Nicht Aufgeben!

  • In knappen Sätzen erläuterte der dunkelhaarige Polizist Anna seinen Fluchtplan, bei dem Elena eine Schlüsselrolle spielen sollte.
    „Du bist verrückt Ben!“, fiel ihm die Dunkelhaarige ins Wort, stand auf und trippelte nervös vor dem Bett auf und ab. „Völlig verrückt! … Das wird niemals funktionieren. … Niemals! … Wie willst du das schaffen? In deinem Zustand! … Schau dich doch einmal an, du bist noch viel zu schwach!“
    Sie hielt inne, blieb vor ihm stehen und schluckte den Rest ihrer ärztlichen Ratschläge lieber mal runter. War ihr doch klar, dass sie bei ihrem Freund auf taube Ohren stoßen würde.
    „Sag mir nicht, was ich kann oder nicht kann mein Engel! Es wird Zeit, dass ich anfange, wieder auf meinen Beinen zu stehen. Das wir unser Schicksal selbst in die Hand nehmen! Wenn Elena Recht hat, bleibt uns nicht mehr viel Zeit! Ein Tag? Vielleicht auch zwei? Oder nur noch eine Nacht? Bandagieren mir den rechten Unterschenkel und hilf mir anschließend ins Bad zu kommen!“
    Anna entwich deutlich hörbar ihre Atemluft. Insgeheim gab sie Ben ja Recht. Es gab keinen anderen Ausweg. Sie streute das Verbandsmaterial auf die Zudecke und suchte nach ein paar geeigneten Binden. Bei ihren eingehenden Untersuchungen Tage vorher hatte Anna den Verdacht gehegt, dass Bens Schienbein durch den massiven Schlag von Gabriela angebrochen worden war. Fachmännisch legte sie ihm einen Verband an, der den Bruch bei Belastung stabilisieren sollte.
    Als seine Freundin fertig war, atmete Ben noch einmal tief durch, umfasste Annas Schultern und richtete sich endgültig zum Stand auf. Eisern behielt Ben seine Gesichtszüge unter Kontrolle.
    „Geht es?“, fragte Anna vorsichtig nach.
    Ben nickte. Der erste Schritt, gestützt auf Anna und dem Bett, war der reinste Horror für den verletzten Polizisten. Wie glühende Nadelstiche zog der Schmerz von seinen Zehen bis in die letzte Haarspitze, jede Körperzelle rebellierte, sandte ihr eigenes Schmerzsignal aus. Er biss die Zähne zusammen und konnte in letzter Sekunde einen schmerzhaften Aufschrei unterdrücken. Kein verräterisches Zucken zeigte an, welche Anstrengung und Überwindung es ihm kostete einen Schritt vor den anderen zu setzen. Nur keine Schwäche zeigen, wenn du jetzt und hier zusammenklappst, wird es keine Chance auf Flucht geben, sprach er sich selbst Mut zu. Scharf sog er die Luft durch die Nasenflügel. Mit einem unbändigen Willen schaffte es Ben, den Weg zur Toilette und nach einigen Minuten wieder zurück zum Bett zu meistern. Sein Kreislauf spielte mehr als einmal bei seinem kleinen Ausflug verrückt. Ausgelaugt und am Ende seiner Kräfte, gelangte er zurück ins Schlafzimmer. Er benötigte äußerste Konzentration, um nicht wie ein nasser Sack auf sein Bett niederzusinken. Seine Stimme vibrierte leicht „Geschafft!“, als er flach auf der Matratze lag. Ein triumphierendes Grinsen überzog sein schweißnasses Gesicht. Minuten später war er vor Erschöpfung eingeschlafen.


    In der kommenden Nacht und dem folgenden Tag arbeitete Ben verbissen daran, seine körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern, vor allem wenn nicht die Gefahr bestand, dass einer der Entführer unerwartet im Zimmer stand.


    *****


    Währenddessen …. In der Brüsseler Innenstadt


    Semir und seine Kollegen tappten noch immer im Dunkeln. Alle Spuren, alle Hinweise, die er und seine Kollegen auf der Dienststelle verfolgt hatten, hatten im Nichts geendet. Es schien fast, als wäre Gabriela Kilic und mit ihr Ben und Anna spurlos verschwunden.


    Seit dem versuchten Überfall auf den Türken vor einigen Tagen beobachteten Semir und seine Kollegen heimlich den Rechtsanwalt Hinrichsen auf Schritt und Tritt in ihrer Freizeit. Der kleine Kommissar klammerte sich förmlich an diesen letzten Strohhalm, dass der zwielichtige Anwalt ihn zum Versteck von Gabriela Kilic und somit zu Ben und Anna führen würde. Kim Krüger und den Oberstaatsanwalt hatte er in diese eigenmächtige Überwachungsaktion nicht eingeweiht. Zu groß war seine Angst, dass durch irgendein Leck dem Anwalt diese Information zugespielt werden könnte.


    Aus diesem Grund war Kollege Bonrath Dr. Hinrichsen am gestrigen Tag von Köln nach Brüssel gefolgt. Der Rechtsanwalt war zusammen mit seiner Frau in dem Luxushotel „Royal Windsor Hotel“ im Stadtzentrum von Brüssel für zwei Nächte abgestiegen. In dem hoteleigenen Restaurant hatte sich Dr. Hinrichsen mit Frau abends mit einem Ehepaar zu einem gemeinsamen Dinner getroffen. Wegen seiner nicht angemessenen Kleidung wurde dem großgewachsenen Autobahnpolizisten der Zutritt zum Nobel-Restaurant untersagt und der Portier bat ihn höflich, aber bestimmend, die Hotellobby zu verlassen. Da der schlaksige Polizist kein Aufsehen erregen wollte, hielt er sich an die Anweisung des Hotelpersonals, verließ das Hotel und fuhr zurück nach Köln. Gemäß Absprache übernahm Kollege Tacho die Überwachung des windigen Anwalts.
    Als der blonde Polizist am darauffolgenden Morgen in Brüssel eintraf, musste er enttäuscht feststellen, dass der Rechtsanwalt samt Gattin in den frühen Morgenstunden abgereist war. Er verständigte Semir. Der Türke hatte nach seiner Nachtschicht gerade mal zwei Stunden geschlafen. Völlig verschlafen meldete er sich am Handy.
    „Morgen! … Wer stört?“
    „Ich bin es Semir. Der verdammte Rechtsverdreher ist uns wieder mal durch die Finger geschlüpft. Er ist kurz vor meiner Ankunft hier in Brüssel abgereist. Wie gehen wir weiter vor? Ich höre mich auf jeden Fall im Hotel einmal um. Vielleicht weiß ja eine der Angestellten, was das nächste Reiseziel unseres Anwalts ist. Überprüfst du sicherheitshalber, ob der Kerl zurück nach Köln gefahren ist.“


    Die beiden Polizisten stimmten ihr weiteres Vorgehen ab und beendeten das Telefongespräch. Einer Dusche mit kalten Wasser folgte noch ein Kaffee Marke Extra stark zum wach werden. Daraufhin fuhr der Kommissar zur Villa des Verdächtigen in einem Kölner Vorort. Das vergitterte Eingangstor erlaubte einen Einblick auf das äußerst gepflegte und großzügige Grundstück am nördlichen Stadtrand von Köln. Leise pfiff er durch seine Lippen. Der Rechtsanwalt gehörte auf jeden Fall zu den Großverdienern seiner Berufsgruppe.


    „Irgendwie habe ich den falschen Job gewählt.“, murmelte Semir zu sich selbst und sondierte von seinem Standort aus das Grundstück. Negativ, lautete die erste Analyse des Türken. Der auffällige Audi SUV stand nicht in der Auffahrt zum Haus, obwohl der Anwalt die Fahrstrecke locker in der Zeit seiner Abreise in Brüssel hätte bewältigen können.


    „Ich krieg schon raus, wo du abgeblieben bist!“, führte Semir das Gespräch mit sich selbst weiter, während er den Klingelknopf drückte. Sofort richtete sich die Überwachungskamera am Torbogen auf ihn. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich am anderen Ende der Gegensprechanlage.
    „Guten Morgen, Sie wünschen bitte?“
    „Guten Morgen, mein Name ist Karim Gülcan von den Stadtwerken Köln. Ich müsste mal an den Stromzähler dieses Anwesens!“
    „Tut mir Leid Herr Gülcan, aber Dr. Hinrichsen hat mir keine Anweisung hinterlassen, die auf ihren Besuch hinweist. Der gnädige Herr und seine Gattin werden frühestens am Sonntag in Köln zurück erwartet.“
    Semir hätte fast das Kotzen gekriegt, als die Haushälterin Dr. Hinrichsen so mit so viel Ehrfurcht in der Stimme als „gnädiger Herr“ bezeichnet hatte. Er räusperte sich kurz und wollte etwas erwidern, als die Frau sich scheinbar rechtfertigen wollte.
    „Bitte, verstehen Sie! Der gnädige Herr wünscht keine unangemeldeten Besucher auf dem Grundstück und schon gar nicht in seinem Haus. Ich weiß, dass Sie ja nur den Zählerstand benötigen. Kommen Sie doch am Montag wieder vorbei!“
    „Ja danke! Kein Problem. Meine Kollegen werden den nächsten Besuch vorher telefonisch ankündigen!“, versuchte er sich geschickt aus der Affäre zu ziehen.


    Langsam schlurfte Semir wieder zurück zu seinem Dienstwagen. Unbewusst hatte ihm die Dame alles verraten, was er wissen wollte. Dr. Hinrichsen hielt sich nicht in Köln auf. Machte er mit seiner Frau eine Vergnügungsfahrt oder hatte seine Reise einen geschäftlichen Hintergrund. Wie bereits am vergangenen Wochenende war es dem Kerl gelungen, der Überwachung durch ihn und seinen Kollegen zu entgehen. Fieberhaft überlegte der Kommissar auf der Fahrt zur Dienststelle, wie er an den Aufenthaltsort dieses aalglatten Typen kommen konnte.

  • Zurück auf der PAST


    Ungeduldig wartete Semir auf den Telefonanruf seines Kollegen Andreas Trachinski aus Brüssel. Tacho hatte ihm hoch und heilig versprochen, sobald er im Hotel etwas über den Verbleib von Hinrichsen rausgefunden hatte, sich bei ihm zu melden. Wahrscheinlich hatten ihn die Hotelangestellten genauso wie am Abend vorher Dieter Bonrath, einfach abblitzen lassen.


    Zu Hause hätte Semir keine Ruhe gefunden, geschweige denn sich nochmals zum Schlafen hinlegen können. Deshalb beschloss er, direkt die Dienststelle anzusteuern. Vielleicht hatten die Kollegen etwas herausgefunden. Susanne war auf einer benachbarten Raststätte noch zum Mittagessen, während ein Großteil seiner Kollegen auf der Autobahn Streife fuhr oder Verkehrskontrollen durchführte. Das Großraumbüro wirkte fast menschenleer.


    Kim Krüger kam ihm auf dem Weg zu seinem Büro entgegen. Sie schien genauso müde und ausgebrannt zu sein, wie er sich fühlte. Ihre dunklen Haare waren straff nach hinten gekämmt und zu einem Zopf zusammengebunden. Der Haaransatz bildete einen Kontrast zur fahlen Blässe in ihrem Gesicht. Tiefe Sorgenfalten hatten sich in ihrer Stirn eingegraben. Semir wusste, dass sich seine Chefin schwere Selbstvorwürfe machte, weil sie Anna Becker nach dem misslungenen Attentat auf Julia Jäger nicht unter Polizeischutz gestellt hatte. Selbst der Kotzbrocken von Oberstaatsanwalt hatte reumütig seine Fehler eingestanden und versuchte seitdem alles, um bei der Suche nach Ben und Anna mitzuwirken.
    Was weder Semir, noch einer der anderen Mitarbeiter der PAST ahnte, Kim hatte für sich einen Entschluss gefasst: Falls man Ben Jäger oder Anna nur noch als Leiche oder vielleicht überhaupt nicht finden würde, würde sie ihren Job hier auf der PAST hinschmeißen und sich irgendwo in den Innendienst versetzen lassen. Die Selbstvorwürfe, als Chefin versagt zu haben, hatten sich tief in ihrer Seele eingebrannt. Erschöpft ließ Kim sich auf Bens Bürostuhl nieder.


    „Hallo Herr Gerkhan!“, murmelte sie „Haben Sie irgendetwas Neues herausgefunden?“ Kim betrachtete Bens aufgeräumten Schreibtisch. Der Ansatz eines Lächelns zeichnete sich in ihrem Mundwinkel ab. „Ist schon verrückt! Was hätte ich manchmal darum gegeben, wenn der Schreibtisch von unserem Chaos-Polizisten so aufgeräumt ausgesehen hätte. Und jetzt … jetzt, wäre ich froh, wenn hier das übliche Durcheinander herrschen würde!“


    Kim Krüger beugte sich ein wenig nach vorne und stützte ihr Ellbogen auf der Schreitischplatte ab. Mit ihren Fingerspitzen rieb sie sich an den Schläfen. Dabei fiel ihr Blick auf die Akte über Julias Unfall, in der Ben zuletzt gelesen hatte. Sie biss sich auf die Lippen, bis von diesen nur noch ein farbloser Strich übrig war. Mit einem verzweifelten Ausdruck in den Augen blickte sie Semir an.


    „Wissen Sie welche Frage mir überhaupt nicht mehr aus dem Kopf geht?“ Erwartungsvoll starrte der Türke seine Chefin an. „Was wäre passiert, wenn wir Ben von Anfang an geglaubt hätten? Seine Vermutung, dass alles eine geschickt eingefädelte Intrige war?“ Sie schniefte auf. „Was wäre passiert? … Hätten wir es verhindern können?“


    Stille breitete sich im Raum aus.


    Semir starrte in Richtung von Bens Gitarre, die in einer Ecke des Büros an der Wand einsam und verlassen lehnte. Er hätte in diesem Moment alles dafür gegeben, wenn Ben ihm gegenüber gegessen wäre und den Gitarrensaiten eine rockige Melodie entlockt hätte. Für ein paar Sekunden schloss der Türke seine Augenlider und tauchte ab in die Vergangenheit. Es fühlte sich an als wäre es erst gestern gewesen, als sein Freund vom Dienst suspendiert wurde … dieser hässliche Streit in ihrem Büro, der ihr letztes Gespräch gewesen war … Bens anklagende Worte hallten in seinem Kopf wieder.


    „Du lässt mich im Stich? … Hilfst mir nicht?“ …


    Unbewusst seufzte er resignierend auf und blickte seine Chefin an.


    „Diese Frage kann ich ihnen nicht beantworten!“, gab der Türke desillusioniert zurück, „Wer auch immer hinter diesem perfiden Racheplan gegen Ben steckt, derjenige hat mit uns gespielt, wie ein Schachspieler mit seinen Spielfiguren. Er hat nicht nur Ben studiert sondern auch uns. Unsere Reaktionen vorausschauend mit eingeplant … einkalkuliert, seine Strategie festgelegt. Und wir …“, Semir senkte seine Blick, schüttelte ungläubig den Kopf. Von einer Sekunde zur anderen sah er niedergeschlagen und um Jahre gealtert aus. Sein Oberkörper sackte in sich zusammen. Langsam hob er seinen Kopf an und blickte seiner Chefin direkt in die Augen „… und wir Idioten haben uns genauso verhalten, wie es unsere Gegnerin erwartet hat!“
    „Und was sind wir jetzt!“, spann sie seine Gedanken weiter, „Die Looser?“ Wieder ein herrschte ein Moment der Stille zwischen den Beiden, in denen sie sich fragend anschauten. „Sagen, Sie es mir Herr Gerkhan? … Sind wir Schach matt? … Game over!“


    Kim lehnte sich resignierend im Drehstuhl zurück.


    Semir schüttelte erneut den Kopf und betrachtete nachdenklich seine Chefin.
    „Nein! … Nein Frau Krüger! Schach matt, sind wir erst, wenn wir Bens oder Annas Leiche gefunden haben. Solange nur ein Funken Hoffnung besteht, dass wir die beiden lebend finden werden, gebe ich nicht auf.“ Er richtete sich in seinem Bürosessel auf. Die Spannung kehrte in seinem Körper zurück und der Kommissar strahlte ein wenig Zuversicht aus. „Wir sind angezählt, unser König sitzt vielleicht im Schach, doch wir sind noch nicht Schach matt. Noch können wir einen rettenden Zug machen, wenn wir beim Schachspiel bleiben. Mein Bauchgefühl sagt mir dieses verdammte Weibsstück Gabriela Kilic steckt dahinter. Die hat uns alle von Anfang an manipuliert, ihren Willen aufgezwungen, wie es ihr beliebte. Doch das ist vorbei!“


    Nun nickte ihm Kim Krüger zustimmend zu und auch in ihren Augen glomm ein Funken Hoffnung auf.
    „Ich habe ein paar Menschen versprochen Ben zu finden, Chefin! Nichts und niemand wird mich daran hindern!“ Semir war in diesem Augenblick versucht, seine Vorgesetzte in seine geheime Aktion, die er hinter ihrem Rücken und ohne ihr Wissen gestartet hatte, einzuweihen. Als er ansetzen wollte, bog der dunkle Mercedes des Staatsanwalts auf einen der Besucherparkplätze vor der PAST ein. „Ihr Freund, der Herr Oberstaatsanwalt, ist in Anmarsch!“, bemerkte er trocken.


    „Herr Gerkhan, Semir, bitte! Keinen Krieg mehr!“ Sie legte ihre Stirn nachdenklich in Falten, was die dunklen Ränder um ihre Augen noch verstärkte. „Konrad Jäger und Anna Beckers Vater haben all ihre politischen Beziehungen spielen lassen und über den Innenminister Druck auf das BKA ausgeübt. Herr van den Bergh und ich fahren nach Wiesbaden zum BKA. Wir haben dort morgen früh um 09.00 h einen Termin mit einem Herrn Brauer und sollen komplette Akteneinsicht zu diesem Remzi Berisha bekommen. Da der Verdächtige offensichtlich in Verbindung mit Gabriela Kilic stand, soll uns auch in diese Ermittlungsakten Einsicht gewährt werden!“


    „Warum diese Geheimniskrämerei?“ fiel ihr Semir verwundert ins Wort. „Können die uns nicht einfach eine Kopie der Ermittlungsakte zukommen lassen?“


    „Weil es bei diesen Akten um streng geheime Dokumente handelt, die unmittelbar Einfluss auf aktuelle Ermittlungen von Interpol gegen den internationalen Drogenhandel und Waffenschmuggel über die Balkanroute in die Krisenregionen des Nahen Osten handelt. Die hohen Herren haben scheinbar Angst, wenn diese Informationen zu vielen Leuten zugänglich werden, dass etwas nach draußen sickern könnte! Keine Sorge, im Notfall übernachte ich in Wiesbaden, bis ich alle Akten gesichtet habe. Und es gibt ja auch noch das hier!“ Sie zog ihr Handy aus der Hosentasche. „Ein Foto ist schnell gemacht!“


    Semir konnte seine Enttäuschung nicht verbergen. Zu gerne hätte er diesem Typen vom BKA mal auf den Zahn gefühlt. „Frau Krüger, sie lassen sich von diesem BKA Typen nicht einfach abspeisen. Der Kerl hatte schon vergangenes Jahr seine Finger mit im Spiel gehabt, als es darum ging, die Fahndung nach der Kilic einzustellen und die Beweise zu manipulieren!“


    „Ich werde aufpassen, keine Sorge. Den Kerl habe ich nicht vergessen. Übrigens ich habe Susanne gebeten, nochmals zu überprüfen, ob wir alle Gebäude, die in irgendeiner Form mit der Familie Stojkovicz in Verbindung stehen, durchsucht haben. Vielleicht können sie ihr dabei helfen. Falls was ist … sie wissen schon …!“


    „… rufen wir sie an Chefin oder schicken ihnen eine Nachricht!“, vollendete er den Satz.
    Nach diesen Worten erhob sich Kim Krüger, warf an der Tür des Büros nochmals einen wehmütigen Blick auf Ben Jägers Stuhl. Sie packte den Griff ihres kleinen Reisekoffers, der neben Susannes Schreibtisch stand und eilte nach draußen, wo sie vom Staatsanwalt erwartet wurde. Semir konnte sie nicht weiter beobachten, weil in diesem Moment Susanne zu ihm ins Büro kam.
    „Bleibt es bei heute Abend, wie besprochen?“
    „Ja, die anderen sind alle informiert!“, gab der Türke zurück.

  • Zurück in der Villa
    Die Luft im Raum war heiß und stickig. Seit der Abreise von Gabriela Kilic hatten Remzi und Iwan Kovac unzählige Stunden in dem Zimmer verbracht, welches bis zum Tod von Rashid Stojkovicz als Überwachungs- und Computerraum gedient hatte. Gleich einem Haufen Schrott lagen die hochwertigen Laptops, Bildschirme und das sonstige elektronische Zubehör des Albaners unbeachtet in einer Ecke gestapelt. Iwan hatte die Schreibtische in der Mitte des Zimmers zu einem Quadrat zusammengeschoben und saß seinem Kumpel gegenüber.


    Mit einem entspannten „Ahhhh, geschafft!“, ließ sich Remzi in seinem Bürostuhl zurückfallen. Zwischen seinen Lippen hing eine qualmende Kippe. Er reckte seine Arme in die Höhe und verschränkte die Hände hinter seinem Kopf, dehnte und streckte sich. Sein verletztes Bein lag auf einem Hocker. Die Schreibtischplatte vor ihm war übersät mit elektronischen Bauteilen, farbigen Drähten, Feinwerkzeugen und Sprengstoff. Der Lötkolben qualmte noch ein wenig vor sich hin und verbreitete einen unangenehmen Geruch. Die Luft des Raumes war vom Zigarettenrauch vernebelt, weil sich auch Iwan in den letzten Tagen zu einem Kettenraucher entwickelt hat.


    Die vergangenen Tage hatten Remzi und Iwan Kovac damit verbracht, die von Gabriela gewünschten Autobomben und Briefbomben zusammenzubauen, um deren teuflischen Racheplan in die Realität umzusetzen. Die Sprengsätze waren mit Zeitzündern oder Fernauslösern versehen. War Remzis Motiv vor wenigen Tagen noch die Geldgier gewesen, so hatte Gabriela Kilic in dem Grauhaarigen einen Verbündeten gefunden, der ihre skrupellosen Rachepläne bis ins Detail umsetzen würde. Seit der missglückten Entführung von Semir Gerkhan und seiner daraus resultierenden Verletzung nahm Remzi die Angelegenheit persönlich. Sehr persönlich! Er konnte es nicht verwinden, dass andere seine Schwäche gesehen hatten. Wenn es darum ging, Schmerzen zu ertragen, war er ein Weichei. Der Serbe hatte seinen Schuldigen gefunden: den türkischen Kommissar der Autobahnpolizei.


    Ihn machte er dafür verantwortlich, dass die Polizei ihn zur Fahndung ausgeschrieben hatte. Wobei ihn die Fahndung durch die deutsche Polizei relativ wenig interessierte. Es war der internationale Haftbefehl, der eine Rückkehr in sein Heimatland und sein bisheriges Leben verhinderte und seine Wut und Hass anstachelte. Die Vorbereitungen für den letzten großen Anschlag waren so gut wie abgeschlossen. Die Ziele waren nicht nur die Dienststelle der Autobahnpolizei, deren Angehörige, die Staatsanwaltschaft sondern auch die Familie von Ben Jäger waren. Die Kovac Zwillinge hatten die bewussten Personen und Örtlichkeiten in den letzten Tagen ausgekundschaftet. Sobald Gabriela nach Köln zurückkehrte, konnten die Attentäter jederzeit zuschlagen.


    Nur für die letzte Bombe, das letzte Ziel, hatte sich der Grauhaarige etwas Besonderes einfallen lassen. Er war sich sicher, Gabriela würde von seiner Idee begeistert sein. Das Anschlagsziel war der kleine türkische Kommissar und dessen Familie. Remzi schloss die Augen und gab sich der Vorstellung hin, wie die Leiden des Türken aussehen würden, wenn er seiner Familie beim Sterben zuschauen durfte. Sie würden in einem Moment zuschlagen, wo niemand mehr damit rechnete. Er wusste, irgendwann würde die Familie des Türken wieder nach Deutschland kommen und dann würde die Stunde der Rache schlagen. Einer der Kovac-Zwillinge würde die Bombe, die eine Fernzündung mittels Handy-Anruf besaß, bei nächster Gelegenheit im Haus des Türken platzieren. Ein Anruf und die Familie des Türken gehörte der Vergangenheit an, das Wohnhaus der Familie Gerkhan ein Berg aus Schutt und Asche, in dem sich die Überreste seiner Frau und Kinder befanden und der Türke sollte hilflos davor stehen.
    Ein kleines Haus am Stadtrand zum Untertauchen war bereits angemietet und die Miete für mehrere Monate bezahlt worden. Langweilig würde es ihm nicht werden, da war sich Remzi sicher, denn die junge Ärztin sollte ihm die Wartezeit vertreiben. Die Vorstellung, was er alles mit der kleinen Wildkatze anstellen könnte, ließ sein Blut in die unteren Regionen seines Körpers sacken.
    „Soll ich die Sprengsätze heute noch in die Autos einbauen?“
    Die Frage seines Kumpels riss Remzi aus seinen Gedanken. Mit der Zungenspitze fuhr er sich über die Lippen, überlegte kurz und antwortete:
    „Wir warten bis Gabriela zurück ist. Vielleicht hat sie sich es zwischenzeitlich doch anders überlegt oder ein neues Ziel gefunden. … Man weiß nie, was so in ihren Kopf rumspuckt!“ Dabei kratzte er sich am Hinterkopf und ließ seine Hände wieder nach vorne sinken.
    Der Glatzkopf nickte zustimmend und murmelte: „Dann hast du sicherlich nichts dagegen, wenn ich mir dem Abend frei nehme und in die Innenstadt verschwinde. Ich brauche ein wenig Zerstreuung!“ Die Geste seiner Hand führte zu seinem Schritt.
    Remzi quittierte dies mit einem dreckigen Lachen. „Leg eine für mich mit flach! Bin ja zurzeit verhindert! … Wobei?… Ich sollte mal nach unseren Gefangenen schauen. Mein Schätzchen hat bestimmt schon Sehnsucht nach mir!“
    Nun fiel auch Iwan Kovac in das schmutzige Lachen ein.


    Eine halbe Stunde später begleitete Remzi die Russin, als die junge Frau das Abendessen zu den Gefangenen ins Obergeschoß brachte. Wie in den vergangenen Tagen stellte sich Ben schlafend. Anna fuhr erschrocken zusammen, als sie die Gestalt des Grauhaarigen im Türrahmen erblickte. Der Serbe hatte sich von den Auswirkungen seiner Schussverletzung gut erholt. Um das verletzte Bein trug er eine Immobilisierungsschiene, die dem Oberschenkelknochen zusätzliche Stabilität verlieh. Gestützt auf seine Krücken musterte er das Schlafzimmer der Eingeschlossenen und den Verletzten eingehend. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er schürzte verärgert die Lippen. Wütend brüllte er in seiner Muttersprache ins Treppenhaus:
    „Aleksandar, beweg deinen A.rsch hierher!“


    Ein wenig außer Puste kam kurze Zeit später der junge Serbe angerannt. Anna verstand von der folgenden Unterhaltung nichts, da sie in Serbisch geführt wurde. Nur etwas war unübersehbar, Remzis Gesicht war vor Zorn gerötet. Die Schärfe in seiner Stimme verhieß nichts Gutes für den jungen Mann.
    „Was soll der S.cheiß hier!“, blaffte der Söldner den jungen Mann an.
    Ahnungslos zuckte Aleksandar mit den Achseln: „Was meinst du?“ Er setzte einen gelangweilten Blick auf und vergrub seine Hände in den Hosentaschen.
    Der Grauhaarige hob eine der Krücken an und stupste mit deren Spitze den Jüngeren gegen die Brust. „Hast du nur noch im Kopf, wann und wo du die Russin flachlegen kannst? Du solltest die Weiber bewachen! Den Verletzten! … Warum erfahre ich nicht, dass es dem Bullen besser geht? … Warum?“, brüllte er lauthals los.


    Erneut schlug er brutal mit der Krücke zu. Katzengewandt wich Aleksandar dem Schlag aus und fauchte seinen Gegner wütend an. Der junge Mann wollte sich diese Behandlung nicht gefallen lassen. Von seinem Vater im Nahkampf ausgebildet, setzte er zur Gegenwehr an. Bereit den wesentlich größeren und kräftigeren Mann anzugreifen, ging er in Kampfhaltung.


    „Na los, schlag noch mal zu alter Mann!“, provozierte er den Grauhaarigen noch zusätzlich. Remzi ließ eine der Krücken fallen und zauberte wie aus dem Nichts eine Pistole hinter seinem Rücken hervor. Ohne zu zögern, drückte er den Abzug durch. Die Kugel fuhr vor dem jungen Serben in den Parkettboden, der daraufhin stocksteif stehen blieb. Holzsplitter spritzten auf. Ben riss im Bett erschrocken die Augen auf und drehte sich auf den Rücken.


    „Das meine ich!“, blaffte Remzi den Jüngeren an und deutete mit dem Lauf der Pistole in Richtung Bett. Er wandte sich Ben zu und sprach diesen auf Deutsch an:
    „Freut mich Bullenschwein, dass du dich so gut erholt hast. Das verspricht ja nochmals richtig unterhaltsame Vorstellung mit dir zu werden. Gabriela wird begeistert sein, wenn sie von ihrem kleinen Ausflug zurückkommt und hört, dass du dem Ableben deiner lieben Familie beiwohnen kannst.“
    Nicht nur der Tonfall und die grausame Drohung jagten Ben sondern auch seiner Freundin einen Schauer über den Rücken. Bens Augen weiteten sich vor Entsetzen. Anna, die seitlich auf dem Bettrand saß, erbleichte. Mit ihrer Hand tastete sie nach der Hand ihres Freundes und umschlag diese. Ihre Hände waren eiskalt und zitterten. In ihrem Magen lag ein steinerner Klumpen, dessen Gewicht sie zu erdrücken drohte. Aber die Minuten des Schreckens waren noch nicht vorbei.


    Dem Grauhaarigen entging die Reaktion seiner Opfer nicht. Genüsslich leckte er sich über die Lippen und wandte sich Anna zu: „Päpple deinen Lover ruhig in den nächsten Stunden noch ein wenig auf. Dann hält er bei meiner Spezialbehandlung länger durch!“ und fiel in einen teuflischen Lachanfall. Wortlos hob Aleksandar die Krücke auf und reichte sie dem Älteren.
    Remzis Zorn war noch nicht verraucht, im Gegenteil, sein Misstrauen war geweckt worden. Der Grauhaarige konnte es förmlich riechen, dass die Gefangenen etwas planten. Ihm waren die Blicke die zwischen Anna und Elena, die sich im Treppenhaus aufhielt, hin und her flogen nicht entgangen. Er humpelte ins Zimmer und befahl Aleksandar alle Schränke und das Badezimmer zu durchsuchen. Pedantisch überwachte der Söldner die Durchsuchungsaktion des Jüngeren. Bei jedem Handgriff setzte es einen giftigen Kommentar. Zum Schluss zog er Ben einfach die Bettdecke weg. Jedoch konnte er nichts Verdächtiges entdecken. Gereizt brummte er vor sich hin.


    Innerlich dankte Anna für die Eingebung, dass sie das Seil, welches Elena am Morgen ins Zimmer geschmuggelt hatte und ihnen die Flucht ermöglich sollte, unter der Matratze versteckt hatte.
    Auf Anweisung von Remzi musste Aleksandar die Fenster verschließen und an den Fensterriegeln die Sicherungsschlösser gegen Einbrecher aktivieren. Lange überlegte der Grauhaarige, scannte mit seinem Blick nochmals das Schlafzimmer, das angrenzende Badezimmer und das Treppenhaus. Erst als er sich sicher war, dass aus seiner Sicht keine Fluchtgefahr mehr bestand, verschwand er zusammen mit Aleksandar.

  • Als sich die Tür hinter dem Söldner schloss, fuhr die Gefühlswelt von Anna Achterbahn. Es war eine Mischung aus Angst, Entsetzen und gleichzeitig Erleichterung darüber, dass ihr und Ben erst einmal nichts geschehen war. Sie wusste mittlerweile wozu Remzi fähig war. Nicht auszudenken welche Vergeltungsmaßnahmen er ergriffen hätte, wenn er das Seil, das Elena am Vormittag mit der Wäsche ins Zimmer geschmuggelt hatte, gefunden hätte. Innerlich dankte Anna für die Eingebung, dass sie das Seil, welches ihnen die Flucht durch eines der Fenster ermöglichen sollte, unter der Matratze versteckt hatte.
    So sehr sie sich auch bemühte, ihre Fassade konnte sie nicht länger aufrecht halten. Ihre Beine gaben nach und Anna sank vor dem Bett auf die Knie. Sie starrte ihren Freund an. Nur langsam beruhigte sich ihr rasender Herzschlag, doch die Angst blieb. Und nicht nur ihr erging es so, wie sie an Bens Mimik erkennen konnte.


    Der Dunkelhaarige lag kreidebleich da und biss sich auf die Lippen, zwischen denen er leise hervorzischte:
    „Gerade noch einmal gut gegangen!“
    Hörbar entwich ihm die Atemluft.
    „Du hast Recht! … Völlig Recht. Unsere letzte Chance zu überleben, ist eine Flucht!“ Ihr Blick wanderte zwischen den beiden Fenstern hin und her. „Doch verrate mir wie? … Wie sollen wir aus diesem verdammten Zimmer rauskommen! Die Fenster sind mit diesen Sicherheitsschlössern verschlossen!“


    Anna kämpfte gegen ihre Emotionen an und konnte nur mühsam ein verzweifeltes Aufschluchzen unterdrücken. Ben schob Anna, die sich an ihn herangeschmiegt hatte, leicht von sich. Er richtete seinen Oberkörper auf und setzte sich auf die Bettkante. Sorgfältig musterte er den Fensterriegel und das Schloss. Seine Freundin zog er zu sich auf die Bettkante und schlang seinen Arm um ihre Schulter. Er hauchte ihr einen Kuss ins Haar und murmelte in einem beruhigenden Tonfall: „Scht … alles wird gut. Ich verspreche es dir! ... Der Fensterriegel …“, er schmunzelte vor sich hin. „Das ist ein Grund, aber kein Hindernis. … Ich hatte da so einen kleinen türkischen Lehrmeister, der mir beigebracht hat, jedes Zylinderschloss kann man knacken, man muss nur wissen wie!“
    „Ehrlich?“ Sie löste sich von ihm und blickte ihn skeptisch an. „Womit denn?“
    Wieder lachte er leise auf. „Na in deiner schwarzen Tasche ist bestimmt das richtige Werkzeug vorhanden. Viel wichtiger ist die Frage: Kann Elena den Autoschlüssel mit dem Toröffner besorgen? Damit steht und fällt unsere Chance auf eine erfolgreiche Flucht! … und wenn es geht eine Schusswaffe!“
    Anna nickte zustimmend. „Elena ist sich sicher, dass sie Aleksandar Kovac seinen Autoschlüssel und auch die Waffe entwenden kann. Sie wird alles so machen, wie du es mir erklärt hast: Morgen Nacht, eine Stunde nachdem alle schlafen gegangen sind, wird sie den jungen Mann fesseln und knebeln, damit er nicht vorzeitig Alarm schlagen kann. Dann schleicht sie sich zu uns ins Zimmer …!“
    „… und ich habe bis zu diesem Zeitpunkt eines der Fensterschlösser geknackt!“ So gut es ging versuchte Ben ein wenig Optimismus auszustrahlen. „Wir schaffen das, du musst nur fest daran glauben!“ Er hob seine Hand, strich ihr mit dem Daumen über die Wange, über ihre Lippen. Seine dunkelbraunen Augen hatten dabei einen Ausdruck, den Anna nicht zu deuten wusste. „Ich liebe dich mein Schatz!“ Sein Kopf bewegte sich auf sie zu und sie kam ihm entgegen, bis sich ihre Lippen trafen. Als sie sich voneinander lösten, meinte er: „Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich vor Hunger sterben könnte!“
    „Herr Jäger! … Bitte!“, murmelte sie gespielt entrüstet und lachte auf „Du änderst dich nie!“


    Nach dem Abendessen schlüpfte Anna zu ihm unter die Bettdecke. Eng schmiegte sie sich an ihn heran. Ihr Kopf lag in seiner Armbeuge und ihre Haare kitzelten seine Nase. Nach wenigen Minuten verrieten ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Obwohl er körperlich müde und erschöpft von dem kleinen Gang zur Toilette war, fand Ben einfach keinen Schlaf. Tausend Gedanken geisterten durch sein Gehirn. Er fühlte sich zurückversetzt in die Situation vor einem guten Jahr. Nur damals waren es Andrea und Aida gewesen, die mit ihm in diesem Schuppen gefangen gewesen waren. Grausame Ironie des Schicksals? Auch damals plante er eine Flucht, die für ihn völlig aussichtslos erschien. Er hatte überlebt, sollte er das als Zeichen der Hoffnung werten?


    Ben hatte sich auch heute nicht anmerken lassen, welche Kraft und Überwindung ihn jeder einzelne Schritt kostete. Ob Anna ahnte, welche Schmerzsignale sein Körper bei jeder Bewegung aussandte? Wie lange würde sein geschundener und entkräfteter Körper auf der Flucht durchhalten? Fragen über Fragen quälten ihn und er wusste doch keine Antwort darauf. Stattdessen hielt er sich sein Ziel vor Augen. Anna und Elena sollten aus diesem Gefängnis lebend entkommen. Er wollte, dass seine Freundin und sein ungeborenes Kind eine Zukunft hatten. Ben vertraute darauf, dass die Vernunft in Anna siegen würde, falls er, wovon er ausging, irgendwo auf dem Gelände der Villa zurückbleiben musste, sich irgendwo im Unterholz des Parks verkriechen konnte. Mehr oder weniger hing alles davon ab, wann ihre Entführer ihre Flucht entdeckten. Mit einer Waffe in der Hand konnte er sich die Söldner eine gewisse vom Leib halten, die Flucht der Frauen decken. Und den Rest sollte das Schicksal entscheiden. Nur bei einer Sache war sich Ben sicher, niemals würden ihn diese Bestien in Menschengestalt nochmals lebend in die Finger bekommen.


    Stunden später ….


    Leise Schreie und ein Stöhnen rissen Anna aus ihrem Tiefschlaf. Sie lag mit ihrer Wange auf Bens Brust, die sich im schnellen Rhythmus hob und senkte. Sie richtete sich auf und fuhr mit ihrer Hand über seine schweißnasse Brust. Durch das geschlossene Fenster fiel der fahle Lichtschein des Mondes ins Schlafzimmer und spiegelte sich auf dem hellen Parkettboden und spendete ein spärliches Licht. Anna merkte wie sich ihr Pulsschlag beschleunigte. Seit zwei Tagen hatte sie Ben kein Antibiotikum mehr verabreichen können. Waren die Infektion und das Fieber zurückgekehrt? Waren die Anstrengungen am heutigen Tag zu viel gewesen? Sie tastete nach seinem Puls, sein Herzschlag raste, strich über seine Stirn, die sich zwar schweißnass aber nicht heiß anfühlte. Langsam verstand sie seine gemurmelten Worte.


    „Nein! … Nein! Nicht mehr schlagen! … Nicht mehr schlagen!...“ Er keuchte und stöhnte. Sie begriff, dass er einen furchtbaren Alptraum durchlebte. Sanft tätschelte sie seine Wangen. „Ben! … Ben! … Hörst du mich? … Schatz! … Bitte wach auf!“ beruhigend sprach sie auf ihm ein. Urplötzlich versuchte er sich aufzurichten und fiel mit einem abgrundtiefen Stöhnen wieder zurück auf das Kissen. Auf einmal schlug er die Augenlider auf. Die blanke Panik stand in seinen Augen geschrieben. Das weiße in seinen Augen trat hervor und war deutlich im Zwielicht zu erkennen. Diesmal drangen ihre beruhigenden Worte zu ihm durch. „Schatz, ich bin es Anna! …Keiner tut dir etwas zu Leide! … Scht … Scht … Beruhige dich!“

    Seine Atmung verlangsamte sich.
    „Anna! … Halt mich fest! … Halt mich einfach nur fest!“


    Bei diesen Worten zog er sie zu sich herunter, bis sich ihre Lippen fanden. Seine Ängste suchten einen Ausweg. Ihre Zungen begannen ein wildes Spiel miteinander. Seine Hand fuhr unter ihr T-Shirt und mit der flachen Hand strich er zuerst über ihren Rücken, fühlte ihre weiche Haute, die Wärme ihres Körpers, die vertrauten Rundungen und es vermittelte ihm ein Gefühl der Geborgenheit, der Sicherheit. Er brauchte mehr davon.


    „Oh Gott Ben, was machst DU? … Doch nicht hier …!“
    Der Rest ging in ihrem Stöhnen unter. Zu sehr hatte ihr Körper nach seinen zärtlichen Berührungen gelechzt.
    „Doch! … Jetzt und hier! … Ich liebe dich Anna! … Du hast mir die Kraft gegeben, dass alles bis hierher durchzustehen … durchzuhalten … all diese furchtbaren Schmerzen zu ertragen, du und deine Liebe!“

  • Einige Zeit später lag Anna immer noch wach neben ihrem Freund und lauschte seinen gleichmäßigen Atemzügen. Sie grübelte über seine Fluchtpläne nach, die Aussicht auf Erfolg. Sie betete inbrünstig, dass Gabriela Kilic wie von Elena behauptet, erst am darauffolgenden Tag wieder nach Köln. Ihr war klar, was die Rückkehr der Kroatin für sie und Ben bedeutete. Der Anfang vom Ende.


    *****


    Kurz nach 20.00 h bog Semir in die Zufahrt zu seinem Grundstück ein. Ein schwarzer getunter Buick stand in der Zufahrt zur Garage, an dem Tacho lässig lehnte und mit einem spitzbübischen Grinsen im Gesicht auf den Kommissar wartete. Der kleine Türke parkte sein Fahrzeug dahinter. Beim Aussteigen aus dem silbernen Mercedes, der normalerweise Bens Dienstwagen war, hielt er für einen Moment inne. Er nahm die Sonnenbrille ab, lehnte sich mit dem linken Unterarm auf die Fahrertür und starrte den jungen Polizisten an.


    „Ich glaube es nicht!“ Semir schlug die Fahrertür zu und ging langsam auf Tacho zu. Dabei musterte er ihn von oben bis unten. „Kneif mich mal in die Backe und sag, dass du es bist!“, forderte er den Blonden auf, „Wo hast du denn den schicken Anzug her?“ Anerkennend pfiff Semir vor sich hin. „Meine Fresse, du könntest ja locker als einer dieser jungen aufstrebenden Banker an der Frankfurter Börse durchgehen!“


    Der blonde Polizist löste sich von seinem Fahrzeug, drehte sich wie ein Modell einmal um die Körperachse und grinste von einem Ohr zum anderen: „Gewusst wie! … Kleider machen Leute, Kollege Gerkhan. So eine Pleite wie Bonrath wollte ich in diesem Nobelschuppen in Brüssel nicht erfahren.“ Er deutete eine leichte Verneigung vor Semir an und feixte frech vor sich hin: „Darf ich vorstellen: Dr. Klaus Traminski, Junior Assistent des Geschäftsführers der Deutschen Bank in Brüssel! …“ Für ein paar Sekunden wurde er ernst. „Ich habe einige sehr interessante Informationen aus den Angestellten dieses Nobelschuppens rausbekommen. … Vor allem die Weiblichen waren sehr gesprächig.“ Und schon zwinkerte er amüsiert den Türken zu. „Aber ich denke, wir sollten auf die anderen warten, sonst muss ich es doppelt erzählen.“


    „Ich sehe schon, da wurden wieder einige Frauenherzen gebrochen!“, antwortete der Türke mit gespielter Empörung.

    Die Augen des Blonden blitzten bei der Antwort voller Übermut und unternehmungslustig auf, dass Semir einfach lachen musste. Für einige Augenblicke rückte der Ernst der Lage ein wenig in den Hintergrund. Tacho berichtete wortgewandt von seinen Erlebnissen mit dem weiblichen Geschlecht, während die beiden Polizisten, miteinander lachend, gemeinsam zur Haustür schritten.
    Als Semir den Schlüssel ins Schloss steckte, tauchten bereits Jenny und Hartmut auf, dicht gefolgt von Dieter Bonrath und Susanne. Bonrath und Susanne waren mit Kartons, auf denen die Insel Sizilien in den Landesfarben von Italien gedruckt war, bepackt. Sie hatten bei einem Abhol-Service Pizzas besorgt.
    „Hallo Jungs, Abendessen ist da!“, meinte Susanne und hielt die quadratischen Kartons, aus denen ein verführerischer Duft kam, in die Höhe.
    Zum Schluss traf noch Werner Holzinger, ein Kollege von der Streife der PAST ein. Dessen Partner überwachte momentan sicherheitshalber das Anwesen von Dr. Hinrichsen.


    *****


    Am darauffolgen Tag …. Früh morgens auf der Dienststelle


    Als Semir auf die Zufahrt zur Dienststelle einbog, glitzerte der Asphalt von der Feuchtigkeit des Regenschauers, der vor einer Stunde über Köln niedergegangen war. An einigen Stellen riss die Wolkendecke auf und die ersten Sonnenstrahlen bahnten sich ihren Weg. Der Nachrichtensprecher im Radio versprach bei der Wetterprognose für den heutigen Tag schönes warmes Sommerwetter.
    Der Parkplatz vor der PAST war wie leergefegt. Die Frühschicht war längst auf den Autobahnen unterwegs. Im morgendlichen Berufsverkehr war es durch die regennasse Fahrbahn zu kleineren Auffahrunfällen mit Bagatellschäden gekommen, wie ihm Kollege Lang, der heute den Schalter besetzte, nach einer freundlichen Begrüßung erklärte. Die Kollegin in der Funkzentrale empfing den Türken auch mit einem freundlichen Guten Morgen und erkundigte sich nach dem aktuellen Stand bei der Suche nach Ben und Anna. Mit einem leichten Seufzer trotte Semir in sein Büro und fuhr seinen Rechner hoch, las hoch konzentriert die letzten Mails und die Polizeiberichte über die Vorkommnisse der vergangenen Nacht. Dabei blendete er die Geräuschkulisse aus dem Großraumbüro völlig aus. Das Klingeln der Telefone, das Stimmengewirr der Kollegen, das Randalieren eines Betrunkenen, den die Kollegen eingesammelt hatten, als er auf der Autobahn spazieren gehen wollten.


    Ein leises Klopfen am Türrahmen ließ ihn aufblicken. In der Tür stand Susanne und murmelte ein freundliches „Guten Morgen!“ Fast schon gewohnheitsgemäß stellte sie ihm eine Tasse schwarzen Kaffee auf den Schreibtisch. „Schwarz wie die Nacht und zwei Löffel Zucker extra!“, bemerkte sie mit einem Lächeln. „Hast du einen Moment Zeit? Ich bin mit den Anrufen durch, die wir gestern Abend besprochen hatten!“


    Vorsichtig nippte der Türke an dem heißen Getränk. „Ohne das Zeug, würde ich wohl keinen Tag mehr durchstehen! Sag, hast du was rausgefunden?“


    Die Sekretärin seufzte auf und ließ sich auf einem Stuhl neben Semirs Schreibtisch nieder. „Also ich habe alle Apotheken und Allgemeinärzte im Umkreis von drei Kilometern um den Buchheimer Ring angerufen. Bei den Ärzten gab es nur negative Auskünfte. Aber es gab eine Apothekerin, eine Frau Maria Kleinschnitz von der Stern Apotheke, die konnte sich an einen schnauzbärtigen Mann erinnern, südländischer Typ, der hatte bei ihr Freitag auf Samstag vergangener Woche während des Nachtdienstes geklingelt und starke Schmerzmittel verlangt. Er hatte sich alle Packungen, die sie ihm zur Auswahl hinlegte geschnappt und mit einem hundert Euro-Schein bezahlt. Weil damit die Medikamente reichlich bezahlt waren, hatte sie von einer Anzeige abgesehen. Jenny fuhr von zu Hause aus direkt zu dieser Apotheke, um die Zeugenaussage der Frau aufzunehmen und holt das Überwachungsvideo von jener Nacht ab.“ Susanne blickte auf ihre Armbanduhr und meinte anschließend: „Sie müsste längst auf dem Weg zur KTU sein. Vielleicht kann ja Hartmut ein verwertbares Foto aus dem Film rausbekommen.“


    Mit seiner flachen Hand hieb Semir leicht auf die Schreibtischplatte. „Ich wusste doch, dass dieser verdammte Rechtsverdreher nicht zufällig in dieser Gegend unterwegs war!“


    „Semir, ich habe noch etwas! … In einem Real Einkaufszentrum in Köln Merheim gibt es auch eine Apotheke. Dort hat eine Angestellte mir von einer jungen Frau, Anfang zwanzig, berichtet, die in den vergangenen Tagen mehrmals ungewöhnlich viel Verbandsmaterial eingekauft hat. Dazu Schmerzmittel und sonstige Medikamente, die man zur Wundversorgung benötigt.“ Sie reichte Semir einen Notizzettel. „Ich habe dir mal die Anschrift und Telefonnummern der Apotheke in dem Einkaufsmarkt aufgeschrieben.“


    Semir schlug den Aktendeckel zu, der vor ihm lag und lehnte sich in seinem Bürostuhl zurück. Während er die Informationen las, die auf dem Zettel standen, den Susanne ihm in die Hand gedrückt hatte, sagte er: „Weißt du was, dieses Aktenwälzen bringt ja sowieso nichts. Zuerst besuche ich diese Apotheke im Real Markt und anschließend werde ich mich in der Gegend um den Buchheimer Ring nochmals gründlich umschauen um!“


    „Frau Krüger hat sich vor ein paar Minuten gemeldet. Sie kommt frühestens morgen Mittag mit unserem Herrn Oberstaatsanwalt zurück. …“ Die letzten Worte betonte sie besonders und zwinkerte mit den Augen. „Sprich keiner hindert dich daran Nachforschungen der besonderen Art anzustellen.“


    Daraufhin kehrte Susanne an ihren Schreibtisch zurück. Semir trank unterdessen seine Tasse leer und fischte seinen Autoschlüssel vom Schreibtisch, als sein Handy in der Hosentasche vibrierte. Ein Blick auf das Display verriet ihm, das sich Hartmut am anderen Ende der Leitung war. „Guten Morgen Einstein, hast du schon etwas rausgefunden?“ Aufmerksam lauschte er den Worten des Rotschopfs und meinte zum Abschluss des Gespräches: „Das hört sich nach einer brauchbaren Spur an. Ich komme gleich bei dir in der KTU vorbei. Die Bilder will ich mir persönlich anschauen.“


    Auf dem Weg nach draußen stoppte der Türke für einen Moment an Susannes Schreibtisch.

    „Kleine Planänderung. Ich fahre zuerst zu Harmut in die KTU. Er hat das Video aus der Apotheke ausgewertet und einen alten Bekannten entdeckt. … Vermutlich diesen Camil Musicz. … Rechne nicht damit, dass ich heute noch mal auf die Dienststelle zurückkomme. Wir halten uns über Funk auf dem Laufenden.“
    Wenig später brauste er mit durchdrehenden Reifen vom Hof der Dienststelle.

  • Zur selben Zeit in der Villa


    Der Morgen und die Mittagszeit waren für die beiden Gefangenen in der Villa der reinste Horror gewesen. Remzi ließ Elena keinen Moment mehr unbeobachtet in das Zimmer der Gefangenen. Es war deshalb keine Kommunikation mehr zwischen ihr und Anna möglich. Die junge Ärztin musste darauf vertrauen, dass die Absprachen zwischen ihr und Elena für die kommende Nacht funktionieren würden. Akribisch kontrollierte der Söldner jedes Stück Wäsche und die Nahrungsmittel, welche die kleine Russin ins Schlafzimmer zu den beiden Eingesperrten brachte. Die Luft im Raum war abgestanden und stickig, doch das schien den Grauhaarigen nicht im Geringsten zu stören. Die Fenster blieben verschlossen. Anna wagte es auch nicht zu fragen.


    Während seiner Anwesenheit im Schlafzimmer verhöhnte er Ben und beschrieb ihn ins kleinste Detail, welche Quälereien den jungen Polizisten in den kommenden Tagen erwarten würden. Anna war ebenfalls das Ziel seiner spöttischen und demütigenden Kommentare. Ihr gelang es nicht so gut, ihre Panik und Ängste zu verbergen. Remzi genoss jede Sekunde seiner Macht, die er über die Gefangenen hatte. Jedes Mal atmeten die beiden Eingeschlossenen erleichtert auf, wenn sich die Tür hinter dem grauhaarigen Sadisten schloss.


    Doch am frühen Nachmittag wendete sich das Blatt. Mit einem lauten Knall flog die Zimmertür gegen die dahinterliegende Wand. Anna saß wie so oft in den vergangenen Tagen in ihrem Schaukelstuhl. Durch die geschlossene Fensterscheibe hatte sie nach draußen geblickt und war in ihren Tagträumen versunken gewesen. Erschrocken fuhr sie zusammen, während Ben weiter seelenruhig in seinem Bett schlief. Wie üblich hatte sich der Verletzte auf seine rechte Körperseite gedreht, weil er so am wenigsten Schmerzen hatte. Völlig überraschend stand der Grauhaarige alleine hämisch grinsend in der Tür. Anna ahnte schon, das verhieß nichts Gutes, als er auf seine Krücken gestützt, langsam ins Zimmer Richtung Bett humpelte.


    „Na Schätzchen! … Wird wohl langsam Zeit, dass wir den Bullen mal aus seinen Schönheitsschlaf wecken!“, dabei holte er mit einer seiner Krücken aus und schlug damit Ben auf den Oberkörper.


    Keine Sekunde später fuhr der dunkelhaarige Polizist mit einen unmenschlichen Schmerzensschrei in die Höhe um anschließend wieder in sich zusammen zu fallen. Er wimmerte vor sich hin und krümmte sich. Anna schrie hysterisch auf und sprang wie eine wild gewordene Löwin auf den Grauhaarigen zu.
    „Du Schwein! … Du verdammtes Schwein!“, brüllte sie außer sich vor Zorn und Wut den Söldner an. Sie stellte sich breitbeinig vor den Kranken, der im Hintergrund leise im Bett stöhnte und breitete ihre Arme aus, als wollte sie mit ihrem Körper eine Schutzmauer für ihn vor Remzi bilden. „Lass ihn in Frieden!“
    Der Grauhaarige quittierte dies mit einem Lachen, das nur so vor Hohn und Bösartigkeit troff. „Überanstrenge dich nur nicht Schätzchen! … Die Schonzeit ist für euch vorbei. Ich hatte gerade einen Anruf von unserer gemeinsamen Freundin Gabriela. Sie kommt im Laufe des Abends zurück.“


    ******
    Nachmittags ein Reiterhof am Schlagbaumsweg in Köln Merlheim


    Mit Hilfe den Videoaufzeichnungen aus der Stern-Apotheke konnte Einstein den Beweis erbringen, dass der gesuchte Camil Music dort Schmerzmittel eingekauft hatte. Geschickt hatte es der Serbe verstanden sein Gesicht so zu halten, dass man es auf dem Video kaum erkennen konnte, doch das Tattoo auf seiner rechten Hand war eindeutig erkennbar gewesen und hatte ihn verraten. Ein Vergleich mit dem Bildmaterial von der Notaufnahme der Uniklinik ergab laut Hartmut eine neunundneunzig prozentige Übereinstimmung. Ebenso war die Befragung der Angestellten in der zweiten Apotheke im Einkaufscenter ein Volltreffer.
    Semir zeigte der Apothekerin auf seinem Handy ein Foto des Verdächtigen, die ihn sofort wieder erkannte. Die Frau war sich absolut sicher, dass in den vergangenen Tagen mehrfach eine junge Frau, die entweder in der Begleitung des Verdächtigen oder in Begleitung von Männern mit südländischem Aussehen war, auffallend viel Verbandsmaterial und Medikamente für eine Wundversorgung eingekauft hatte. Eine Videoüberwachung gab es hier leider nicht. Trotzdem erinnerte sich eine der Apothekenverkäuferinnen an das auffällige Tattoo. Das bestärkte den Türken in seiner Meinung, endlich eine wirklich heiße Spur gefunden zu haben. Er meldete sich über Funk bei Susanne ab und begann systematisch im Laufe des Nachmittags nach Dienstschluss alle Anwesen entlang des Schlagbaumswegs in Köln Merlheim abzuklappern.


    Am späten Nachmittag blieb nur noch der Reiterhof blieb übrig, wobei sich Kollege Turbo ziemlich sicher war, dass der schwarze Audi Q5 nicht auf dieses Grundstück abgebogen war. Der Türke parkte sein Fahrzeug auf einem beschilderten Gästeparkplatz und stieg aus. Suchend blickte sich Semir um und erspähte eine alte Frau, die aus ihrer Haustür heraustrat. Das kleine Häuschen mit seiner Fachwerkfassade vermittelte einen idyllischen Eindruck.


    „Hallo junger Mann! Wen suchen Sie denn?“ In ihrer Hand hielt sie eine alte Kaffeemühle, an deren Kurbel sie fortwährend drehte. Der Kommissar ging auf die alte Frau zu, fischte seinen Ausweis aus der Hosentasche und stellte sich vor.
    „Gerkhan, Kripo Autobahn. Ich suche diesen Mann hier! War der hier mal auf dem Hof?“ Dabei zeigte er ihr das Foto von Camil Music.
    „Kripo Autobahn?“, meinte die alte Frau verwundert, „Die Autobahn ist doch mindestens zwei bis drei Kilometer Luftlinie weg von hier. Zeigen Sie noch mal her junger Mann! Meine Augen sind mit meinen achtundsiebzig Jahren nicht mehr so gut!“ Sie betrachtete das Foto auf dem Handy Display eingehend und schüttelte den Kopf „Nein, dieser Mann war in den letzten Wochen nicht hier auf dem Hof, da bin ich mir absolut sicher! Ich kenne alle Leute, die zum Reitunterricht herkommen oder ein Pferd bei meinen Enkelsohn eingestellt haben.“


    Die Weißhaarige sah Semirs enttäuschten Gesichtsausdruck. Aus dem offenen Küchenfenster ertönte das Pfeifen eines Wasserkessels.
    „Das Kaffeewasser ist heiß. Haben Sie ein bisschen Zeit Herr Kommissar? Dann lade ich sie zu einer guten Tasse Kaffee ein.“ Dabei hielt sie ihre Kaffeemühle aus Holz demonstrativ nach vorne und drehte weiter emsig an der Kurbel. „Nicht so eine komische braune Brühe, wie sie aus den neumodischen Apparaten kommt. … Sondern so richtig mit der Hand gemahlen und gefiltert. Dazu gibt es frischen Apfelkuchen, von unseren Sommeräpfeln!“
    Semir wollte schon ablehnen und weiterhetzen. Doch da war etwas an dieser alten Frau, der in ihm den Wunsch weckte, zumindest für ein paar Minuten bei seiner Suche nach Ben und Anna zur Ruhe zu kommen.
    „Ach, übrigens, wo bleiben denn meine Manieren. Ich habe mich ihnen ja noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Elisabeth Winkler. Aber alle nennen mich Oma Else und machen Sie das bitte auch!“
    Der Türke seufzte unbewusst auf.
    „Sie sehen müde aus Herr Kommissar. Setzen Sie sich schon mal auf die Bank, ich decke den Tisch!“
    Sie lächelte ihn mütterlich an und verschwand in der Haustür. Nach einigen Minuten schnupperte Semir den verlockenden Duft von Kaffee, der durch den Spalt in der Haustür nach draußen drang.


    Von seinem Sitzplatz aus konnte er fast das komplette Areal des Reiterhofs überblicken. Er hatte seinen Kopf an die Hauswand angelehnt, sorgsam darauf bedacht, keine der Geranienblüten abzubrechen. Oma Else hatte an jeder freien Stelle vor der Hauswand, einen Blumentopf mit einer prächtig blühenden Pflanze stehen. Die abendlichen Sonnenstrahlen spendeten eine angenehme Wärme. Der kleine Türke ließ seinen Blick umherschweifen. Da waren die Stallungen, das Haupthaus, die Sattelkammer und natürlich die Koppeln, auf denen Pferde unterschiedlichster Rassen grasten, von einem kleinen Pony bis hin zum stämmigen Kaltblüter. In einer anderen Koppel bekam eine Gruppe von Mädchen Reitunterricht. Seine Gedanken schweiften ab zu seiner Familie. Aida hatte sich so sehnlichst zu ihrem achten Geburtstag ein paar Reitstunden gewünscht. Wenn er die geparkten Fahrzeuge betrachtete, würden die Kosten dafür wohl seine Gehaltsklasse sprengen. Allerdings würde Andrea wieder arbeiten ….

  • Seine Gedankengänge wurden unterbrochen. Oma Else stellte laut klappernd ein Tablett mit Kaffeegeschirr und Kuchen auf den Holztisch, der aus roh bearbeiteten Baumstämmen angefertigt worden war. Semir musterte die alte Frau, die in etwa so groß war, wie er selbst und eine zierliche Gestalt hatte. Ihre faltigen Hände zeugten davon, dass sie in ihrem Leben hatte hart zupacken müssen. In ihr mütterlich strahlendes Gesicht hatten sich tiefe Falten eingegraben.


    „Nun langen Sie schon zu junger Mann!“, forderte sie ihn auf und goss den Kaffee aus einer Porzellankanne mit Blumendekor in die dazu passende Kaffeetasse ein.

    Während sich Semir ein großes Stück Apfelstrudel auf den Kuchenteller schaufelte, meinte er anerkennend, „Ein wunderschönes Plätzchen ist das hier. So viel ländliche Idylle inmitten von Köln. Hätte nicht gedacht, dass es so etwas noch gibt.“


    Oma Else setzte sich neben Semir auf die Bank und begann zu erzählen, von den Zeiten nach dem Krieg, als es hier in Köln Merlheim noch Bauern gab, wie sich alles im Laufe der Zeit verändert hatte, die Stadt sich Stück für Stück einen Teil der Natur durch Industrie und Wohnungsbau holte. Vor zwanzig Jahren war ihr Sohn auch vor der Entscheidung gestanden, alles aufzugeben und zu verkaufen, weil sich die reine Landwirtschaft nicht mehr wirtschaftlich betreiben lies. Der Familienrat hatte damals beschlossen einen Teil der Ländereien zu verkaufen und aus dem Rest ist der Reiterhof entstanden. Dann fiel ein Satz und Oma Else hatte die volle Aufmerksamkeit von Semir wieder, der mittlerweile bei seinem dritten Stück Kuchen und der vierten Tasse Kaffee angelangt war.


    „Das alte Forsthaus mit den angrenzenden Ländereien und dem Waldstück mussten wir verkaufen, um den Aufbau des Reiterhofs zu finanzieren. So ein Finanzhai hatte damals ein kleines Vermögen hingeblättert, um das Grundstück zu kaufen. Sie müssten mal sehen, was der Kerl daraus gemacht hat!“ Angewidert verzog Oma Else das Gesicht. „Das alte Forsthaus hat er abgerissen und eine riesige Bonzen-Villa mitten in das Waldstück reingebaut. Zur Krönung wurde das Ganze noch mit einer hohen Mauer eingefasst, damit ja keiner unerlaubt auf das Grundstück kommt. Das gleicht einer Festung!“

    „Und wohnt er noch dort?“ Bei der Bezeichnung Geldhai musste Semir unwillkürlich an den Rechtsanwalt denken. So eine Person würde zu dessen Mandantenkreis passen.

    „Nein … nein, all sein Geld hat ihm kein Glück gebracht. Die Frau hat sich scheiden lassen und zuletzt hatte dieser Hofer sich auch noch an der Börse verspekuliert. Vergangenes Jahr wurde das Anwesen verkauft. Eine Zeit lang schien das Haus unbewohnt gewesen zu sein.“ Semir unterbrach die alte Frau wieder. „Kennen Sie die Leute, die das Haus gekauft haben?“ - „Nein! Sind aber komische Menschen, die dort seit einem halben Jahr leben. Direkt an der einen Mauerseite führt ein Reitweg vorbei, der von unseren Reitern viel benutzt wird. Es ist schon mehrmals passiert, dass unsere Leute massiv beschimpft wurden und aufgefordert wurden, weiter zu reiten. Die rasen mit ihren dunklen Autos jedes Mal hier vorbei, als wäre das eine Autobahn!“

    Oma Else kam so richtig in Fahrt und ließ ihren Unmut über die Bewohner der Villa mehr als deutlich raus. Sie erzählte und erzählte … und Semir hörte ihr aufmerksam zu, sog jedes Detail in sich auf.


    Vollgestopft mit leckerem Apfelstrudel und abgefüllt mit dem besten Kaffee aller Zeiten verabschiedete sich Semir bei der netten alten Dame, als die Sonne langsam hinter dem Horizont als glutroter Ball verschwand. Die Natur zauberte mit dem Abendrot ein unvergessliches Farbenspiel an den Himmel. Doch Semir hatte dafür keinen Sinn. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Noch eine knappe Stunde sollte es hell sein. Er wollte die verbleibende Zeit bis zum Einbruch der Dunkelheit nutzen und sich unbedingt diese Villa noch einmal aus der Nähe anschauen, bevor er nach Hause fuhr. Oma Else hatte ihm die Umgebung genau beschrieben und auch eine Stelle genannt, wo er unauffällig Bens silbernen Mercedes parken konnte.


    *****


    Gleicher Abend - Auf der A3 Fahrtrichtung Köln


    Gabriela Kilic döste auf dem Beifahrersitz des Audi Q7 vor sich hin. Die Rückfahrt von Zürich nach Köln zog sich länger hin als erwartet. Auf der A5 waren sie in der Nähe von Karlsruhe am Vormittag in einen längeren Stau geraten, der ihre Reisezeit um zwei Stunden verlängert hatte. Mittlerweile befanden sie sich auf der A3, Höhe Limburg, und sollten laut Navi in einer guten Stunde zurück in Köln sein.


    Camil Musicz, der Fahrer des Audis, trat voll in die Bremsen, um einen Unfall zu vermeiden. Auch die Fahrer der nachfolgenden Fahrzeuge hatten ihre liebe Not, rechtzeitig zu bremsen, um einen Auffahrunfall zu vermeiden. Gabriela wurde ziemlich heftig aus ihrem Dämmerschlaf gerissen und hing lauthals schimpfend in ihrem Sicherheitsgurt. Dann erblickte sie die Ursache des Bremsmanövers.


    Ein LKW Fahrer in Fahrtrichtung Köln hatte im Baustellenbereich auf der Gefällstrecke bei Limburg verbotener Weise überholt und nach einer Berührung mit einem anderen LKW die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Der Lastwagen hatte zwei PKWs auf der linken Fahrspur touchiert und die Leitplanke aus Beton auf die Gegenfahrbahn verschoben. Die Sattelzugmaschine stand auf der Gegenfahrbahn in Richtung Frankfurt. Mehrere Fahrzeuge, die keine Chance mehr hatten, rechtzeitig zu anzuhalten, waren in das Hindernis gerast und hatten sich ineinander verkeilt. Der Sattelauflieger stand quer über die drei Fahrspuren in Richtung Köln und blockierte diese. Ein roter Kleinwagen hatte sich unter dem Sattelauflieger verkeilt. Durch die Wucht des Aufpralls war die Ladung des Lastwagens, die aus verschiedenen Lackfarben für eine Baumarktkette bestand, auf den Fahrspuren verteilt worden. Viele Farbdosen waren beschädigt worden und der flüssige Inhalt lief über den Asphalt. Nichts ging mehr. Der Verkehr stand. Der Tank des Lastwagens, der den Unfall verursacht hatte, war beschädigt worden. Graue Rauchwolken stiegen von der Unfallstelle gen Himmel.


    Der Audi befand sich auf der linken Fahrspur und der Serbe folgte dem Beispiel der anderen Autofahrer vor ihm und parkte das Fahrzeug so nahe wie möglich an der Leitplanke, um eine Rettungsgasse zu bilden. Anschließend stellte er den Motor ab und atmete tief durch.


    Ungehalten fluchte die Kroatin in der Zwischenzeit vor sich hin, bis ihr Fahrer sie genervt anblaffte: „Lass es mal gut sein Gabriela! Fluchen ändert auch nichts dran. Wir stecken hier fest. … Und so wie das aussieht, behaupte ich für längere Zeit. Ich laufe mal die paar Meter bis zur Unfallstelle und schau mir mal das Desaster an! Anschließend sage ich Remzi Bescheid!“


    Camil wartete nicht auf eine Antwort seiner Beifahrerin. Beim letzten Satz öffnete er die Fahrertür, stieg aus und ließ die verdutzte Kroatin zurück. Draußen schob er sich als erstes eine Kippe zwischen die Lippen und stapfte in Richtung der Unfallstelle, die in einigen hundert Metern Entfernung lag. Er inhalierte den blauen Dunst tief in seine Lungen und bildete sich ein, dies würde sein angekratztes Nervenkostüm ein wenig beruhigen.


    Die vergangenen Tage waren kein Zuckerschlecken gewesen. Bei unterschiedlichen Anlässen hatte er den Lebenspartner der Kroatin spielen müssen, um deren Tarnung zu perfektionieren. Für ihn, der steife Umgangsformen hasste, legere Kleidung liebte, war das Tragen von Anzügen, die verschiedenen Essen und Treffen mit diesem windigen Anwalt aus Köln, ihren Geschäftspartnern in Belgien, Luxemburg und der Schweiz der reinste Horror gewesen. Insgeheim bereute er mittlerweile den Entschluss, den Ruf seines Kumpels Remzi gefolgt zu sein. Seit dem gestrigen Abend war seine Laune auf dem absoluten Nullpunkt angelangt. Da er der Tarnung wegen, sich mit Gabriela zum Übernachten eine Suite teilte, er schlief auf dem Sofa und sie ihm Doppelbett, hatte er einen letzten Versuch gewagt.


    Wie er es Elena versprochen hatte, wollte er die junge Frau mit zurück in seine Heimat nehmen. Wie die Male zuvor ließ ihn Gabriela eiskalt abblitzen.

    Ziemlich kaltschnäuzig hatte sie ihm erklärt: „Die Kleine hat zu viel gesehen und zu viel mitbekommen. Das letzte was ich für meine Zukunft gebrauchen kann, ist eine geschwätzige Zeugin. Du kannst den Job gerne haben, wenn dir so viel an dem Wohlergehen der Russin liegt!“

    Damit war das Thema erledigt und insgeheim fragte sich der Serbe, ob er letztendlich auch ein lästiger Zeuge sein würde. Einzig und allein das sein Freund Remzi für Gabriela bürgte und das fürstliche Honorar, das ihm die Kroatin in Aussicht gestellt hatte, hielten ihn von einer vorzeitigen Rückkehr in seine Heimat zurück.


    Von seiner Position aus erkannte Camil die Dimension des Unfalls. Da er absolut keine Lust hatte, erste Hilfe zu leisten, setzte er sich auf eine der Betonabgrenzungen, fischte sein Handy aus der Hosentasche und wählte die Nummer seines Kumpels Remzi. Während er mit seinem Freund telefonierte, konnte der Serbe im Schein der untergehenden Sonne die flackernden Blaulichter der sich nähernden Rettungsfahrzeuge erkennen. Das Geheul ihrer Sirenen war weithin hörbar. Und dennoch dauerte es eine gefühlte Ewigkeit, bis sich die Einsatzfahrzeuge ihren Weg durch den Rückstau gebahnt hatten.

  • Schon nach wenigen Minuten langweilte sich Gabriela Kilic im Audi. Sie stellte das Autoradio an und suchte einen Regionalsender mit Verkehrsfunk. Zusätzlich zückte auch sie ihr Handy und recherchierte im Internet nach Informationen zum Unfallgeschehen auf der Autobahn vor ihnen. Die aktuellste Meldung, die sie in den sozialen Netzwerken und im Stau-Infos fand, besagte nur, dass die Polizei eine Totalsperre der Autobahn A3 in beiden Fahrrichtungen durchführte und den Verkehr an den davor liegenden Ausfahrten ausleitete. Die Autofahrer, die im Stau feststeckten, wurden um Geduld gebeten. THW und Rotes Kreuz würden in Kürze die Verkehrsteilnehmer, die auf dem Teilstück fest saßen, mit Getränken und kleinen Snacks versorgen.


    Die Kroatin wechselte ihren Sitzplatz und machte es sich auf dem Rücksitz gemütlich. Sie nutzte die Zeit auf ihre Art und Weise und dachte über die letzten Tage, ihre Zukunftspläne und ihren Rachefeldzug nach. Über Belgien, Luxemburg und der Schweiz hatte sie alles für ihre Flucht nach Südamerika arrangiert. Peter Brauer vom BKA hatte ihr eine neue Identität im Zeugenschutzprogramm der BKAs und neue Ausweispapiere besorgt. Die Übergabe hatte vor zwei Tagen in Luxemburg stattgefunden. Ausweispapiere gegen Geld, einem kleinen Vermögen. Anschließend hatte sie sich nochmals mit Dr. Hinrichsen in Zürich getroffen, um ihre Bankgeschäfte zu regeln. In genau drei Tagen würde abends um 20.00 h ein vollgetankter Learjet auf einem Privatflughafen in Belgien auf sie warten, um sie zu einem Ziel ihrer Wahl in Südamerika zu fliegen.


    Ihr Blick richtete sich nach vorne, auf ihre Zukunft. In den letzten Stunden hatte sie gründlich darüber nachgedacht, die verschiedenen Angebote, die ihr Dr. Hinrichsen zur Geldanlage empfohlen hatte, eingehend studiert. Ihre Wahl für das Land ihrer Zukunft war auf Brasilien gefallen. Dort bekam man für Geld alles und ihr Bankkonto, das einen siebenstelligen Betrag auswies, war reichlich gefüllt. Ein neues Leben wartete auf sie, welches sie sich in ihren Träumen in den rosigsten Farben ausmalte. Eine Villa in Strandnähe … vielleicht ein Mann, mit dem an eine eigene Familie gründen könnte … Kinder … wer wusste schon, was das Schicksal noch Gutes für sie bereithielt.


    Wenn Remzi wollte, konnte er ihr jederzeit folgen. Für ihren engsten Verbündeten, der mittlerweile per Internationalen Haftbefehl gesucht wurde, wie sie von Peter Brauer bestätigt bekommen hatte, hatte sie ebenfalls eine neue Identität gekauft, getarnt durch das Zeugenschutzprogramm des BKA.


    Vor einer Stunde, während einer Rast in der Nähe von Frankfurt, hatte sie mit Remzi das letzte Mal telefoniert und seitdem schwebte sie im siebten Himmel. Ein selbstzufriedenes Lächeln umspielte ihren Mundwinkel. Ihr genialer Plan konnte einfach nicht schief gehen. Die Bomben für die geplanten Anschläge auf die Autobahnpolizei, die Staatsanwaltschaft und das Landgericht waren einsatzbereit. Ein tödliches Werkzeug zur Vernichtung ihrer Feinde. Die privaten Adressen der Polizisten und von Bens Familie, die sie töten wollte, waren bekannt. Alle Anschlagsziele waren durch die Kovac Brüder ausgekundschaftet worden. Alles war vorbereitet für den finalen Schlag.

    Aus ihrer Sicht war das Beste dabei, Ben Jäger konnte ihrem Rachefeldzug beiwohnen, dem Untergang seiner Familie.

    Nichts und niemand würde sie diesmal aufhalten können, nicht einmal dieser verfluchte Türke. In drei Tagen würde Ben Jäger der Vergangenheit angehören. Seine Leiche den Vorgarten von Semir Gerkhan als Dekoration zieren. Bei dieser Vorstellung überzog ein teuflisches Grinsen ihr Gesicht.


    Remzis genialer Plan, mit einem Schlag die Familie Gerkhan zu vernichten und den Türken durch gezielte Schüsse eines Scharfschützen in die Knie zum Krüppel zu machen, hatte ihre volle Begeisterung gefunden. Fast bedauerte Gabriela ein wenig, den Türken nicht mehr als gebrochenen Mann zu sehen bekam. Sie malte sich aus, dass der verhasste Mann als ein menschliches Wrack enden würde, wenn man ihm alles genommen hatte, was ihm im Leben wichtig war.


    Auf der anderen Seite, wer wusste es schon? Möglich war alles, auch eine Rückkehr nach Deutschland mit ihrer neuen Identität… nach Köln. Dieser Anblick war es ihr Wert ein Risiko einzugehen. Sie blendete das Geschehen um sich herum aus und schwelgte in ihren Träumen, deren Inhalt ihre Rachepläne waren.


    *****


    Zur selben Zeit in der Villa


    Die Zimmertür flog mit einem lauten Knall ins Schloss. Das hämische Lachen von Remzi verstummte.
    „Du musste langsamer atmen!“, drang Annas Stimme gedämpft wie durch einen Wattebausch zu dem dunkelhaarigen Polizisten durch.


    Jeder Atemzug bedeutete Schmerz. Ben merkte, dass er nur noch stoßweise die Luft in seine Lungen sog. Er konzentrierte sich auf seine Atemfrequenz und versuchte die Schmerzwellen, die von seinen Rippen ausgingen und seinen Körper durchfluteten, zu ignorieren. Als Annas warme Hände sich unter sein Shirt schoben, um es hochzuschieben, umschlang er ihr Handgelenk und hielt es fest.


    „Es geht schon!“, presste er mühsam hervor, „Gib … mir einfach ein … paar Minuten noch!“

    Ein Stöhnen entfuhr Ben, als er sich langsam auf den Rücken drehte. Der Dunkelhaarige schloss die Augen und konzentrierte sich weiter auf seine Atmung und hörte seinen Herzschlag, der wie wild zwischen seinen Schläfen pochte. Der wütende Schmerz in seinem Rücken und seiner Flanke ebbte langsam ab und er bekam sich wieder unter Kontrolle. Durch seine geöffneten Lider sah Ben zuerst alles wie durch einen Schleier, der sich lichtete und er erkannte Annas besorgte Miene. Seine Freundin saß auf der Bettkante und beobachtete ihn genau. Die letzten Worte des Söldners geisterten durch seinen Kopf und er konnte die Bedrohung, die davon ausging, fast körperlich spüren. Es schien fast so, als könnte Anna seine Gedanken lesen.

    „Die Hexe kommt heute noch zurück! … Es ist aus Ben! … Alles aus und vorbei!“

    Angst schwang in ihrer Stimme mit und er sah den Anflug von Panik in ihrem Gesicht. Auch wenn es ihm schwer fiel, richtete er seinen Oberkörper mit einem unterdrückten Stöhnen auf. Mit seinen Händen umschlang er die Handgelenke seiner Freundin und blickte sie mit seinen dunklen Augen durchdringend an.


    „Das Letzte was passieren darf, dass wir in Panik verfallen. Das wäre der Anfang vom Ende.“ Mit einem beschwörenden Tonfall sprach er weiter: „Wir geben nicht auf, Anna! … Noch ist die Wahnsinnige nicht da … noch bleiben uns ein paar Stunden, wobei eine Flucht bei Tageslicht in meiner Verfassung Selbstmord wäre!“ Er schwieg für einige Sekunden und dachte nach. Mehr zu sich selbst murmelte er: „Wir werden nur diese eine Chance haben. … Heute Nacht! … Nach Einbruch der Dunkelheit!“ und er ließ sich wieder zurück auf das Kopfkissen sinken.


    Erneut fasste Anna sein T-Shirt am Saum an und zog es ihm vorsichtig über den Kopf. Diesmal wehrte er sich nicht. Schweigend begann die junge Frau seine Verbände zu wechseln und die Wunden zu versorgen. Seine Freundin bemühte sich, ihm so wenig Qual wie möglich zu bereiten, aber dennoch merkte sie wie sich Ben verkrampfte und die Lippen zusammen presste. Ab und an entwich ihm ein leises Stöhnen, als der Schmerz zu heftig wurde, dabei verzog sich sein Gesicht zu einer Grimasse. Nachdem die schmerzhafte Prozedur vorüber war, setzte sich Anna wieder zurück in ihren Schaukelstuhl. Eine bedrückende Stille breitete sich im Zimmer der Gefangenen aus. Jeder hing seinen Gedanken nach. Die Anspannung steigerte sich von Minute zu Minute. Wie ein Damoklesschwert hing die Rückkehr von Gabriela im Raum. So sehr sich Ben auch bemühte, an etwas anderes zu denken, seine Gedanken begannen sich im Kreis zu drehen. Ein Horror-Szenario nach dem anderen spielte sich vor seinem inneren Auge ab … immer wieder die Fragen:
    Was wäre wenn?
    So verging die Zeit bis zum Abendessen.

  • Später als gewöhnlich erschien Elena, die diesmal von Dragan Kovac, einem der Zwillingsbrüder, begleitet wurde. Der Serbe blaffte nur einen Befehl in den Raum:

    „Kein Laut! … Sonst!“

    Dabei hob er die schussbereite Waffe in seiner Hand hoch und zielte auf Elena.


    Ein bisschen erleichtert atmete Ben auf, dass diesmal nicht wieder Remzi erschienen war. Durch die geöffnete Zimmertür hörte man die Stimmen von Männern, die auf Serbisch miteinander diskutierten. Deutlich war Remzis dröhnende Stimme herauszuhören, der verärgert klang. Angespannt lauschte der Polizist, der mit geschlossenen Augen im Bett lag, ob er auch Gabrielas Stimme dabei war.


    Die Auseinandersetzung schien sehr interessant zu sein, denn Dragan Kovac, der nach wie vor unter dem Türrahmen stand, achtete mehr auf die Diskussionen im Erdgeschoss als auf Elena. Weder Anna noch der Russin entging dies. Dennoch wagte keine der beiden Frauen sich dem Befehl des Söldners zu widersetzen und ein Wort zu sprechen. Die Ärztin formte mit ihren Lippen eine stumme Frage: Gabriela? Doch die Russin wich ihr aus. Stattdessen schob sie sehr geschickt einen Zettel unter die Bettdecke, als sie die Schmutzwäsche, die dort an der Bettkante für sie bereit lag, mitnahm.


    Dragan wurde ungeduldig und fuchtelte mit seiner Waffe herum.
    „Beeil dich! Ich will hier nicht übernachten!“
    Mit gesenktem Kopf beeilte sich Elena der Aufforderung nachzukommen. Eilig tauschte sie das Geschirr aus und huschte an dem Serben vorbei ins Treppenhaus. Die Tür schloss sich und die beiden Gefangenen waren wieder alleine. In den vergangenen Tagen war dies in der Regel der letzte Besuch ihrer Entführer gewesen. Würde dies auch für diesen Abend und Nacht zu treffen oder? … Ben wagte nicht den Gedanken zu Ende zu denken. Er öffnete die Augen und sah, wie Anna zum Fußende des Bettes eilte. Unter der Zudecke zog sie einen kleinen Zettel hervor. Ihre Finger zitterten, als sie ihn auseinanderfaltete. Laut las sie vor: „Flight at Midnight!“


    Mit dieser Botschaft kehrte die Hoffnung bei Ben und Anna zurück. Was auch immer diese Worte in Bezug auf Gabriela Kilic bedeuten mochten? Für die beiden Gefangenen bedeuteten sie nur eines: Elena würde wie versprochen um Mitternacht mit dem Autoschlüssel erscheinen.


    Nach dem Abendessen wagte es Ben das erste Mal an diesem Tag, das Bett zu verlassen. Anna stand vor der Zimmertür und drückte ihr rechtes Ohr gegen das Türblatt. Angespannt lauschte sie, ob irgendein Geräusch ihr verriet, dass sich jemand ihrem Zimmer näherte.


    Nach dem Gang zur Toilette beschäftigte sich der dunkelhaarige Polizist eingehend mit dem Zylinderschloss des Fensterriegels. Nach wenigen Minuten gelang es ihm tatsächlich das Schloss zu knacken. Mit einem glücklichen Lächeln im Gesicht meinte er:
    „Semir sei Dank! … Diese Dinger sind dafür gedacht, unliebsame Besucher von draußen abzuhalten … Voila …!“ und der Riegel ließ sich drehen und die Fensterflügel öffnen. Gierig sog er die einströmende Frischluft in seine Lunge. Draußen brach die Abenddämmerung an. Ben wollte kein unnötiges Risiko eingehen. Um diese Zeit hielten sich die Entführer normalerweise noch auf der Terrasse auf. Zu groß war die Angst vor Entdeckung, darum lehnte Ben sorgsam die Flügel wieder an. Von unten sah es sicherlich so aus, als wäre das Fenster noch verschlossen sein.


    Mindestens noch drei Stunden würde es dauern, bis Elena mit dem Autoschlüssel kommen würde. Drei endlos lang erscheinende Stunden.

    „Leg dich noch ein wenig hin und versuche zu schlafen!“, sagte Anna zu ihm, der sich mittlerweile wieder auf der Bettkante niedergelassen hatte. „Keine Angst, ich bleibe wach und werde dich rechtzeitig wecken.“
    Zu ihrer Überraschung kam kein Protest von ihm. Stattdessen legte er sich hin und war nach wenigen Minuten auch eingeschlafen. Die junge Ärztin traf noch einige Vorbereitungen und ließ sich im Schaukelstuhl nieder. Von da an kroch die Zeit endlos langsam dahin.


    *****
    Zurück am Buchheimer Ring ….


    Der von Oma Else vorgeschlagene Parkplatz am Waldrand war durch etliche Autos überbelegt. Die Transportboxen im Kofferraum der Kombis zeigten Semir, dass hier einige Herrchen oder Frauchen mit Hund zum Gassi gehen geparkt hatten. Die Merheimer Heide war mit ihren Freilaufflächen für Hunde fast ein kleines Paradies.


    Auf dem Seitenstreifen herrschte absolutes Halteverbot. Links neben der Straße befand sich ein befestigter Rad- und Fußweg. Auf der gegenüberliegenden Seite ein ausgewiesener Reitweg, dahinter befanden sich eingezäunte Koppeln oder Felder. Suchend blickte sich der kleine Türke nach einer unauffälligen Parkmöglichkeit um. Letztendlich ließ er den Mercedes bis zu den ersten Wohnhäusern rollen. Dort gab es ausgewiesene Parkflächen, auf denen er den silbernen Mercedes abstellte. Als er das Fahrzeug abschloss, überlegte er kurz, ob er sich bei der Zentrale telefonisch abmelden sollte. Innerlich schüttelte er den Kopf. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass Susanne bereits nach Hause gegangen war und bevor er einem übereifrigen Kollegen, der nicht in die geheime Ermittlungsaktion eingeweiht war, Rede und Antwort stehen musste, verzichtete er darauf.


    Stattdessen fischte er sein Handy aus der Hosentasche und wählte Jennys Nummer. In knappen Sätzen berichtete er von dem Gespräch mit der alten Frau und seiner Absicht, sich die Villa und das Grundstück mal näher anzuschauen. Er verabschiedete sich:
    „Mach dir keine Sorgen Jenny! … Ja, kein Alleingang versprochen … ich passe auf! … Nein, ich riskiere wirklich nichts! … Wir sehen uns morgen früh um acht Uhr im Büro. Ciao … ciao!“ Als er das Gespräch beendet hatte, meldete ein leises Piepen seines Handys „Akku leer, bitte an Ladestation anschließen!“ „Na Klasse, das fehlt mir noch zu meinem Glück!“, kommentierte er die Meldung und schaltete das Handy komplett aus, da ihn das ständige Piepsen nervte.


    Er schätzte die Entfernung zwischen der Wohnsiedlung und dem bewussten Waldstück auf gut fünfhundert Meter. Ein kleiner Abendspaziergang konnte nach dem reichlichen Kuchengenuss bestimmt nicht schaden. Auf dem Rad- und Fußweg folgte der Autobahnpolizist dem Buchheimer Ring, bis er zu der beschriebenen Kreuzung kam, wo der Weg in einen betonierten Flurbereinigungsweg überging. Rechts von ihm war das Waldstück, in dem sich die Villa und deren etwas verborgene Zufahrt befanden. Von dem Flurbereinigungsweg zweigte ein unbefestigter Feldweg ab. Die Anzahl der Hufspuren und Pferdeäpfel zeugten davon, dass er häufig als Reitweg genutzt wurde. Links von Semir befanden sich weitläufige Koppeln und Wiesen. Er ging wieder einige Schritte zurück. Die tief herabhängenden Äste der Bäume verbargen eine asphaltierte Zufahrt zu dem bewussten Grundstück. Es war alles genauso, wie es die alte Frau geschildert hatte.


    Ein von Ästen leicht verdecktes Verbotsschild wies darauf hin, dass es sich um einen Privatweg handelte, mit dem Warnhinweis, dass Unbefugten der Zutritt verboten war. Er folgte der asphaltierten Zufahrt und schon nach wenigen Metern, war es wie das Abtauchen in eine andere Welt. Ein leicht modriger Geruch umfing ihn. Links und rechts säumten alte Bäume den Weg, deren mächtige Äste wie ein Dach über den Weg ragten. Unter den mächtigen Baumkronen wuchsen Sträucher, Farne und ein undurchdringlicher Dickicht von Pflanzen, deren Namen Semir nicht kannte. Der Ruf eines Kuckucks überlagerte das Gezwitscher der anderen Vögel. Doch der Türke hatte in diesem Moment keinen Blick für die Schönheit der Natur.


    Ein schummriges Licht begleitete ihn bis er auf eine kleine Lichtung kam und ein großes Metalltor, das in einer zwei Meter hohen Mauer eingebaut war, erreichte. Rechts neben dem Tor befand sich ein Durchlass in der Mauer, der durch eine kunstvoll geschmiedete Pforte verschlossen wurde. Der jetzige Besitzer des Anwesens schien keinen Wert darauf zu legen, ungebetene Gäste zu empfangen. Auf der Innenseite des Grundstücks hatte ein Mauerer mit Bruchsteinen den Durchgang verschlossen. Der Schlitz für den Briefkasten war zugeschraubt worden. Das Schild, auf dem normalerweise der Name des Bewohners stand, war nicht beschriftet. An der Stelle, wo früher sich ein Klingelknopf befand, klaffte ein Loch in der Mauer. Keine Chance etwas über den Eigentümer zu erfahren! Keine Fuge, keine Ritze zwischen Tor und Mauer, um einen Blick in das dahinter liegende Grundstück zu werfen. Über dem Tor waren Überwachungskameras angebracht. Am linken Torposten war ein Empfangsteil installiert, über das mittels Funksignal das Rolltor geöffnet und geschlossen wurde. Das Anwesen war wie eine Festung, die Fort Knox glich, schoss es dem Türken durch den Kopf, als er sich langsam rückwärts bewegte. Mit seinen Blicken scannte er akribisch das Anwesen vor sich. Keine Möglichkeit auch nur einen winzigen Blick auf das Anwesen zu werfen. Semir schlich ein Stück an der Mauer entlang und suchte irgendeine Möglichkeit, um Einblick auf das Grundstück zu bekommen. Ab und an war das Surren der Kameras zu hören, die über einen Bewegungsmelder gesteuert wurden und ihren Blickwinkel auf verräterische Bewegungen zoomten. Auf der Mauerkrone spiegelten sich im abendlichen Sonnenlicht silberne Drähte. Wer sich so gegen die Außenwelt abschottete, hatte nach Ansicht des Kommissars etwas zu verbergen. So sehr er sich auch bemühte, die Mauer ließ keine Sicht auf das Grundstück zu. Etwas enttäuscht beschloss er wieder zurück zur Zufahrt zu gehen und von dort aus zur Kreuzung am Buchheimer Ring. Etwas ratlos stand Semir da und fuhr sich mit seinen gespreizten Fingern durch das kurzgeschorene Haar. Dabei überlegte er, ob es nicht sinnvoll wäre, Feierabend zu machen. Wahrscheinlich würde Susanne morgen früh mit ihren Fähigkeiten dem Internet und allen ihr zur Verfügung stehenden Datenbanken etwas mehr über den geheimnisvollen Besitzer dieses Grundstücks in Erfahrung bringen können. Mit hängendem Kopf trat der Türke seinen Rückweg zum silbernen Mercedes an.

  • Wie geistig abwesend trottete der Türke auf dem kombinierten Fuß- und Radweg dahin und wäre fast mit einem Radfahrer zusammengestoßen. Er grübelte darüber nach, was ihm die alte Frau über dieses Anwesen und seine Bewohner berichtet hatten und schon nach wenigen Schritten hielt er inne. Da war dieses Kribbeln in seinem Bauch. Sein Instinkt schlug an wie eine Alarmglocke. Semir drehte sich um und sondierte von seinem Standort aus das kleine Waldstück. Irgendetwas zog ihn magisch an, er konnte einfach nicht sagen, was es war.


    Der kleine Türke kehrte um und an der Kreuzung folgte er dem Reitweg, die Mauer und das dahinterliegende Anwesen befanden sich rechts von ihm. Die hohen Bäume, die innerhalb der Mauer standen, erlaubten so gut wie keinen Einblick auf das Anwesen. Ab und an schimmerte das Dach der Villa mit seinen roten Ziegeln durch die Blätter. Als er sich auf der gegenüberliegenden Seite der Einfahrt befand, stand er vor der Entscheidung: Umkehren oder das komplette Grundstück umrunden. Semir entschied sich für das Letztere. Der Weg wurde beschwerlicher. Das offene Gelände verschwand und ging über in das kleines Waldstück, das von einem Bachlauf geteilt wurde. An der Begrenzungsmauer wuchsen Brombeersträucher, Schlehenbüsche und jede Menge anderes Unterholz. Ein ums andere Mal holte sich Semir einige schmerzhafte Kratzer am Arm und fluchte vor sich hin. Der Bachlauf, in dem leise das Wasser plätscherte, verlief mittlerweile parallel zur Mauer. Der Untergrund, auf dem er sich bewegte, wurde etwas abschüssig und das Vorwärtskommen für Semir anstrengender.


    Oma Else hatte davon gesprochen, dass der ehemalige Besitzer das Mauerwerk der früheren Nebengebäude mit in die Außenmauer einbezogen hatte. Der Kommissar hoffte hier einen Schwachpunkt in dem Sicherheitsbollwerk zu finden. Die Sicht in dem Waldstück wurde durch die einsetzende Nacht immer schlechter, als er die bewusste Stelle erreichte. Zweifellos änderten sich hier die verwendeten Mauersteine im Mauerwerk, die roten Ziegelsteine waren selbst in der Dämmerung deutlich erkennbar.


    In diesem Mauerabschnitt waren zwei kleine Nischen, in dem sich zwei kleine vergitterte Fenster befanden. Semir hoffte endlich einen Blick hinter diese Mauer zu werfen. Wieder einmal verfluchte der Türke, dass er einige Zentimeter zu klein geraten war. Auf dem Waldboden suchte er ein paar passende Steine, die den Größenunterschied ausglichen. Mit seinen Händen wischte er die Spinnweben beiseite und rieb mit seiner Handfläche auf dem halbblinden Fensterglas herum. Hinter der Mauer befand sich ein offener Unterstellplatz für PKWs. Das einfallende Restlicht reichte aus, um etwas zu erkennen. Semir pfiff leise vor Überraschung vor sich hin und murmelte: „Wenn das nicht mal ein Volltreffer ist!“


    Da stand ein schwarzer Toyota RAV4. Irgendwie hatte er gegen diesen Fahrzeugtyp seit dem Überfall vor einigen Tagen eine Aversion. Zufall? Teile des Kennzeichens stimmten auf jeden Fall mit der bewussten Nummer überein. Nur bei Ziffernfolge war er sich nicht sicher. 339 oder 933? In Gedanken äffte er den Oberstaatsanwalt nach, wenn er auf Grund dieser Entdeckung einen Durchsuchungsbefehl für das fragliche Grundstück bei der zuständigen Richterin erwirken sollte. „Wie stellen Sie sich das vor Herr Gerkhan? Wo sind die eindeutigen Beweise? Auf Grund von Vermutungen mache ich mich bei keinem Richter lächerlich!“
    Semir brütete darüber nach, was er unternehmen sollte. Verstärkung rufen? Er zog sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es an. Kein Mucks gab das bescheuerte Ding mehr von sich. Akku leer!


    „Scheiß drauf!“, murmelte er vor sich hin. „Sorry Jenny! … Entweder jetzt oder nie!“


    Er wollte unter allen Umständen einen Blick auf dieses Grundstück werfen, dessen Geheimnis bzw. das Geheimnis des Besitzers ergründen.


    So wie es aussah, gab es hier keine extra Absicherung mit Bewegungssensoren, um unerlaubte Besucher abzuhalten. Suchend musterte er die umherstehenden Bäume und deren Äste, ob einer davon als Hilfsmittel zum Übersteigen der Mauer helfen könnte. Nach wenigen Sekunden hatte er ein geeignetes Objekt entdeckt und kletterte mühsam hoch. „Verflucht! Im nächsten Leben werde ich Affe!“, maulte er vor sich hin, als er zum wiederholten Mal auf dem feuchten Moos, das am Baumstamm wuchs, abrutschte und nur durch eine schnelle Reaktion einen Sturz verhindern konnte.


    Allen widrigen Umständen zum Trotz schaffte es der Türke auf das steile Pultdach des Carports zu klettern. Die Dachziegel waren ebenfalls vom feuchten Moos überwuchert und rutschig. Semir balancierte auf den Ziegeln oberhalb der Dachrinne entlang und kämpfte mehr als einmal darum, sein Gleichgewicht nicht zu verlieren. Als der kleine Türke an der Ecke des Unterstandes angekommen war, ging er in die Hocke und hielt einen Moment inne.


    „Verdammt hoch!“ meinte er zu sich selbst. Anschließend legte er sich flach auf das Ziegeldach und robbte bis zur Dachkante. Von seinem Aussichtspunkt sondierte er die Umgebung. Die zweistöckige Villa war ein imposantes Gebäude. Das Erdgeschoss war taghell erleuchtet. Aus dem Obergeschoss fiel nur aus zwei Fenstern ein Lichtschein ins Freie. Die Eingangstür öffnete sich und eine männliche Person trat heraus. Der Mann ließ seinen Blick prüfend umherschweifen. Vor dem erhellten Hintergrund des Hauseingangs zeichnete sich seine Silhouette deutlich ab. In seiner rechten Hand trug er ein Gewehr. Semirs Pulsschlag beschleunigte sich, als er merkte, wie der Wächter das Gebäude, auf dessen Dach er lag, eingehend musterte. Hatte man sein unerlaubtes Eindringen bemerkt?


    Langsam ging sein Gegner die Stufen zum Eingangsportal herunter und schlenderte fast schon gemütlich auf das Carport und die angrenzenden Gebäude zu. Semir drückte sich so nahe wie möglich an das Dach heran und hielt die Luft an. Der Kies knirschte unter den Schritten des Mannes. Eine Tür wurde geöffnet und der Mann rief in einer fremden Sprache etwas in das Innere des Raumes. Das einzige war Semir verstand, war der Name Aleksandar, der mehrmals fiel. Der Stimmlage nach zu urteilen, schien der Mann mächtig sauer zu sein. Von drinnen antwortete eine jugendlich klingende Männerstimme, deren Tonfall vor Übermut strotzte. Kurz darauf polterte jemand eine Holztreppe herunter. Wild diskutierend und gestikulierend gingen die beiden Männer zusammen zurück ins Haus.


    Semir zog ein Fazit: Mindestens zwei Gegner und im Haus hatte er noch eine dritte männliche Gestalt erkennen können. Keuchend atmete er mehrmals durch und wog seine Chancen ab. Abbrechen und mit Verstärkung zurückkehren, nur einen Durchsuchungsbefehl würde er nicht bekommen, da war er sich sicher. Ironisch lachte er vor sich hin. Einfach am Tor klingeln und um Einlass bitten, ging ja nicht. Sonstige Annäherungsversuche waren vermutlich bei den Zeitgenossen, die dieses Fort Knox bewohnten, aussichtslos. Er zögerte noch einige Sekundenbruchteile und dann siegte seine Neugierde oder war es sein Bauchgefühl, welches ihn antrieb, er vermochte es später nicht zu sagen.


    „Scheiß drauf!“, murmelte er vor sich hin. „Tut mir leid Jenny, wird doch ein Alleingang!“, sprach es aus und sprang in die Tiefe.

  • Das feuchte Gras dämpfte seinen Aufprall. In der Hocke verharrend lauschte er. Semir ließ seinen Blick an der Fassade hinter sich in die Höhe gleiten. An dieser Stelle kam er nicht mehr nach oben auf das Dach, außer er würde unter die Fassadenkletterer gehen. Dicht an die Wand gedrückt, huschte er in das Innere des Carports. Er wollte unbedingt das letzte Licht der Abenddämmerung ausnutzen und einen Blick in den bewussten schwarzen Toyota werfen.


    Im Carport war es schon düster und die Augen des Kommissars benötigten ein paar Minuten, bis sie sich an die diffusen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Er presste seine Stirn förmlich gegen die Scheibe der Beifahrertür. Da waren sie! Auf dem hellgrauen Sitzpolster zeichneten sich die dunklen Flecke eindeutig ab. Auch ohne Harmuts Technik Equipment war sich Semir sicher, das war eingetrocknetes Blut. Das war das Fahrzeug seiner mutmaßlichen Entführer. Er verharrte noch einige Minuten im Carport und überlegte, was er weiter unternehmen sollte. Der eindeutige Beweis, dass die Bewohner der Villa etwas mit seiner Entführung zu tun hatten, stand neben ihm. Sein Spürsinn sagte ihm noch etwas anderes: Er war am Ziel seiner Suche angekommen, dem Versteck von Gabriela Kilic. Eine quälende Frage blieb: Würde er auf dem Grundstück Ben und Anna finden und waren seine Freunde noch am Leben. Es gab keinen Weg zurück, er brauchte Gewissheit. Langsam schlich er zur Ecke des Carports, von dort hatte er einen direkten Blick zur Villa.


    Die Dunkelheit der Nacht war endgültig hereingebrochen. Der Vollmond spendete ein bisschen Licht. An der Außenmauer schlich er entlang und beobachtete dabei die Villa, in der mehr und mehr Lichter erloschen. Mehr als einmal brachen unter seinen Schritten morsche Zweige, was er mit wortlosem Fluchen quittierte. Gras und Unkraut wucherten und reichten Semir teilweise bis zur Hüfte. Er würde für seine Gegner eine deutlich sichtbare Spur hinterlassen. Die musste am kommenden Morgen schon auf beiden Augen blind sein, wenn sie sein Eindringen nicht bemerkten. Doch das interessierte ihn nicht, sein Jagdfieber war erwacht. Auf der Rückseite des Hauses entdeckte er zwei weitere Fenster im ersten Stock, die erleuchtet waren. Die Umrisse einer Frau wurden darin erkennbar: Anna! Das war zweifellos Bens Freundin. Das Adrenalin schoss Semir ins Blut und verursachte ein Gefühlschaos. Zum einen war da der innerliche Triumpf, er hatte sie endlich gefunden. Zum anderen war da die Gewissheit selbst in der Falle zu sitzen, auf diesem Grundstück gefangen zu sein.


    Er lehnte sich an den Baumstamm einer riesigen Blutbuche, verschmolz mit dessen Umriss und verharrte dort regungslos. Die tiefhängenden Äste der Buche schützten ihn zusätzlich vor den Blicken seiner möglichen Gegner. Die Kühle der Nacht kroch langsam in seine Glieder. Der Hochsommer mit seinen tropischen Temperaturen hatte für ein paar Tage eine Pause eingelegt. Dementsprechend sanken die Temperaturen nachts ab. Die Feuchtigkeit des Nachttaus stieg langsam aus der Grasfläche empor und legte sich wie ein sanfter Schleier darüber. Semir beobachtete die beiden bewussten Fenster weiter. Kein Ben, war zu sehen!


    Es widerstrebte dem Türken, bis zum kommenden Morgen abwarten zu müssen, um zu erfahren, was mit Ben geschehen war. Er wollte Gewissheit darüber haben, ob sein Freund und Partner noch am Leben war. In seinem Magen kribbelte es vor Aufregung. Die Gänsehaut lief ihm über den Rücken, denn nur Anna erschien wiederholt im Fenster. Auf einmal öffnete sie einen Fensterflügel, lehnte sich leicht nach draußen und schien die Umgebung genau zu sondieren. Semir hatte das Gefühl ihr Blick traf ihn. Hatte sie ihn im Schatten des Baumes entdeckt? Sein Bauchgefühl regte sich erneut und er traf eine Entscheidung.
    Der Kommissar nahm die Fassade des Hauses genauer in Augenschein, soweit es ihm bei diesen bescheidenen Lichtverhältnissen möglich war. Eine riesige Terrasse erstreckte sich weit in den parkähnlichen Garten hinein. Rechts oberhalb befanden sich die bewussten Fenster, in denen er Anna entdeckt hatte. Zwischen der Terrasse und diesem Zimmer rankte sich eine Kletterrose in die Höhe, deren gelben Blüten selbst im schummrigen Mondlicht deutlich erkennbar waren. Ein Gesims, der das Erdgeschoß vom Obergeschoß optisch trennte, ragte hervor und umlief das komplette Gebäude. Ob dieses Bauteil auch in der Lage war sein Gewicht zu tragen? Wie hieß ein altes Sprichwort: Wer nicht wagt, der nicht gewinnt! Das Licht erlosch in dem bewussten Zimmer. Auch im Erdgeschoß gingen langsam die nächsten Lichter aus.
    Semir schlich sich vorsichtig näher ans Haus heran und nutzte die Sträucher und Büsche als Deckung. Aus einem der geöffneten Fenster im Erdgeschoß drang das hilflose Wimmern einer Frau an sein Ohr. Es klatschte mehrmals … Haut auf Haut … jemand schlug die Frau, deren Schmerzensschreie gingen dem Türken durch Mark und Bein. . Achtsam huschte er an der Wand entlang und riskierte durch das offene Fenster einen Blick ins Innere des Hauses. Eine brünette junge Frau kniete auf dem Fußboden in der Küche und wischte eine Flüssigkeit auf. Sie wimmerte leise vor sich hin. Unter dem Türrahmen stand ein etwa fünfzigjähriger Mann, südländischer Typ mit Glatze und einem gestutzten schwarzen Vollbart, der hämisch vor sich hin grinste. Deine Fratze merke ich mir, schwor der Türke sich innerlich. Er musste sein Temperament zügeln, um nicht mit gezückter Waffe ungestüm ins Haus zu stürmen und die Frau aus ihrer hilflosen Lage zu befreien. Sein Inneres glühte vor Zorn. Seine Hände waren vor Wut zu Fäusten geballt. Er konnte es nicht länger mit ansehen und schlich rückwärts. Mit seinem Rücken berührte er die warme Hauswand und verharrte regungslos. In ihm brodelte und kochte es, als es wieder klatschte. Die tiefe Männerstimme brüllte der Frau Befehle in einer fremden Sprache zu. Innerlich nahm er sich vor, dem Kerl, der die Frau schlug, noch eine persönliche Rechnung zu präsentieren. Immer wieder redete er sich ein, das ist nicht Anna, beruhige dich. Wenn du jetzt der Frau hilfst, gefährdest du vielleicht alles.


    Semir zog sich zurück bis zum Rosenspalier, atmete tief durch und steckte seine Pistole zurück in das Holster. Argwöhnisch betastete er die Rankhilfe und überprüfte deren Befestigung an der Hauswand. Sein Blick wanderte an der Kletterrose nach oben. Da würde er sich definitiv ein paar blutige Finger holen. Behutsam setzte er einen Fuß nach dem anderen in die metallene Kletterhilfe und hangelte sich nach oben bis er das Gesims erreicht hatte. Mit Bedacht, den Rücken förmlich an der Hauswand klebend, schob er sich auf dem schmalen Sims in Richtung des Raumes, in dem Anna gefangen gehalten wurde. Die dunklen Flecken an der Hauswand entpuppten sich als Sichtschutzblenden, die mit ihrem Schienensystem ein weiteres Hindernis auf dem Weg zu Anna waren. Wortlos fluchte der Türke vor sich hin. Wenn er das geahnt hätte? Mehr als einmal war er kurz davor das Gleichgewicht zu verlieren und abzustürzen. Mit seinen Fingernägeln krallte er sich in die Ritzen der Jalousien und suchte Halt. Ja nicht nach unten schauen, redete er auf sich ein. Schweißgebadet erreichte er das bewusste Fenster, drückte leicht dagegen und die Fensterflügel öffneten sich nach innen. Semir blendete den Gedanken aus, was geschehen wäre, wenn das Fenster verschlossen gewesen wäre und kroch über das Gitter förmlich in das Zimmer hinein.
    Während seine Augen sich an die veränderten Lichtverhältnisse in dem Raum gewöhnten, versuchte er seine hektische Atmung etwas zu beruhigen. Von seiner Position am Fenster aus scannte er das Zimmer. Gegenüber war eine Tür angelehnt, durch den schmalen Spalt zwischen Türblatt und Rahmen fiel ein schmaler Lichtstreifen, der etwas Helligkeit spendete. Es handelte sich um ein Schlafzimmer. Im Bett zeichnete sich die Kontur einer schlafenden Person mit dunklen Haaren ab. Ben!!!! Da lag Ben! … Durchfuhr ihn die Erkenntnis! Kein Zweifel, da war das Tattoo an seinem linken Oberarm. Wie eine Lawine strömte eine Welle von Glücksgefühlen durch Semirs Körper. Oh mein Gott, da machte er sich verrückt und der verdammte Kerl lag hier in einem Bett und pennte friedlich vor sich hin.


    Semir hatte den Gedanken noch nicht richtig zu Ende geführt, als Ben anfing, sich zu bewegen und umzudrehen. Ein gequältes Stöhnen begleitete die Bewegungen im Bett. Das Echo kam aus dem angrenzenden Badezimmer. Annas Stimme klang besorgt.
    „Ben? …Ben, was ist los? Brauchst du Hilfe, ich bin gleich bei dir!“


    Das Rauschen der Toilettenspülung drang an Semirs Ohr, gefolgt vom Plätschern des Wasserhahns, als Anna sich die Hände wusch. Dem Türken wurde schlagartig bewusst, dass sein Freund und Partner schwer verletzt sein musste. War das der Grund, warum ihn seine Entführerin Gabriela Kilic in einem Schlafzimmer untergebracht hatte? In seinem Kopf begann es zu rotieren … ein Puzzleteil passte ins andere und zurück blieb die bittere Erkenntnis, dass die Verletzungen sehr schwerwiegend sein mussten. Die Entführung von Anna … der Diebstahl der Notfall-Ausrüstung aus dem Rettungswagen … die Einkäufe der jungen Frau in der Apotheke … alles bekam einen Sinn.

    Sämtliche Nackenhärchen stellten sich bei ihm auf und sein Magen zog sich zu einem Klumpen zusammen. Doch es blieb ihm keine Zeit länger darüber nachzudenken.


    Es wurde für den Kommissar Zeit zum Handeln. Unter allen Umständen wollte Semir verhindern, dass Anna bei seinem Anblick vor Schreck aufschrie. So schnell es ihm der unbekannte Raum erlaubte, huschte er zur Badezimmertür. Er war diesen gewissen Sekundenbruchteil zu spät dran. Noch bevor Semir es schaffte, seine Hand der erschrockenen Anna auf dem Mund zu pressen, entfuhr deren Kehle ein schriller angsterfüllter Aufschrei, der wahrscheinlich im letzten Winkel des Hauses zu hören gewesen war. Mit weit aufgerissenen Augen, aus denen das Weiße hervorleuchtete, starrte sie den Türken wie ein Gespenst aus einer anderen Welt an.

  • „Scht… Scht … Anna! … Ich bin es wirklich!“, wisperte Semir beruhigend auf die schockierte junge Frau ein und drängte sie zurück ins Badezimmer. Sämtliche Farbe war aus Annas Gesicht gewichen. „Alles gut? Kann ich meine Hand wegnehmen?“, vergewisserte er sich. Die junge Frau nickte. Ihre Augen schimmerten feucht.


    *****


    Ben lag mit geschlossenen Augen auf seiner rechten Seite im Bett. Ein unbekanntes Geräusch hatte ihn geweckt. Unbewusst hatte er sich über den Rücken auf seine lädierte Körperhälfte gedreht, um das Bett neben sich abzutasten. Sein Körper protestierte mit einem stechenden Schmerz gegen die unbedachte Bewegung. Unwillkürlich stöhnte er laut auf. Anna war weg. Ihre Antwort aus dem Bad ging in der Welle des Schmerzes unter. Langsam wurde der Schmerz erträglich, er riss die Augen auf und blickte sich suchend im Raum um. Wo war seine Freundin abgeblieben? Dann erklang ihr hysterischer Schrei im Badezimmer. Ein eiskalter Schauder durchfuhr seine angespannten Glieder. Sein Kopf signalisierte, Anna befindet sich in Gefahr. Ein Lichtschein fiel durch den Türspalt ins Schlafzimmer. Ben sah die schemenhafte Bewegung von zwei Menschen. War der Grauhaarige oder einer seiner Schergen gekommen und wollte sich seine Freundin holen? Ben war sich sicher, dass Anna seine Hilfe benötigte. Er rief nach ihr. „Anna? … Anna was ist los?“ … Keine Antwort … Die Angst um seine Freundin ließ ihn unüberlegt in die Höhe fahren und ein teuflischer Schmerz durchfuhr seine lädierte linke Seite. Gequält schrie er vor Schmerz auf. Ein Sternenmeer blitzte vor seinen Augen auf. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Der Wundschmerz drängte alles in den Hintergrund, verschwommen nahm er wahr, dass das Licht im Zimmer aufleuchtete. Seine Hände krallten sich in die Zudecke und er versuchte krampfhaft seinen Atemrhythmus unter Kontrolle zu bringen und den Schmerz weg zu atmen.


    *****


    Aus dem angrenzenden Schlafzimmer rief Ben mit einer schmerzverzerrter Stimme „Anna? … Anna? … Was ist?“


    Die Ärztin schob Semir zur Seite und flüsterte: „Ich muss zu ihm. Bleib hier und rühre dich nicht vom Fleck! Egal was passiert! Verstanden!“

    Denn Anna ahnte, was gleich geschehen würde. Hastig streifte sie ihre Jogginghose ab und knipste das Licht im Schlafzimmer an. Als sie die Tür zum Badezimmer hinter sich schloss, wurde die Zimmertür aufgerissen und der älteste der Kovac Brüder stand mit gezogener Waffe unter dem Türrahmen. Der Glatzkopf wollte sich scheinbar zum Schlafen hinlegen, denn er trug nur eine lange Schlafanzughose. Sein entblößter Oberkörper war von Tattoos übersät. Doch dafür hatte Anna kein Auge. Wütend blaffte er los „Was ist los Weib? Was schreist du mitten in der Nacht herum?“
    „Da war eine riesige Spinne!“, nuschelte Anna vor sich hin und deutete auf eine Ecke am Schrank.

    Iwan Kovacs Blick wanderte zu der bewussten Stelle an der Wand. Anna nutzte die Zeit, lief rückwärts zum Fenster und drückte die Flügel zu. Sorgsam beobachtete sie dabei den Serben. Mit ihrem Gesäß lehnte sie sich gegen die Fensterbank und versuchte so den beschädigten Fensterriegel zu verdecken.


    Prüfend schaute Iwan Kovac sich in der Zimmerecke um. „Ich sehe nichts!“, brummte er genervt vor sich hin. „Hysterisches Weib. Hältst wahrscheinlich schon Schatten an der Wand für kleine Krabbelviecher!“ und wandte sich ihr wieder zu. Sein Blick blieb an Annas Körper hängen. Diese trug nur noch ein zu groß geratenes T-Shirt, welches ihre körperlichen Reize kaum bedeckte. Begehrlich blitzten seine Augen auf und er leckte sich über die Lippen. „Echt schade Schätzchen, dass Remzi ein Auge auf dich geworfen hat. Dich hätte ich auch gerne mal vernascht.“ Er deutete auf Ben, der vor Schmerzen gekrümmt und mit geschlossenen Augen im Bett lag. „Was ist mit dem? … Hast du den aus Versehen getreten, als du aus dem Bett gesprungen bist?“, lachte der Glatzkopf amüsiert auf. „Keine Sorge, dein Bulle hat sowieso ausgespielt. Gabriela ist in Anmarsch. Genieße deine letzten Stunden mit ihm!“, verhöhnte der Serbe die Gefangenen und lachte hämisch vor sich hin. „Angenehme Nachtruhe und keinen Mucks mehr! Verstanden!“

    Sein schallendes Lachen war noch zu hören, als die Tür ins Schloss fiel und der Schlüssel umgedreht wurde.


    Verschwommen nahm Ben wahr, was um ihn herum passierte. Als er Annas Stimme vernahm, beruhigte ihn das vorerst. In diesem Moment hätte er ein kleines Vermögen für ein Schmerzmittel gegeben, das seine Not lindern würde. Der dunkelhaarige Polizist konzentrierte sich auf seinen Herzschlag und versuchte seine keuchende Atmung unter Kontrolle zu bringen. Langsam ebbten die Schmerzwellen des Wundschmerzes und seiner Rippenpartie ab, die Feuerlohen, die in seinen Eingeweiden getobt hatten, wurden erträglich. Er hatte die Ankündigung von Gabrielas Rückkehr gehört. Adrenalin schoss in seine Blutbahnen und überlagerte den Schmerz. Die Uhr tickte unaufhaltsam runter. Es blieb ihnen für eine mögliche Flucht nicht mehr viel Zeit, egal wie schlecht seine körperliche Verfassung war. Egal, wie stark seine Schmerzen waren.
    Nachdem der Söldner das Zimmer verlassen hatte, setzte sich Anna neben ihm auf der Bettkante redete beruhigend auf ihn ein. Zärtlich strich ihre Hand über seine schweißnasse Stirn, eine andere Hand umschlang die seine.

    „Scht … Ben … Beruhige dich! … Mir ist nichts passiert.“
    Ben zwang sich seine Augenlider zu öffnen. Ihre Blicke begegneten sich. Ihre Augen schimmerten feucht.
    „Dein Schrei? … Was ist geschehen?“, hauchte er gequält. „Ich hatte Angst … um dich! … Wollte dir helfen! … Da war keine Spinne an der Wand! … Jemand war bei dir im Badezimmer!“
    „Alles ist gut, glaube mir!“ Anna lupfte die Zudecke etwas zur Seite und schob seine Hand von der Schusswunde am Bauch weg. „Lass mich sehen, ob die Wunde durch deine unbedachte Bewegung wieder aufgebrochen ist?“
    Ben hielt ihre Hand fest. „Es geht wieder! … Keine Sorgen, nichts passiert! … War nur ein schmerzhafter Gruß von meinen Rippen.“

    Er stützte sich auf seinen rechten Unterarm und richtete sich ein bisschen auf. Mit seiner anderen Hand wischte er ihre Tränen auf der Wange zur Seite und zog sie zu sich heran, bis sich ihre Lippen berührten und sie in einen innigen Kuss versanken. Als sie sich voneinander lösten, murmelte er leise in einem beschwörenden Tonfall: „Glaubst du mir jetzt? Es gibt keinen anderen Ausweg auf Rettung. Wir müssen fliehen! … Heute Nacht oder am besten sofort!“


    Semir stand hinter der Badezimmertür und verfolgte mit entsicherter Waffe in der Hand das Geschehen im angrenzenden Schlafzimmer. Die Erleichterung darüber Ben und Anna lebend vorgefunden zu haben, wich angesichts der Drohung, die der Serbe vor wenigen Minuten ausgesprochen hatte. Die Kilic würde in den nächsten Stunden zurück nach Köln kommen. Für ihn hatte es sich so angehört, als hätte diese Hexe die Absicht Ben am morgigen Tag umzubringen. Die Zeit wurde ein kostbarer Faktor. In diesem Moment verfluchte er seinen Leichtsinn, dass er ohne Rückendeckung diesen Alleingang gestartet hatte. Kein Mensch ahnte, wo er sich befand, dass er zusammen mit Ben und Anna in dieser Villa in einer Falle saß. Frau Krüger war in Wiesbaden und würde frühestens am morgigen Nachmittag auf der Dienststelle zurück erwartet. Und Jenny? Seine junge Kollegin würde ihn frühestens morgen früh vermissen, wenn er nicht pünktlich zu Dienstbeginn erscheinen würde. Bis die Suche nach ihm anlief, man vielleicht über Oma Else auf eine heiße Spur stieß, konnte alles zu spät sein.

  • Der Türke schloss die Augen und atmete mehrmals tief durch. Anschließend öffnete er leise die Tür. Die Stuckleisten an der Decke mit ihren integrierten LED-Leuchten tauchten das Schlafzimmer in ein angenehmes Licht. Er ließ durch den schmalen Türspalt seinen Blick durch den Raum schweifen und vergewisserte sich, dass sich niemand außer ihm Ben und Anna im angrenzenden Zimmer befanden. Der Anblick von Bens Rücken ließen den Türken in eine Art Schockstarre verfallen. Was die Dunkelheit vor wenigen Minuten noch verborgen hatte, brachte die Beleuchtung schonungslos hervor. Unzählige Cuts, tiefrote Striemen, auf den teilweise noch eine Kruste aus getrocknetem Blut lag, überzogen zusammen mit feuerroten Brandwunden den Oberkörper seines Partners. Die Hämatome, die seinen Rücken überzogen, schillerten in gelb und grün Tönen. Der weiße Verband oberhalb der Hüfte bildete einen krassen Kontrast.


    „Oh mein Gott!“, entfuhr es Semir mit einer vor Entsetzen bebenden Stimme, „was haben dir diese Schweine bloß angetan, Ben?“

    Er schritt auf das Bett zu, umrundete es und blieb neben Anna stehen. Beim Klang von Semirs Stimme fuhr Ben vor Schreck zusammen und er versuchte sich in dessen Richtung zu drehen. Die leichte Bewegung löste erneut eine Schmerzenswelle in seinem Unterbauch aus. Ein leises Stöhnen kam über seine Lippen. Aus dem Augenwinkel sah er die schemenhaften Umrisse seines Partners.


    „S…e…m…i…r? …Bist du das wirklich?“, hauchte er heiser. „Kein Traum?“


    „Ja!“, bestätigte der kleine Türke und ergriff die Hand, die sich vom Bett ihm entgegenstreckte. „Ja Ben! … Ich bin es wirklich! Ich habe euch endlich gefunden!“ Semir konnte seine Erschütterung nicht verbergen, als er in Bens ausgemergeltes und schmerzverzerrtes Gesicht blickte. Nochmals murmelte er fast unhörbar vor sich hin: „Was haben diese verdammten Schweine dir nur angetan?“


    Die Verletzungen auf der Brust und dem Bauch seines Partners, soweit sie nicht von dem weißen Verband verdeckt waren, glichen denen auf dem Rücken.


    Ein leichtes Lächeln huschte über Bens Gesicht. „Ich dachte, du hättest mich vergessen! … Die Hoffnung schon aufgegeben, das du nach mir suchst … und jetzt … jetzt bist du da … wirklich da!“, raunte der verletzte Polizist seinem Freund zu.

    Er zog Semir zu sich herunter, der vor dem Bett auf die Knie fiel. Vergessen waren in diesem Augenblick die Schmerzen, überlagert von den Hormonen, die sein Körper vor Glück ausschüttete. Mit seinen Armen umschlang Ben den Türken, drückte sich an dessen Brust, spürte dessen Körperwärme, hörte dessen Herzschlag und fing an zu schluchzen. Der junge Polizist konnte und wollte auch nicht seine Emotionen unterdrücken. Ein Tränenstrom bahnte sich seinen Weg und durchnässte das Shirt des Türken. Dieser war ebenfalls in seinen Gefühlen gefangen und presste seinen Freund an sich.


    „Oh mein Gott Ben! … Warum habe ich dir nicht von Anfang an geglaubt? … Oh mein Gott, warum nur? … Tut mir leid Partner! … Tut mir so unendlich leid! ...“


    Nun war es auch um die Beherrschung des Türken geschehen. Seine Tränen tropften in das wuschelige Haar seines Freundes.


    „Oh Semir! …!“ Den Rest von Bens Satz erstickten seine Tränen und Schluchzen.


    Anna standen ebenfalls die Tränen in den Augen. Hoffnung! Die Hoffnung auf Rettung und eine erfolgreiche Flucht waren zurückgekehrt. Sie ließ die nächsten Minuten die beiden Männer, die völlig im Rausch ihrer Emotionen gefangen waren, in Ruhe. Leise schlich sie zur Zimmertür und drückte ihr Ohr daran. Draußen im Treppenhaus und der Eingangshalle herrschte für diese späte Nachtstunde eine ungewöhnliche Unruhe in der Villa. Die Worte von Iwan Kovac kamen ihr in den Sinn: Ihre letzten Stunden mit Ben!


    *****


    Mitternacht – in der Villa
    Nach der emotionsgeladenen Begrüßung mit seinem Freund erlangte Semir als erster seine Fassung wieder. Ben hatte sich wie ein Ertrinkender an ihn geklammert. Sein Körper des jungen Polizisten bebte vor Erregung. Sanft löste Semir die Hände seines Partners von seinen Nacken, der sich daraufhin auf das Kopfkissen zurücksinken ließ. Mit dem Daumen trocknete der Türke die Tränen seines Freundes.


    „Geht es wieder?“


    Im Lichtschein konnte der Türke erkennen, wie Ben nickte. „Wo sind die anderen? Die Krüger? … Das SEK?“, fragte er mit einem leichten vibrierenden Tonfall.


    „Die anderen?“, wiederholte der Türke nachdenklich und setzte sich neben Ben auf die Bettkante. Mit seinem Blick suchte er nach Anna, die noch regungslos an der Zimmertür stand und ihn voller Hoffnung anschaute. „Es gibt keine anderen! Ich bin alleine hier!“
    „Alleine?“, hauchte Anna und merkte wie ein Anflug von Panik die Freude wegwischte.
    „Die Suche nach euch war alles andere als einfach! Eine Stecknadel im Heuhaufen ist leichter zu finden, als diese Villa mitten in Köln!“, versuchte der Türke sich zu rechtfertigen. „Macht euch keine Sorgen! Ich habe mich ordnungsgemäß bei Jenny abgemeldet und die weiß ungefähr wo ich mich aufhalte. Dein Dienstwagen steht einige hundert Meter Luftlinie von hier entfernt. Spätestens morgen früh, wenn ich zu Dienstbeginn nicht auftauche, wird Jenny Alarm schlagen!“ Semir spürte, wie die Hand seines Freundes Kontakt zu seiner suchte, diese umschlang und krampfhaft festhielt. „Die Kollegen werden uns finden, glaubt mir!“


    „Du hast doch ein Handy! Ruf Jenny oder die Krüger an!“, forderte Ben ihn auf, „wir brauchen Hilfe!“
    Der Türke fischte sein Smartphone aus der Hosentasche und hielt es Ben hin. „Der Akku ist leer. Die paar Stunden werden wir noch überstehen und dann …!“


    „Du kapierst es wohl nicht Semir! Wir haben keine paar Stunden mehr Zeit!“, fauchte Anna leise, während sie näher ans Fußende des Bettes herantrat. „Falls es dir vorhin entgangen ist, die Kilic ist mit ihren Handlanger auf dem Weg hierher zurück. Wer weiß, wen die noch alles im Schlepptau hat. Ihr Eintreffen bedeutet Bens Todesurteil! Unser Todesurteil! Schau dir Ben an! Diese Frau kennt keine Gnade!“ Ihre Hände krallten sich in die obere Eisenstange des Bettgestells, bis das Weiße an ihren Fingerknöcheln hervortrat. „Die Zeit zum Handeln ist gekommen. Wir müssen fliehen! Heute Nacht! … Morgen früh wird alles zu spät sein!“


    Semir erhob sich mit einem Aufseufzen, ging zum Fenster und blickte nach unten und musterte seinen verletzten Freund. Energisch schüttelte er den Kopf. „Wie habt ihr euch das vorgestellt?“ Er hatte sich wieder umgedreht und schaute zum Bett. Anna hatte sich zwischenzeitlich neben ihren verletzten Freund auf die Bettkante gesetzt. „Wie soll bitteschön Ben in seinem Zustand darunter klettern. Habe ich es mit Mühe und Not geschafft, nach oben zu kommen. Oder wollt ihr einfach durch diese Tür da raus spazieren?“ Semir deutete mit seinem ausgestreckten Arm in Richtung der Zimmertür. Auf seiner Stirn hatten sich tiefe Sorgenfalten eingegraben. „durch das Treppenhaus zur Haustür ins Freie marschieren? … In der Hoffnung, dass euch keiner von diesen Verbrechern bemerkt und aufhält!“

    Wieder wurde dem Türken in diesem Augenblick bewusst, dass sein Alleingang ohne Rückendeckung wahrscheinlich ein verhängnisvoller Fehler gewesen war. Selbst wenn Jenny die Kollegen zu Dienstbeginn alarmieren würde, stand sein Auto über einen halben Kilometer von dem riesigen Anwesen entfernt bei der Wohnsiedlung.


    Anna tastete unter der Matratze und zog etwas Blaues hervor. „Elena hat ein Seil besorgt, mit dessen Hilfe wir uns abseilen wollten!“
    „Wer zum Teufel ist Elena?“, unterbrach Semir sie etwas ungehalten. Die Nerven lagen bei dem älteren Autobahnpolizisten blank.
    „Die junge Frau, die mit uns hier gefangen gehalten wird. Nur mit einem Unterschied, sie kann sich im Haus frei bewegen. Vom Rest reden wir lieber nicht!“, erklärte ihm Anna.


    Auch ohne weitere Worte verstand der Türke, um welche Person es sich handelte. Die Frau, die in der Küche von dem Glatzkopf verprügelt worden war. Ben schaltete sich mit in das Gespräch ein. Semir nahm gegenüber von Anna auf dem Bett Platz. Mit wenigen Worten machte der Verletzte seinem Freund die Situation und seinen Fluchtplan begreiflich.


    „Das grenzt doch an Selbstmord Ben!“, meinte der Türke kopfschüttelnd. „Ihr seid komplett verrückt!“
    „Nein! … Wir haben keine andere Wahl Partner! Dein Auftauchen ist wie ein Joker in einem Kartenspiel! Er vergrößert unsere Chancen um hundert Prozent!“, gab Ben zurück.


    Semir verbiss sich den Kommentar, der auf seiner Zunge lag und dachte bei sich ‚Vorher lagen die Chancen bei gleich null Prozent!‘

  • Anna ging ins Badezimmer, um sich für die Flucht anzukleiden. Als die Tür bis auf einem kleinen Spalt geschlossen war, zog Ben Semir zu sich herunter bis dessen Ohr ganz nahe bei seinem Mund war und wisperte: „Versprich mir etwas Partner! … Bring Anna in Sicherheit! Egal was mit mir ist. Lass mich notfalls zurück! … Selbst wenn es mein Leben kostet, rette sie!“
    „BEN …!“, erwiderte Semir entsetzt, „Du weißt, was du von mir verlangst?“
    „Versprich es mir einfach!“
    „Ich verspreche dir nur eines! Ich lasse niemanden in dieser Hölle zurück!“, gab der Ältere grimmig mit einer entschlossenen Miene zurück.


    Die Ärztin kehrte währenddessen ins Schlafzimmer zurück. Aus einer Schublade der Kommode zog sie einige Kleidungsstücke für Ben, die sie auf dem Bett bereit legte. Dazu kam Verbandsmaterial. Zuerst verabreichte sie dem Verletzte eine kleine weiße Pille, die sie auf ihrer Arzttasche zauberte.

    „Die letzte Schmerztablette!“, kommentierte sie ihr Handeln. „Setz dich mal aufrecht hin!“, forderte sie ihn auf und half ihrem Freund beim Aufrichten. Anschließend legte sie ihm einen straffen Verband um die Bauchwunde und die unteren Rippen an, die auf der linken Seite ihrer Ansicht nach angebrochen waren. „So das sollte halten! Für dein Bein habe ich mir auch etwas einfallen lassen.“ Aus dem Kleiderschrank hatte Anna zwei kurze Kleiderstangen geholt, die als zusätzliche Stütze für das angebrochene Bein dienen sollten. Geschickt fertigte sie einen strammen Verband um den rechten Unterschenkel an. „Das sollte dir die nötige Stabilität geben!“ Sie half ihm noch ein Shirt über den Oberkörper zu streifen und eine Jogginghose anzuziehen. Zum Abschluss zog sie dem Verletzten noch ein Paar dicke Socken an. Schuhe gab es nicht für den Verletzten.


    Ben atmete innerlich auf, als Anna fertig war. Zwar hatte er es mehrfach geschafft, ein lautes Stöhnen zu unterdrücken, doch Semir konnte auf dem maskenhaft starren Gesicht seines Freundes ablesen, wie schmerzvoll die Prozedur für ihn gewesen war.


    „Am besten du legst dich noch ein bisschen hin und ruhst dich aus, bis Elena hier auftaucht. Ich habe noch was zur Stärkung!“ Anna reichte ihm zwei Bananen, die Ben mit Appetit verschlang. Langsam ließ er sich zurück auf die Matratze sinken und war wenig später vor Erschöpfung eingeschlafen.
    „Gönnen wir ihm eine Mütze voll Schlaf! Wer weiß, für was die paar Minuten Erholung noch gut sein werden!“, meinte Anna.


    *****


    Auf der A3 Fahrtrichtung Köln – Höhe Limburg – zur gleichen Zeit


    Gabriela hatte es sich auf der Rücksitzbank gemütlich gemacht und döste vor sich hin. Camil stand seitlich vor dem Audi an die Motorhaube gelehnt. Er nutzte die Wartezeit und telefonierte mit seiner Freundin in Kroatien. Ab und an leuchtete ein roter Punkt in der Dunkelheit auf, wenn er an seiner Zigarette zog. Sein Blick war dabei auf die Unfallstelle gerichtet, die von Riesenscheinwerfern des THWs ausgeleuchtet wurde. Seit einer Stunde bemühten sich die Rettungskräfte mit einem Autokran den beschädigten LKW zu bergen. „Wenn alles wie geplant verläuft, ist der Job hier in Deutschland an in ein paar Tagen erledigt und ich bin spätestens am kommenden Wochenende wieder bei dir. Ich liebe dich mein Schatz!“. Er tippte auf den roten Hörer seines Smartphones und beendete das Gespräch. Ungeduldig steckte er sich die nächste Zigarette an. Vor seinen Füßen lagen bereits ein Dutzend Kippen.


    „Na endlich!“, entfuhr es ihm, als das kaputte Fahrzeug an einem Abschleppfahrzeug hing und abtransportiert wurde und warf die halb gerauchte Kippe achtlos zur Seite. Er klopfte gegen die Scheibe der Hintertür des Audis. Die Kroatin öffnete die Autotür und schaute ihn aus verschlafenen Augen erwartungsvoll an.


    „Es geht weiter. Die Polizei hat eine Fahrspur freigegeben. Soll ich Remzi Bescheid geben?“
    Ihr Blick richtete sich auf die digitale Uhr im Display des Armaturenbretts. Eine Stunde nach Mitternacht! Sie schürzte die Lippen und antwortete: „Nicht jetzt! Wenn wir bei Heumar von der Autobahn fahren, geben wir ihm Bescheid. Dann kann er die Russin wecken, damit die uns etwas zum Essen zubereitet.“


    Zögerlich löste sich der Stau auf. Gabriela und Camil setzten ihre Fahrt nach Köln fort. Wenn alles gut ging, sollten sie so gegen zwei Uhr nachts an der Villa eintreffen.

  • Zurück in der Villa …


    Das Warten auf Elena hatte begonnen. Während Ben schlief, nutzte Anna die Gelegenheit um Semir klar zu machen, welche Rolle die junge Frau in den vergangen Tagen gespielt hatte und warum sie bereit war, auf ihre Leidensgenossin zu warten. Sie hatten sich in das Badezimmer zurückgezogen. Die raffinierte Beleuchtung des Spiegelschrankes, die von Anna abgedimmt wurde, spendete ein bisschen diffuses Licht. Während die Ärztin auf der geschlossenen Toilette saß, die Beine angezogen und mit ihren Armen umschlungen, hatte sich Semir an die Tür angelehnt und war langsam zu Boden geglitten.

    „Anna, sag mir die Wahrheit! Wie schwer sind Bens Verletzungen wirklich?“
    In knappen Sätzen schilderte die Ärztin dem Autobahnpolizisten das Ausmaß der Wunden und deren vermutliche Ursachen. Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie ernst die Verfassung von Ben war. Mit jedem Satz wurde Semir eine Nuance bleicher.

    „Aber…!“
    Sie fiel ihm ins Wort, „Falls du fragst, ob er eine Chance hat, die Flucht durchzustehen? Ich weiß darauf keine Antwort. Ben hat mir in den vergangenen Tagen gezeigt, was für ein unheimlicher Kämpfer er ist. In ihm steckt ein eiserner Wille zum Überleben. … Du hast das Ausmaß seiner Verletzungen gesehen … und er hat sie allen Widrigkeiten zum Trotz überlebt. Und die Schmerztablette, die ich ihm vorhin gegeben habe, hat vermutlich die gleiche Wirkung gegen seine Schmerzen, wie ein Hustenbonbon.“ Es herrschte für kurze Zeit Stille im Bad. Anna blickte dem Kommissar in die Augen. „Außerdem, gibt es denn eine Alternative zur Flucht, Semir? Wie lange könnten wir in diesem Zimmer gegen unsere Widersacher Stand halten, wenn wir uns verbarrikadieren? … Sag mir wie lange? Zehn Minuten oder noch ein paar Minuten länger? Und dann?“


    Der Türke saß ihr regungslos gegenüber und sie wertete sein Schweigen als Zustimmung. Während des Gesprächs war dem Türken bewusst geworden, wie sehr sich Anna seit ihrem letzten Aufeinandertreffen verändert hatte. Aus der resignierenden fast schon gebrochenen Frau, die sie noch vor einigen Tagen gewesen war, war eine Löwin geworden, die verzweifelt um ihren verletzten Freund kämpfte, um die Liebe ihres Lebens.


    „Wenn Elena die nächsten dreißig Minuten nicht auftaucht, fliehen wir ohne sie. Ben meinte einmal, du könntest ein Auto ebenso schnell wie ein Profi knacken. Die automatischen Öffner für das Tor liegen in den Fahrzeugen parat!“

    Semir bewegte seinen Kopf auf und ab. Schwerfällig erhob er sich vom Boden, vorher war Anna von ihrem Toilettensitz aufgestanden und packte das restliche Verbandsmaterial und ein paar Habseligkeiten, die sie im Badezimmer gelagert hatte, in ihren Arztkoffer.

    „Wir sollten unsere Vorbereitungen abschließen. Ich wecke Ben!“, meinte sie, als sie sich ihre Schuhe anzog.

    Sie schlüpfte durch die geöffnete Badezimmertür ins Schlafzimmer, dicht gefolgt von Semir. Der Polizist schnappte sich das Kunststoffseil, das auf der Sitzfläche des Schaukelstuhls lag und begab sich zum Fenster. Auf halben Weg erstarrte er in seiner Bewegung. Da war ein schabendes Geräusch an der Zimmertür, ein Schlüssel wurde ins Schlüsselloch gesteckt … Mit zwei schnell Schritten stellte er sich seitlich neben die Zugangstür und drückte seinen Rücken gegen die Wand. Der Türflügel würde ihn beim Öffnen verdecken. Automatisch griff seine Rechte nach seiner Pistole und zog sie aus dem Holster. Er entsicherte diese fast lautlos und hielt sie schussbereit in der Hand. Es vermittelte ihm ein gewisses Gefühl von Sicherheit. Einen Augenblick lang hielt er den Atem an und schnaufte erleichtert auf, als er im Schein des Badezimmerlichts erkannte, dass die brünette Frau aus der Küche ins Zimmer huschte und die Tür lautlos von innen mit dem Schlüssel hinter sich verschloss. Draußen im Gang und Treppenhaus herrschte Stille und Dunkelheit. Die restlichen Bewohner der Villa schienen zu schlafen.


    Anna eilte derweil auf Elena zu und legte der jungen Frau geistesgegenwärtig die flache Hand auf deren Mund. Entsetzt starrte die Brünette auf Semir, der seine Waffe wieder in das Holster zurücksteckte.

    „Psssst Elena! … Das ist Semir! … Alles gut!“
    „Der Semir?“ – „Ja, der Semir! … Er hat uns gefunden und wird uns bei der Flucht unterstützen!“, erwiderte Anna erklärend zurück.

    „Das gut … sehr gut… Hier!“ Die Russin reichte an den Türken einen Autoschlüssel und eine Schusswaffe, die sie Aleksandar Kovac entwendet hatte, weiter. „Gabriela kommen! Heute Nacht … Bald! … Beeilung! Wir raus….! … Weg!“
    „Weißt du wann Mädchen?“, fragte Semir nach.

    „Vielleicht noch eine halbe Stunde?“ Sie zuckte mit den Achseln und ein Hauch von Angst zeichnete sich in ihrem Gesicht ab. Die rechte Wange war gerötet und leicht angeschwollen. Die Finger des Glatzkopfs zeichneten sich deutlich ab. „vielleicht … auch ein paar Minuten mehr! Schnell machen!“

    „Ok … Ok … Ok! Ich habe es kapiert Mädchen! Wir dürfen keine Zeit mehr verlieren!“ Sein Blick richtete sich auf Anna „Kümmert ihr euch um Ben und ich bereite das Seil vor!“


    Semir blendete aus, was hinter ihm geschah. Eingehend nahm er das Gitter vor dem Fenster im Augenschein. Unzählige Dinge geisterten durch den Kopf des Türken, als er nach draußen blickte. Anna hatte ihm berichtet, dass Ben selbst nach einem Gang vom Bett zur Toilette völlig erschöpft gewesen war. Fieberhaft versuchte er einen Fluchtplan … einen alternativen Fluchtweg zu entwickeln. Sein Freund würde die Strecke durch den Garten oder Park um das Haus herum zum Carport niemals schaffen. Schon gar nicht im Spurt. Eingehend musterte er die Schattenrisse der Bäume des Parks.

  • Für einen Wimpernschlag schloss Ben die Augen und konzentrierte sich. Semir hatte ihm das Seil um den Oberkörper unterhalb der Achseln geschlungen. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, setzte er sich auf das Gitter und schwang seine Beine nach draußen. Es war viel schwerer, als es sich der verletzte Polizist vorgestellt hatte. Er verdrängte die aufkommenden Schmerzen. Ihm war klar, dass er es später bitter büßen musste, doch dies war ihm egal. Es zählte nur die Flucht.


    „Ich sichere dich Ben!“, bekräftigte der Türke. Wie ein Kletterprofi handhabte Semir das Seil, um Ben langsam an der Hauswand hinabgleiten zu lassen.


    Ben konnte sich nicht richtig mit seinem rechten Bein von der Hauswand abstoßen. Mehr als ein Fingernagel wurde Opfer des rauen Außenputzes der Wand. Anna hatte ihm ein Stück Mull zwischen die Zähne geschoben, auf das er jetzt dankbar biss, um nicht vor Schmerz aufzuschreien. Sein angebrochenes rechtes Bein bekam zuerst Bodenkontakt. Wie ein Blitz durchschoss der Schmerz seinen Körper. Er lehnte sich an die Hauswand an und versuchte das Sternenmeer vor seinen Augen zu vertreiben.


    „Alles in Ordnung mit dir?“ kam es von oben zischend.

    Er zeigte mit dem Daumen nach oben. Kein guter Zeitpunkt um Schwäche zu zeigen, Kumpel, sprach er mit sich selbst, reiß dich zusammen, gleich steht Anna neben dir. Semirs Frage bewirkte, dass sein Körper weiter Adrenalin ausschüttete, was ihm half die kritischen Sekunden zu überstehen. Mit zitternden Fingern schaffte Ben es den Knoten zu lösen. Das Seilende verschwand. Er trat einen Schritt zur Seite in Richtung Terrasse und blieb an der Wand lehnend stehen und wartete. Er spuckte das Stück Mull aus, das achtlos neben ihm auf den Boden fiel. Ein schabendes Geräusch und wenige Augenblicke später stand Anna neben ihm. Ben setzte sein bestes „Mir geht es gut Lächeln auf!“, zog seine Freundin zu sich heran und hauchte ihr einen Kuss auf die Lippen. Mit einer Geste seines Kopfes machte er sie auf ein geöffnetes Fenster neben ihm aufmerksam, aus dem das Schnarchen eines schlafenden Menschen drang. Der Kerl sägte im Moment einen kompletten Urwald ab, dachte Ben bei sich. Fernsehschlaf ist immer noch der Beste, denn die flackernden Lichteffekte und die leisen Stimmen die zusätzlich aus dem Fenster drangen, bestätigten Elenas Aussage, dass immer einer der Kovac Brüder des Nachts im Wohnzimmer Wache halten musste.
    Anna huschte an seine rechte Seite und legte Bens Arm um ihre Schulter. Wenige Augenblicke tauchte Elena neben Ben auf und einige Minuten später berührten die Füße des Türken den Boden.

    „Los weg hier!“, drängte Semir.

    Er hatte, als er die Kommode vor die Zimmertür geschoben hatte, als er das Gebimmel eines Handys aus einem der oberen Schlafräume gehört hatte. Es war nur eine Frage von wenigen Minuten bis ihre Flucht entdeckt werden würde. Wie zur Bestätigung schrie eine tiefe dunkle Bassstimme im inneren des Hauses Elenas Namen.


    Das Verschwinden der Russin wurde bemerkt und löste eine Kettenreaktion aus, die sich nicht mehr aufhalten ließ.


    „Verfluchte Scheiße!“, entfuhr es Semir. Er zerrte heftig an Annas freien Arm, während die Russin den verletzten Polizisten an der linken Seite stützte.
    „Los vorwärts! …“
    Auch ohne seine drängenden Worte hatte jeder der Flüchtigen den Ernst der Lage begriffen.


    Die wenigen Meter von der Hauswand über die Terrasse hatte Ben relativ gut überstanden, glichen sie doch der Wegstrecke vom Bett ins Bad und zurück. Doch jetzt stand die erste Herkulesaufgabe vor ihm, über die großzügig angelegte Freitreppe von der Terrasse auf die Ebene des Swimmingpools zu gelangen. Im fahlen Licht des Mondscheins konnte er die Stufen zählen. Mindestens fünfzehn Stück! Hinter den Flüchtenden wurden die wütenden Rufe nach Elena im Haus lauter. Türen wurden zugeschlagen … Eine Bassstimme erteilte hektische Befehle. Im Erdgeschoß flammte das Licht in dem Zimmer auf, aus dem das Schnarchen erklungen war. Missmutig brummte eine Stimme in einer fremdländischen Sprache herum. Semir drängte Elena zur Seite.


    „So Partner! Wir stehen hier wie auf dem Präsentierteller! Ab jetzt heißt es alles oder nichts! Wir müssen in Rekordtempo die Treppe runter und dort rechts drüben unter den Bäumen verschwinden.“, sein Blick richtete sich auf den Jüngeren. „Schaffst du das?“


    „Keine Bange Partner! Solange ich keinen Marathonlauf mit dem gebrochenen Bein machen muss! Die paar Meter krieg ich locker hin!“, versuchte Ben ein bisschen Optimismus zu verbreiten.


    Schon bei der ersten Treppenstufe änderte der junge Kommissar seine Meinung. Am liebsten hätte er lauthals aufgeschrien, als er auf dem linken Bein hüpfend, das erste Hindernis überwand, eine Treppenstufe. Der Schmerz tobte wie eine Feuerlohe hauptsächlich durch seine linke Seite mit seinen angebrochenen Rippen, die mit dieser Art der Bewegung überhaupt einverstanden waren. Ab der sechsten Stufe hörte er auf zu zählen. Krampfhaft verbiss er sich die Schmerzensschreie und bereute es, das Mullstück ausgespuckt zu haben. Am Ende der Treppe liefen ihm die Tränen über die Wangen. In seinem Mund war der eisenhaltige Geschmack von Blut. Er hatte sich die Unterlippe blutig gebissen. Willenlos ließ er sich von Anna und Semir in Richtung des rettenden Baumes mit den tiefhängenden Ästen zerren. Schon lange hatte er keine Kraft mehr, um auf dem linken Bein zu hüpfen. Immer wieder war er leicht auf das Rechte aufgetreten, auch wenn dieses kaum einen Teil seines Körpergewichtes tragen musste, war der Schmerz unerbittlich.


    Im Haus wurde der Krach lauter. In einer fremden Sprache brüllten sich die Männer gegenseitig an. Die Wut in ihrem Tonfall verhieß nichts Gutes. Das Splittern von Holz, als die Zimmertür des Krankenzimmers aufgebrochen wurde und ein dumpfer Schlag, als die Kommode umfiel, drangen durch das geöffnete Fenster nach draußen, das taghell erleuchtet war. Remzi schrie wie von Sinnen seine Söldnerfreunde an, beschimpfte sie auf das Übelste, als er das blaue Seil am Fenstergitter entdeckte.


    Ben nahm das alles wie aus weiter Ferne wahr. Die Feuchtigkeit des Nachttaus auf dem hüfthohen Gras durchdrang seine Strümpfe. Sein linkes Bein fing vor Anstrengung zu zittern, wollte sein Gewicht nicht mehr tragen. Mit Gewalt stemmte er sich dagegen einzuknicken. In seinen Ohren rauschte es nur noch. Die Geräusche seiner Umwelt drangen, wenn überhaupt nur noch sehr gedämpft zu ihm durch.
    Jemand drückte seinen Rücken gegen etwas Hartes. Nach und nach wurde ihm klar, dass es sich um die Rinde eines Baumstammes handelte. Schweißtropfen standen auf seiner Stirn. Verzweifelt versuchte er seine Atmung unter Kontrolle zu bringen, Sauerstoff in seine Lungen zu bringen. Sein Körper pumpte, als hätte er gerade zwei Stunden auf dem Laufband im Fitnessstudio verbracht. Ben schloss die Augen und konzentrierte sich auf seinem Herzschlag, der wie wild zwischen seinen Schläfen pochte. Jemand tätschelte ihn sanft auf die Wange und eine vertraute Stimme sprach ihn an. Es dauerte einige Sekunden, bis er den Sinn der Worte erfasste.


    „Hey Partner! Geht es wieder?“, erkundigte sich Semir bei ihm, „Schaffst du es wieder alleine auf deinen Beinen zu stehen!“
    Langsam öffnete er die Augenlider und selbst in der Dunkelheit, die im Schatten der Blutbuche herrschte, glaubte er die Sorge in den Augen von Semir und Anna lesen zu können.
    „Alles gut! … Alles gut!“, keuchte er, „Gebt mir einfach ein paar Minuten!“
    „Die Strecke bis zum Carport und der Garage schafft Ben niemals in dem Zustand!“, stellte sein Partner nüchtern in Richtung von Anna fest. Er wollte dagegen protestieren und sah doch ein, dass es sinnlos ist.
    „Lasst mich hier zurück! Du hast Recht Semir! Mit mir zusammen ist unsere Flucht schneller zu Ende, bevor sie richtig begonnen hat!“, murmelte Ben resignierend. „Gib mir die zweite Schusswaffe! Ich versuche euch den Rücken frei zu halten!“
    „Ich weiß etwas Besseres mein Freund! … Zurückbleiben gilt nicht! Habe doch keine Lust deinen Chaos-Schreibtisch aufzuräumen!“, widersprach ihm der Türke und umfasste Bens Schultern. Um dessen Mundwinkel zeichnete sich ein leichtes Lächeln ab. „Hörst du!“, beschwor ihn sein älterer Freund, „Aufgeben gilt nicht Partner! Bist es nicht du, der immer sagt, es gibt immer einen Plan B. Wir werden uns trennen. Die Zufahrt zum Haupthaus liegt näher als du denkst. Elena meinte, es sind noch knapp fünfzig Meter quer durch den Park! Hast du verstanden! Fünfzig Meter, die schaffst du mit Unterstützung der Mädels mit Links!“


    Der Verletzte nickte wider besseres Wissen. ‚Na los! Stell dich nicht so an!‘, sprach sich Ben innerlich Mut zu. Die paar Meter schaffst du.


    „Gut! Ich besorge uns einen fahrbaren Untersatz und ihr wartet in der Nähe des Tors. Versteckt euch im Gebüsch oder zwischen den Tannen, verhaltet euch ruhig und wartet auf mich!“ Er drückte seinem jüngeren Freund die Schusswaffe von Aleksandar Kovac in die Hand. „Kannst du damit noch umgehen? Habe leider nur ein Magazin. Also sei sparsam!“


    „Pass auf dich auf, Partner! Mit den Kerlen ist nicht gut Kirschen essen. Unterschätzte sie nicht! Diese Söldnertruppe ist verdammt gefährlich!“


    Sie klatschten sich ab und Semir verschwand in der Dunkelheit der Nacht.

  • „Gebt mir noch ein paar Minuten!“, meinte Ben in Richtung von Anna und Elena.


    Deren besorgte Mienen gingen in Richtung der Villa. Durch die herabhängenden Äste der Buche konnten sowohl die beiden Frauen, als auch Ben erkennen, dass sowohl im Erdgeschoß, als auch im Obergeschoß die Fenster taghell erleuchtet waren. Die Außenbeleuchtung der Terrasse und des Eingangsbereiches flammten nacheinander auf und leuchteten die Umgebung der Villa hell aus. Zum Schluss wurde die Zufahrt über kleine Kugellampen in ein düsteres Licht getaucht. Hektische Rufe in einer fremden Sprache erschallten über das Grundstück.


    Bens Blick wanderte zurück zur Poolanlage. Deutlich war ihr Fluchtweg im hohen Gras erkennbar. Ihm stockte fast der Atem, als sein ärgster Widersacher Remzi, auf Krücken gestützt, über die Terrasse in Richtung Freitreppe humpelte. Fast wie Nadelstiche konnte er dessen Blicke spüren, als dieser den Park musterte.


    Vor Wut schäumend, stand der Grauhaarige auf seinen Krücken gestützt da und starrte in das Dunkel der Nacht hinein. Verbissen versuchte er den Fluchtweg zu erkennen.
    „Ich krieg euch Schweine!“, schrie in Richtung des Parks auf Deutsch, der Rest seiner Worte richtete er in seiner Muttersprache an die Helfer im Haus.


    Der Ruf des Serben ließ einen wahren Adrenalinschub in Bens Blut fließen. Elena, die sich zu Beginn ihres Aufenthaltes in der Villa und dem angrenzenden Park und Waldstück hatte frei bewegen können, erwies sich als ortskundige Führerin. Zu Bens Erleichterung wucherte unter den Baumriesen des Parks fast kein Grasbewuchs, in dem die verräterischen Spuren sichtbar blieben. Leise raschelte das Laub des vergangenen Herbstes, als er gestützt auf Anna und Elena darüber hüpfte. Ben keuchte vor Anstrengung und fragte sich, wie lange er sich noch aufrecht halten würde? Mit jedem Meter, den sie zurücklegten, schwächelte Bens Körper zunehmend.


    Die Ärztin warf einen prüfenden Blick über die Schulter zurück zur Villa. Zu ihrem Entsetzen bemerkte sie, wie der Grauhaarige mit der Unterstützung von Aleksandar Kovac mühevoll die Freitreppe herunter gehumpelt kam.
    „Remzi folgt uns!“, entfuhr ihr es erschrocken.
    Diese Aussage mobilisierte die letzten Kraftreserven im Körper ihres Freundes. Ben schaffte es für einige Meter seine Schritte zu beschleunigen. Durch den Blätterwald der Büsche, die die Auffahrt säumten, schimmerte das fahle Licht einer Kugellampe. Das Ziel, die Zufahrt zum Grundstück mit dem großen Tor, schien in greifbarer Nähe. Es fehlte nur noch Semir und das Fluchtfahrzeug.


    Elena schritt voran und versuchte in dem Dickicht einen gangbaren Weg für Ben in Richtung Tor zu finden. Plötzlich stoppte sie ab, als wäre sie gegen eine Wand gelaufen. Ihr Blick war panisch in Richtung des Zufahrtstores gerichtet, das langsam in seinem Schienensystem aufrollte. Durch eine Lücke im Gestrüpp konnte sie die Scheinwerferkegel und die Umrisse des schwarzen Audis Q7 in der Toröffnung erkennen.


    Gabriela Kilic war zurück.


    Elena hätte sich in dem Moment vor Angst fast in die Hosen gemacht. Alles schien in diesem Augenblick verloren … umsonst … keine Flucht. Diese Tatsache schockte die junge Frau dermaßen, dass sie unbewusst einige Schritte rückwärts machte und nicht mehr auf ihren Weg achtete. Die kleine Russin stolperte durch ihre Unachtsamkeit über eine aus dem Boden ragende Wurzel und stürzte in das vor ihr liegende Unterholz. Das Knacken und Bersten von Ästen, die durch den Aufprall ihres Gewichtes zerbarsten, verbunden mit ihrem Schmerzensschrei, waren weithin hörbar.


    Ben befürchtete, dass diese verräterischen Geräusche ihrem Verfolger in der Dunkelheit den richtigen Weg weisen würden. Anna drückte ihn in die Richtung einer Gruppe von Nadelbäumen, die fast schwarz wie die Nacht emporragten. Erst als er einen sicheren Halt am Stamm einer riesigen Fichte gefunden hatte, deren untersten Äste schon längst verdorrt waren, eilte sie zu Elena, um dieser zu helfen, sich aus dem Gestrüpp zu befreien. Die helle Kleidung der beiden Frauen hob sich deutlich sichtbar von der Umgebung ab.


    „Ist dir etwas passiert?“ wisperte Anna. – „Nein! … Nichts kaputt! … Kratzer!“, gab die Gestürzte ebenso leise zurück und rieb sich dabei ihr linkes Handgelenk. Der Schmerz trat in den Hintergrund, als mit einem leisen Brummen des Motors der schwarze Audi zum Greifen nah, auf der Zufahrt an ihnen vorbeirollte und kurz stoppte.


    „Oh mein Gott!“, entfuhr es Anna mit bebender Stimme, „Die Hexe ist wieder da!“


    Mit weit aufgerissenen Augen beobachteten beide Frauen das Fahrzeug. Hatte man sie entdeckt? Das Rolltor kehrte auf seinem Schienensystem mit einem leichten Quietschen und Ächzen zurück in seine Ausgangsstellung. Der mögliche Fluchtweg nach draußen in die Freiheit war wieder versperrt.
    Ben lehnte regungslos am Baumstamm und beobachtete durch das Dickicht der herabhängenden Äste ebenso wie die beiden Frauen das dunkle Fahrzeug, das durch die Lichtkegel der Scheinwerfer deutlich sichtbar war. Unwillkürlich tastete er nach der Waffe von Aleksandar und krampfhaft umschlang er den Griff der Pistole fester. Ein Zittern durchlief seinen Körper und sein Herzschlag hämmerte wie wild in seiner Brust. Ein Schuss peitschte in einiger Entfernung auf.


    Semir, durchfuhr es Ben voller Schreck. Sie hatten seinen Freund entdeckt und gestellt. Weitere Schüsse folgten, die vom Stakkato eines Maschinengewehrs beantwortet wurden.


    Eine verhängnisvolle Stille breitete sich aus.


    Zwei weiteren Schüssen fielen in der Nähe der Villa und der markerschütternde Todesschrei eines Mannes durchdrang die Stille der Nacht.

  • Aus sich des Verfolgers - Remzi


    Remzi Berisha fluchte mittlerweile lautlos vor sich hin. Hätte ihn Gabrielas Anruf nicht vor wenigen Minuten geweckt, wäre den Gefangenen vermutlich ihre Flucht geglückt. Diese vermaledeite kleine Russin. Er ahnte es schon die ganze Zeit über, dass die sich mit der Ärztin etwas ausgedacht hatte. Seine Vorsichtsmaßnahme, den Polizisten mit seiner Freundin ins Obergeschoß verlegen zu lassen, hatte nichts gebracht, weil bis auf Iwan Kovac die anderen Mitglieder des Kovac Clans nur eines im Kopf hatten: Wer darf als nächstes mit der Russin eine Nummer schieben! Anfänger! Blutige Anfänger! Am liebsten hätte er den Zwillingen und Aleksandar eine Kugel durch den Kopf gejagt. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Diesen Fehler würden die drei Brüder und Iwans Sohn spätestens in drei Tagen mit ihren Leben bezahlen, wenn ihre Dienste nicht mehr gebraucht würden.


    Mühsam humpelte er, auf seine Krücken gestützt, hinter Aleksandar Kovac her, der mit einer Taschenlampe die Spur im Gras ausleuchtete. Auch wenn er es nie laut aussprechen würde, so bewunderte Remzi seinen Gegner Ben Jäger. In seinem bisherigen Leben war ihm noch niemand begegnet, der solch einen Überlebenswillen, Mut und Durchhaltevermögen an den Tag gelegt hatte, wie dieser junge Polizist. Der jüngste Kovac deutete mit dem Lichtkegel seiner Lampe auf die Fährte, die die Entflohenen im Gras hinterlassen hatte. Im Schattenriss der Bäume verlief eine weitere Spur des niedergetretenen Grases parallel zum Haus. Aleksandar leuchtete mit dem Lichtkegel der Taschenlampe das Unterholz ab. Nichts … absolut nichts war zu erkennen. Die Fährte endete unter einem Laubbaum mit tiefhängenden Ästen. Der dichte Blätterwald der Buche hatte jeglichen Graswuchs darunter verhindert.


    „Warte!“, blaffte der Grauhaarige den Jüngeren an, als dieser ansetzte, den Geflüchteten blindlings zu folgen. Remzi versuchte sich in deren Lage zu versetzen. Es war ihm noch immer ein Rätsel, wie es der Polizist mit seinen Verletzungen geschafft hatte, sich vom Obergeschoss aus abzuseilen. Niemals, da war der Söldner sich sicher, würde der verletzte Polizisten den langen Weg um das Haus zu den geparkten Fahrzeugen überwinden. Er ließ eine Krücke los und strich sich nachdenklich über gestutzten grauen Bart und versuchte sich in die Situation der Flüchtigen zu versetzen. Was würde er machen?


    Unter den riesigen Bäumen des Parks herrschte Dunkelheit. So gut wie nichts war zu sehen, selbst im Lichtkegel der Taschenlampe konnte er nichts erkennen. Ein Königreich für Nachtsichtgerät kam ihn in den Sinn. Die beleuchtete Auffahrt war von seiner Position aus nur zu erahnen. Das Schaben des Rolltores in seinen Schienen, das die Zufahrt zum Grundstück verschloss, war zu hören. Gleichzeitig das Brechen von Ästen und der schmerzhafte Aufschrei einer Frau. Die Gefangenen hatten sich in zwei Gruppen aufgeteilt, schoss es ihm durch den Kopf. Im Eingangsbereich der Villa erklangen Schüsse. Wütend fauchte Remzi in Richtung von Aleksandar Kovac:

    „Hilf deinen dämlichen Brüdern! Die schaffen es ja nicht einmal mit der kleinen Russin fertig zu werden! Den halbtoten Bullen und seine Freundin kriege ich auch alleine! Na los! … Beweg dich endlich!“, brüllte er in das Hämmern der Maschinenpistole hinein.


    Er änderte seine Marschrichtung und bewegte sich auf das Unterholz zu, wo er das Brechen der Äste gehört hatte. Langsam tauchte er in die Finsternis des Parks und seiner Baumriesen ein. Für einen Moment hielt er inne. Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, die unter dem Laubdach der Bäume herrschte. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie ein Fahrzeug im Schritttempo auf das Grundstück rollte. Wie abgesprochen, wartete Camil darauf, dass das Tor wieder verschlossen war, um den Gefangenen keine Möglichkeit zur Flucht durch einen Spalt im Tor zu geben. Wie ein Raubtier auf Beutejagd, verharrte Remzi in seiner Stellung, lauerte und lauschte auf jedes Geräusch in seiner Umgebung. Das Tuscheln von Menschen drang an sein Ohr, sich daran orientierend, humpelte er einige Schritte darauf zu. Die Umrisse einer hell gekleideten Frauengestalt, die sich nach unten bückte, waren zu erahnen, hoben sich von dem dunklen Hintergrund der Bäume und Sträucher ab.


    Remzi war sich absolut sicher, er hatte die beiden Flüchtigen, Ben Jäger und seine Freundin, gefunden. Eine Krücke ließ er achtlos zu Boden fallen, zog eine Pistole aus dem Hosenbund am Rücken, entsicherte diese und legte an.


    Erneut erklangen zwei Schüsse im Hintergrund und der Todesschrei eines Mannes durchdrang die Stille der Nacht. Verdammte Russin, fluchte er lautlos vor sich hin. Die mache ich höchstpersönlich kalt, wenn ich sie lebend in die Finger bekomme, nahm er sich vor. Die Kleine würde qualvoller sterben, als sich es ein Mensch vorstellen konnte. Doch zuerst einmal würde er Jägers Braut kalt machen. Sein Interesse an der Dunkelhaarigen war schlagartig erloschen. Langsam krümmte sich sein Zeigefinger. Sein Ziel, der Rücken der Frau, war nicht zu verfehlen. Ein zynisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Innerlich freute er sich schon darauf in Jägers Visage zu blicken, wenn der Polizist seine tote Freundin in den Armen hielt.

  • Aus der Sicht von Semir


    Nachdem sich Semir von Ben und den Frauen getrennt hatte, hetzte er so schnell es die Dunkelheit erlaubte, durch das Dickicht des Unterholzes in Richtung der Außenmauer. Immer wieder hielt er für einen Moment inne und warf einen prüfenden Blick in Richtung der Villa. Auch ihm war nicht entgangen, dass das Innere des Hauses und der Außenbereich mittlerweile hell erleuchtet waren und endgültig alle Bewohner erwacht waren. Er hörte die Rufe der Gangster in dieser fremdländischen Sprache, sah schemenhaft ihre Umrisse im Inneren des Hauses und die Gestalten auf der Terrasse.


    Die Jagd auf die Flüchtigen begann.

    Die Zeit drängte.


    Der Schattenriss der Außenmauer und das hohe Gras verdeckten ihn für seine Gegner, als er leicht gebückt daran entlang huschte. Etwas außer Atem erreichte er ungesehen die Ecke, wo das Carport an die Mauer gebaut worden war und er vor einer gefühlten Ewigkeit auf das Grundstück gesprungen war. In dem dunklen Winkel presste sich der Türke mit dem Rücken gegen die Mauer und versuchte sich zu orientieren.
    Der Lichtschein der Lampen, die den Bereich vor dem Eingangsportal und der Garage mit dem angrenzenden Carport taghell erleuchteten, reichte nicht bis zur Außenmauer. Auf der Eingangstreppe stand der Glatzkopf mit schwarzem Rauschebart und schien jemanden in seiner Nähe eine Anweisung in einer fremden Sprache zuzurufen. Semir sank zu Boden. Vorsichtig kroch der Türke auf allen Vieren weiter bis zur Mauerkante und riskierte einen Blick um die Ecke. Die Dreckskerle schienen seine Absicht, ein Auto zu entwenden, erahnt zu haben. Fast schon demonstrativ stand einer der Südländer mit entblößtem Oberkörper und einer MG im Anschlag vor den geparkten Fahrzeugen und sondierte mit seinen Blicken das Gelände in Richtung Villa und dem Park mit der Zufahrt. Ein weiteres Gewehr hing über dessen Schulter. Unten herum trug er eine Jogginghose und die Füße steckten in Badelatschen.


    Langsam schob Semir seinen Oberkörper wieder zurück in die Deckung der Mauer und überlegte einige Herzschläge lang seine nächsten Schritte. Er machte nicht den Fehler, seinen Widersacher zu unterschätzen. Ben hatte Recht, die Typen waren höllisch gefährlich. Jedoch musste er es schaffen in den Rücken des Typen zu gelangen, um den Kerl außer Gefecht zu setzen, koste es was es wollte. Mehrmals atmete der Türke tief durch, zog seine Schusswaffe aus dem Holster, entsicherte diese und ließ sie gleich einem Ritual um seine Finger tanzen. Geschickt wie eine Schlange kroch er am Boden entlang, um die Ecke und verschwand im Carport. Dort richtete er sich etwas auf, in der Hocke sitzend, blickte sich sichernd um. Der geparkte Toyota verdeckte ihn vor seinen Gegnern, als er anschließend in gebückter Haltung das Heck des Fahrzeugs umrundete.


    Die hektischen Rufe der Männer, die die Flüchtigen suchten, schallten über das Grundstück. Semir schaffte es in den Rücken des Südländers zu kommen. Als er sich leicht aufrichtete, um den Mann mit seiner Waffe niederzuschlagen, peitschte ein Schuss auf. Das Geschoss verfehlte ihn knapp und drang mit einem Klatschen in das Metall der Autokarosserie. Was darauf folgte, geschah in wenigen Sekunden.
    Der Bärtige an der Eingangstür der Villa stieß einen lauten Warnruf in Richtung seines Bruders aus und feuerte erneut sein Maschinengewehr auf Semir ab und zwang diesen damit in Deckung zu gehen. Sein Bruder Dragan drehte sich um und hatte in der Bewegung bereits seine MG schussbereit im Anschlag. Er brauchte nur noch den Abzug durchzuziehen und der Türke würde von den Kugeln durchsiebt werden.
    Doch Semir war diesen gewissen Sekundenbruchteil schneller. Den Abzug durchziehen, sich in Deckung fallen lassen, abrollen, waren instinktive Bewegungen des Autobahnpolizisten, die ihm das Leben retteten. Die Kugel des Türken traf den Südländer mitten im Oberschenkel. Im Fallen zog der verletzte Mann den Abzug der Maschinenpistole durch. Deren Kugeln fraßen sich in die Decke und Wände des Carports oder prallten als jaulende Querschläger ab und schrammten mehr als einmal hautnah am Türken vorbei. Kleine Gesteinsbrocken aus der Decke regneten auf den Polizisten herab. Semir robbte ein wenig zurück, um aus der Schusslinie und dem Sichtfeld des Glatzkopfes zu gelangen, der ebenfalls in seine Richtung feuerte. Er hatte keine Lust als Kugelfang zu dienen.


    Eng an das Hinterrad des Toyotas gepresst, starrten sich der Autobahnpolizist und der am Boden liegende verletzte Söldner an. Fast regungslos belauerten sich die beiden Gegenspieler einige Atemzüge lang. Der Verletzte keuchte vor Schmerzen und seine Augen glühten vor Hass. Der Kies der Zufahrt färbte sich unter dem verletzten Bein blutrot. Jeder für sich schien seine Chance zum Überleben abzuschätzen. Es verging eine Sekunde und noch ein, für den Türken fühlten sie sich wie eine Ewigkeit an.
    „Polizei! … Lass fallen!“, brüllte Semir in Richtung seines Gegners.


    Doch der Söldner ignorierte die Worte des Polizisten und richtete seinen Oberkörper ein wenig auf. Ein hämisches Grinsen umspielte dabei die Mundwinkel von Dragan Kovac. Semirs Instinkt schlug im gleichen Atemzug Alarm, als er dabei dieses verräterische Aufblitzen in den Augen seines Gegners sah. Ihm blieb keine andere Wahl als der am bodenliegende Mann erneut den Finger krümmte, um den Abzug durchzuziehen. Blitzschnell schaffte der Türke es als Erster, seine Waffe abzufeuern.
    Der Getroffene riss die Augen weit auf, als die tödliche Kugel links neben dem Brustbein in seinen Körper eindrang und das darunter liegende Herz förmlich zerriss. Dabei stieß der Söldner einen gellenden Todesschrei aus. Das Maschinengewehr entfiel kraftlos dessen Händen und sein Oberkörper sank in sich zusammen.


    Der Türke drückte sich zurück in die Deckung des Autos. Sein Atem ging stoßweise und sein Herzschlag raste. Aber er kam gar nicht dazu einen klaren Gedanken zu fassen, denn das Unheil nahm weiter seinen Lauf. Am anderen Ende des Grundstücks fielen ebenfalls Schüsse. Ein Eisiger Schreck durchfuhr ihn. Doch er konnte nicht weiter über Bens und Annas Schicksal nachdenken, zu sehr saß er selbst in der Zwickmühle. Der Killer gegenüber auf der Eingangstreppe rief nach seinem Bruder und verfiel in ein wütendes, fast schon animalisch anmutendes Gebrüll, als von Dragan Kovac keine Antwort kam. Geschickt veränderte Ivan Kovac seine Position und schoss dabei mit seinem automatischen Gewehr wie wild in Richtung des Türken.
    Heiße Geschoße klatschten vor Semir in den Boden oder neben ihm in das Metall des Autos. Zischend entwich die Luft von getroffenen Autoreifen. Eine der Kugeln schrammte über seine rechte Schulter und hinterließ eine blutige Furche. Doch Semir nahm den Schmerz gar nicht wahr.


    „So kriegst du mich nicht! … Du Dreckskerl! Da musst du schon früher aufstehen!“, brummte er wütend vor sich hin und tastete nach der Verletzung. Er robbte auf dem Bauch ein Stück rückwärts und zielte unter dem Auto hindurch auf seinen Widersacher. Zielen und Schießen war eines für den Kommissar. Wütend jaulte sein Gegner auf, als die Kugel ihn an der Wade streifte. Semir feuerte ein komplettes Magazin leer und zwang den Bärtigen damit zum Rückzug in Richtung Haus. Von dort erhielt er Verstärkung. In der Eingangstür tauchte die Gestalt eines weiteren Mannes auf. Der Polizist verlor keine Zeit. Der Türke hatte nur noch ein Reservemagazin und benötigte dringend eine Schusswaffe. Auf allen Vieren krabbelte er in Richtung der Leiche, zog diese an den Füßen ein Stück zu sich heran in die Deckung des Carports und nahm die beiden Maschinengewehre des toten Söldners an sich.


    Keine Sekunde zu früh!


    Über die Zufahrt kam ein Auto herangerollt, dessen Scheinwerferkegel erfassten ihn und blendeten ihn. Semir musste kein Prophet sein, um zu wissen, wer in diesem Fahrzeug saß.
    Er saß endgültig in der Falle.

  • Aus der Sicht von Gabriela


    Als der schwarze Audi die Autobahn A3 verließ und in Richtung Herler Ring abbog, schreckte der alarmierende Anruf von Remzi Berisha Gabriela aus ihren Träumen. Die Gefangenen waren im Begriff zusammen mit der Russin einen Fluchtversuch zu unternehmen. Auf den letzten Kilometer zu ihrem Domizil haderte die Kroatin mit dem Schicksal. Vor einigen Tagen hatte sie einen sterbenden Ben Jäger in der Villa zurückgelassen. Wie konnte es nur möglich sein, dass er mit den beiden Frauen nun fliehen konnte?
    Für Gabriela glich es einem Déjà-vu. Es war wie damals … vor einem Jahr … die Erinnerungen schossen in ihr hoch, ihr toter Bruder, der im Schuppen verblutet war … die Blutspur im Wald … Außer sich vor Wut und Zorn fing sie an im Auto zu toben.


    „Dieser widerliche Bastard! … Hat er uns das alles nur vorgespielt??? … Der Kerl war doch am Verrecken! …. Der war tot …. So gut wie tot! …. Du hast es doch auch gesehen! … Behauptet, der Kerl überlebt die Schusswunde nicht!“


    Nach einem kleinen Seitenblick zu seiner Beifahrerin zog es Camil vor zu schweigen. Im Lichtschein der Straßenlaternen erkannte er, dass das Gesicht der Kroatin vor Hass zu einer grässlichen Fratze verzerrt war. Diese wetterte weiter wie eine Verrückte vor sich hin. Als er es vorzog, nicht darauf zu reagieren, stupste Gabriela ihn so heftig an der Schulter an, dass er fast das Lenkrad verrissen hätte.
    „Camil, ich rede mit DIR! … ANTWORTE gefälligst!“, brüllte sie den Fahrer an.
    „Verdammt! …. Ich bin kein Hellseher! …“, gab er in der gleichen Lautstärke zurück, „Du hast bei Remzi gesehen, was die Kleine von Jäger als Ärztin drauf hat!“, was Gabriela ein missmutiges „Pfff“ entlockte. „Kein Plan, was die mit Jäger angestellt hat, um ihn wieder auf die Beine zu bringen. Ich für meinen Teil, hätte keinen Cent auf dessen Überlebenschancen gewettet!“


    Langsam bog der Audi vom Buchheimer Ring auf die stockfinstere Zufahrtsstraße zur Villa ein. Im Dunkel des Waldes tauchte das große Rolltor im Scheinwerferlicht auf. Gabriela, die ihre Pistole vorsorglich aus der Handtasche geholt hatte, fuchtelte damit wild umher. Ungeduldig wartete sie darauf, bis sich das schwere Rolltor langsam öffnete. Der Audi rollte in Schrittgeschwindigkeit auf das Grundstück.


    „Jäger! …. Jäger! … Ich kriege dich! … Ich knall dich ab und zuvor bringe ich vor deinen Augen deine heißgeliebte Freundin um!“ Ihre Stimme überschlug sich dabei vor Hass. Sie geiferte und tobte regelrecht vor sich hin. „Jeden Knochen einzeln soll dir Remzi brechen!“


    Camil warf einen besorgten Blick auf seine Beifahrerin. Bei sich dachte er, es wird wirklich Zeit, dass er Köln verließ, bevor diese Wahnsinnige ihn mit in den Abgrund zog. Vielleicht noch heute Nacht? Vereinbarungsgemäß hielt er den Audi an, bis sich das große Rolltor der Zufahrt hinter ihnen schloss. Prüfend scannte er mit seinen Blicken die Umgebung, ob er von den Flüchtigen etwas entdeckt konnte. Zu seiner Linken befand sich das parkähnliche Gelände, dessen Rand Rhododendrenstöcke säumten und so auch optisch von der Zufahrt abtrennten.


    Der Schall von abgefeuerten Schüssen war selbst durch die geschlossenen Fensterscheiben des Wagens zu hören. Gabriela drückte auf die Taste für den elektrischen Fensteröffner. Surrend fuhr die Scheibe in der Beifahrertür nieder.


    „Verfluchte Scheiße! Sind die denn verrückt geworden! Der Krach von dieser Schießerei lockt ja selbst den dümmsten Bullen an! Haben diese Idioten noch nie was von Schalldämpfern gehört! Idioten! … Idioten! … Bin ich denn nur von Idioten und Anfängern umgeben! …“, wetterte sie los. Sie hatte schon den Türgriff in der Hand um auszusteigen, als ihr Camil besorgt ins Wort fiel.
    „Halt! … Da stimmt was nicht Gabriela!“ Wieder sondierte er argwöhnisch die Umgebung, die Zufahrt, die spärlich beleuchtet vor ihnen lag. „Wer liefert vier ausgewachsenen Männern so ein Feuergefecht! Dieser halbtote Bulle bestimmt nicht. Die Russin? Ich habe ein ganz mieses Gefühl!“, unkte der sonst so schweigsame Mann. Er zog dabei seine Pistole aus dem Schulterhalfter, entsicherte diese und ließ das Fahrzeug in Schrittgeschwindigkeit die Zufahrt zur Villa hochrollen. Prüfend richtete er seinen Blick nach vorne und zur Seite ins Gebüsch. Dabei murmelte er still in sich hinein: „Das gefällt mir nicht …. Das gefällt mir überhaupt nicht!“


    Je näher der Audi dem Eingangsbereich der Villa kam, desto klarer wurde den beiden Insassen, dass sich vor ihren Augen ein Drama abspielte. Aus den Fenstern des Hauses wurde in Richtung des Carports und der Garagen geschossen. Wer auch immer sich dort verbarrikadiert hatte, erwiderte das Feuer mit einem Maschinengewehr. Die Feuerstöße leuchteten im Dunkel auf. Die Leiche eines der Kovac Zwillinge lag auf den hellen Kieselsteinen halb im Carport, halb zwischen den dort geparkten Autos.


    Im Licht der Scheinwerferkegel erkannte Gabriela, wer im Carport hinter dem schwarzen Toyota Deckung gesucht hatte. Es war der Mensch, den sie am meisten fürchtete und am wenigsten dort erwartet hatte: Semir Gerkhan. Ihr Gesicht verzerrte sich zu einer dämonischen Fratze.
    „Davao je ovdje!“, entfuhr es ihr (²)


    (²) Der Teufel ist da

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