doch sofort gesagt, dass diese Lockvogel Nummer eine scheiß Idee ist! Und so viel zu ‚Wir passen schon auf sie auf‘!“ Spie er wütend aus und trat dabei bedrohlich auf Gerkhan zu.


    „Wenn ihr irgendwas passiert, dann...!“ er ließ den Satz unvollendet, konnte sich die anderen Beiden doch auch so denken, was er meinte.



    ***



    Um kurz vor 08:30 Uhr war das Team der Spurensicherung rund um Hartmut mit seiner Arbeit durch.

    Unter einem Vorwand hatte André seine Tochter schon sehr zeitig zu ihrem Opa gebracht, dass sie von all dem Drama nicht mehr mitbekam als eben nötig. Aber natürlich hatte sie gemerkt, dass etwas vor sich ging.


    „Was machen die weißen Männchen da an Mamas Auto? Die sind von der KTU, oder?“ hatte Leo gefragt, als André mit ihr zu Fuß zu Holger Engelhardt gegangen war.


    „Mama ist jemand in das Auto gefahren und die Männer schauen jetzt, ob sie Spuren von dem anderen Wagen finden...“ hatte er ausweichend geantwortet und sie recht zügig die Straße entlanggeführt.


    „Und wo ist sie?“ Leo hatte alles andere als begeistert geklungen.


    „Sie ist schon in ihrem Büro und muss arbeiten...“


    „Immer muss sie arbeiten! Heute ist doch frei! Ich muss auch nicht in die Schule!“


    „Leonie ich weiß, dass es doof ist, dass Mama heute arbeitet. Dafür gehst du jetzt gleich mit Opa in den Zoo. Das ist doch auch schön, oder?“


    „Ja... schon...“ hatte sie daraufhin gesagt, wirkte jedoch noch immer nicht ganz zufrieden.



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  • 16. September 2006:


    Köln, Marienburg, 08:45 Uhr



    Als André von seinem Quasi-Schwiegervater zurückkam, der ihm eindringlich mit auf den Weg gegeben hatte, seine Tochter zu finden und wohlbehalten zurückzubringen, waren Ben und Semir konzentriert über die Motorhaube von Annas Mercedes gebeugt.


    „Habt ihr was?“ Fux trat neben die zwei Kommissare, nach dem Ben einen uniformierten Kollegen signalisierte hatte, dass er hinter die Absperrung durfte.


    „Wir sind uns nicht ganz sicher... Schau dir das mal an.“ Semir deutete auf die Motorhaube, auf die anscheinend jemand etwas mit dem Finger gemalt hatte.

    Nach einem kurzen Blick auf die ‚Zeichnung‘, die die Spurensicherung mit Fingerabdruckpulver sichtbar gemacht hatte, sagte Fux:


    „Eine Uhr, oder? Aber das kann irgendjemand darauf geschmiert haben...“


    „Und wenn es nicht irgendwer war, sondern die Chefin, die uns damit einen Hinweis geben will?“ gab Ben zu bedenken. Möglich war es immerhin.


    „Okay, aber was will sie uns damit sagen? Die Zeiger stehen auf... Was? Drei Uhr?“ André war nicht ganz überzeugt.

    Ben und Semir überlegten kurz. Um 03:00 Uhr war die Chefin noch bei ihnen im Büro gewesen und sie hatten gemeinsam Akten gewälzt.


    „Ich glaube nicht, dass es um die Zeit geht...“ Semir schüttelte nachdenklich den Kopf. „Was fällt euch noch zu ‚Uhr‘ ein?“


    Fux und Jäger sahen sich an. „Urwald, Urlaub, Uhrmacher, Urban, Uhrladen...“ begann Ben aufzuzählen.


    „Stopp! Uhrmacher! Ich habe gestern in einer der Akten was von einem Uhrmacher gelesen!“ sagte Gerkhan plötzlich und versuchte sich zeitgleich fieberhaft daran zu erinnern, wo er das gelesen hatte, kam ad hoc aber einfach nicht darauf.


    „Semir wo hast du das gelesen?!“ André klang aufgeregt und sein drängender Unterton half nicht wirklich, was Semir jedoch so gut es ging, ausblendete.

    Er versuchte sich Stück für Stück an die einzelnen Akten zu erinnern, die er gestern, oder besser heute früh, durchgeblättert hatte. Schließlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen:


    „David Eggers! Der ist Uhrmacher von Beruf!“ rief er.


    „Der Sohn des ersten Opfers?“ Ben erinnerte sich an eine Aussage des Psychologen:


    Der Täter könnte aus dem Umfeld des ersten Opfers stammen...


    Schon war er dabei die Nummer der Dienststellensekretärin zu wählen.

    „Petra, ich bin es! Schnappst du dir bitte mal die Akte unseres ersten Opfers? Almut Eggers? Und ist der Psychologe schon bei uns auf dem Revier?“


    „Klar, mache ich. Soll ich nach etwas Bestimmten suchen? Und ja, ist er.“


    „Alles was du über den Sohn herausfinden kannst! Wir sind auf dem Weg zu euch!“



    ***



    Semir hatte es geschafft die Strecke zur PAST in unter 10 Minuten hinter sich zu bringen.

    Neben Ben, saß auch André mit im Auto.


    Da beide Polizisten wussten, dass es ein unmögliches Unterfangen wäre, Fux davon zu überzeugen die Füße still zu halten und brav zu Hause zu warten, hatten sie ihn gleich mit eingepackt. So konnten sie ihn immerhin einigermaßen unter Kontrolle und im Auge halten.


    Hofften sie.


    In der PAST wartete bereits der LKA Psychologe auf sie, der André skeptisch musterte.


    „Und sie sind?“


    „Das Maskottchen der Autobahnpolizei!“, antwortete Fux patzig.


    „Ist schon okay... Der Herr gehört zu uns.“ Ging Gerkhan dazwischen. Für so etwas hatten sie jetzt keine Zeit!


    „Haben sie schon eine Einschätzung bezüglich David Eggers? Kann er unser Täter sein?“


    „Es ist schwer das einzuschätzen, ohne ihn wirklich getroffen zu haben. Aber möglich wäre es. Ein durch, vielleicht ein Trauma, Abneigung oder Unterdrückung ausgelöster Hass auf die Mutter, der er sich vor zwei Jahren entledigt hat, nach dem er es nicht mehr ausgehalten hat. Das würde auch die für derartige Taten fehlende Vergewaltigung erklären, genau wie sein sich steigerndes Gewaltpotential. Mit der Ermordung der Mutter hat er sich befreit. Bei ihr hat er sich noch nicht getraut, sie vor ihrem Tod körperlich zu misshandeln. Aber mit jeder weiteren Tat wird er mutiger und bestraft Frauen, die ihn an die Mutter erinnern, für das was sie ihm angetan hat...“


    „Das ist ja alles gut und schön! Wir haben verstanden, dass der Penner als Kind nicht genug Umarmungen bekommen hat! Viel wichtiger ist aber, wie wir ihn finden können, bevor er erneut tötet!“

    André lief wie ein Tiger im Käfig auf und ab und sah Dr. Schäfer aus zu Schlitzen verengten Augen an.


    „Er mordet immer am selben Ort, an den er die Frauen bringt. Vermutlich ein Ort, der ihm vertraut ist und an dem er sich sicher fühlt.“


    „Haben wir seine bisherigen Adressen, wo er gewohnt hat?“, fragte Ben an Petra Schubert gewandt.


    „Ja sicher... Das ist aber nur das Haus, wo er jetzt lebt und eine Anschrift in Stuttgart, wo er geboren wurde. Seine Mutter ist mit ihm nach Köln gekommen, als er zwei Jahre alt war, weil sie angefangen hat im Hotel ‚Waldlust‘ zu arbeiten.“


    „Nach Stuttgart wird er wohl nicht fahren... Wo ist dieses Hotel?“


    „Bei Düren an der Wehebachtalsperre. Das Hotel gibt’s aber schon seit drei Jahren nicht mehr. Das ist bei einem Feuer stark beschädigt worden...“


    „Moment, da hat es gebrannt?“ Semir sah Petra alarmiert an und Ben sprach aus, was sein Partner dachte: „Asche!“




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  • 16. September 2006


    Ruine Hotel ‚Waldlust‘, 10:49 Uhr




    Die Chefin kämpfte sich bereits seit gut zehn Minuten, Stück für Stück, aus der Bewusstlosigkeit, während die Wirkung des Chloroforms immer weiter nachließ.

    Das erste was sie deutlich wahrgenommen hatte, waren die pochenden Kopfschmerzen und die leichte Übelkeit.


    Wo zum Teufel war sie, und was war passiert?


    Bruchstückhaft erinnerte sie sich an die Fahrt von der PAST nach Hause. Sie meinte sich daran erinnern zu können vor dem Haus geparkt zu haben, hatte nur noch ins Bett gewollt.


    Aber da war sie ganz eindeutig nie angekommen... Warum nicht?


    Da sich ihre Augenlider anfühlten, als hätte jemand Gewichte daran gehangen, um sie so zu hindern die Augen zu öffnen, dauerte es ein wenig länger, bis sie sich mit ihrer Umgebung vertraut machen konnte.


    Noch während sie darum kämpfte die Augen öffnen zu können, registrierte sie den penetranten Geruch von verbranntem Holz, der sie komplett umgab. Annas erst langsam hochfahrendes Hirn versuchte eine Verbindung zwischen dem Gestank nach verbranntem und etwas anderem herzustellen, aber sie kam einfach noch nicht darauf, was sie in den letzten Tagen mit ‚Feuer‘ verbunden hatte.


    Endlich öffnete sich ihre Lieder flatternd und sie bekam einen ersten Eindruck, von dem Raum, in dem sie sich befand.

    Das Licht war fahl und kam von zwei schmalen Fenstern, die sich knapp unter der Decke befanden. Sie musste sich als in einem Keller befinden...


    Der Raum war karg und an den verrußten Wänden blätterte der Beton ab. Erst jetzt bemerkte sie, wie stickig die Luft war und das unaufhörlich Staub von der ebenfalls verkohlten Holzdecke auf sie herab rieselte.


    ‚Nein, das war kein Staub!‘ Schoss es ihr unvermittelt in den Sinn. Das war Asche!


    Schlagartig kam die Erinnerung zurück!


    David Eggers hatte ihr vor dem Haus aufgelauert und sie betäubt! Himmel, wie hatten sie nicht sehen können, dass er der Täter war?!


    Anna versucht aufzustehen, nur um festzustellen, dass ihre Hände hinterm Rücken an ein altes Rohr gebunden worden waren und sie es gerade einmal schaffte sich hinzuknien.

    Sie schloss für einen Moment die Augen, versuchte so ruhig wie möglich zu atmen und nicht in Panik zu verfallen.

    Als sie die Augen wieder öffnete, fuhr sie erschrocken zusammen und ein erstickter Laut kam über ihre Lippen.


    Im Türrahmen ihr gegenüber stand David Eggers.


    Sein Blick war manisch und unbändiger Hass und Wut loderte in seinen Augen. In seiner rechten Hand hielt er einen ca. anderthalb Meter langen Holzstock, den er lässig hinter sich herzog und dabei eine schmale Spur in der am Boden liegenden Asche hinterließ, als er jetzt langsam auf sie zukam.


    „Du bist wach... Wie schön!“


    „Warum tun sie das? Warum haben sie ihre Mutter umgebracht?“ es kostete sie einiges an Willenskraft, ein Zittern in der Stimme zu unterdrücken.

    Der junge Mann musterte sie mit zur Seite geneigtem Kopf und von oben herab, einen verächtlichen Ausdruck auf dem Gesicht.


    „Weil du mich verachtet hast!“, spie er schließlich aus. „Weil du mich vom ersten Tag an verachtet und mich gehasst hast!“


    Die Gedanken der Polizistin rasten, während sie so unauffällig wie möglich an dem Strick zog, der sie an der Flucht hinderte.


    „Herr Eggers ihre Mutter war 17 als sie geboren wurden, fast selbst noch ein Kind...“


    „Das ist egal!“ Er holte aus und schlug mit dem Stock krachend gegen die Wand, nur wenige Zentimeter von ihrem Gesicht entfernt.


    „Eine Mutter hat ihr Kind zu lieben! Nicht zu Hassen und für alles schlecht in ihrem Leben verantwortlich zu machen!“


    Eggers holte erneut aus und dieses Mal traf er. Das eine Ende des Stocks schlug gegen die linke Schulter der Chefin, die umgehen aufschrie.


    „Du hast mich als Kind leiden lassen, Mama...“ Er schlug erneut zu, traf dieses Mal ihren Arm. „Und deswegen werde ich jetzt dich leiden lassen...“


    Gott! Sie musste hier weg!


    Die Heißglühenden Schmerzen in Schulter und Arm so gut es ging ignorierend zerrte Anna weiter an ihren Fesseln, die in der Tat schon lockerer geworden waren.

    Zwei weitere Schläge mit dem Stock trafen sie in die Seite und vor den Oberschenkel und trieben ihr Tränen in die Augen.

    Eggers holte gerade zu einem weiteren Schlag aus, als ihre Fesseln recht abrupt nachgaben und sie frei war.


    Dadurch konnte sie dem Stock ausweichen, der sie ansonsten wohl am Kopf getroffen hätte und warf sich nach vorne, ihren Peiniger damit von den Beinen holend.

    Zeitgleich glaubte die Chefin einen Wagen vor dem Haus vorfahren zu hören und in weiter Entfernung, das wohlbekannte, vertraute Geräusch einer Polizeisirene.

    Angespornt von den Geräuschen, die Hilfe signalisierte, rannte sie aus dem Raum, die Schmerzen im Oberschenkel so gut es ging ausblendend.

    Trotzdem kam sie nicht so schnell voran, wie sie gehofft hatte und wie sie eigentlich rennen konnte.


    Der Gang, durch den sie lief, war lang und hatte unzählige Abzweigungen. Wo zum Henker ging es nur raus?!

    Die Chefin bog nach links, musste nach einige Schritten jedoch feststellen, dass sie in eine Sackgasse gelaufen war.


    Also machte Anna kehr, rannte zurück.


    Aus dem Augenwinkel sah sie beim Laufen um eine weite Ecke, David Eggers, der ihr unbarmherzig nachsetzte, dabei immer wieder mit dem Stock gegen die Wände schlug und sie so vor sich hertrieb, wie ein Tier zur Schlachtbank.


    Ihr Oberschenkel brannte und von der stickigen Luft musste sie immer wieder husten. Sie machte sich nicht die Mühe, sich zu ihrem Verfolger umzudrehen, kostete es doch nur wertvolle Zeit. Und vor sich konnte sie endlich einen Ausgang sehen, durch den erlösendes Tageslicht fiel.


    Nur darauf konzentrierte, sah sie den nächsten Schlag auch nicht kommen.


    Eggers hatte sie eingeholt und schlug ihr von hinten mit voller Wucht in die Kniekehlen, sodass sie von der einen auf die andere Sekunde ungebremst und der Länge nach vorne fiel.



    Anna schlitterte ein Stück über den, durch die Asche leicht rutschigen Boden, brüllend vor Schmerzen.

    Sie hatte es zwar verhindern können auf das Gesicht zu fallen, dafür hatte sie sich bei dem Sturz beide Unterarme aufgeschürft und auch ihre Hände und Knie waren blutig.

    Sie schüttelte die leichte Benommenheit mit eiserner Willenskraft ab, wollte aufstehen, als der Stock erneut auf sie niederging. Dieses Mal war es ihr Rücken, der gleich mehrere Treffer abbekam.


    Gott... Das tat so unglaublich weh! Anna wollte einfach nur noch das es aufhörte und sie von all dem nichts mehr mitbekam!


    Und dann hörte es mit einem Schlag auf.


    Es folgte kein weiterer Treffer mehr und eine weitere Welle des Schmerzes, die über sie hinwegrollte, bleib aus.


    Erst jetzt hörte sie die Geräusche hinter sich, die eindeutig von einem Kampf herrührten.


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  • 16. September 2006


    Ruine Hotel ‚Waldlust‘, 10:57 Uhr




    Der BMW kam abrupt vor der Ruine des ehemaligen Hotels zum Stehen.

    Es war deutlich zu sehen, dass der Brand im ganzen Gebäude gewütet haben musste, allerdings war der Westteil weitaus schlimmer betroffen als der Ostteil.

    Ehe Ben oder Semir etwas sagen konnten, war Fux schon von der Rückbank gesprungen und durch ein Fenster geschlüpft, wo die Holz Vernagelung so gut wie nicht mehr vorhanden war.

    Gerkhan fluchte leicht und auch von Ben war ein Laut zu vernehmen, der ganz eindeutig keine zustimmende Begeisterung signalisierte.

    Dennoch teilten sich die Polizisten auf, um möglichste viel Grund auf einmal abzusuchen. André würde schon zurechtkommen.


    Das Gebäude hatte von außen schon groß gewirkt, im inneren mussten sie feststellen, dass es sogar noch größer war als gedacht.

    Hinzukam, dass sie höllisch aufpassen mussten, wo sie hintraten, da der Holzboden zum Teil löchrig war.

    Ein erstickter Schrei machte sie schließlich auf den Keller aufmerksam. Aber wo zum Teufel waren Treppen, die dorthin führten?!

    Gerkhan und Jäger eilten fieberhaft suchend durch das Labyrinth aus Gängen und Fluren.


    André war hingegen schon fündig geworden.

    Er eilte Stufen aus Beton hinab, nur um sich dann ebenfalls in einem Gewirr aus Gängen wiederzufinden.


    „Scheiße!“, entfuhr es ihm ungeduldig. Wo sollte er hingehen?!


    Er entschied sich nach links zu gehen, nur um im nächsten Moment herumzufahren. Von rechts war erneut ein Schrei zu hören gewesen.


    Fux rannte los!


    Mit jedem Schritt, den er nahm, konnte er mehr Geräusche hören. Rennende Schritte, die auf Beton hallten, schlagende Geräusche, als ob ein Stock oder ähnliches gegen eine Wand gehauen wurde und dann ein weiterer, gellende Schrei einer Frau, der ihm das Blut zu Eiswasser gefrieren ließ.

    Gleichzeitig wusste er dadurch jedoch, dass Anna noch am Leben war, was ihn seine Schritte noch einmal beschleunigen ließ.



    Was er sah, als er um eine Ecke bog, brachte sein Blut umgehend zum Kochen!

    Der Psychopath, der schon vier Frauen getötet hatte, schlug wie von Sinnen mit einem dünnen Holzstock auf die Mutter seiner Tochter ein!

    Fux nahm Anlauf und warf sich mit aller Kraft gegen den jungen Mann, den er dadurch gegen eine der Wände schleuderte.


    Er hatte sich fest vorgenommen, dem Kerl jeden Knochen im Körper einzeln zu brechen!


    Allerdings war der junge Mann härte im Nehmen als gedacht und hatte es geschafft den Einschlag ein wenig mit den Armen abzufedern.

    In dem folgenden Kampf landete André zwar einige Treffer, musste jedoch selbst in die Knie gehen.


    Eggers nutze die Chance ihm Asche ins Gesicht und in die Augen zu werfen, worauf hin Fux halb blind umher taumelte.

    Als er sich genügend Asche aus den Augen gewischt hatte, dass er wieder einigermaßen sehen konnte, war der Mörder schon den Gang hinter gelaufen und auf dem Weg ins Frei.

    Aus dem Nichts schoss allerdings plötzlich Semir an ihm vorbei und nahm die Verfolgung auf.


    Andrés ganze Aufmerksamkeit galt jetzt jedoch jemand anderem. Er kniete sich neben Anna, unendlich erleichtert. Sie hatte zwar kräftig etwas einstecken müssen, aber sie war am Leben und blinzelte ihm dankbar entgegen, leichte Überraschung im Blick.

    Fux half ihr sich aufzusetzen, zog sie in eine schützende Umarmung und küsste ihre rußbedeckte Stirn. „Bin ich so froh dich zu sehen!“


    ***


    Vor dem ehemaligen Hotel hatte David Eggers es geschafft in seinen Wagen zu steigen und den Motor zu starten, ehe Semir ihn erreichen konnte.

    Gerkhan fluchte setzte zum Sprint in Richtung seines Dienstwagens an, der ihm dann jedoch plötzlich entgegen Gefahren kam!


    Sein Partner saß hinterm Steuer und nahm bereits die Verfolgung auf. Jäger war gar nicht erst in den Keller hinuntergegangen, sondern hatte sich bereits gedacht, dass ihr Mörder vermutlich einen Fluchtversuch unternehmen würde.


    Also hatte er sich einen Weg zurück ins Freie gesucht und sich dort auf die Lauer gelegt. Den von Büschen leicht verwachsenen Ausgang, aus dem der Mann dann gekommen war, hatte er allerdings zu spät entdeckt.

    Aber Ben hatte schnell geschaltet und war zu Semirs Auto gerannt. Der bedeute ihm soeben anzuhalten, dass er auch einsteigen konnte.

    Das ignorierte Ben jedoch und ließ seinen Kollegen kurze Hand stehen, was den wiederum ziemlich blöd gucken ließ.


    Hatte sein Partner ihn gerade sprichwörtlich im Regen stehen lassen...?


    Semir sah den Rücklichtern seines BMW nach und konnte nur hoffen, dass er das Auto in einem Stück zurückbekam...

    Da er ganz sicher nicht zu Fuß die Verfolgung aufnehme würde, steckte Gerkhan seine Waffe zurück in das Holster und ging die paar Schritte zurück zum Haus.


    In der Zwischenzeit waren auch André und die Chefin ins Freie getreten.

    Beide waren von Ruß und Asche bedeckt und es war deutlich zu sehen, dass die Engelhardt vermutlich nur Stand, weil Fux sie stützte. Sie sah mitgenommen aus und es war auch deutlich zu sehen, dass sie wohl Schmerzen haben musste.

    Trotzdem wirkte sie in dem Moment hauptsächlich erleichtert und einfach nur unglaublich froh darüber, dass André da war.


    Semir beobachtete mit ein wenig Abstand, wie die Beiden für den Moment einfach nur die ungestörte Nähe des anderen zu genießen schienen.

    Sah wie seine Chefin das Gesicht in Andrés Schulter vergrub, während der sie mit beiden Armen so fest es ging, an sie drückte und sein Kinn auf ihren Scheitel legte.


    „Mach so etwas nie, nie wieder! Hörst du?! Nie wieder!“ hörte er Fux eindringlich sagen.


    „Ich hatte eine scheiß Angst und dachte, dass ich dich verlieren könnt!“


    Anna hob den Blick und nickte mit dem Kopf, während sie sich in die Hand lehnte, die über ihre Wange fuhr.


    „Versprochen?“ André suchte mit seinen Augen ihre ab.


    „Versprochen!“


    „Gut! Ansonsten trete ich dir sowas von in den Hintern...!“ Er beugte sich vor, küsste ihre Lippen, ehe blaues Blitzlicht das Eintreffen der Polizei und des RTWs ankündigte.


    Semir kam nicht umher zufrieden zu schmunzeln.


    Auch wenn seine Chefin und ihr ehemaliger Mitarbeiter es meist vermieden in der öffentlich Zärtlichkeiten auszutauschen, bestand für ihn keine Zweifel mehr daran, dass da Topf und Deckel einmal mehr einander gefunden hatten.



    Das Grinsen verging Gerkhan jedoch recht zügig, als Ben kurz darauf wieder an der Hotelruine erschien.

    Und zwar nicht mit seinem BMW, sondern auf der Rückbank eines Streifenwagens.


    „Wo ist mein Auto? Was hast du mit meinem Dienstwagen gemacht?“ erzürnte sich Semir sofort und Ben wog leicht schuldbewusst den Kopf hin und her.


    „Ich fürchte du musst jetzt stark sein, Partner...“ Er klopfte ihm auf die Schultern.


    „Och Mensch Ben! Der kam frisch aus der Werkstatt!“


    „Semir, er hat sich für einen guten Zweck, heldenhaft geopfert...“


    Na, immer hin etwas... Trotzdem seufzte Semir schwer.



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    Cause' it's overrated how we underrate!

  • ‚Der Verrat‘





    15. Oktober 2008:


    Wohnung der Chefin, Köln Marienburg, 08:30 Uhr



    Ben Jäger und Semir Gerkhan waren ziemlich ratlos über die offene Motorhaube vom Auto ihrer Chefin gebeugt, dass an diesem Morgen nicht hatte anspringen wollen, als Anna sich auf den Weg in die Dienstelle machen wollte.

    Dass sie beide keine Ahnung hatten, warum der Wagen nicht ansprang, konnten die Helden natürlich nicht zugeben.


    „Das wird die Batterie sein...“


    „Oder der Anlasser...“


    „Wobei... Eher die Einspritzpumpe...“


    „Vielleicht auch der Vergaser?“


    „Hat der nen‘ Vergaser?“


    Ben und Semir sahen sich unwissend an und die Chefin sah überaus belustigt zwischen ihren Kommissaren hin und her und fragte:

    „Was denn nun? Anlasser, Vergaser, Einspritzpumpe...?“


    „Ja, Mensch keine Ahnung... Bei den Autos heute muss man ja auch Raketentechniker sein!“ maulte Ben.


    „Ah ja... Aber Hauptsache ganz viel PS, ja?“ Anna schüttelte lachen den Kopf.


    „Ja sicher Chefin!“, kam es wie aus einem Mund von Gerkhan und Jäger.


    „Männer und ihre Autos... Ein Verhältnis, dass ich bis heute nicht verstanden habe...“


    „Ah, das ist eigentlich ganz einfach!“ warf Ben ein, während er die Motorhaube schloss.


    „Na, dann erklären sie es mir auf dem Weg in die Dienststelle!“


    ***


    „Also: Das Verhältnis von einem Mann zu seinem Auto begründet sich noch aus der Zeit, vor hunderten von Jahren, als wir noch auf Pferde angewiesen waren. Damals, zu Ritterburg- Zeit.“ Fing Ben auf der Fahrt an zu erklären.


    „Ein Mann, also ein Ritter, war da nur so gut, wie sein Pferd schnell war! Und wenn ein Raubritter zum Beispiel ein schnelleres Pferd hatte, dann konnte er dem anderen Ritter all sein Haben und Gut klauen! Und er war schneller beim Burgfräulein. Und deswegen brauchen wir noch heute viel PS und schnelle Autos! Mit einer Schwanzver-“ Jäger brach ab, räusperte sich.


    „Also ich meine: Mit einer künstlichen Verlängerung für das männliche Geschlechtsorgan hat das gar nichts zu tun...“


    „Genauso ist es! Wenn den nämlich so wäre, würden Ben und ich Smart fahren!“ ergänzte Semir grinsen.


    Die Chefin auf dem Rücksitz schüttelte halb belustig, halb resignierend mit dem Kopf und verdrehte dabei die Augen.

    Männer...! Oder in dem Fall vielleicht besser: Jungs!

    Allerdings konnte sie sich dann doch nicht verkneifen zu sagen:


    „Das mit dem Smart als neuen Dienstwagen lässt sich durchaus einrichten, meine Herren.“


    „Was?!“, fragten die gleichzeitig und schüttelten unisono mit dem Kopf.


    „So haben wir das jetzt nicht- Wouh!“


    Alle drei Polizisten sahen zwei Wagen nach, die soeben auf dem Standstreifen an ihnen vorbeischossen.


    „Semir, worauf warten sie? Sie sollten ihrem Pferdchen die Sporen geben! Ansonsten ist der Raubritter über alle Berge!“


    Das ließ sich Semir nicht zweimal sagen!




    Ein paar Kilometer weiter verunglückte der Vordere der beiden Wagen, der offensichtlich von dem zweiten Fahrzeug verfolgt wurde.


    „Schnappen sie sich die Kerle, ich kümmere mich um den Fahrer!“ wiese die Chefin an und stieg am Unfallort aus Semirs Dienstwagen, während ihre Kommissare den Flüchtigen weiter verfolgten.


    Zu ihrem großen Entsetzen, erkannte die Chefin den schwerverletzten jungen Mann, den sie kurz darauf aus dem Autowrack zog!

    Es war ein junger Kollege, Max Degenbach, der vor drei Jahren sein letztes Praktikum während der Ausbildung an der Polizeischule bei ihnen auf der Wach gemacht hatte.


    Er war unglaublich gut und engagiert gewesen und sie hatte ihm eine Empfehlung für das LKA geschrieben. Außerdem hatte sie ein, zwei ihrer Kontakte spielen lassen und ein bisschen nachgeholfen, dass er dort auch tatsächlich direkt eine Anstellung bekam.


    Zu ihrem noch größeren Entsetzen verstarb der junge Polizist keine zwei Minuten später, noch bevor der Notarzt eintraf.



    ***



    „Kriminalrätin Engelhardt?“, ein glatzköpfiger Mann Ende vierzig duckte sich unter der Absperrung an der Unfallstelle hindurch und kam zielstrebig auf die Chefin und ihre zwei Kommissare zu, die etwas Abseits standen.

    Ben und Semir hatte es leider nicht geschafft den zweiten Wagen einzuholen und die Täter zu stellen.


    „Ja?“ Anna sah den Neuankömmling skeptisch an, der schon im nächsten Moment einen roten LKA Ausweis zückte. „Schmidt, LKA. Sie waren bei dem Toten, als er starb?“


    Die Chefin wurde noch misstrauischer. „Das war ich, ja. Ihnen ist schon bewusst, des es sich bei dem Toten um einen Kollegen von ihnen handelt, oder?“


    Schmidt machte eine abfällige Geste mit der Hand. „Kollege trifft es nicht ganz. Ex-Kollege. Er war nur ein Kollege, bis er die Seite gewechselt hat!“


    „Bitte was?“ Anna traute ihren Ohren nicht und auch Ben und Semir, die sich ebenfalls an Degenbach erinnern konnten bekamen große Augen.


    Der Kollege vom LKA grinste jetzt fast schon verächtlich. „Sie haben sich mit ihrer Empfehlung damals wohl ein bisschen weit aus dem Fenster gelehnt...“


    „Max Degenbach war ein unglaublich talentierter junger Mann, der diese Empfehlung mehr als verdienet hat! Was wollen sie eigentlich hier?“ zischte die Chefin wütend.


    „Hat er ihnen vor seinem Tod irgendetwas gesagt?“


    „Nein, das hat er nicht. Warum fragen sie?“


    „Das geht sie nichts an. Ich will das sie und ihre Leute keinerlei Nachforschungen bezüglich Degenbach anstellen, haben sie verstanden?“


    „Ist das so? Nun, die Autobahn ist ja doch ganz eindeutig mein Resort, Herr Hauptkommissar!“ Die Art wie die Chefin ‚mein‘ und Schmidts Dienstrang betonte, ließen keinen Zweifel daran, wer hier der Ranghöhere Beamte war und auf wessen Spielplatz sie sich derzeit befanden.


    Der LKA Mann wurde puterrot im Gesicht und sah wütend von einem zum anderen.


    „Oh, keine Sorge! Kriminaloberrat Meyer wird ihnen das gerne noch einmal bestätigen!“


    Anna stutzte. „Meyer? Robert Meyer?“


    „Genau der!“ Damit machte Schmidt auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu seinem Dienstwagen.


    „Das ist ja ein ganz Netter! Richtig zum Liebhaben!“ Ben sah dem Kollegen mürrisch hinterher.


    „Sie kennen diesen Meyer?“, fragte Semir unterdessen.


    „Allerdings! Er war vor einer Ewigkeit mein Ausbilder als ich frisch von der Polizeischule gekommen bin und danach für eine kurze Zeit mein Partner. Er war über viel Jahre eine Art... Mentor für mich.“

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  • 15. Oktober 2008


    PAST, 13:24 Uhr



    Semir und Ben standen in einer Ecke des Büros ihrer Chefin und sahen mit betretenen Minen zu, wie die Engelhardt Max Degenbachs Eltern soeben vom Tod ihres Sohnes unterrichtet hatte.

    Frau Degenbach war umgehend in Tränen ausgebrochen, während Herr Degenbach anklagend auf die Chefin deutete und spie:


    „Das ist ihre Schuld! Sie habe ihm damals die Empfehlung fürs LKA gegeben! Er hätte einfach nur in den normalen Streifendienst gehen sollen! Dann wäre er auch nicht korrupt geworden und jetzt tot!“


    Semir konnte deutlich sehen, wie jedes Wort des Vaters seine Chefin bis ins Mark traf, die sich eh schon selber Vorwürfe zu machen schien.


    „Herr Degenbach, ich kann ihre Wut verstehen... Aber ihr Sohn war unglaublich talentiert...“


    „Ja und? Was hat ihm das genützt?! Er ist deswegen tot! Können sie sich vorstellen, wie es ist das einzige Kind zu verlieren?“ Der Mann brüllte jetzt fast.


    „Joachim... Das bring doch nichts...“ versuchte seine Frau ihn zu beruhigen, während Anna schwer schluckte.


    Ja, ansatzweise wusste sie, wie es war das eigene Kind zu verlieren, oder zu mindestens zu glauben, es verloren zu haben.

    Schließlich hatte sie vor viereinhalb Jahren eine kleine Kostprobe davon bekommen.

    Herr Degenbach schüttelte resignierend den Kopf.

    „Sie habe das Ganze angefangen! Also bringen sie es jetzt auch gefälligst zu Ende und finden den Mörder meines Sohnes! Das sind sie mir und meiner Frau schuldig und das Mindeste, was sie tun können!“

    Auch diese Worte waren scharf wie Peitschenhiebe und verfehlten ihre verletzende Wirkung nicht.


    „Wir werden unser Bestes geben, versprochen!“ war es Semir der antwortete und einen Schritt nach vorne trat.


    „Mit ihnen habe ich nicht gesprochen!“, zischte Degenbach Senior und wandte sich nach einem weiteren Moment, in dem er die Chefin angestarrt hatte, ab und zog seine Frau hinter sich aus dem Büro.


    „Chefin?“, fragte Ben, mit leicht in Falten gelegter Stirn, nachdem die Degenbachs weg waren.


    „Ist schon gut...“ Anna vergrub das Gesicht dennoch für einen Augenblick in den Händen, ehe sie abrupt aufstand und nach ihrer Jacke griff.


    „Ich fahre ins LKA. Irgendetwas stimmt da nicht. Ich glaube einfach nicht, dass Max korrupt war! Fahren sie beide zu ihm in die Wohnung und schauen sie, ob sie dort etwas finden können!“






    LKA, Düsseldorf, 14:45 Uhr



    Anna klopfte entschieden an die Tür zu Kriminaloberrats Meyers Büro und wurde auch umgehen hereingebeten.

    Er schien jedoch mit jemand anderem gerechnet zu haben. Als er sie jetzt erkannte, weiteten sich seine Augen vor Überraschung.


    „Nein! Das glaube ich jetzt nicht!“ Ein breites Lächeln trat auf sein Gesicht und er kam mit offenen Armen auf sie zu. „Kriminalrätin Engelhardt!“


    „Hallo, Robert!“ Sie umarmten sich zur Begrüßung und der Ältere musterte seine ehemalige Schülerin von Oben bis Unten.


    „Wie lange ist das jetzt her? Fünf, sechs Jahre?“


    „Fast sieben Jahre. Ich hatte damals gerade erst wieder angefangen zu arbeiten.“


    „Ja stimmt! Mein Gott... Wie die Zeit verfliegt! Du schaust gut aus!“


    „Danke! Du aber auch.“


    „Na, ich habe heute schon in den Spiegel geschaut.“ Er grinste, schüttelte dann aber erneut mit dem Kopf. „Sieben Jahre... Dann ist deine Tochter jetzt was, Acht, Neun?“


    „Acht. Sie wird im Dezember Neun.“ Sie musterte sich einen weiteren kurzen Augenblick, ehe Meyer ernster wurde.


    „Ich nehme an, dass du wegen Max Degenbach hier bist?“


    „So ist es. Dein Kollege Schmidt hat sich mir schon vorgestellt und behauptet, dass Max korrupt sein.“


    „Da hat Schmidt recht...“


    „Blödsinn!“, unterbrach sie ihren ehemaligen Mentor sofort scharf. „Robert ich weiß nicht was hier gespielt wird, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass er nicht korrupt war!“



    Meyer schwieg, ehe er langsam mit dem Kopf nickte. Er kannte Anna gut genug und wusste, dass sie nicht einfach aufgeben würde Nachforschungen anzustellen.


    „Also schön... Du hast recht: Er war nicht korrupt, sondern hat als verdeckte Ermittler gearbeitet.“


    „Was?“


    „Wir haben ihn in eine Bande Drogendealer Rund um Steffen Krämer eingeschleust. Erst gestern hat er die SOKO Krämer kontaktiert und behauptet Informationen über einen Maulwurf im LKA zu haben. Er wollte uns heute belastendes Material zukommen lassen.“

    Die Chefin traute ihren Ohren kaum.


    „Einen Maulwurf?“


    „Ja... Irgendjemand in der SOKO gibt wohl Informationen an Krämer weiter...“


    „Wie groß ist die SOKO?“


    „30 Mann stark... Und es kann jeder von ihnen sein.“


    „Und jetzt? Was hast du jetzt vor?“


    „Wir werden uns Intern darum kümmern, Anna. Du, Schmidt, ich und natürlich der Maulwurf selber, sind die einzigen die wissen, dass es ihn gibt. Deswegen bitte ich dich und deine Leute, sich aus den Ermittlungen rauszuhalten.“


    „Waren das heute Morgen Krämers Leute auf der Autobahn, die Max auf dem Gewissen haben?“


    „Sehr wahrscheinlich schon...“ Der Kriminaloberrat nickte und die Chefin musterte ihn einen Augenblick lang kritisch, ehe sie mit dem Kopf schüttelte.


    „Dann werden meine Leute und ich uns da nicht raushalten.“


    „Anna! Das ist Sache des LKA! Und du weißt ganz genau, dass ich dir und deinen Leuten gegenüber Weisungsbefugt bin...“


    „Das ist mir durchaus bewusst, Robert. Ich bin mir aber sicher, dass du den Ruf der Autobahnpolizei kennst... Wir können sehr kreativ werden, wenn wir uns etwas in den Kopf gesetzt haben...“


    Darauf konnte sich Meyer ein Schmunzeln nicht verkneifen. Seine Kollegin hatte schon in sehr jungen Jahren eindrucksvoll bewiesen, wie stur und kreativ sie sein konnte, wenn sie etwas unbedingt wollte.


    „Was schlägst du stattdessen vor?“


    „Arbeitet mit uns zusammen. So können wir dem Maulwurf vielleicht eine Falle stellen.“




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