Zu viele Pferdestärken

  • Sarah ging Ben aus dem Weg, er hatte sie gestern sehr verletzt und so hatte er nur kurz geduscht, seine Klamotten aus dem Schrank geholt und eine Tasse schwarzen Kaffee getrunken, während er den „Klumpfußschuh“ wie er den Vakuumstiefel nannte, überzog. Sonst verabschiedete er sich von ihr immer mit einem Kuss, aber heute holte sie „zufällig“ etwas aus dem Keller. Hildegard brachte Tim zum Kindergarten und erst am späteren Vormittag wurde der große graue Riese vermisst.


    Ben und Jenny saßen gerade bei Frau Krüger bei der Besprechung als Sarah anrief und so drückte Ben sie erst mal weg, er würde später zurück rufen- was er natürlich vergaß. Erst als er irgendwann seine Whatsappnachrichten kontrollierte, las er was Sarah im gemailt hatte: „Wenn du mit mir auch nicht reden willst- Lucky ist verschwunden. Ich habe schon im Tierheim und bei der örtlichen Polizei angerufen, wir suchen ihn überall!“, stand da und jetzt überfiel Ben das schlechte Gewissen und dazu eine große Sorge um seinen geliebten Hund. Als er Sarah anrief fertigte sie ihn kurz ab: „Ich gebe dir Bescheid wenn wir was wissen, mach du nur deinen Job!“, und dann legte sie auf.


    „Jenni- wir müssen zu mir nach Hause, Lucky ist verschwunden!“, bat er seine Kollegin. Sie mussten sowieso in die Gegend, denn nachdem alle anderen Spuren im Sand verlaufen waren, hatten sie gemeinsam mit der Chefin beschlossen, im Dorf in dem die alte Frau den Spyder schon mehrmals gesehen hatte, möglichst viele Leute zu befragen, ob sie ebenfalls Beobachtungen gemacht hätten, die zu dem Todesfahrer führten.


    Unterwegs verfolgten sie auf der Autobahn noch einen Raser, sprachen ein Fahrverbot aus und so nahmen sie erst, anders als geplant, die nächste Ausfahrt und kamen auf dem Weg zu Ben nach Hause am Stall vorbei, wo die Ponys gestanden hatten. Ein paar Meter weiter glaubte Ben seinen Augen nicht zu trauen! Lucky lag heftig witternd in einem Vorgarten, an dessen relativ hohem Türchen ein Warnschild mit einem Deerhound angebracht war. Als Ben ausstieg und ihn rief, wedelte er kurz mit der Rute als Zeichen des Erkennens, aber sein Blick war gebannt auf die Haustür gerichtet. Ben humpelte zum Tor, läutete, aber als niemand öffnete, machte er kurzerhand das unverschlossene Türchen auf und zog seinen Hund am Halsband hinter sich her. „Lucky- ich glaube du spinnst, aber mir ist auch klar was dich hierher geführt hat- die Hormone! Da wohnt deine Freundin- nicht? Die riecht gerade so gut, da musstest du einfach abhauen“, schalt er ihn liebevoll und hatte doch Verständnis. Er beförderte Lucky auf den Rücksitz des Dienstwagens, wo er natürlich eine Schlammspur hinterließ. „Ben- ich befürchte du wirst heute nach Feierabend noch ein Auto sauber machen!“, neckte ihn Jenni und lachte schallend als sie den vernichtenden Blick sah, den Ben ihr zuwarf. Als Sarah eine Minute später die Whatsapp checkte, die ihr Mann ihr geschrieben hatte, atmete sie erleichtert auf. „Habe Lucky soeben verhaftet- wird gleich zuhause abgeliefert!“, stand da und so trafen sie sich kurz darauf vor der Haustür, vermieden aber beide den Blickkontakt. „Ich glaube der Strolch muss im Augenblick an der Leine raus- seine Herzallerliebste ist läufig, ich befürchte sonst ist er gleich wieder weg.“, berichtete Ben, erzählte kurz wo er Lucky gefunden hatte und Jenni und er brachen gleich wieder auf. Sie waren noch kein bisschen in ihrem Fall weiter gekommen und der Audifahrer musste gefunden werden bevor er noch weitere Menschen gefährdete.



    Im Dorf befragten sie viele Menschen, einige konnten sich an den gelben Sportwagen erinnern, aber niemand hatte eine konkrete Beobachtung gemacht, wohin er gefahren, oder woher er gekommen war. Anscheinend durchquerte der Fahrer in unregelmäßigen Abständen und zu jeder Tages- und Nachtzeit die Ortschaft, aber keiner der Befragten hatte je auf den Fahrer geachtet, was der getönten Scheiben dieses Modells wegen, sowieso schwierig gewesen wäre. „Irgendwo muss der Typ doch auch mal tanken! Vielleicht ist er bei irgendeiner Tankstelle in der Region auf der Videoüberwachung- wäre das nicht ein Ansatz?“, überlegte Jenni und Ben sah sie überrascht und erfreut an. „Super Idee, jetzt brauchen wir bloß noch eine Genehmigung zur Sichtung der Bänder von der Staatsanwaltschaft und wollen hoffen, dass die nicht schon alle automatisch gelöscht sind!“, überlegte Ben, aber Jenni schüttelte den Kopf. „Die werden so lange gespeichert, bis der Tankstellenpächter sein Geld hat. Nachdem die meisten Menschen an der Tanke mit Karte zahlen, kann das eine Weile dauern, ich habe früher gelegentlich mal an einer gejobbt, bevor ich auf die Polizeischule gegangen bin“, berichtete die jüngere Kollegin und hatte schon auf dem Tablet die Tankstellen in der Umgebung markiert.


    „Das sage ich dir-ich habe null Bock mir jetzt stundenlang Bänder an zu schauen, vielleicht sollten wir das delegieren?“, überlegte Ben und wenig später stand fest, dass Hartmut die beiden unterstützen würde. „Nachdem wir ja primär erst mal ein genau definiertes Auto suchen, werde ich einen Algorhythmus entwerfen, wo meine Software die nicht passenden Automarken raus wirft, dann ist das Bildmaterial gleich viel weniger!“ versprach ihnen Hartmut, während sich Susanne und die Chefin um die Genehmigungen bei der Staatsanwaltschaft kümmerten. „Irgendwie kriegen wir dieses A...., war Ben fest überzeugt und wieder schoss ihm, wie schon mehrfach heute, die Erinnerung an Semir´s schweren Unfall und die dramatischen Minuten danach durch den Kopf. Wie gerne wäre er jetzt in der Klinik und bei seinem Freund gewesen und er würde auf jeden Fall später nochmals dort vorbei schauen und vielleicht hatte sich Andrea bis dahin auch wieder eingekriegt, aber jetzt galt es einen Fall zu lösen und wenn er so recht darüber nachdachte, wären die Ponys vielleicht gar nicht durch gegangen, wenn der Fahrer des Spyder sie nicht mit Vollgas überholt und gehupt hätte.

  • Semir erwachte wieder. Er versuchte Ordnung in seinen Kopf zu kriegen, was mit den ganzen Drogen die durch seine Adern flossen aber gar nicht so einfach war. Wenn er still lag hatte er kaum Schmerzen, aber wehe wenn er sich bewegte, dann konnte er sich aussuchen welcher Körperteil mehr schmerzte. Waren es die Arme, der Brustkorb oder der Kopf? Aber am meisten störte ihn, dass er nicht Herr seiner Gedanken war, keinen Satz zu Ende denken konnte, ohne zwischendurch ein zu schlafen, niemand ihn aufklärte was genau geschehen war und er immer wieder Flashbacks erlebte. Oder waren das doch reale Situationen? Irgendwann meinte er Ben zu sehen und versuchte zu verstehen was der zu ihm sagte, aber bevor er den befragen konnte was eigentlich passiert war, war er bereits wieder eingeschlafen. Auch Andrea war da gewesen. Er hatte sich fürchterlich schwach gefühlt, sich aber auch Sorgen um sie gemacht, sie sah dünn und völlig verhärmt aus, was war geschehen? War etwas mit den Kindern oder sogar mit Ben? Er sagte ihren Namen und wollte sie anfassen, aber da schoss ein scharfer Schmerz durch seinen Körper der ihn aufstöhnen ließ und sofort kam eine Schwester und dann wusste er für eine ganze Weile nichts mehr, aber auch die Schmerzen waren weg.


    Immer wieder wurde er geweckt, man leuchtete mit einer Taschenlampe in seine Augen, forderte ihn auf seine Beine und seine Finger zu bewegen und fragte ihn, ob er wisse wo er sei, welches Datum man habe und wie alt er sei. Nach dem vierten oder fünften Mal, als er wieder aus dem Tiefschlaf gerissen wurde, knurrte er genervt: „Ich hab ihnen das schon tausendmal gesagt - wenn sie es sich nicht merken können, schreiben sie es sich auf!“, und das helle Lachen der Schwester klang noch eine Weile in seinen Ohren.

    Erst wusste er nicht, ob Tag oder Nacht war, aber so langsam hatte er sich an den Schein der Monitore und ein gedämpftes Nachtlicht gewöhnt. Auch draußen war es relativ ruhig, aber als er zum gefühlt hundertsten Mal aus dem Schlaf gerissen wurde, bemerkte er wie die Morgendämmerung langsam anbrach und die Geräusche des Kölner Morgenverkehrs durch ein geöffnetes Fenster zu hören waren und so mies und krank er sich auch fühlte, beruhigte ihn das mehr als alles andere – das war ein wichtiger Teil seines Lebens, die Stadt und die Autobahn.


    Am Morgen war Schichtwechsel und ein junger männlicher Pfleger übernahm ihn, klar das war Andy, den kannte er schon länger, nicht nur von Ben´s früheren Intensivaufenthalten, sondern auch von Festen bei den Jägers im Garten und so konnte er sich vertrauensvoll von dem frisch machen lassen, nur das Zähneputzen gestaltete sich als ausgesprochen schwierig - war das vielleicht ein doofes Gefühl, wenn einem jemand Fremdes mit der Bürste im Mund herum schrubbte! „Herr Gerkhan, ich hoffe sie können das in absehbarer Zeit wieder selber, aber im Augenblick gibt es leider keine andere Möglichkeit!“, entschuldigte der sich regelrecht und als die Wascherei beendet war, schlief Semir erst mal völlig erschöpft noch ein kleines Ründchen, stündlich unterbrochen von den neurologischen Kontrollen.


    Bei der Visite war ein großes Aufgebot an Weißkitteln um sein Bett, aber wenn erst auch viel medizinisches Fachchinesisch fiel, wandte sich der Chefarzt der Intensivmedizin dann noch direkt an ihn. „Herr Gerkhan, entschuldigen sie, dass wir jetzt sozusagen erst einmal über ihren Kopf hinweg gesprochen haben, aber es freut mich sehr, dass sie nach ihrem schweren Unfall bereits wieder so wach und orientiert sind, auch die ganzen Werte entwickeln sich zu unserer völligen Zufriedenheit. Wissen sie was geschehen ist und welche Verletzungen sie davon getragen haben?“, fragte er und Semir musste zugeben, dass er sich nur bruchstückhaft an manche Dinge erinnern konnte und mehr durch die Schmerzen feststellen konnte, wo er überall verletzt war.
    „Sie hatten einen schweren Kutschenunfall und wurden danach von ihrem Kollegen einige Minuten reanimiert, wie man sieht erfolgreich. Sie haben ein schweres Brustkorbtrauma erlitten mit Rippenserienbrüchen und Brustbeinfraktur, einer Lungenquetschung und Herzprellung, was vermutlich auch die Ursache ihres Herzstillstands war. Beide Arme sind mehrfach gebrochen, die rechte Seite konnten unsere Unfallchirurgen gestern bereits mit Platten und Schrauben stabilisieren, die linke Seite muss noch gemacht werden, was für morgen geplant ist. Ein kleines Lungenstück war so schwer verletzt, dass es entfernt werden musste und der Schlauch der da aus ihrer Seite kommt ist eine Dauersaugung, die brauchen wir, damit die Lunge entfaltet bleibt.
    Sie haben auch ein Schädel- Hirn- Trauma erlitten mit einer kleinen Blutung, die wir im Verlauf heute nochmals im CT kontrollieren werden, darum werden sie auch immer geweckt und ihre Pupillen beurteilt, da kann man nämlich zuerst erkennen, ob sich die Blutung vergrößert und das Eingreifen der Neurochirurgen erforderlich ist. Aber in Anbetracht der Schwere ihrer Verletzungen sind wir sehr zufrieden und nachher dürfen sie aus dem Bett – das ist gut für die Lunge und wenn sie möchten, können sie auch bereits etwas Leichtes essen!“, umriss der Chefarzt kurz, auch für einen Laien verständlich, die Verletzungen seines Patienten. Semir war ein wenig blass geworden, das hörte sich ganz schön dramatisch an, aber die ganzen Ärzte und das Pflegepersonal waren so freundlich und locker, er fühlte sich auf jeden Fall gut aufgehoben. Inzwischen waren die Schmerzen halbwegs erträglich, man hatte eine wirksame Kombination von Schmerzmitteln gefunden, die ihn nicht völlig doof im Kopf machte, aber jetzt musste er sich erst einmal ausruhen und die ganzen Informationen verdauen.


    Andrea hatte ebenfalls tief und traumlos geschlafen und erwachte am Morgen ganz von selber. Einen kurzen Augenblick war sie völlig zufrieden und fühlte sich wohl, bis sie den Kopf wandte und sah, dass Semir´s Bettseite unbenutzt war. Daraufhin fielen ihr plötzlich die schrecklichen Geschehnisse der letzten beiden Tage ein und sie wollte sich am Liebsten wieder unter ihrer Decke verkriechen. Dann allerdings atmete sie tief durch. Gestern Abend war Semir wach gewesen und hatte sie erkannt. Auf ihrem Handy war, als sie das kontrollierte, keine Nachricht und kein Anruf in Abwesenheit. Sie glaubte dem Klinikpersonal schon, dass die sie sofort verständigen würden, wenn es Komplikationen gäbe, also war zumindest im Augenblick kein Grund da, dass sie in Panik verfiel. Der erste Schultag nach den Ferien war angebrochen und so stand sie leise auf und hatte bereits das Frühstück für sie alle vorbereitet und die Pausenbrote geschmiert, als ihre Mutter in der Küche erschien. Gemeinsam weckten sie dann die Kinder, machten sie fertig und Andrea übernahm es auch Lilly in den Kindergarten zu bringen und ein Stück von Ayda´s Schulweg liefen sie auch noch gemeinsam. Nach ihrer Rückkehr rief Andrea in der Klinik an und da wurde ihr mitgeteilt, dass es Semir den Umständen entsprechend gut ginge und er sich auf ihren nachmittäglichen Besuch freue.


    Nun konnte sie langsam ein wenig aufatmen und ging dann den ganz normalen Haushaltstätigkeiten nach. Ab morgen würde sie nach den Herbstferien wieder arbeiten müssen, aber dazu fühlte sie sich absolut nicht in der Lage, darum machte sie noch einen Termin bei ihrer Hausärztin und nach dem Besuch bei der, hatte sie erstens eine Krankmeldung für den Rest der Woche und außerdem hatte die sie auch beruhigt, was Semir´s Verletzungen betraf. „Wenn er sie erkannt hat, nicht mehr beatmet ist und die eine Seite schon repariert ist, wird er schon wieder in Ordnung kommen. Die sind wirklich gut in der Uniklinik, er hat sicher noch einen langen Genesungsweg vor sich, aber die Informationen die sie mir gegeben haben hören sich nicht so übel an - in Anbetracht der Schwere der Verletzungen klingt das sogar alles hervorragend. Vertrauen sie auf die Natur, die Medizin und nicht zuletzt ihren Mann - der ist ein Kämpfer und wird sicher wieder auf die Beine kommen so wie ich ihn kenne!“, beschwor sie die Ärztin und als Andrea zum Mittagessen nach Hause kam, das ihre Mutter bereits vorbereitet hatte, war ihr schon viel leichter ums Herz. Ayda und Lilly, die vom Opa von Schule und Kindergarten abgeholt worden waren, malten noch ein Bild für Papa und wenig später machte sich Andrea mit öffentlichen Verkehrsmitteln wegen der Parkplatzproblematik auf den Weg zum Krankenhaus.

  • Die Staatsanwaltschaft holte beim Richter die Genehmigung zur Sichtung der Aufzeichnungen der umliegenden Tankstellen ein. Tatsächlich wurden sie mithilfe von Hartmut´s Algorithmus sogar zweimal fündig. Als in der ersten Tankstelle der rothaarige Techniker rief: „Wir haben einen Treffer!“, beugten sich Jenni und Ben gebannt über den Bildschirm seines Laptops. Tatsächlich - das war eindeutig ein gelber Spyder, leider konnte man weder vorne noch hinten das Kennzeichen erkennen, obwohl der Wagen ansonsten blitzsauber war, schienen die mit Schlamm verschmiert zu sein. Der Fahrer war ausgestiegen, aber auch da konnte man nur sehen, dass es ein großer, dunkelhaariger, schlanker Mann war. Sein Gesicht war nirgendwo zu erkennen und wie man bei der Rückverfolgung der Daten dann feststellen konnte, hatte er bar bezahlt. „Mist - gut wir sind ein bisschen weiter, der Fahrer ist ein Mann und vom Habitus her nicht mehr ganz jung, aber mehr wissen wir noch nicht. Machen wir an der nächsten Tankstelle weiter!“, beschloss Ben und als sie an der übernächsten Tanke zwar erneut den Wagen drauf hatten, etwa zwei Wochen früher, waren die Umstände aber dieselben. Kein Kennzeichen und kein Gesicht, über das man eine Gesichtserkennungssoftware laufen lassen konnte. Hartmut versprach, sich das Bildmaterial in der KTU mit besserer Auflösung nochmals an zu sehen, aber den ultimativen Durchbruch hatten sie nicht erzielt. Alle Tankstellenpächter waren zwar gebeten worden nach dem Spyder Ausschau zu halten und sofort die Polizei zu verständigen, wenn der wieder erschien, aber mehr konnten sie aktuell nicht machen.


    Ben hatte erneut zwei Schmerztabletten eingeworfen und humpelte zunehmend stärker, sein Fuß war in der Schiene mega angeschwollen. „Meinst du nicht wir sollten Feierabend machen?“, schlug Jenni mit einem Blick auf ihn vor. „Soll ich dich heim fahren?“, fragte sie, aber Ben schüttelte den Kopf. „Feierabend wäre okay, immerhin ist es inzwischen vier geworden, aber wenn du mich zur Uniklinik bringen könntest, wäre ich dir dankbar!“, bat er und Jenni nickte. „Möchtest du deinen Fuß anschauen lassen, soll ich auf dich warten?“, fragte sie, aber Ben verneinte. „Weder noch – ich werde nochmal versuchen Semir zu sehen, sonst finde ich keine Ruhe und fahre später mit dem Taxi heim. Mit einem Dackelblick auf die inzwischen trocken – schlammige Rückbank fragte er: „Jenni - wenn ich dich bei Gelegenheit zu einem fürstlichen Essen einlade, könntest du für einen armen, schmerzgeplagten Invaliden zum Staubsauger greifen?“, säuselte er und Jenni runzelte erst die Stirn und dann versetzte sie ihm einen freundschaftlichen Boxhieb an den Rippenkasten. „Du weißt schon, dass du mir dann was schuldig bist, aber meinetwegen, ausnahmsweise, weil du es bist – und das Lokal bestimme ich“, antwortete sie und wenig später stieg Ben vor dem Haupteingang der Uniklinik aus dem Wagen.


    Seine Krücken vergaß er, aber als er nun langsam in Richtung Intensivstation humpelte, machte ihm eher Sorge, wie er dort reinkommen sollte, wenn doch Andrea ein Besuchsverbot ausgesprochen hatte. Aber trotzdem konnte ihn nichts und niemand aufhalten, sein bester Freund war ihm einfach zu wichtig, als dass er sich da an irgendwelche Anweisungen Dritter halten würde. Falls es ihm offiziell nicht gestattet wurde Semir zu sehen, würde er einfach rein spazieren, zumindest einen kurzen Blick auf ihn werfen und dann vermutlich wieder raus geworfen werden, aber den Ärger war es ihm wert.



    Andrea war in einem merkwürdigen Zustand zwischen Freude und Sorge, als sie heute draußen an der Intensiv läutete. Freundlich wurde ihr über die Sprechanlage Zutritt gewährt und als sie wenig später in Semir´s Zimmer trat, staunte sie nicht schlecht. Er war zwar blass und sichtlich angestrengt, aber er saß mit einem dünnen Laken zugedeckt, umgeben von Kabeln und Schläuchen in einem Mobilisationsstuhl und lächelte sie an. Mit zwei Schritten war sie bei ihm, Tränen der Freude in den Augen. „Schatz – ich bin begeistert – das hätte ich gestern nicht zu träumen gewagt! Du bist bereits auf – jetzt glaube ich langsam, was unsere Hausärztin prophezeit hat - du bist so ein Kämpfer, du wirst bald wieder auf den Beinen sein“, stammelte sie mit Tränen des Glücks in den Augen. „Als Ben mich vorgestern angerufen hat und mir von deinem Unfall erzählt hat, dachte ich es ist vorbei. Und jetzt – ich bin einfach nur glücklich!“, sagte sie und küsste ihn zärtlich auf die Stirn.

    Langsam fiel die Anspannung von ihr ab und als die Schwester wenig später einen Joghurt brachte, fütterte sie ihren Mann wie früher die Kinder als sie klein waren. „Verdammt ich komme mir vor wie ein Kleinkind, nichts, aber auch gar nichts kann ich selber tun“, polterte Semir. „Ich hoffe nur, dass ich nicht zur Toilette muss, nicht mal selber abwischen könnte ich mich!“, klagte er, aber jetzt war es an Andrea den Kopf zu schütteln. „Semir – das sind doch Peanuts! Du hast früher unsere Kinder auch gewickelt, als sie noch nicht sauber waren. Das ist jetzt einfach so und so wie ich das verstanden habe, wirst du viel Krankengymnastik kriegen und bald wieder wenigstens ein kleines bisschen mobiler sein. Gestern noch hatte ich Angst dich zu verlieren und jetzt bist du wegen Kleinigkeiten undankbar“, schalt sie ihn und er sagte momentan nichts darauf.


    Kurz darauf kam die Schwester wieder herein und leuchtete ihm in die Augen, bat ihn die Extremitäten zu bewegen, was er mühsam und unter Schmerzen bewerkstelligte und stellte orientierende Fragen. „Siehst du Andrea – todmüde bin ich obendrein, ständig werde ich geweckt und mit nervigen Fragen bombardiert – auch nachts!“, beschwerte er sich, aber jetzt war es an der älteren und souveränen Pflegekraft ein wenig zu schimpfen. „Herr Gerkhan – seien sie nach diesem schweren Unfall den sie hatten bitte dem Schicksal ein wenig dankbarer. Es ist nicht selbstverständlich dass sie hier so sitzen und bereits wieder herum mosern können. Sie sind dem Tod gerade mal noch so von der Schippe gesprungen und wenn sie nicht das große Glück gehabt hätten, sofort suffizient reanimiert zu werden und danach hochklassige medizinische Betreuung zu erhalten, würden sie vielleicht für den Rest ihres Lebens als sabbernder Fleischkloß ohne Bewusstsein vor sich hin vegetieren, oder ihre Frau musste jetzt alles für ihre Beerdigung veranlassen. Wir tun hier alle nur das, was für sie im Moment gut und notwendig ist. Dieser sogenannte Kopfbogen, also die stündliche Kontrolle ihrer Pupillen und einiger anderer Parameter, die auch dokumentiert werden, soll uns erkennen lassen, falls es doch noch Komplikationen gibt, wie eine stärkere Einblutung in ihr Gehirn. Wenn das so wäre könnten wir sofort reagieren, aber ihr Gemeckere sind kindische Befindlichkeitsstörungen. Sie müssen keine Angst haben - ich fühle mich von ihrem Verhalten nicht persönlich angegriffen und werde sie weiter professionell versorgen, wie ich das seit 40 Jahren mit meinen Patienten mache, aber das musste mal gesagt sein!“, knallte sie ihm vor den Latz und augenblicklich war Semir still. Andrea beobachtete ihn sorgenvoll, aber dann kam eine Reaktion die sie nicht erwartet hatte. Semir, dessen Gesicht erst zornig gewesen war, begann zu grinsen. „Touché, Schwester Susanne, jetzt haben sie mich aber wieder eingenordet, aber ich befürchte das habe ich verdient. Wenn ich nicht so Angst vor den Schmerzen hätte, würde ich ihnen jetzt die Hand schütteln, ich habe mich gerade wie ein A.... verhalten und war ungerecht und undankbar, aber ich werde versuchen mich zu bessern, ich bin nur so ungern Patient!“, erklärte er und nun lächelte auch die Schwester. „Sehen sie ich wusste doch, dass man mit ihnen reden kann. Ich würde sagen, sie bleiben, wenn ihr Kreislauf das mitmacht, noch kurz draußen und in etwa 20 Minuten bringen meine Kollegin und ich sie wieder ins Bett zurück. Bis dann!“, verabschiedete sie sich und verließ das Zimmer.

  • Semir sah der Schwester nach und kam nun endlich aus dem Strudel von Zorn, Angst und Schmerz heraus, der seinen Kopf daran gehindert hatte, ordentlich zu funktionieren. Andrea hatte sich einen Besucherstuhl ganz nahe heran gezogen, ihre Hand auf seinem Oberschenkel abgelegt, sie hatte ein dringendes Bedürfnis ihn anzufassen und langsam wurden ihre verhärmten Züge weicher. Semir fing ihren Blick mit seinen dunklen Augen und erst jetzt wurde ihm bewusst, dass nicht nur er in den letzten Tagen so einiges mit gemacht hatte.


    „Schatz – ich liebe dich und bin froh, dass wir doch zusammen alt werden und unsere Kinder aufwachsen sehen können, war wohl nicht so selbstverständlich!“, flüsterte er und aus Andrea´s Augenwinkel floss eine kleine Träne, während sie ergriffen nickte. Instinktiv hob er die Hand, um diese zärtlich weg zu wischen, aber der scharfe Schmerz ließ ihn innehalten. „Ich denke da muss ich mich jetzt einfach dran gewöhnen, dass ich im Augenblick ziemlich eingeschränkt bin“, kapitulierte er und seine Frau nickte, während sie in ihrer Handtasche nach einem Papiertaschentuch kramte. Dabei fielen ihr die Bilder der Kinder in die Hände und sie zog sie hervor und legte sie auf das Tischchen vor Semir. „Da gibt es noch so einige die dich brauchen und vermissen!“, sagte sie weich und der kleine Türke betrachtete gerührt die beiden Bilder. Ayda, die sehr gerne und gut zeichnete, hatte einen Teddy gemalt, der einen bunten Blumenstrauß in den Händen hielt und auf einer grünen Wiese saß. Darüber stand: „Gute Besserung Papa!“, und Lilly hatte versucht es ihrer Schwester gleich zu tun, nur war auf den ersten Blick nicht genau zu erkennen, was das auf dem Bild sein sollte. Wenn man aber genauer hin sah, war es wohl sie selber die ebenfalls Blumen in den Händen hielt und darunter stand in Krakelschrift „Lilly“, denn ihr Name war das einzige was sie schon fehlerfrei schreiben konnte. Nächstes Jahr würde sie in die Schule kommen und gerade war Semir von Herzen dankbar, dass er das wohl doch miterleben durfte.

    „Künstlerisch absolut wertvoll, richte meinen Mädels bitte ein großes Dankeschön aus und dass ich sie sehr vermisse. Ich hoffe ich komme bald auf Normalstation, wo sie mich besuchen dürfen“, bemerkte Semir mit einem Lächeln und seine Frau nickte.


    „Wie fühlst du dich? Du bist erschreckend dünn geworden in den paar Tagen“, fragte der kleine Türke nun besorgt, weil Andrea so gar nichts sagte und nun flossen plötzlich die Tränen bei ihr. „Tut mir leid, es geht doch gar nicht um mich – du bist der Patient und gerade noch mal so dem Tod von der Schippe gesprungen, wie die Schwester gesagt hat, aber ich dumme Kuh kann mich nicht beherrschen – ich hatte solche Angst dich zu verlieren!“, schniefte sie unglücklich und jetzt wurde Semir´s Blick ganz weich. „Ach Schatz – ich verstehe doch, was du dir für Sorgen gemacht hast und noch dazu hatte ich dich auch belogen – ich hatte gar keinen Bereitschaftsdienst, nur keine Lust auf eine langweilige Familienfeier. Es wäre schrecklich gewesen, wenn ich mit dieser Lüge hätte abtreten müssen. Es ist mir eine Lehre für die Zukunft, ich werde mich bemühen, dich nicht mehr an zu schwindeln, großes Türkenehrenwort!“, schwor er und wollte instinktiv die rechte Hand mit den Schwurfingern heben, was ihm ein erneutes Stöhnen entlockte. „Ich liebe dich, mein Herz!“, flüsterte Andrea nun und barg ihr Gesicht an seiner Schulter, der einzige Ort wo irgendwie keine Kabel oder Schläuche waren. Semir neigte nur den Kopf und küsste sie zart auf den Scheitel, das war Antwort genug. Wenige Minuten saßen sie in inniger Zweisamkeit, dann wurde ihr Glück jäh von der Schwester unterbrochen.


    „Herr Gerkhan, wir würden sie jetzt gerne ins Bett bringen, ich glaube für heute reicht es mit den Ausflügen“, sagte Schwester Susanne, die jetzt mit einer Kollegin, ein wenig später als angekündigt, herein gekommen war. Ihr war schon bewusst wie wichtig dieser Moment zwischen den Eheleuten war, sie hatte allerdings vom Zentralmonitor aus gesehen, dass Semir´s Blutdruck peu á peu in die Knie gegangen war und tatsächlich hatte ihr Patient Schweißperlen auf der Stirn und war ein wenig blass um die Nase, der musste jetzt dringend liegen.


    Andrea wurde gebeten kurz vor der Zimmertüre zu warten und es schnitt ihr ins Herz als Semir trotz Opiatgabe mehrmals schmerzvoll aufstöhnte, als man ihn bewegte und so vorsichtig wie möglich hinlegte. Als sie wenig später wieder herein durfte, lag er auf dem Rücken, das Bettkopfteil erhöht und war völlig erschöpft. Es bedurfte keiner Worte.

    Andrea saß noch eine Weile neben seinem Bett, tupfte seine schweißfeuchte Stirn mit einem kühlen Waschlappen ab und verabschiedete sich dann. „Ich sehe du musst dich jetzt ausruhen, ich komme morgen wieder – gute Besserung!“, flüsterte sie und musste dann grinsen als Semir die Lippen spitzte. „Das muss gehen, trotz des doofen Sauerstoffschlauchs!“, bestimmte er und obwohl das ein Küsschen mit Hindernissen wurde, tat es beiden gut, ihre Verbundenheit zu bekräftigen. „Du bist mein Herz, ich liebe dich und grüße die Kinder von mir!“, trug ihr Mann ihr auf und Andrea´s Schritt war wesentlich beschwingter, als sie nun die Klinik verließ, als der mit dem sie gekommen war.


    Andrea hatte die Treppe hinunter genommen, währenddessen war Ben mit dem Aufzug nach oben gefahren. Eigentlich hasste er diese engen Räume in denen man sich vorkam wie eine Ölsardine, eingeklemmt zwischen schwitzenden Menschenleibern und ging üblicherweise zu Fuß, aber heute klopfte sein Bein unendlich und war so mega angeschwollen, dass er das nach dem langen Tag einfach nicht mehr geschafft hätte. So verpassten sie sich knapp, aber vielleicht war das ganz gut so.

  • Semir hatte nach dem Besuch seiner Frau die Augen geschlossen und war fast sofort eingeschlummert. Ben war gerade aus dem Aufzug gestiegen, da traf er einen ehemaligen Kollegen, der ihn in ein längeres Gespräch verwickelte.
    Wenig später wurde Semir auch schon wieder zum Kopfbogen geweckt, was er diesmal klaglos über sich ergehen ließ, jetzt hatte er nämlich verstanden um was es ging, Mann hätte man ihm das nicht schon früher erklären können?


    Ben läutete an der Intensivstation und brachte sein Anliegen vor: „Ich würde gerne kurz Herrn Gerkhan besuchen, ist das möglich ?“, fragte er. Die Pflegekraft die an der Sprechanlage war, fragte zurück: „Sind sie Angehöriger?“, und als Ben darauf wahrheitsgemäß antwortete: „Nein nicht direkt!“, wurde er sofort gnadenlos abserviert. „Nur den nächsten Angehörigen sind Besuche gestattet!“, ertönte die blecherne Stimme aus der antiquierten Rufanlage und jetzt stand Ben erst einmal da.

    Er verfluchte sich, warum hatte er nicht einfach behauptet Semir´s Bruder zu sein? So musste er sich jetzt erst einmal einen Schlachtplan zurecht legen. Sollte er einfach rein marschieren und so tun als hätte er alle Rechte? Nach kurzem Überlegen verwarf er das, auch er wäre brüskiert, wenn Besucher das auf der Dienststelle einfach so machen würden - und dann wäre er bei Sarah´s Kollegen unten durch. Keine Frage, wenn Gefahr im Verzug wäre, würde er sich an gar keine Regeln halten, aber jetzt war das einfach blöd. Auch war nicht aus zu schließen, dass Andrea gerade bei Semir zu Besuch war und er wollte deren Zorn nicht weiter schüren, also blieb ihm nur zu warten und zu hoffen, dass irgendjemand raus kam, den er kannte und dem er sein Anliegen unterbreiten konnte, oder später nochmals zu läuten. Erst mal setzte er sich in die Besucherecke und legte sein schmerzendes Bein hoch- Mann tat das gut!


    Semir war derweil wieder etwas munterer geworden, das Abendessen war gekommen und er ließ sich von der Schwester einen Kartoffelbrei eingeben und musste sogar gestehen, dass der gar nicht so schlecht schmeckte, wenn es nur nicht so ein komisches Gefühl wäre, derart hilflos zu sein. Die ganze Zeit ging ihm jetzt ein Gedanke durch den Kopf. Wo steckte Ben? Er hatte zwar irgendwie eine Erinnerung daran, dass er ihn erst kürzlich wahr genommen hätte, aber wie lange das her war - keine Ahnung. Andrea hatte er vergessen zu fragen und es war merkwürdig, dass der noch nicht bei ihm aufgeschlagen war. Hoffentlich ging es ihm gut! Sie waren doch zu zweit auf die Kutsche gestiegen und das war die letzte Erinnerung, die er hatte, bevor er auf der Intensivstation aufgewacht war. Dann beschloss er, ihn einfach an zu rufen. Kurz zermarterte er sein Gehirn, um dann die Schwester, die gerade die nächste Kontrolle vornahm, zu bitten: „Könnte ich mal kurz telefonieren?“, fragte er und sie nickte und holte gleich das Mobilteil des Stationstelefons, wählte und stellte es dann auf Lautsprecher.


    Ben´s Nummer war eine der wenigen die Semir auswendig wusste und Sekunden später schreckte der junge Polizist, der ein wenig eingenickt war, hoch weil sein Handy klingelte. Er ging sofort ran und traute fast seinen Ohren nicht, als ein munteres: „Hallo Partner – wo steckst du denn?“, ertönte. „Semir – ich, äh einen Moment bitte!“, stammelte er, um dann erneut an der Rufanlage zu läuten. Diesmal gab es keine Probleme und so humpelte der Dunkelhaarige nur Sekunden später ans Bett seines Freundes, der ihn erfreut und verständnislos ansah. „Sag mal – bist du geflogen?“, fragte Semir verwundert, aber dann sah er die Tränen des Glücks in den Augenwinkeln seines Freundes glitzern, der ihn nun einfach ganz vorsichtig in die Arme schloss.


    Eine ganze Weile sprach keiner von beiden und als Ben sich dann von seinem Freund löste und sich ein wenig schwerfällig einen Stuhl näher zog, bemerkte der erst, dass es dem Dunkelhaarigen auch nicht gut ging. „Erzähl mir bitte genau was passiert ist, mir fehlt ab dem Zeitpunkt als wir auf die Kutsche gestiegen sind, jede Erinnerung - und warum du lahmst wie ein alter Droschkengaul würde ich auch gerne erfahren“, bat Semir und jetzt musste Ben grinsen. Eines war klar, Semir´s Gehirn hatte nichts abgekriegt, er war immer noch der Alte und so begann er, unterbrochen von einigen Zwischenfragen, aus seiner Sicht zu berichten, was geschehen war. Die Sache mit der Reanimation versuchte er herunter zu spielen, aber da insistierte Semir. „Ben – ich weiß inzwischen, dass ich dir mein Leben zu verdanken habe, soviel habe ich von dem kapiert, was die Ärzte gesagt haben. Sofortige suffiziente Reanimation waren ihre Worte, das bedeutet, du hast alles genauso und vor allem richtig umgesetzt, wie wir es wieder und wieder gemeinsam bei unseren Fortbildungen geübt haben. Ich danke dir dafür, denn ich möchte eigentlich schon noch ein Weilchen leben und meine Kinder aufwachsen sehen. Wenn du nicht gewesen wärst, läge ich jetzt nicht hier, sondern vermutlich bereits zwei Meter tiefer“, bemerkte er und lauschte dann noch der Zusammenfassung bis zum Abflug des Hubschraubers.

    Seine Differenzen mit Andrea erwähnte Ben nicht und seine eigene Verletzung spielte er auch herunter. „Fuß verknackst - das passiert mal, wenn man von einer rasenden Kutsche purzelt, das wird schon wieder!“, erklärte er und Semir ließ es auf sich beruhen.


    Dann berichtete Ben noch an welchem Fall er gerade arbeitete und dass er der festen Überzeugung war, dass die Ponys durch gegangen waren, weil der rücksichtslose Spyderfahrer gehupt hatte und weil der nun noch einen Familienvater auf dem Gewissen hatte, würde er alles dran setzen, um ihn zu ermitteln und zur Rechenschaft zu ziehen.


    „Ach Semir, ich mache mir mega Vorwürfe, dass ich dich in die ganze Sache mit rein gezogen habe. Wäre ich nicht auf so eine doofe Idee gekommen, meinen Kindern diese Ponys zu kaufen, wäre das Ganze nie passiert, ich fühle mich einfach verantwortlich für deinen Unfall!“, beichtete er dann, warum er nachts nicht mehr richtig schlafen konnte.
    Nun richtete sich Semir, der langsam wieder von einer bleiernen Müdigkeit und Kopfschmerzen erfasst wurde, ein wenig auf. „Ben das ist doch Quatsch! Ich bin ein erwachsener Mann und von mir kam ja die Idee mit dem müde machen der Ponys vor der Kutsche, damit deine Kinder danach reiten können. Sei mal froh, dass denen wenigstens nichts passiert ist. Manche Dinge geschehen und ich habe meine Fähigkeiten als Kutscher wohl auch gnadenlos überschätzt, das waren sogar für mich zu viele Pferdestärken.
    Jetzt schauen wir einfach, dass wir beide so schnell wie möglich wieder gesund werden und du siehst zu, dass du den Spyderfahrer schnappst, das wäre mir eine Genugtuung!“, sagte er, um nur Sekunden später tief und fest ein zu schlafen. Ben legte nun sein schmerzendes Bein auf den Bettrand hoch und als eine Stunde später die Pflegekraft zum nächsten Kopfbogen kam, schüttelte sie schmunzelnd den Kopf, denn vor ihr lagen, bzw. saßen zwei leise schnarchende Männer.

  • Sarah hatte nochmals die Ponys in der Klinik besucht. Ganz langsam schien es ihnen besser zu gehen. Sie konnten jetzt dank medizinischer Versorgung, Entzündungshemmern und Schmerzmitteln wieder selbstständig auf ihren Beinchen bleiben, man hatte die Infusionstherapie fürs Erste beendet und die beiden standen dicht beieinander in einer gemeinsamen, dick mit sauberem Stroh eingestreuten Box und begannen bereits wieder Heu zu knabbern. Sarah hatte ihre Taschen mit Pferdeleckerlis gefüllt und freute sich von Herzen, als die beiden zögernd und vorsichtig ein paar Schritte auf sie zugingen und die Leckerbissen von ihrer ausgestreckten Hand nahmen. „Mit Frauen geht es besser, vor Männern haben die beiden immer noch große Angst, da muss man ihnen Zeit geben. Nur gut dass hier in der Klinik genügend Pferdepflegerinnen und Tierärztinnen arbeiten, so können wir die beiden trotzdem versorgen und spritzen, ohne dass sie in Panik verfallen. Aber es wird noch ein weiter Weg werden, bis die beiden erstens völlig gesund sind und zweitens wieder Vertrauen zu Menschen aufbauen können!“, erklärte die diensthabende Tierärztin, aber Sarah, der ein weiches Lächeln um die Lippen spielte und die ganz vorsichtig begonnen hatte den zutraulicheren der beiden Hengstchen am Hals zu kraulen, sagte mit fester Stimme: „Das wird die Familie Jäger schon hinbringen. Wir haben ja alle Zeit der Welt , die beiden sind jetzt Familienmitglieder und noch nie haben wir irgendein Tier abgegeben, das den Weg zu uns gefunden hat. Wir haben Platz genug und ich kenne mich mit Pferden aus und reite seit meiner Kindheit!“, erklärte sie der Tierärztin und die nickte mit einem wissenden Lachen. „Da werden sie noch so einiges erleben, das sind Ponys, die haben es faustdick hinter den Ohren, aber wenn sie sich darauf einlassen, werden sie sicher viel Spaß mit ihnen haben!“, prophezeite sie und Sarah fuhr relativ zufrieden danach heim.


    Zuhause angekommen wurde es bereits finster, Hildegard war am Nachmittag mit den Kindern lange spazieren gewesen und die waren ziemlich müde. So aßen sie noch gemeinsam Abendbrot und steckten die beiden danach erst in die Wanne und dann mit einer Gutenachtgeschichte ins Bett. Hildegard zog sich ins Gästezimmer zurück um noch ein wenig fern zu sehen und die Ruhe zu genießen, aber bald war sie eingeschlafen und Frederik schnarchte ebenfalls leise auf seiner Matte vor ihrem Bett.


    Sarah hatte auf ihr Handy geschaut, aber von Ben war keine Nachricht drauf. Ihr Stolz verbot es ihn an zu schreiben, wenn er es nicht für nötig hielt ihr Bescheid zu geben dass er länger arbeiten musste, oder vielleicht sogar in irgendeiner Kneipe hockte und sich volllaufen ließ, nur damit er nicht mit ihr reden musste, dann war es sein Problem!


    Sie erkundigte sich via Whatsapp bei Andrea nach Semir´s Befinden und gleich darauf kam die glückliche Nachricht: „Semir geht es besser, er war bereits aus dem Bett, hat mit mir gesprochen und was gegessen. Danke der Nachfrage!“ und jetzt war Sarah wenigstens deswegen erleichtert.


    Lucky wanderte unruhig durchs Haus und fiepte immer wieder leise. Irgendwann öffnete Sarah die Terrassentür um frische Luft zu schnappen und bis sie sich versah, war der graue Riese an ihr vorbei gewitscht und in der Dunkelheit verschwunden, da half kein Rufen und Pfeifen. Jetzt sollte sich Ben darum kümmern, immerhin war Lucky sein Hund und der Ärger warum er nichts von sich hören ließ, übertraf die leise Sorge die an ihr nagte. Sie zückte ihr Handy und ließ es bei ihm anklingeln. Eine müde Stimme meldete sich nach einigen Malen Läuten: „Ja Sarah was gibt’s?“, fragte er.


    Gerade hatte Ben nach einer herzlichen Verabschiedung von Semir das Krankenhaus verlassen und den Taxistand angesteuert, da rief seine Frau an. Verdammt, er hatte völlig vergessen zuhause Bescheid zu geben, dass er später kommen würde, aber dann hatte er sich wieder gedacht, wie abweisend Sarah gestern und auch am Morgen zu ihm gewesen war. Jetzt drückte ihn einerseits das schlechte Gewissen, aber andererseits war er auch ein wenig trotzig. Ihre ständige Bevormundung wenn ihm irgendwas fehlte, regte ihn auf. War er gesund, lebten sie völlig partnerschaftlich miteinander, aber in dem Moment wo irgendjemand in der Familie krank war, wurde sie zum Profi und es war oft schwer mit ihr aus zu halten. Er würde selber entscheiden ob und wann er zuhause blieb oder arbeiten ging. Sicher wollte sie ihm Vorwürfe machen, wo er so lange blieb und einen kurzen Moment erwog er nicht ran zu gehen, aber dann siegte die Vernunft. Sie waren beide keine kleinen Kinder mehr und mussten einfach miteinander reden. Er musste auch sagen, dass ihm gerade eine Riesenlast von den Schultern gefallen war, als er Semir gesehen und mit ihm gesprochen hatte. Auch wenn es bei ihm sicher noch ein langer Weg bis zur völligen Gesundung sein würde, aber er würde das schaffen, der kleine türkische Kämpfer, sein Seelenverwandter und bester Freund.


    „Dein Hund ist schon wieder verschwunden - kannst du dich vielleicht darum kümmern, er ist mir entwischt, kaum dass ich die Terrassentür einen Spalt aufgemacht habe?“, sprach seine Frau am anderen Ende und Ben bemerkte unglücklich die Distanziertheit in ihrer Stimme. Er wollte nicht streiten und so sagte er: „Ich komme gerade aus der Klinik von Semir, nehme mir ein Taxi und werde versuchen den Taxifahrer dazu zu bringen unser Schlammmonster mit zu nehmen, ich denke er kampiert wieder bei seiner Angebeteten im Vorgarten, bis gleich!“, verabschiedete er sich und in dem Augenblick als er auflegte, tat Sarah bereits die Tonlage leid, in der sie mit Ben gesprochen hatte. Wenn er bei Semir gewesen war, erklärte das alles, aber andererseits hätte er ihr ja wenigstens kurz Bescheid geben können.


    Ben hatte während der Fahrt von der Uniklinik zu sich nach Hause den Taxifahrer über sein Problem aufgeklärt und der hatte gelacht. „Ich habe selber einen Hund, allerdings einen kastrierten Rüden, dem fallen solche Dinge nicht mehr ein. Ich habe eine Schmutzdecke hinten und habe ja auch ein geeignetes Fahrzeug für den Gepäcktransport, das kriegen wir hin“, sagte er und so zerrte wenig später Ben erneut seinen Hund aus dem fremden Vorgarten. Er vermied es an der Haustür zu läuten, die Rollläden waren geschlossen und wenn er Glück hatte, hatten die Besitzer der Hündin noch gar nicht bemerkt, dass ein ungebetener Gast vor ihrer Haustüre vor sich hin geschmachtet hatte. Der Verschmutzungsgrad hielt sich auch in Grenzen und so stieg Ben wenig später, Lucky fest am Halsband haltend, vor seinem Haus aus und konnte Sarah´s Erleichterung in ihrem Gesicht sehen, als sie die beiden wohlbehalten vor sich hatte.

  • „Ich wollte mich entschuldigen“, und „Sorry!“, begannen beide gleichzeitig zu sprechen und anstatt weiter zu reden, zog Ben Sarah eng an sich und küsste sie innig, was sie gerne erwiderte. „Vielleicht sollten wir den Moment nicht tot reden, sondern einfach ins Bett gehen?“, wisperte Sarah, als sie wieder zu Atem kam und wenig später lagen die beiden nebeneinander und kuschelten. Sie liebten sich sanft und doch leidenschaftlich und danach war Ben sofort eingeschlafen. Sarah betrachtete ihn im Licht des Vollmonds, der zum Fenster herein schien - keiner hatte daran gedacht die Läden zu schließen. Er war die Liebe ihres Lebens, auch wenn sie manchmal Differenzen hatten, aber die Basis stimmte. Dann drehte auch sie sich zur Seite, legte die Hand auf die nackte Brust ihres Mannes und war wenig später ebenfalls in Morpheus Träumen.


    Als sie am Morgen erwachten, hatte sie der Alltag wieder, die Kinder kamen vergnügt kichernd zu ihnen ins Bett gekrochen und nach einer ausgiebigen Kissenschlacht standen sie auf und machten gemeinsam die Kleinen für den Kindergarten fertig und frühstückten. Hildegard schlief ein wenig länger, das war der Vorteil eines Gutshauses, man hatte Räume genug, der Gästetrakt war um die Ecke mit eigener kleiner Küche und Badezimmer und der Lärm des Haupthauses drang dort nicht so hin. Ben war mit Lucky an einer langen Leine in den Garten gehumpelt, sein Bein schmerzte zunehmend weniger und er hatte erst mal einfach den Vakuumstiefel weg gelassen. Sarah hatte es gesehen, aber vermieden etwas dazu zu sagen, sie würde Ben´s Verhalten akzeptieren, er war ihr Ehemann, aber nicht ihr Patient und sie hatte ihre Lektion gelernt.


    „Lucky vielleicht kann Hildegard später mit dir und Frederik ausgiebig Gassi gehen, aber vorerst muss das reichen - ich sehe dir schon wieder an, wo du eigentlich hin willst!“, erklärte Ben dem liebeskranken Deerhound, der erneut die Nase in den Wind reckte und leise fiepte. Ben ertappte sich dabei, dass er mit seinem Hund sprach wie mit einem Menschen, aber das machten wohl die meisten Hundebesitzer. So nebenbei ließ er noch die Schäfchen aus dem Stall und fütterte das Kleinzeug, ja bei ihrem Privatzoo würden die Ponys wirklich nicht mehr ins Gewicht fallen, das würde schon klappen. Sarah hatte beim Frühstück noch ausführlich von ihrem Besuch in der Tierklinik erzählt und berichtet, dass die Ponys laut der Vermutung der Mediziner wohl mit Medikamenten aus Rumänien behandelt worden waren, die gar nicht für sie geeignet waren und nur mit viel Glück überlebt hatten.


    Als sein Handy piepte, sah er drauf und Jenny hatte ihm geschrieben: „Hey guten Morgen! Die Chefin hat mich gerade angerufen, wir sollen heute nochmals Personen im Umfeld der Tankstellen nach dem Spyderfahrer befragen. Ich schlage also vor, du wartest zuhause bis ich dich abhole, könnte aber noch ein bis zwei Stündchen dauern, ich muss zuvor noch was in der Dienststelle erledigen!“, war die Nachricht und Ben schickte einen erhobenen Daumen als Antwort zurück, diese Emojis waren einfach praktisch.

    Prima, dann hatte er ja noch ein wenig Zeit!


    Sarah hatte die Kinder mit dem Kombi zum Kindergarten gebracht und erklärt, dass sie danach gleich noch in den großen Supermarkt zwei Ortschaften weiter zum Einkaufen fahren würde. Ben ging wieder ins Haus und jetzt war auch Hildegard erwacht und Lucky und Frederik begrüßten sich, als hätten sie sich wochenlang nicht mehr gesehen. „Ich lasse die beiden nur kurz in den Garten und gehe später mit ihnen ausgiebig Gassi“, erklärte Hildegard und hatte, bevor Ben etwas sagen konnte, die Terrassentür einen Spalt geöffnet und zack hatte Lucky sich durch gedrängelt und war mit großen Sätzen Richtung Dorf geflohen. Die Gartenmauer überwand er mit einem eleganten Satz und sein Freund Frederik schaute ihm nur verwundert nach. „Ach herrjeh, das wollte ich nicht!“, brachte Hildegard nur heraus, aber Ben zuckte mit den Schultern. „Wenn die Liebe ruft, ist auch Lucky nicht zu halten, aber das geht uns Männern wohl allen so!“, sagte er augenzwinkernd, schnappte sich einen Schlüssel vom Schlüsselbrett und humpelte Richtung Remise. „Ich weiß wo ich ihn einkassieren kann, ich hoffe er achtet auf den Verkehr, aber jetzt ist es schon passiert. Ich wollte dir eigentlich gerade erklären, dass Lucky aktuell nur an der Leine raus darf, aber da war ich wohl zu langsam, ich nehme einen der Oldtimer und hole ihn, bevor uns die Besitzer der Hündin noch wegen Hausfriedensbruch anzeigen“, ließ er Hildegard seine Absicht wissen, die sich tausendfach entschuldigte und der das Ganze verdammt peinlich war.


    So startete Ben wenig später einen alten Mercedes SLK der einmal seinem Vater gehört hatte. Der Wagen war bereits über 30 Jahre alt, aber er sprang sofort an. Weil sie ja viel Platz hatten, hatte Ben neben seinem Porsche, den er auch nicht geschafft hatte zu verkaufen, obwohl das wirklich keine geeignete Familienkutsche war, mehrere schöne alte Fahrzeuge gesammelt, mit denen er manchmal einfach so durch die Gegend fuhr, oder auch an organisierten Ausfahrten teil nahm. Hartmut, Semir und er hatten schon so manche Stunde damit verbracht die Fahrzeuge bei der einen oder anderen Flasche Bier in Schuss zu halten und dank Hartmut liefen die alle wie am Schnürchen und zwei davon waren auch mit einem Oldtimerkennzeichen angemeldet. Die Ledersitze würde man abwischen können, Ben hatte noch kurz eine Decke neben sich geworfen und fuhr dann los. Es schmerzte zwar wenn er die Pedale bediente, aber es ging schon und in wenigen Minuten würde er das Auto ja wieder abstellen und dann auch zur Arbeit seinen Vakuumstiefel anziehen, jetzt merkte er nämlich doch, dass die Ruhigstellung durchaus gut tat.


    Kurz bevor er am Haus von Lucky´s Angebeteter ankam, schnitt ihn ein älterer Geländewagen, hupte ihn noch frech an und wenn er nicht mit Macht auf die Bremse getreten hätte, was ihm ein Aufstöhnen entlockte, wäre er dem Verkehrsrowdie aufgefahren. Ben fluchte, was trieben sich denn wieder für Leute auf den Straßen rum! Er war nun beileibe kein langsamer und trödeliger Autofahrer, aber das genau war es, was die vielen Unfälle verursachte, die Rücksichtslosigkeit mancher Pkw-Lenker. Er hatte nicht übel Lust, dem Geländewagen nach zu setzen und ihn zu verwarnen, aber dann beschloss er, es gut sein zu lassen. Der Wagen war jetzt ein ganzes Stück vor ihm, aber als er dann an der Kreuzung mit kaum Seitenabstand an einem Kind auf dem Rad vorbei fuhr, das anscheinend auf dem Schulweg war und dadurch beinahe zu Fall gekommen wäre, platzte Ben der Kragen. „Na warte Freundchen, jetzt gehörst du mir!“, presste er zwischen den Zähnen hervor und ging aufs Gas. Der SLK beschleunigte, auch Oldtimer hatten PS unter der Haube und als Ben nun aufholte, sah er, wie der Geländewagen in den Hof des Pferdehändlers einbog.


    Nun ratterte es in seinem Hirn und als er nun den Mercedes auf der Straße anhielt, von wo er Einblick in die Hofeinfahrt hatte, stieg der Fahrer des Jeeps aus und als Ben den Mann von hinten sah, erkannte er sofort, dass das der Fahrer des Spyders war, den er auf den Videoaufzeichnungen der Tankstellen gesehen hatte. Er stellte den Motor ab und tastete nach seinem Handy, um die Kollegen zu verständigen - ach Mist, er hatte es wohl zuhause liegen gelassen. Der Pferdehändler war aus dem Haus gekommen und gemeinsam gingen die beiden Männer in den Stall.

    In Ben´s Kopf fügten sich die Puzzleteile zusammen. Deswegen war der Spyder wohl immer wieder hier in der Gegend gesehen worden – es bestand eine Verbindung zwischen dem Händler und dem Mann, welche sich auch Minuten später aufklärte, als der Dunkelhaarige mit den bereits weißen Schläfen wieder aus dem Stall kam. Er öffnete die Hecktüre des Jeeps und da sah man verschiedene Boxen und Gerätschaften, wie sie Tierärzte hatten. Der Mittfünfziger suchte Medikamente, Spritzen und eine Nasenbremse heraus, schlüpfte noch in Gummistiefel und ging dann mit seinen Utensilien in den Stall zurück. Na klar - Pferdehändler und Tierarzt, hier war die Verbindung!


    Ben überlegte kurz. Freilich wäre es das Vernünftigste, jetzt an irgendeinem Haus zu läuten, oder einen Passanten um sein Handy zu bitten, aber das konnte er später immer noch tun. Jetzt interessierte ihn, was die beiden Männer im Stall machten und vielleicht unterhielten sie sich und er konnte irgendwelche belastenden Gespräche belauschen, denn aktuell war die Beweislage ja noch dürftig. Ben war sich zwar ganz sicher, dass er mit seiner Vermutung Recht hatte und der Tierarzt und der Spyderfahrer dieselbe Person waren, aber ob ein Richter das auch glaubte, stand auf einem anderen Blatt Papier. Er musste Beweise sammeln und ermitteln und dann konnte man mit einer wasserdichten Anklage den Mann für lange Zeit hinter Gitter schicken. Er war jetzt froh, dass er mit einem Wagen gekommen war, den der Pferdehändler nicht kannte und er auch ganz einfach auf einem freien Parkplatz im Wohngebiet am Straßenrand stand. Das Haus von Lucky´s Angebeteter war in Steinwurfweite, aber im Augenblick dachte Ben nicht an seinen Hund, sondern hatte selber Fährte aufgenommen wie ein Jagdhund.
    So stieg er aus, schloss sorgfältig den Mercedes ab und ging dann auf das Grundstück des Pferdehändlers. Gut dass er sich da seit dem Kauf der Ponys ein wenig aus kannte und so betrat er durch den Hintereingang die Stallungen und legte sich auch noch eine Erklärung zurecht, falls er ertappt wurde - er wollte nach den Sätteln der Ponys fragen, die er ja mit gekauft hatte. Am anderen Ende des Stalls waren die beiden Männer mit einem riesigen Pferd beschäftigt, Ben hatte so ein Großes noch nie gesehen und sie bemerkten ihn auch nicht, als er sich an den verwinkelten Boxen vorbei näher schlich.

  • „Wenn du das nächste Mal eine Ladung Material in meiner Heimat holst, musst du mir auf dem Runterweg im Viehtransporter den Spyder mitnehmen, der ist ziemlich ramponiert, aber noch fahrbereit. Ich habe schon in der Werkstatt des Fachhändlers angerufen, die bestellen dann die Teile und machen ihn wieder flott. Ich denke ich lasse ihn dann gleich um lackieren, so ein schickes Rot macht doch auch was her - und die Polizei hat mich dann nicht mehr auf dem Schirm. Bei der nächsten Fuhre in ein paar Wochen begleite ich dich dann als Beifahrer in meine Heimat und bringe mein Schätzchen persönlich wieder nach Hause. „Na sei nur vorsichtig und fahre wenigstens dann anständig, sonst läuft gleich die nächste Fahndung, dann eben nach einem roten Spyder!“, lachte der Viehhändler und der Tierarzt stimmte meckernd in das Gelächter mit ein.


    Ben war ganz nah an der Box, in der die beiden Männer sich gerade zu schaffen machten. Er kauerte gebückt um die Ecke in der Stallgasse hinter einer Futtertonne und verwünschte sich, dass er sein Handy vergessen hatte. Das Gespräch aufgezeichnet, würde seiner Aussage eine ganz andere Brisanz verleihen, wobei – die Indizien reichten eigentlich schon aus und anhand der Autonummer des Geländewagens, die er leider bereits wieder vergessen hatte, konnte man vermutlich den Tierarzt ganz einfach ermitteln und die Beweiskette schließen.


    Die beiden Männer hatten dem riesigen Pferd, das angstvoll in die hinterste Ecke der Box zurück gewichen war, mit etwas Mühe, aber viel Routine eine Nasenbremse angelegt. Das war eine Zwangsmaßnahme bei Pferden, die angeblich auch beruhigend wirken sollte, was aber auch bezweifelt wurde. Auf jeden Fall band man da mit einem Knebel aus Seil, der an einem Holzgriff befestigt war ein Stück Lippe ab und durch die Schmerzen beim Zudrehen, gelang es meistens die Pferde ruhig zu halten. Die Befürworter dieser uralten Methode der Ruhigstellung aufgeregter Pferde, noch bevor es sedierende Medikamente gab, priesen die angebliche Stimulierung sensibler Akupressurpunkte in der Lippe, für Ben aber sah es aus wie eine brutale archaische Quälerei. Er konnte nur den hoch erhobenen massigen und doch schönen Schädel des riesigen Pferdes sehen und eine Hand, die den Holzgriff hielt, dazu die Panik in den dunkelbraunen Augen des völlig verängstigten Tieres. Wenn er bisher auch nicht all zu viel Ahnung von Pferden hatte, was sich angesichts der Ponys und seiner Sarah vermutlich in Kürze ändern würde, sein Gefühl sagte ihm, dass dieses Tier gerade schreckliche Momente durchlebte. Fasziniert beobachtete er jetzt, wie ein Chiplesegerät über den mächtigen Hals des Tieres fuhr und piepte, als der Transponder gefunden war. „Na den werden wir gleich haben!“, prophezeite der Tierarzt, stieg auf den mit gebrachten Tritt, um auch gut ran zu kommen und schnitt ohne jede Sedierung oder örtliche Betäubung mit dem Skalpell tief in den Hals des Pferdes. Ben hätte kotzen können - was taten diese Männer dem armen Tier nur an, aber er musste jetzt selber schauen, dass er nicht bemerkt wurde, denn dadurch, dass der Tierarzt nun einen erhöhten Stand hatte, konnte es sein, dass er Ben bemerkte und dann war guter Rat teuer. Er hatte genug gehört und jetzt war es an der Zeit, sich vorsichtig aus den Stallungen zu schleichen und die Kollegen zu verständigen.

    So leise er konnte, zog er sich zurück, aber wie leider meistens im Leben, steckt der Teufel im Detail. Die Futtertonne aus Kunststoff berührte der dunkelhaarige Polizist nicht bei seinem vorsichtigen Rückzug, aber dass hinter ihm auf dem Boden eine metallene Futterschüssel stand, hatte er nicht registriert und bemerkte sie erst, als sie laut scheppernd umfiel.


    „Verdammt – wer oder was war das!“, sagte der Tierarzt plötzlich aufmerksam und reckte sich ein wenig, so dass er ohne Mühe den versteckten Polizisten entdecken konnte. „Sorry wegen dem Lärm!“, versuchte Ben unbeschwert zu labern, während er sich zu voller Größe aufrichtete. „Ich war gerade des Wegs und wollte nur nach den Sätteln fragen, die ich mit unseren Ponys mit gekauft habe“, probierte er ab zu lenken, aber der Tierarzt war nun schon blitzschnell von seinem Hocker herab gestiegen und wo der Viehhändler war, konnte Ben von seiner Position aus nicht erkennen. Nur Sekunden später wurde ihm schmerzhaft bewusst, wo sich der jetzt aufhielt, als eine Hand mit einem Elektroschockgerät um die Ecke schoss, ihm das an die Kehle hielt und er auf der Stelle völlig gelähmt und zu keiner Abwehrmaßnahme fähig, zusammen brach.
    Er war eine ganz kurze Zeit bewusstlos, aber als er wieder begann langsam Kontrolle über seine Glieder zu erlangen und der unbeschreibliche Schmerz nachließ, bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass ihn die beiden Männer gerade in die Box zu dem Riesenpferd schleiften. Seine Zunge gehorchte ihm noch nicht, aber er konnte sich im Unterbewusstsein erinnern, dass er laut und unartikuliert geschrien hatte. Seine Glieder erlangten nach dem Stromstoß gerade ihre Funktion wieder, aber bevor er noch irgendeine der als Polizist erlernten Kampf- und Verteidigungstechniken anwenden konnte, fuhr ein weiterer Schock durch seinen Körper und ließ ihn als halb bewusstloses zuckendes Stück Fleisch zurück. Wie im Film verfolgte sein Gehirn träge, wie in Windeseile der Tritt und das Chirurgenwerkzeug aus der Box entfernt wurden und während er nun im Stroh darum kämpfte, erneut Kontrolle über sich zu erlangen und voller Scham sogar bemerkte eingenässt zu haben, setzte der Tierarzt nun den Elektroschocker, der hier unter dem Namen Großviehtreibstock fungierte, am Körper des Shire Horses an. Das sowieso vor Angst und Schmerz beinahe durchgedrehte Tier machte einen Riesensatz weg vom Schmerz Richtung Boxenwand und trat dabei, ohne das absichtlich zu tun, mit den beiden riesigen, bratpfannenähnlichen Vorderhufen auf Ben, der seine Knochen bersten hörte. Noch bevor er vor Pein aufschreien konnte, ging der Treibstock wieder auf das arme völlig panische Tier zu und das versuchte in seiner Angst über die hoch vergitterten Boxenwände zu springen und trat beim Versuch sich ab zu stoßen, um seinen Peinigern und dem Schmerz zu entkommen, nun mit beiden Hinterbeinen auf Ben und erwischte ihn mit einem davon mitten am Bauch. Ben hatte noch versucht seine Muskeln an zu spannen und sich weg zu rollen, aber sein Körper gehorchte ihm noch nicht, nur der Schmerz tobte in ihm wie ein wildes Tier und eine Ahnung überkam ihn, dass seine Todesstunde geschlagen hatte.



    Lucky der ergeben vor dem Haus seiner Angebeteten darauf gewartet hatte, ein erneutes Schäferstündchen zu erleben, hörte plötzlich die Stimme seines Herrchens, die in Todesnot und völlig unartikuliert aufschrie. Sofort war die Liebe vergessen und genauso wie er hinein gekommen war, überwand er erneut das doch hohe Gartentürchen und rannte über die Straße der Stimme seines Herrn nach. Sarah, die auf dem Weg nach Hause vom Supermarkt noch schnell beim Bäcker angehalten hatte und deswegen mitten durch die Siedlung gefahren war, sah auf den ersten Blick, dass da gerade ihr Hund über die Straße rannte und im Hof des Pferdehändlers verschwand. Der alte SLK, einer von Ben´s gehegten Oldtimern, stand geparkt am Straßenrand und seufzend stellte sie ihr Auto direkt dahinter ab.

  • Mit einem gehässigen Lachen hob der Tierarzt erneut den Elektroviehtreiber. Vermutlich waren zwar die Verletzungen, die dieser Jäger davon getragen hatte, bereits tödlich, aber er wollte lieber auf Nummer sicher gehen. Ein Tritt der schweren Hufe des Pferdes auf den Kopf und das Schicksal des unvorsichtigen Polizisten war besiegelt.


    „Hey beeil dich, wir müssen zusehen dass wir Land gewinnen. Wenn ich dann am Abend in den Stall zum Füttern komme, werde ich eine schreckliche Entdeckung machen und die Polizei verständigen, aber jetzt müssen wir so schnell wie möglich den ganzen Tag verschwinden, damit die Natur ihr Werk vollenden kann und der Typ alleine seine letzten Atemzüge macht. Weil diese Pferdelaien auch immer ohne Sinn für Gefahr in die Box eines fremden, gefährlichen Pferdes gehen müssen! Das Shire wird auf jeden Fall danach geschlachtet, niemand will doch ein Pferd haben, das bereits einen Menschen zu Brei gestampft hat und ich werde voller Entsetzen beteuern, dass ich keine Ahnung von der hohen Gefahr hatte, die von dieser Tonne Pferd ausging“, legte sich der Stallbetreiber jetzt bereits die Story zurecht, die er am Abend erzählen würde.


    Gerade war der Tierarzt erneut auf das vor Angst tobende schwarzweiße Ross zu gegangen, als plötzlich wie ein Pfeil ein großer grauer Riese am Pferdehändler vorbei schoss, so dass der ins Straucheln geriet und dann mit einem tiefen Knurren den Arm des Tierarztes umschloss, so dass der mit einem Schmerzensschrei den Elektroschocker fallen lassen musste. Wie ein Schraubstock umfassten die großen Kiefer mit den scharfen Zähnen den Unterarm des älteren dunkelhaarigen Mannes, der sofort nach seinem Kumpel um Hilfe schrie. „Verdammt noch mal, wo kommt dieser Hund jetzt plötzlich her, er hat mich schwer verletzt. Nimm einen Prügel und erschlage ihn, der ist ja hoch aggressiv - wir müssen weg!“, tobte der Tierarzt, aber Lucky hielt ihn unbarmherzig fest. „Die komische Töle lebt in dem Haus gegenüber und ich dachte eigentlich immer, die wäre ganz brav, aber so kann man sich täuschen!“, brabbelte der Händler, der sich wieder auf gerappelt hatte und jetzt nach etwas schaute, mit dem er den Hund bändigen konnte. Das Kaltblut war inzwischen von Ben weg gegangen, denn mit Absicht tritt ein Pferd normalerweise auf keinen Menschen und war zitternd in die hinterste Ecke der Box zurück gewichen.


    Ben lag stöhnend im Stroh, er war zwar vor Schmerzen kaum mehr bei sich, aber aus blutunterlaufenen Augen sah er wie durch einen Schleier seinen treuen Gefährten, der seinen Peiniger in Schach hielt. „Lucky - guter Hund!“, murmelte er, aber die Verzweiflung, die sich seiner bemächtigt hatte, wurde nicht geringer. In Kürze würde der Händler eine Waffe gefunden haben und dann würden sie seinen Hund töten und danach ihm den Rest geben. Warum war er nur so dumm gewesen, unbewaffnet und ohne Handy in die Stallungen zu schleichen? Er hatte die Gefahr unterschätzt, aber vor ihm stand ein Mörder, dem es auf einen Toten mehr oder weniger jetzt nicht mehr ankam.



    Sarah hatte Lucky um die Ecke witschen und durch eine Seiteneingangstür in der Stallgasse verschwinden sehen. Zögernd folgte sie ihm. Mann war das peinlich, wenn man seinen Hund von einem fremden Grundstück holen musste und sie konnte sich das Ganze auch nur so erklären, dass hier irgendwo die läufige Hündin war und Liebe macht bekanntlich in Mensch - und Tierwelt einfach blind. Sie versuchte sich im Geiste schon Entschuldigungen zurecht zu legen, da hörte sie erst den Schmerzensschrei eines Mannes, aber als sie dann voller Entsetzen näher hastete, wurde sie zweier Dinge gewahr. Erstens hielt Lucky anscheinend den einen der beiden Männer am Arm fest und hatte zugebissen, etwas was überhaupt nicht seine Art war, außer es galt seine Familie zu verteidigen und zweitens hörte sie Ben leise stöhnen, den sie aber nicht sehen konnte und jetzt war ihr sofort klar, dass hier irgendwas nicht mit rechten Dingen zuging.
    Was sollte sie nur tun? Sie hatte keine Ahnung ob die beiden Männer bewaffnet waren, der eine suchte jetzt anscheinend etwas, womit er Lucky töten und seinen Kumpel befreien konnte und irgendwo außerhalb ihrer Sicht, aber vermutlich nahe bei Lucky war Ben und es klang, als ob der schwer verletzt wäre.


    So hart es sie ankam, denn intuitiv wäre sie am liebsten natürlich sofort zu ihrem Mann geeilt, aber inzwischen war ihr klar geworden, dass sie als Frau gegen diese beiden Männer wenig Chancen hatte, wenn die sie angriffen und so machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte so schnell sie konnte zurück auf die Straße und zückte dabei bereits ihr Handy, um den Notruf zu wählen. Sie würde das nächste Auto aufhalten, die erstbesten Passanten hinter sich her zerren, oder an allen Häusern ringsum läuten, ihr Mann brauchte Hilfe und noch während sich die Verbindung zur gemeinsamen Leitstelle von Polizei und Feuerwehr aufbaute, hielt mit quietschenden Bremsen ein bekanntes Auto vor ihr.


    Jenny sprang wie der Blitz aus dem Mercedes und fragte „Sarah was ist los?“, denn sie sah, dass ihre Freundin mit den Nerven am Ende und käsebleich aus der Einfahrt vor ihr gekommen war. Gleichzeitig stand die Verbindung und während Sarah mit kurzen Worten schilderte, wo und warum sie Hilfe brauchte, war sie wieder auf dem Absatz umgedreht und winkte Jenny, die bereits ihre Waffe gezogen hatte und aufmerksam zuhörte, ihr zu folgen. Inzwischen sammelten sich bereits Nachbarn und Passanten, die gemerkt hatten, dass hier etwas los war und bestaunten die uniformierte Polizistin mit der Waffe. Jenny dankte im Moment ihrer Eingebung, heute die Uniform zu tragen, um die Ermittlungen zu vereinfachen.
    „Können sie uns bitte helfen!“, bat Sarah und zögernd schlossen sich ein paar Passanten den beiden jungen Frauen an. In diesem Augenblick heulte ein Motor auf und der Geländewagen schoss direkt auf die Gruppe Helfer zu, die sich nur reflexhaft, mit einem Hechtsprung zur Seite, retten konnten. Sarah erhaschte noch einen Blick auf das Gesicht des Fahrers, das mit zusammen gekniffenen Augen und vom Wahn gezeichnet, starr geradeaus starrte, aber dann war der ältere Wagen auch schon um die Ecke verschwunden und Jenny, die wegen der vielen Neugierigen auch nicht schießen konnte, wenn sie niemanden gefährden wollte, senkte fluchend die Waffe.


    „Schnell wir müssen zu Ben!“, rief Sarah, deren Stimme vor Angst und Sorge ganz schrill war und während man aus der Ferne schon ein Martinshorn hören konnte, hasteten die beiden Frauen in Richtung Stallungen.

  • Die beiden Männer im Wagen rasten so schnell sie konnten zum Haus des Tierarztes, verbanden dessen verletzten Arm, packten ein paar Sachen, steckten eine nicht unerhebliche Summe Bargeld ein und wechselten den Wagen. Auch wenn der Corsa der Ehefrau des Arztes, die nicht zu Hause war, weder schick noch komfortabel war, egal er stand auf keiner Fahndungsliste. Wenig später waren der Pferdehändler und der Mediziner auf dem Weg in die rumänische Heimat des älteren Mannes. „Mann schon mal wieder ein Neuanfang, ich denke aus dem Pferdegeschäft bin ich raus!“, moserte der Jüngere, der in seinem Leben schon viele Sachen angefangen hatte, egal wie nahe an der Legalität das war, aber nichts so richtig erfolgreich gewesen war. „Jetzt machen wir erst mal ein paar Monate Urlaub in meiner alten Heimat und tauchen unter und wenn Gras über der Sache gewachsen ist, fällt uns schon was ein, was wir mit neuer Identität unternehmen können, um in Deutschland wieder Fuß zu fassen!“, entgegnete der Tierarzt und forderte seinen Geschäftspartner auf, Gas zu geben. Wichtig war jetzt das Land zu verlassen, bevor die Fahndung nach ihnen griff. Eines war klar, ein Mordversuch an einem Polizisten würde streng verfolgt werden, da kannten die deutschen Behörden keinen Spaß und leider waren sie gestört worden und konnten nicht sicher sein, ob dieser Jäger nicht vielleicht doch noch sprechen und sie schwer belasten konnte. „Verdammt mein Arm schmerzt wie die Hölle, hoffentlich hast du die blöde Töle wenigstens tödlich erwischt!“, bemerkte der Ältere voller Groll und der Jüngere nickte, während er das Gaspedal durch trat.



    Als Sarah gefolgt von Jenny nun in das Stallgebäude rannte, war sie innerlich wie tot. Aufs Schlimmste gefasst bog sie in die Stallgasse ein, wo sie vorher die beiden Männer beobachtet hatte. Sofort fiel ihr das riesige Shire Horse auf, das sich zitternd und blutend in die hinterste Ecke der Box drängte. Sie zügelte sich, egal wo Ben und Lucky waren, Panik brachte in Gegenwart von Pferden jetzt niemanden weiter. Hier kam ihr ihr Beruf zu Hilfe, denn als Intensivkrankenschwester lernte man, egal wie emotional betroffen man war, ab zu schalten und zu funktionieren und vorher war Lucky in eben dieser Box am Arm eines älteren Mannes gehangen. Sie hörte auf zu rennen und näherte sich langsam der Box. Dort lag in der Ecke, blutend und anscheinend bewusstlos ein blutiges Bündel, in dem sie erst beim zweiten Blick ihren Mann erkannte und das Rührendste war – er hatte Lucky ganz fest an sich gepresst, der ebenfalls ganz reglos war.


    Jenny und die Gruppe Männer dahinter waren ebenfalls näher gerannt, es herrschte große Unruhe und Aufregung und jetzt begann das Kaltblut nervös mit den Augen zu rollen und zu tänzeln. „Was ist los – brauchen wir die Feuerwehr, Moment mal, der Rettungsdienst ist gerade eingetroffen!“, hörte man laute Stimmen und man konnte jetzt sehen, wie das Pferd immer ängstlicher wurde und sich mit den riesigen Hufen auf Ben zu bewegte. „Halt, sofort alle stehen bleiben!“, rief Sarah leise und mit Autorität in der Stimme, so dass die Menschen hinter ihr verstummten und gehorchten. „Das Pferd ist völlig panisch und scheint auch verletzt zu sein. Holt einen Tierarzt, wir kommen so nicht in die Box und alle raus hier, alles was das Kaltblut beunruhigt, gefährdet meinen Mann, der da drinnen schwer verletzt am Boden liegt!“ - oder er ist bereits tot, flüsterte eine Stimme in ihrem Kopf, die sie aber erfolgreich ignorierte. Als sie sich umdrehte zogen sich die Männer wirklich alle zurück und man konnte sehen, dass das große Tier sich ein wenig entspannte. Anscheinend waren es vor allem Männer, die es in Angst und Schrecken versetzten und jetzt begann Ben in der Box, der anscheinend gerade wieder zu sich kam, sich etwas zu regen und schmerzvoll zu stöhnen.


    Er brauchte sofort Hilfe und bis ein Tierarzt kam, würde es auch einige Zeit dauern und wer sagte, dass das Shire nicht bei dem genauso panisch war. Klar konnte man auch mit einem Betäubungspfeil arbeiten, aber es blieb ein Risiko, dass das Tier dann erst recht ausflippte und Ben vollends zu Brei trampelte. Er lag auch so ungünstig, dass man ihn nicht einfach packen und in Sicherheit ziehen konnte, denn dazu musste man erst an dem Pferd vorbei und wer konnte voraus sehen, was das dann machte?

    Das Tier trug ein Halfter, an der Boxentür hing ein Führstrick und jetzt atmete Sarah tief durch, nahm den Strick, hängte ihn sich um den Hals und öffnete ruhig das Türchen. Ohne das Pferd direkt zu fixieren, ging sie ruhig und bestimmt zu ihm hin, blieb in respektvollem Abstand stehen und streckte die Hand aus. Das Pferd war erst ein wenig zurück gewichen, aber nachdem ihm von der Frau anscheinend keine Gefahr drohte und die nun auch begann beruhigende Laute aus zu stoßen, reckte es vorsichtig den Kopf und roch an der Hand. Ganz ruhig hängte Sarah den Führstrick in den Ring am Halfter, drehte sich um und ging mit einem auffordernden „Na komm mit mein Guter!“ Richtung Stallgasse. Zögernd setzte das Tier Schritt vor Schritt und außer Jenny waren inzwischen alle Menschen wieder nach draußen gegangen. Sarah ging völlig gleichmütig vor dem Pferd her als wäre es das Normalste auf der Welt und vermittelte dadurch Sicherheit, obwohl sie innerlich vor Angst und Sorge um ihren geliebten Mann fast durchdrehte. Der hatte inzwischen die blutunterlaufenen Augen geöffnet und schien wieder bei Bewusstsein zu sein, aber er verhielt sich jetzt Gott sei Dank völlig ruhig und stöhnte auch nicht, obwohl er große Schmerzen haben musste. Sarah bugsierte das Tier aus der Box und ging dann rasch mit ihm aus dem Stalltrakt. Alle Boxen waren belegt, aber draußen war ja die Weide und da schloss sie dann das Koppeltor hinter sich, löste den Führstrick und entließ das Pferd in die relative Freiheit, um danach so schnell sie konnte in den Stall zurück zu rennen.

  • Jenny, die sich seitlich in eine Nische gedrückt hatte, während Sarah mit dem Riesenpferd an ihr vorbei gegangen war, war als Erste bei Ben. Der stöhnte kurz auf, als sie ihn berührte, flüsterte dann aber: „Sein Herz schlägt noch – er muss sofort in die Klinik!“ „Na klar Ben, wir bringen dich gleich ins Krankenhaus und der Rettungswagen ist auch schon in der Anfahrt, wir kümmern uns um dich!“, versuchte Jenny ihn zu beruhigen bis der Arzt eintraf. Verdammt, Ben sprach in der dritten Person von sich, vermutlich hatte auch sein Kopf etwas ab bekommen. „Jenny, es geht nicht um mich, es geht um Lucky! Der hat mir das Leben gerettet und ist, nachdem der Pferdehändler ihn fast erschlagen hat, noch mit letzter Kraft, winselnd zu mir gekrochen, wenn ich nur hoch kommen würde, würde ich ihn höchstpersönlich dort hinbringen, ich weiß es ist noch nicht zu spät!“, antwortete Ben zornig und versuchte tatsächlich sich auf zu richten, sank aber mit einem Schmerzenslaut wieder zurück ins blutige Stroh. Unendlich sanft streichelte er mit zitternden Fingern seinen Hund, der sich nicht rührte und anscheinend bewusstlos war.


    Inzwischen war Sarah voller Panik zurück gekehrt. „Schatz, leg dich zurück und bleib ruhig, gleich kommt der Arzt und dann kriegst du was gegen die Schmerzen!“, versuchte sie ihn zu beruhigen, denn sie sah, wie Tränen aus seinen Augen rannten. „Ach Quatsch, kümmert euch erst mal um den, der wirklich Hilfe braucht! Ohne Lucky wäre ich nicht mehr am Leben und du weißt, Unkraut vergeht nicht, ich werd schon wieder , aber jetzt verlier keine Zeit, sondern bring sofort Lucky in die Tierklinik, zuvor fahre ich mit niemandem irgendwo hin“, schnauzte Ben sie regelrecht an und die Sorge um sein geliebtes Tier ließ ihn seine eigenen Schmerzen vergessen. „Er hat mehrere Schläge mit einer Eisenstange auf den Kopf gekriegt, bevor er los gelassen hat. Den Arm von diesem Schinder, der sich Tierarzt schimpft, hat er ordentlich zu gerichtet, Recht geschieht es dem. Aber jetzt rührt er sich seit ein paar Minuten nicht mehr, aber er atmet und sein Herz schlägt langsam, aber regelmäßig“, berichtete er Sarah und die hatte mit geübten Griffen die Informationen, die Ben ihr gegeben hatte, nach geprüft. Oft meinte man in solchen Stresssituationen noch Lebenszeichen wahr zu nehmen, wo keine mehr waren, aber ihr Mann hatte richtig gefühlt, alle seine Angaben waren zutreffend. Eigentlich wollte sie sich lieber um ihn kümmern, aber das ließ er nicht zu.


    Jenny war inzwischen nach draußen gerannt und hatte den Rettungsdienst geholt. Alle hilfreichen Passanten wimmelte sie ab und bat sie vor dem Gebäude zu warten, Ben sollte nicht vor aller Augen ausgezogen und untersucht werden.


    Der Notfallsanitäter und seine beiden Begleiterinnen waren mit dem Monitor und medizinischer Ausrüstung in den Stall geeilt. Voller Verwunderung sahen sie, wie eine schlanke blonde Frau in Jeans in der Box neben einem anscheinend schwer verletzten Mann kniete und anstatt sich um den zu kümmern, einen großen grauen Hund abtastete, der reglos im Stroh lag. „Treten sie bitte zur Seite, damit wir uns um den Patienten kümmern können!“, bat der groß gewachsene Mann, aber da fiel ihm der dunkelhaarige Verletzte schon ins Wort. „Ich weigere mich behandeln zu lassen, bevor nicht mein Hund versorgt und in eine Tierklinik gebracht wurde“, stieß er erregt hervor und man konnte sehen, wie er sich bemühte, dass man ihm die Schmerzen nicht anmerkte. Mit geübtem Blick hatte der erfahrene Sanitäter die ersten Verletzungen, unter anderem eine Oberschenkelfraktur, bereits erspäht, aber was positiv zu vermerken war – sein Patient war wach, anscheinend orientiert und konnte alles bewegen. Dennoch war er froh, dass sie einen Notarzt angefordert hatten, der sicher in Kürze eintreffen würde, denn vielleicht mussten sie den Patienten zum Abtransport irgendwie sedieren, wenn der nicht einsichtig war.


    Sarah überlegte kurz. So gut kannte sie ihren Mann – er konnte störrisch sein wie ein Maulesel, wenn er sich etwas in den Kopf gesetzt hatte. Auch wenn seine Verletzungen sicher ebenfalls keine kleinen Wehwehchen waren und er große Schmerzen haben musste, er würde jegliche Behandlung verweigern, wenn sie sich nicht um Lucky kümmerte.
    Freilich gab es auch Tierambulanzen, im Fernsehen hatte sie da einen Bericht darüber gesehen, aber ob die bis zu ihnen raus fahren würden, die waren ja eher in den Städten unterwegs? Wenn sie einen Tierarzt her beorderte, würde der Lucky vermutlich zwar erstversorgen, aber in die Tierklinik musste man sein krankes Tier üblicherweise selber bringen und bei Lucky´s Größe passte der auch nicht in jedes Auto. Sie hatte einen langen Kombi und neben dem Hundekäfig hinten drin war noch jede Menge Platz. So wandte sie sich ihrem Mann zu und sagte: „Ich werde Lucky zum Tierarzt bringen, wenn du dich im Gegenzug dann versorgen lässt. Sobald er in guten Händen ist, komme ich nach ins Krankenhaus“, und damit war Ben einverstanden.
    Sarah hatte ein breites Brett erspäht, das an der Wand lehnte, flugs hatte sie es mit einer dicken Pferdedecke, die über einer Halterung hing, zu einer passablen Trage umfunktioniert und Jenny bat zwei junge kräftige Männer aus der Gruppe der Helfer, den schwer verletzten Hund, der immer noch kein Lebenszeichen von sich gab, zu ihrem Wagen zu tragen. Sarah hatte zwar ein schlechtes Gewissen, weil sie Ben alleine ließ, aber ihr war klar, dass er, solange er bei Bewusstsein war, keine Widerrede akzeptieren würde. Außerdem fielen ihr die Worte ihres Ausbilders in Erster Hilfe ein: „Solange der Patient noch spricht, ist es halb so schlimm!“, und daran hielt sie sich fest, während sie via Freisprechanlage noch die Klinik verständigte, in der auch ihre Ponys waren, die Nummer hatte sie eingespeichert und von dort wurde ihr mitgeteilt, dass ein Team zur Versorgung ihres Hundes bereit stünde.


    Der Notfallsanitäter hatte sich mit ein paar geübten Griffen einen groben Überblick über Ben´s Verletzungen verschafft und während er die Überwachungselektroden aufklebte und den Blutdruck maß, kam auch schon die zu geforderte Notärztin, die für die Region zuständig war, in einem extra Fahrzeug.

  • Semir hatte die Nacht gut überstanden. Er hatte ausreichend Schmerzmittel und eine leichte Schlaftablette bekommen und konnte die Atemmaske gut tolerieren. „Wissen sie Herr Gerkan, diese Masken tragen viele Menschen jede Nacht, wenn sie stark schnarchen und unter Atemaussetzern im Schlaf leiden. Wenn sie es aushalten können, wäre es super, wenn sie sie so lange wie möglich drauf lassen. So wird einer Lungenentzündung vor gebeugt und ihre Lunge hat ja nun wirklich so einiges abgekriegt“, hatte der Pfleger am Abend erklärt und Semir war nach den Erfolgen des vergangenen Tages wild entschlossen, so bald wie möglich die Intensivstation zu verlassen.

    Am Morgen war er gewaschen worden und wartete dann darauf in den OP abgerufen zu werden. Ein wenig Angst hatte er natürlich, denn das würde wieder eine sehr lange und komplizierte OP werden, hatte der Unfallchirurg erklärt. Aber der eine Arm war bereits gut gerichtet, wenn er diesen Eingriff hinter sich hatte, würde es nur noch steil bergauf gehen. Andrea und Ben würden ihn erst am Abend besuchen kommen, so war es ausgemacht, jetzt würde er diese Operation auch noch hinter sich bringen. Als wenig später seine betreuende Schwester ins Zimmer kam, ihm eine grüne OP- Haube aufsetzte, die Infusionen teilweise umhängte und dann die Bremsen des Bettes löste, um ihn in die Operationsabteilung zu bringen, überkam ihn eine kurze Panik, aber dann nahmen die Dinge ihren Lauf und wenig später lag er in der Einleitung auf dem gewärmten Op -Tisch und das Narkosemittel flutete in seinem Körper an und ließ ihn alles vergessen.


    Währenddessen war die Notärztin zu Ben getreten und hatte sich neben ihn gekniet. Der Notfallsanitäter machte eine kurze professionelle Bestandsaufnahme und gab die Informationen weiter, die er bereits gesammelt hatte: „Herr Jäger ist ein 38 jähriger Patient ohne Vorerkrankungen. Er wurde niedergeschlagen und ist danach unter die Hufe eines großen schweren Pferdes gekommen. Der Kreislauf ist relativ stabil, Blutdruck 115/70 , Puls etwas tachykard bei 120, Atmung flach und leicht beschleunigt. Sauerstoffsättigung 96 %. Der Patient ist wach, ansprechbar und orientiert, auf den ersten Blick imponierend ist eine geschlossene, dislozierte Oberschenkelfraktur. Ich vermute zudem ein stumpfes Bauchtrauma, aber wir haben ihn noch nicht ausgezogen, um uns das näher an zu sehen, beim groben Abtasten gibt er aber starke Schmerzen an. Ich habe einen Zugang gelegt und 500 ml Ringerlösung angehängt, das ist der Stand“, und die Notärztin nickte.


    Sie lächelte ihren Patienten an, der sie misstrauisch beäugte und sichtlich Schmerzen hatte. „Herr Jäger, ich bin Dr. Krüger und werde mich jetzt um sie kümmern. Darf ich sie ebenfalls noch kurz untersuchen? In der Zwischenzeit bereitet meine Assistentin hier ein starkes Schmerzmittel vor, damit wir sie so schonend wie möglich in die Klinik transportieren können – bitte 0,2 mg Fentanyl aufziehen und eine Ampulle Ketamin“, erklärte sie mit einem Blick auf eine Sanitäterin und begann ganz systematisch ihn vom Kopf beginnend ab zu tasten. Sie leuchtete in seine Augen, befühlte mit den behandschuhten Händen die Beule vom Schlag auf den Kopf und erklärte ihm nebenbei was sie machte. Ben hatte das Gefühl dass die Frau sehr viel Erfahrung hatte und wenn die Schmerzen und die Angst um seinen geliebten Hund nicht gewesen wären, hätte er sich vermutlich vertrauensvoll in ihre Hände begeben, aber so imponierten Kummer und Sorge.


    „Die Pupillen reagieren völlig normal, ich denke ihr Kopf hat nicht all zu viel abgekriegt“, erklärte sie, während sie ihre tastenden Hände tiefer wandern ließ. Als sie die Stabilität des Brustkorbs prüfte, sog Ben schmerzvoll die Luft ein, aua das hatte weh getan. Der Notfallsanitäter hatte derweil den Gürtel und Knopf der Jeans geöffnet und das Sweatshirt nach oben geschoben. Wenn man seinen Bauch nur leicht berührte, fuhren Schmerzwellen durch seinen Körper und er schrie auf. „Oha, das sieht aber nicht gut aus. Ist das Pferd direkt auf sie drauf getreten?“, wollte die Ärztin wissen und Ben nickte, während er die Augen vor Qual zusammen kniff. Man sah überall blutunterlaufene Stellen, sein Leib war sozusagen ein einziger großer Bluterguss, auch wenn nichts offen war. Die Hände der Ärztin an seinen Nieren und unter seinem Rücken konnte er noch aushalten, aber als sie weiter vorne ganz vorsichtig tasten wollte, schlug er die Hände, die ihm soviel Pein bereiteten, reflexhaft weg und schrie auf. „Schon gut, schon gut!“, murmelte die Ärztin und bat um das Opiat, das die Sanitäterin derweil aus der Kassette mit den Betäubungsmitteln geholt hatte. Name und Geburtsdatum des Patienten hatten sie bereits erfragt und so konnte man das später aus dem BTM-Buch austragen.


    Ben hatte das unverletzte Bein unbewusst an den Körper gezogen, um damit den Schmerz der in seinem Leib wütete, ab zu mildern, allerdings wusste er nicht was mehr weh tat, sein Oberschenkel, oder sein Bauch. Die Ringerlösung tropfte unablässig in ihn, der Rettungsdienstler hatte die Infusionsflasche einfach mit einem Stück Mullbinde am Gitter der Box angebunden, so musste man dafür keine Person abstellen. „Holt bitte jemand die Vakuumschiene aus dem RTW?“, bat nun die Notärztin, während der Notfallsanitäter begann, die Jeans auf zu schneiden und die Turnschuhe seines Patienten aus zu ziehen. Als das verletzte Bein nur minimal bewegt wurde, schrie Ben erneut und nun zögerte die Notärztin nicht länger und gab ihm die Hälfte des vorbereiteten Fentanyls und ein wenig Ketamin dazu. Sie hatte kurz überlegt, ob es notwendig wäre, ihren Patienten für den Transport komplett ab zu sedieren und zu intubieren, aber sie hatte sich dagegen entschieden. Sicher war der junge Mann schwer , wenn nicht sogar lebensbedrohlich verletzt, aber mit einem guten Schmerzmanagement und einer Schienung des gebrochenen Beins , würde er transportfähig sein und es war auch nicht notwendig einen Hubschrauber an zu fordern. Immer noch waren nämlich die Kreislaufparameter stabil, was gegen einen starken intraabdominellen Blutverlust sprach, das bedeutete man hatte Zeit.

    Die nächstgelegene Klinik war allerdings für Polytraumen nicht geeignet und so war sie für den Hinweis Jenny´s dankbar, die vor der Box stand und voller Sorge um ihren Freund die Erstversorgung beobachtete. „Mein Kollege war schon mehrfach in der Uniklinik als Patient und seine Frau arbeitet dort auch stundenweise auf der Intensivstation. Wäre es möglich ihn dorthin zu bringen?“, fragte sie und die Ärztin nickte. „Wenn er dort bereits bekannt ist, ist das meine erste Wahl, danke für den Hinweis“, sagte sie und beobachtete, wie die Atmung ihres Patienten nach der Injektion der Medikamente ruhiger wurde und er sich ein wenig entspannte. Sie kontrollierte die Fußpulse, die beidseits kräftig waren und auf die Frage, ob Ben spüre, wenn sie seine Füße berührte, lallte der undeutlich ja, bevor er die Augen schloss und sich in die erlösende Schmerzarmut fallen ließ. Er bekam zwar mit, dass sein Bein vorsichtig in eine Schiene gebettet wurde, die dann durch Absaugen der Luft ganz hart wurde, aber es war ihm jetzt egal und als er wenig später auf eine Trage gerollt, zugedeckt und zum RTW gebracht wurde, sah er die Welt um sich verschwommen und wie durch einen rosaroten Schleier.

  • Sarah war derweil mit Lucky in der Klinik angekommen. Ehrlich gesagt wusste sie nicht, ob er überhaupt noch am Leben war, denn er lag völlig reglos im Fond des Wagens. Gut dass sie die Infrastruktur der Tierklinik wegen der Ponys schon kannte, so fuhr sie direkt vor die Kleintierklinik und sofort eilten ein Tierarzt und eine Helferin mit einer Rolltrage, fast wie in der Notaufnahme eines Krankenhauses für Menschen, auf sie zu. Die junge Frau stieg aus und öffnete die Heckklappe, dann musste sie einen Schritt zurück treten, weil sie fürchterliche Angst davor hatte, was der Arzt, der sich sofort über den grauen Riesen beugte, nun sagen würde. Ihre größte Sorge war, dass er ihr jetzt mitteilen würde: „Es tut mir leid, aber wir können nichts mehr für ihren Hund tun, er ist gerade verendet!“ Wie sollte sie das Ben dann mitteilen, von dem sie auch nicht wusste, wie es ihm ging?


    Aber der Arzt hatte mit wenigen Griffen Lucky abgetastet und teilte dann seiner Tierarzthelferin mit: „Er ist tief bewusstlos, aber seine Atmung und sein Puls sind kräftig und regelmäßig - bringen wir ihn in den Untersuchungsraum“, und jetzt entwich Sarah die Luft, die sie unbewusst angehalten hatte und sie atmete selber ein paarmal tief durch. Bevor sie sich versah war Lucky in das Gebäude gerollt worden, man rasierte eine Stelle am Vorderlauf, legte dort einen Zugang und nahm Blut ab, danach leuchtete der Tierarzt mit einer Taschenlampe in die Augen des großen Hundes. „Frau Jäger, die Pupillen sind unterschiedlich groß und reagieren nur träge. Sie haben mir am Telefon ja schon gesagt, dass er mehrere wuchtige Schläge mit einer Eisenstange auf den Kopf bekommen hat. Wir müssten jetzt zur Diagnosesicherung ein CT machen und danach die weitere Vorgehensweise besprechen. Wie alt ist er denn überhaupt?“, fragte er einfühlsam, denn manchmal musste man in Anbetracht des Alters eines Tieres bei so schweren Verletzungen es eher euthanasieren, als eine Maximaltherapie an zu streben.

    „Wie alt Lucky genau ist, wissen wir nicht, wir haben ihn aus einem Versuchslabor, aber er war topfit und ist uns heute noch abgehauen, weil seine Hundefreundin läufig ist. Bitte tun sie alles für ihn, was irgendeinen Sinn macht, er hat vorhin meinem Mann das Leben gerettet. Der ist selber schwer verletzt und wird gerade in die Klinik gebracht“, erzählte sie nach einem Blick auf ihr Handy, denn das hatte Jenni ihr soeben geschrieben.


    „Gut, das CT geht sehr schnell, sollen wir außer dem Kopf auch noch eine Traumaspirale machen, dann wären wir auf der sicheren Seite und könnten weitere Verletzungen besser erkennen, das wird allerdings teuer werden“, wies der Tierarzt nun auf eine Seite seines Berufs hin, die leider oft eine große Rolle spielte und kaum jemand hatte für seinen Hund eine komplette Tierkrankenversicherung. „Geld spielt keine Rolle!“, erwiderte Sarah nun mit fester Stimme und zum ersten mal in ihrem Leben war sie über den Jäger´schen Reichtum froh. „Ich kann mir vorstellen dass sie gerne zu ihrem Mann wollen, dürfte ich sie nur bitten, zuvor bei meiner Assistentin noch etwas zu unterschreiben, wies der Tierarzt nun nach draußen zum Tresen, wo eine junge Frau den Papierkram abwickelte, nicht anders als in einem normalen Krankenhaus.


    Noch während Sarah Einverständniserklärungen unterschrieb, den Impfstatus von Lucky bezeugte und dabei immer wieder einen Blick auf ihr Handy warf, denn Jenni war mit dem Streifenwagen hinter dem RTW her gefahren und hielt sie auf dem Laufenden, war die Traumaspirale auch schon gemacht und der Tierarzt trat wieder zu ihr. „Ihr Hund hat als imponierende Verletzung ein Subduralhämatom, das unbedingt entlastet werden muss, sonst wird er daran sterben. Knochenbrüche oder schwerere Organverletzungen konnten wir keine feststellen, allerdings hat er überall Einblutungen in die Muskulatur und der erste Hb- Wert in unserem Kleinlabor war auch nicht sehr hoch, aber bisher noch nicht transfusionswürdig. Wenn sie damit einverstanden sind, würde ich unseren Neurochirurgen zuziehen und ihren Hund zügig operieren, alles Weitere müssen wir dann abwarten, aber ich glaube als Intensivkrankenschwester können sie den Ernst der Lage selber einschätzen“, teilte er ihr kurz seine Diagnosen mit und Sarah nickte. „Ich habe verstanden und habe auch gerade alles Notwendige unterschrieben. Tun sie bitte alles was Sinn macht, aber leiden soll unser Lucky nicht, das müssen sie mir versprechen. Sie haben meine Telefonnummer, ich fahre jetzt zu meinem Mann, der wird gerade in der Uniklinik versorgt“, erklärte sie, aber ihre Stimme zitterte dabei, sie hatte Tränen in den Augen und der Tierarzt warf ihr einen mitfühlenden Blick zu. „Trinken sie noch schnell eine Tasse Kaffee bei uns und fahren sie dann vorsichtig zu ihrem Mann. Ihr Hund ist bei uns in guten Händen und ich verspreche ihnen, dass ich ihn behandeln werde, als wäre er mein eigenes Tier. Ich werde sie informieren wenn die Operation vorbei ist, aber jetzt ist erst einmal ihr Mann wichtig – ich wünsche ihm alles Gute unbekannterweise“, sagte er und während die Helferin eine Tasse Kaffee über den Tresen reichte, konnte Sarah ein paar Tränen nicht aufhalten. „Sie sind sehr nett!“, stammelte sie, aber nach ein paar Schlucken Kaffee mit Milch und Zucker kamen ihre Lebensgeister wieder zurück und sie straffte ihren Rücken.

    Kurz trat sie neben den fahrbaren Untersuchungstisch auf dem Lucky immer noch tief bewusstlos, überwacht mit einem Sättigungssensor lag und streichelte unendlich zärtlich das weiche graue Fell. „Machs gut alter Kämpfer – du schaffst das und dein Herrchen auch“, machte sie ihm und auch sich selber Mut, wandte sich dann um und ging mit zügigen Schritten zu ihrem Wagen, um den Weg in die Innenstadt anzutreten.



    Dort war inzwischen auch Ben in der Notaufnahme angekommen. Man hatte ihn ausgeladen und er fühlte sich merkwürdig leicht und schwerelos. Es war als würde er über sich schweben und erst als er auf die fahrbare Rolltrage im Schockraum umgelagert wurde, kam der Schmerz ein bisschen zurück und er stöhnte auf. Mehrere grün gekleidete Menschen waren um ihn herum, beugten sich über ihn und zogen ihn komplett aus. Er hörte wie die Notärztin den übernehmenden Ärzten eine Übergabe machte, spürte tastende Hände auf seinem Körper, nahm wahr, wie ihm jemand beruhigend zuredete, als er wieder versuchte die Hände weg zu schieben, die jetzt seinen Bauch befühlten und war dankbar, als man dicke warme Tücher aus dem Wärmeschrank über ihn breitete, denn so langsam kam der Schock durch und er begann zu frösteln. Man machte auch bei ihm eine Traumaspirale, er fuhr also langsam durch ein riesiges CT, aber das war ihm eigentlich egal. Alles war gut, solange man ihn in Ruhe ließ. Jemand machte sich danach an seiner Körpermitte zu schaffen und legte ihm einen Blasenkatheter mit Temperatursonde, aber auch das juckte ihn wenig und tat auch nicht weh. Immer wieder sagte ein Arzt etwas zu ihm, aber er hatte Mühe ihn zu verstehen und erneut fielen ihm die Augen zu. Dann wurde erst sein Unterarm steril abgedeckt und ein arterieller Zugang gelegt, wenig später an seinem Hals noch ein zentraler Venenkatheter, aber auch diese kleinen Piekse, wenn die Lokalanästhesie gestochen wurde, es danach drückte und der Arzt mit Mundschutz und Sterilkittel an ihm rum machte, störten ihn kaum.


    Jemand fuhr dann mit einem Ultraschallkopf über seinen Bauch, was ihn wieder aufstöhnen ließ, aber bald war auch das überstanden.


    Dann kam noch ein anderer Arzt und das tat jetzt kurz sehr weh, als man das gebrochene Bein aus der Vakuumschiene nahm. Verwundert und wie als sähe er einen Film, aber es beträfe ihn nicht, beobachtete er dann, wie sein Knie steril abgedeckt wurde, auf beiden Seiten eine Lokalanästhesie gemacht wurde und dann eine kleine Handbohrmaschine surrend ein Loch durch seinen Oberschenkelknochen bohrte, ein Draht eingezogen wurde und wie eine Art Bügel daran befestigt wurde.
    Viele Hände lagerten ihn dann vorsichtig in ein weiches vorgewärmtes Bett um, sein Bein kam in eine gepolsterte Metallschiene und danach wurden Gewichte an dem Draht befestigt, der über eine Umlenkrolle über ein Gestell weit über ihm zum Fußende geführt wurde und so brachte man ihn dann auf die Intensivstation, wo plötzlich Sarah bei ihm war und er sich dann endlich in einen Erschöpfungsschlaf fallen ließ.

  • Als Sarah vor der Klinik aus dem Wagen stieg, erspähte sie Jenni, die sie vor dem Haupteingang erwartete. Gerade hatten sie noch telefoniert, dank Freisprechanlage in der heutigen Zeit kein Problem mehr. „So ganz genau habe ich natürlich keine Auskunft gekriegt, aber sie haben gesagt, Ben wäre jetzt erstversorgt und kommt auf die chirurgische Intensivstation. Von Operation hat jedenfalls keiner geredet und er war auch nicht an ein Beatmungsgerät angeschlossen, als ich ihn gesehen habe“, hatte die junge Polizistin berichtet und diese Information trug gleich ein wenig zu Sarah´s Beruhigung bei. So machte sie sich gemeinsam mit der Kollegin und Freundin auf den Weg nach oben und erfuhr, dass ihr Mann gerade auf die Station gebracht worden war, auf der sie immer wieder als Aushilfe einsprang, wenn die Personalnot hatten.

    Das war natürlich super, denn so kannte sie dort die Kollegen und Ärzte und während Jenni in der Besucherecke Platz nahm, durfte Sarah gleich hineinkommen und sah dort auf dem Rücken in einem warmen Intensivbett mit einer Extension am Bein ihren Mann liegen, der zwar blass und erschöpft wirkte, aber wie Jenni bereits gesagt hatte, nicht beatmet war. Er befand sich in einem Zweibettzimmer, aber das andere Bett war gerade nicht im Zimmer, vermutlich befand sich der Patient, oder die Patientin bei einer Untersuchung oder einem Eingriff. Gut momentan war das in Ordnung, denn auf der Intensivstation gab es keine Privatzimmer, sondern Einzelzimmer wurden nach Krankheitsbildern und Infektionslage belegt, aber Sarah war sich sicher, sobald ein Einzelzimmer frei wurde, konnte Ben dorthin umziehen.


    Der Stationsarzt, der Ben übernommen hatte, sie gut kannte und jetzt gleich die Kurve am PC schreiben würde, berichtete ihr nur in Stichpunkten was er bei der Übergabe von der Notaufnahme erfahren hatte. „Dein Mann ist bei uns zur Überwachung, man hat im CT und beim Ultraschall keine dermaßen imponierende Verletzung gesehen, dass er sofort operiert werden müsste. Er hat eine Oberschenkelfraktur die jetzt erst einmal mit einer Extension versorgt wurde, da sie wohl eingestaucht war. Das muss man freilich die Tage mal operieren, aber auch da will der Unfallchirurg erst noch abwarten. Er war uns als stumpfes Bauchtrauma angekündigt und hat auch überall Blutergüsse, innen wie außen, aber im Augenblick geht man davon aus, dass keine schwerwiegenden Organverletzungen vorliegen und wird das engmaschig kontrollieren. Alle zwei Stunden eine Ultraschalluntersuchung und in sechs Stunden ist ein erneutes CT angemeldet. Dazu natürlich regelmäßige Laborkontrollen nach Standard. Was er mit Sicherheit hat ist eine Leberprellung, die natürlich sehr schmerzt, zwei gebrochene Rippen, aber keinen Pneumothorax und wir überwachen ihn jetzt engmaschig und reagieren, falls sich was ändert. Du darfst gerne zu ihm, ich weiß wie man sich fühlt, wenn der Mensch den man liebt auf der eigenen Station liegt, aber er ist hier gut versorgt!“, spielte der Arzt darauf an, dass seine Frau erst letztes Jahr nach einem Verkehrsunfall auf Leben und Tod hier betreut worden war, unter anderem auch von Sarah.


    „Ich danke dir und bitte sagt mir wenn ich stören sollte, ich gehe dann natürlich raus“, erwiderte Sarah und trat dann an das Bett ihres Mannes, beugte sich liebevoll über ihn und küsste ihn auf die Stirn, denn die Sauerstoffbrille in seiner Nase und die ganzen Kabel verhinderten einen Kuss auf den Mund. „Hallo Schatz, ich bin wieder da, wie geht es dir?“, fragte sie liebevoll und Ben, dem man die Erschöpfung ansah und der gerade ein wenig eingenickt war, machte die Augen einen kleinen Spalt auf.


    „Was ist mit Lucky?“, lautete seine erste bange Frage und Sarah zog sich jetzt einen Stuhl heran und berichtete: „Er ist in der Tierklinik wo auch unsere Ponys sind und wird gerade am Kopf operiert. Er hat ein sogenanntes Subduralhämatom, also einen Bluterguss zwischen der Hirnhaut und dem Schädelknochen, der abgesaugt oder drainiert wird. Ansonsten hat er überall am ganzen Körper Blutergüsse, aber keine weiteren lebensbedrohlichen Verletzungen. Ich hoffe dass er das übersteht und danach auch wieder aufwacht, das ist wie bei Verletzungen am Gehirn bei Menschen, man kann nie genau vorher sagen, wie der Verlauf ist und muss einfach abwarten, aber er ist in der Klinik in guten Händen, der behandelnde Tierarzt ist sehr sympathisch und wirkte kompetent“, berichtete sie und Ben nickte jetzt, um dann selber die Augen wieder zu schließen und sich seiner Müdigkeit hin zu geben. Sarah hatte ihre Hand beruhigend auf seinem Arm abgelegt und so konnte er sich, eingehüllt von starken Schmerzmedikamenten, ein wenig ausruhen, bis die nächste Untersuchung anstand.


    Sarah stand nach einiger Zeit leise auf und ging nach draußen zu Jenni, die immer noch voller Sorge in der Besucherecke saß. Sie berichtete ihr von Ben´s Verletzungen und dass jetzt einfach Abwarten angesagt war. Der Blick aufs Handy verriet Sarah, dass niemand versucht hatte sie anzurufen, durch die dicken Betonmauern war die Handyverbindung innerhalb der Intensivstation nämlich schlecht bis gar nicht möglich. Wie es Lucky wohl ging?
    Sarah begleitete Jenni bis zum Parkplatz, trug ihr auf in der Dienststelle Bescheid zu sagen und rief dann noch Hildegard an, um sie auf dem Laufenden zu halten. Die ältere Frau hatte schon voller Sorge und Bangen auf eine Nachricht gewartet, nebenbei aber versucht, sich das vor den Kindern nicht all zu sehr anmerken zu lassen. „Sag den beiden ich komme später nach Hause, ich habe nicht vor, hier in der Klinik zu bleiben, ich weiß Ben ja gut versorgt bei meinen Kollegen. Aber ein wenig möchte ich trotzdem noch abwarten und einfach bei ihm sein. Außerdem will er auch wissen, wie Lucky die Operation übersteht, ich halte dich ebenfalls auf dem Laufenden“, besprach sie mit ihrer Vertrauten, die Ben die besten Genesungswünsche ausrichten ließ.


    So saß Sarah, nachdem sie noch den üblichen Papierkram der Aufnahme erledigt hatte, wieder am Bett ihres Mannes und nachdem die Vitalparameter stabil blieben und auch die engmaschigen Kontrollen des Hämoglobinwerts am Blutgasgerät keinen erneuten Blutverlust erwarten ließen, konnte sie sich langsam ein wenig entspannen.


    Wie angekündigt wurde nach zwei Stunden der nächste Ultraschall gemacht und obwohl Ben zuvor eine erneute Dosis Opiat erhalten hatte, stöhnte er laut und die Schweißperlen standen auf seiner Stirn. Er biss sich so auf die Lippen, dass die ein bisschen blutig waren und krallte sich verzweifelt an ihrer Hand fest, die danach fast taub war. „Hier im Leberbett ist eine kleine Flüssigkeitsansammlung zu sehen, das könnte Blut sein und im Retroperitoneum sehe ich auch eine nicht unerhebliche Verschattung. Auch das könnte Blut sein, aber genauso auch Gewebsflüssigkeit, die wegen der Quetschungen flächig austritt. Wir beobachten das weiter, aber solange der Hb und die Kreislaufparameter so stabil sind, warten wir einfach ab, Herr Jäger. Sagen sie sofort Bescheid wenn sie, ohne dass ich manipuliere, unerträgliche Schmerzen bekommen oder etwas anderes auftritt, was ihnen Angst macht. Ich lasse sie jetzt wieder in Ruhe, in zwei Stunden kontrollieren wir das erneut“, sagte der Arzt und Ben nickte zwar, wünschte sich aber, dass der die Untersuchung vielleicht einfach vergessen könnte, die Schmerzen dabei waren wirklich schlimm.


    Gemeinsam mit Sarah zog seine betreuende Schwester dann die Betteinlage glatt, man befeuchtete seinen Mund mit speziellen Mundpflegestäbchen, denn natürlich war er streng nüchtern, cremte seine blutigen Lippen ein und niemand war froher als Ben, als man ihn danach endlich wieder in Ruhe ließ. Der Platz neben ihm hinter dem Vorhang war immer noch leer und Sarah hatte ganz vergessen zu fragen, ob nicht bald ein Einzelzimmer frei wäre.

  • In der Tierklinik hatte man derweil Das Eintreffen des Neurochirurgen erwartet. Der betreute mehrere Kliniken an denen er die unterschiedlichsten Operationen vornahm, auch in der Tiermedizin ging die Spezialisierung weiter. Er besah sich gründlich die CT - Bilder von Lucky´s Kopf, untersuchte den immer noch tief bewusstlosen Hund und nickte dann. „Absolut richtige Indikationsstellung, wir dürfen keine Zeit mehr verlieren. Je früher das Hämatom drainiert wird, desto eher besteht die Chance, dass der Hund es ohne Folgeschäden übersteht. Bringen wir ihn in den OP und leiten die Narkose ein!“, sagte er und wenig später hatte Lucky einen Beatmungsschlauch im Hals und ein Teil seines Schädels war kahl rasiert.

    Nach Desinfektion und Abdecken eröffnete der Neurochirurg erst die Haut, nahm dort sofort mit einer bipolaren Pinzette die Blutstillung vor und als er den Knochen direkt über der Verletzung frei gelegt hatte, griff er zu einer speziellen Handbohrmaschine und bohrte damit sehr vorsichtig ein Loch in die Schädeldecke. Man erweiterte mit einem schmalen Zängchen das Bohrloch, damit man Sicht hatte und mit viel Gefühl durchtrennte der Neurochirurg die harte Hirnhaut und führte dann einen dünnen Metallsauger ein. Er trug eine Lupenbrille und arbeitete sehr präzise und das Blut aus dem Hämatom sprudelte in den Sauger. Er spülte mit lauwarmer steriler Kochsalzlösung und kontrollierte, ob er noch eine intracranielle Blutstillung vornehmen musste, oder ob die Blutung von alleine stand und so war es. Die Tierärztin die die Narkose machte, hob das sterile Tuch etwas an und leuchtete in Lucky´s Augen. „Die Pupillen sind wieder gleich groß!“, vermeldete sie erfreut und so deckte der Neurochirurg die kleine Wunde nur mit einer sterilen Kompresse ab, die er an der Kopfhaut fest tackerte. „Das ist beim verwirrten Menschen wie beim Tier das vernünftigste Vorgehen, eine Drainage würde nicht lange halten und böte eine erhöhte Infektionsgefahr“, erklärte er der Tierarzthelferin, die so etwas noch nicht gesehen hatte.

    „Er kommt jetzt auf die Überwachungsstation und wir können nur hoffen, dass er das Bewusstsein wieder erlangt und auch nicht wesensverändert und bissig ist. Ich habe jetzt dann in einer anderen Klinik noch zwei Operationen und mehrere Untersuchungen. Sie können mich jederzeit übers Handy erreichen, am Abend schaue ich nochmals nach ihm. Kontrollieren sie bitte stündlich die Pupillenreaktion und dokumentieren sie, ob er krampft, wenn das so ist geben sie ihm 400 mg Levetiracetam!“, gab der Neurochirurg seine Anordnungen und noch bevor Lucky aus der Narkose erwacht war, saß er schon wieder in seinem Wagen und steuerte die nächste Tierklinik an. Es hatte sich in vielen Fachrichtungen bewährt, dass die Spezialisten mehrere Kliniken bedienten und wie in der Humanmedizin gab es inzwischen auch unter den Veterinären eigentlich für jedes Organsystem und viele Tierarten Spezialisten.


    Wenig später hatte man Lucky extubiert, er lag in einer großen Krankenbox und hatte wieder den Überwachungssensor an der einen Pfote und eine Infusion an der anderen. In der Aufwachphase hatte er noch auf den Operationstisch gepinkelt und darüber war gerade die Tierarzthelferin sehr froh, denn die meisten Hunde die ein Leben lang gewohnt waren nur draußen ihr Geschäft zu machen, hielten ein, wenn sie in der Box waren und quälten sich dadurch nur unnötig. Das Schmerzmittel sollte noch wirken und so konnte man jetzt nur abwarten wie sich die Lage weiter entwickeln würde.


    Der Kliniktierarzt rief Sarah an und die sauste kurz nach draußen wo die Verbindung besser war.
    Als sie wieder auf die Intensivstation zurück kam, konnte sie lächelnd an Ben die Neuigkeiten weiter leiten: „Lucky hat die Operation gut überstanden und ist gerade dabei wach zu werden. Jetzt muss man einfach abwarten, aber er ist immerhin stabil“, erzählte sie ihm und nun konnte Ben auch ein wenig lächeln, bevor ihm vor Erschöpfung und als Nebenwirkung der starken Schmerzmittel die Augen wieder zufielen. Sarah saß noch eine Viertelstunde an seinem Bett, dann küsste sie ihn zart auf die Stirn und flüsterte: „Schlaf gut und erhol dich, ich fahre jetzt mal nach Hause zu den Kindern, die werden auch völlig durcheinander sein, außerdem habe ich noch die ganzen Einkäufe im Auto liegen, mal sehen was man davon überhaupt noch verwenden kann“, und Ben nickte müde und dämmerte dann wieder weg.
    Sarah verabschiedete sich von ihren Kollegen, die versicherten sie sofort zu informieren wenn sich etwas veränderte und so war sie wenig später auf dem Weg nach Hause und wusste ihren Mann in guten Händen.



    Als Semir nach der fast sechsstündigen Operation wieder in sein Zimmer zurück geschoben wurde, registrierte er erst gar nicht, dass er inzwischen einen Mitpatienten bekommen hatte, zu sehr war er noch benommen von der Narkose. Auch Ben sah nur dass ein Bett ankam, aber er war im Augenblick zu sehr mit sich selber und seinen Schmerzen beschäftigt, als dass er sich groß um seine Umwelt kümmern konnte. Die Schwestern und Pfleger sprachen leise, während sie seinen Mitpatienten hinter dem Vorhang versorgten, ihm ein Wärmegebläse unter die Decke steckten, denn er zitterte und seine Temperatur war unter 36 Grad, aber das würde sich im warmen Bett und mit Schmerzmittelgabe bald ändern. „Schlafen sie nur erst noch ihre Narkose aus, der Eingriff war erfolgreich und ab morgen ist auch an diesem Arm Physiotherapie angesagt“, erklärte Semir´s betreuende Schwester und er nickte müde, bevor er seine Augen wieder schloss und sich nach einer Dosis Opiat dem erholsamen Schlaf hin gab. Gerade interessierte er sich noch nicht für seine Umwelt, sondern wollte nur in Ruhe gelassen werden. So dämmerten die beiden Freunde, ohne voneinander zu wissen, nur getrennt durch einen Vorhang, vor sich hin.

  • Bei Ben stand die nächste Ultraschalluntersuchung an und als der Arzt die Decke zur Seite schlug und mit dem kalten Schallkopf erst das Gel auf seinem Bauch verteilte, hielt Ben unwillkürlich den Atem an. Auch wenn der Intensivarzt sehr vorsichtig war, entwich dem Verletzten ein lautes Stöhnen und gerade die Verletzung im Unterbauch tat ziemlich weh, als der Arzt dort ein wenig Druck ausübte, um die Flüssigkeitsverteilung zu sehen und aus zu messen, ob es mehr geworden war.

    Während Ben die Hände ballte und sich vor Schmerz wieder unbewusst die Lippe blutig biss und sein Stöhnen nicht unterdrücken konnte, war Semir mit einem Tagtraum aus dem wohltuenden Narkosenachschlaf erwacht. Er wusste erst gar nicht wo er war, aber das war eindeutig die Stimme seines Partners und in der Aufwachphase war Semir erst mal fest davon überzeugt, dass sie beide gerade an einem Fall arbeiteten und Ben dringend seine Hilfe brauchte. Er war schon fast aus dem Bett und sein Monitor begann zu alarmieren, als ihm plötzlich bewusst wurde, dass er im Krankenhaus war und nicht in irgendeinem Gebäude.

    Da stürzte auch schon die Schwester ins Zimmer. „Herr Gerkhan, sie können noch nicht alleine aufstehen, sie sind doch frisch operiert und die ganzen Zugänge und Drainagen sollten eigentlich auch drin bleiben!“, schalt sie ihn und er ließ sich mit einem Seufzer wieder zurück sinken und mit ein paar ordnenden Handgriffen hatte die Schwester ihn wieder gebettet und die Schläuche und Kabel sortiert.


    „Entschuldigung, ich war irgendwie gerade nicht ganz bei mir und habe mir im Halbschlaf etwas eingebildet“, rechtfertigte sich Semir und war fast der Überzeugung nur geträumt zu haben, als hinter dem Vorhang eine Stimme, die hörbar von Schmerz geprägt war, hervor stieß: „Semir - bist du das?“, und jetzt war es an dem kleinen Türken erstaunt die Augen auf zu reißen. „Ben du bist wirklich hier?“, rief er jetzt aufgeregt und nun verlangten die beiden Männer, dass sofort der Vorhang zurück geschoben würde. Der Intensivarzt hatte nur kurz die Decke über seinen Patienten geworfen, er würde den Chirurgen dazu holen, denn die Flüssigkeitsansammlung war mehr geworden, aber das interessierte Ben gerade überhaupt nicht, zu groß war die Erleichterung, seinen Freund und Partner in seiner Nähe zu wissen.


    Semir bat die Schwester sein Bettkopfteil in die Höhe zu fahren, denn der Aufstehversuch hatte auch ihm ziemlich weh getan, aber so konnte er nun seinen Freund betrachten, der in vielleicht eineinhalb Meter Abstand neben ihm lag. „Was ist geschehen und warum bist du hier gelandet - dich kann man auch nicht alleine lassen!“, schalt er liebevoll seinen blassen Partner und während die Schwester beiden Patienten nacheinander noch einen Schmerzmittelbolus verabreichte, begann Ben zu erzählen.


    „Lucky hat eine neue Hundefreundin gefunden, die wohnt genau gegenüber von dem Hof, wo wir die Ponys gekauft haben und damals mit der Kutsche gestartet sind. Die ist gerade läufig und Lucky ist völlig aus dem Häuschen deswegen und haut ab, wenn er nur kann“, sagte er und nun zuckten Semir´s Mundwinkel. „Wenn ich da so an dich früher denke, bevor du mit Sarah zusammen gekommen bist, dann wundert mich das nicht - wie der Herr, so das Gescherr – lautet das alte Sprichwort“, sinnierte er und normalerweise hätte Ben seinen Freund jetzt geknufft. „Egal, auf jeden Fall wollte ich ihn gerade dort abholen, da hat mich auf dem Weg dahin ein rücksichtsloser Geländewagenfahrer geschnitten und dann auch noch ein Kind auf dem Fahrrad gefährdet, so habe ich den dann verfolgt. Du glaubst es nicht, aber das war genau der Fahrer des Spyders. Ich habe ihn, als er ausgestiegen ist, anhand der Überwachungsfotos der Tankstellen erkannt. Und hier ist auch die Verbindung – der Typ ist Tierarzt und behandelt wohl die Pferde des Händlers, wobei auch da nicht alles mit rechten Dingen zugeht.

    Ich habe mich in Deckung in die Stallungen begeben und die beiden belauscht, während sie an einem riesigen Pferd ohne Betäubung herum geschnitten haben. Weil ich mein Handy vergessen hatte, wollte ich mich leise raus schleichen und die Kollegen informieren, aber sie haben mich entdeckt, mit einem Elektroschocker kampfunfähig gemacht und dann in die Box des Pferdes geschleppt. Das hat dann der Tierarzt ebenfalls mit Elektrofolter dazu gebracht auf mir rum zu trampeln, bis Lucky, der anscheinend meine Schreie gehört hat, den Typ in den Arm gebissen und entwaffnet hat.

    Mein Hund hat mir das Leben gerettet, wurde dann fast tot geprügelt und ist jetzt ebenfalls in der Klinik und wurde am Gehirn operiert!“, berichtete Ben mit Kummer in der Stimme und Semir lauschte fassungslos. Allerdings war eine weitere Konversation durch die Nebenwirkung des Opiats erschwert, denn sowohl Semir als auch Ben fielen jetzt die Augen zu. „Schlaf gut, wir reden später“, stieß Semir noch hervor, bevor er in Morpheus Arme abdriftete und auch aus Ben´s Bett ertönte ein lautes Schnarchen.


    Der Tierarzt und der Händler hatten inzwischen die deutsche Grenze auf der A3 hinter Passau erreicht. Dank des Schengener Abkommens fanden keine Grenzkontrollen hier statt. Spätestens an der ungarischen Grenze wäre dann ihr Weg wieder nach verfolgbar, jetzt galt es schneller zu sein als die Ermittler, aber es war schon gut, dass sie immerhin aus der BRD draußen waren und auch kein verdächtiges Auto fuhren. Der Händler hielt kurz an einem Rasthof an, so dass sie beide die Toilette benutzen und kurz etwas essen und trinken konnten, aber der Tierarzt hatte keinen Appetit, sondern warf statt dessen noch eine Schmerztablette ein. Als sie wieder unterwegs waren, sah der Pferdehändler Schweißperlen auf der Stirn seines Kumpanen glänzen – na hoffentlich machte der nicht schlapp, bevor sie in Rumänien ein sicheres Versteck erreicht hatten!

  • In der Tierklinik erwachte Lucky in seiner Krankenbox. Erst mal erbrach er sich, aber als er Medikamente dagegen bekommen hatte und Schmerzmittel lag er ruhig auf der weichen Unterlage, döste vor sich hin, aber bei jeder Kontrolle wirkte sein Blick wacher, er krampfte nicht und als ihn die Tierpflegerin mit Namen ansprach, klopfte sein Schwanz schon freundlich auf den Boden. Natürlich konnte es noch Komplikationen geben, aber als der Neurochirurg am Abend nochmals in der Klinik nach seinem Patienten schaute, war er sehr zufrieden. Lucky konnte bereits aufstehen, wenn auch mühsam wegen der vielen Blutergüsse, aber er hatte keinerlei neurologische Ausfälle mehr, trank ein paar Schluck Wasser und als man ihn an der kurzen Leine nach draußen führte, erleichterte er sich und begab sich danach wieder ruhig in die Krankenbox der Intensivüberwachung der Klinik. Die Infusion hatte man abgestöpselt, er ging auch nicht an den Klebeverband, sondern legte sich auf die Seite und wenn er auch sichtlich seine Familie vermisste und sehr schwach war, dämmerte er bald wieder in einen Halbschlaf hinüber, wie das Hunde den größten Teil des Tages normalerweise sowieso tun. Der Neurochirurg rief auf der Handynummer an, die an der Krankenbox stand und Sarah hatte Tränen der Freude in den Augen, als sie die positiven Neuigkeiten vernahm.

    "Hört ihr Kinder, Lucky kommt vielleicht doch bald wieder nach Hause!“, verkündete sie die frohe Nachricht, denn schweren Herzens hatte sie die Kinder auch darauf vorbereitet, dass Lucky eventuell über die Regenbogenbrücke gehen könnte, wie erst vor wenigen Wochen eines ihrer Meerschweinchen, das sie danach feierlich beerdigt hatten. Tim brachte immer wieder Blumen zu dem kleinen Grab und Ben hatte mit ihm gemeinsam ein winziges Holzkreuz gebastelt. Sie alle hatten sehr geweint, als das kleine Wesen einfach so gestorben war, aber es war auch ein guter Anlass gewesen über Tod und Sterben zu sprechen.



    In der Uniklinik hatte derweil der Intensivarzt den diensthabenden Chirurgen, einen sehr erfahrenen älteren Kollegen, erreicht. Er schilderte ihm die Situation und der versprach in Kürze vorbei zu kommen. Im Arztzimmer berichtete der Intensivarzt von dem Fall, man betrachtete gemeinsam die CT- Bilder am PC und dann schaute sich der Chirurg den Patienten selber an. „Guten Abend Herr Jäger, ich bin der zuständige Chirurg und würde mir gerne ihren Bauch ein wenig näher ansehen, wenn ich darf“, bat er freundlich und Ben der aus seinem Opiatedämmerschlaf hoch geschreckt war, nickte müde. Der Intensivarzt wollte den Vorhang zum Nebenbett zuziehen, aber der dunkelhaarige Polizist hinderte ihn daran. „Bitte lassen sie den Vorhang weg, wir beide kennen uns mit und ohne Klamotten und sind seit vielen Jahren sehr befreundet, ich fühle mich besser wenn mein Partner in meiner Nähe ist“, rechtfertigte er seine Bitte, drehte seinen Kopf zur Seite und suchte Semir´s Blick, der ihn mutmachend ansah, auch er war wieder erwacht.

    Der Chirurg betastete zunächst routiniert und mit viel Gefühl Ben´s kompletten Bauch und griff dann ebenfalls zum Schallkopf des Sonogeräts. Ben spannte alle Bauchmuskeln an und stöhnte, als der Schallkopf die Bauchdecke berührte. „Wir haben hier im Unterbauch eine Flüssigkeitsansammlung, wissen aber nicht, ob das Blut oder Gewebsflüssigkeit ist. Es ist definitiv mehr geworden seitdem die letzte Bildgebung stattgefunden hat, allerdings ist der Hb - Wert stabil, was eigentlich eher gegen eine Blutung spricht. Herr Jäger, wir können sie jetzt in Narkose legen und uns das im OP näher anschauen, aber vielleicht ist das gar nicht notwendig. Ich würde deshalb jetzt gleich hier vor Ort gerne in örtlicher Betäubung ein wenig von der Flüssigkeit abziehen, dann hätten wir Klarheit, sind sie damit einverstanden?“, fragte er und nach einem hilfesuchenden Blick zu Semir nickte Ben. Eine unnötige Operation war sozusagen das Letzte was er brauchte, eigentlich wollte er nur seine Ruhe haben und in Frieden gelassen werden.

    So kam kurz darauf die zuständige Schwester mit einem Eingriffswagen in Zimmer gefahren und jetzt hatte Ben doch Muffensausen, ob seine Entscheidung richtig gewesen war, hoffentlich tat das jetzt nicht mega weh. Aber schon nahmen die Dinge ihren Lauf, der Arzt war in einen sterilen Kittel und Handschuhe geschlüpft, ließ sich von der Pflegekraft ein Basisset anreichen, in dem Abdecktücher, Spritzen und alles zum Desinfizieren war und wenig später erschauerte Ben der aufgedeckt und nackt vor den beiden Ärzten und der Schwester lag, als das kalte Desinfektionsmittel dreimal auf seinen Unterbauch aufgetragen und dann ein steriles Lochtuch darüber gebreitet wurde. Auch der Schallkopf des Ultraschallgeräts wurde in eine sterile Plastikfolie verpackt, so dass der Chirurg gleichzeitig schallen und punktieren konnte und als nun der Stich der örtlichen Betäubung in die Mittellinie unterhalb seines Nabels piekte, stöhnte Ben kurz auf, hielt dann aber seinen Blick fest auf Semir gerichtet, der ihn anlächelte und leise: „Du schaffst das!“, flüsterte.


    Semir bekam einen trockenen Mund, als er sah, welche lange und dicke Nadel die Schwester nun dem Chirurgen anreichte, aber da Ben sich auf ihn fixierte, war nur der Druck schmerzhaft, als die Hohlnadel, unter Ultraschallkontrolle um keine Organe zu verletzen, tief in ihm verschwand. Der Arzt aspirierte und eine hellrosa Flüssigkeit füllte die große Spritze. Schnell wurden mehrere Röhrchen und eine heparinisierte kleine Spritze mit der Flüssigkeit gefüllt und während der Arzt danach noch fast einen halben Liter abzog, testete die Schwester den Inhalt der kleinen Spritze am Blutgasgerät. Als sie das ausgedruckte Testergebnis dem Intensivarzt und dem Chirurgen vorlas, waren die beiden sehr zufrieden. „Herr Jäger wir können aufatmen, die Flüssigkeit in ihrem Bauch zeigt keinen Hinweis auf eine akute Blutung, wie werden sie weiter engmaschig überwachen, aber aktuell sehen wir keinen Anlass den Bauch auf zu machen, auch das Kontroll-CT werden wir absagen. Einige der Proben gehen jetzt noch ins Labor, da prüfen wir ob Stoffe darin sind, die auf eine Verletzung der Harnleiter oder der Bauchspeicheldrüse hinweisen, aber wenn das nicht so ist, können wir getrost abwarten“, informierte ihn der Intensivmediziner. Der Chirurg hatte derweil die lange dicke Nadel heraus gezogen und drückte nun noch ein paar Minuten mit einem sterilen Tupfer auf die Einstichstelle, was fast unangenehmer als die ganze Prozedur zuvor war. Dann aber klebte die Schwester ein kleines Pflaster drauf, bettete mit einem Kollegen Ben nochmals neu und während draußen die Dämmerung fiel, schlummerten die beiden Polizisten nun einem neuen Tag entgegen.


    Sarah hatte ebenfalls vom Intensivarzt telefonische Auskunft erhalten, genauso wie Andrea, deren Besuch man auf den nächsten Tag verschob, die beiden Verletzten sollten sich jetzt einfach ausruhen.
    Sarah ging nun fast zeitgleich mit den Kindern ins Bett, so erschöpft war sie. Was für ein Tag!

  • Andrea hätte Semir gerne noch besucht, aber als sie, wie mit der Station verabredet, anrief, wurde ihr mit geteilt, dass er ziemlich spät aus dem OP gekommen sei, die Operation an seinem anderen Arm sehr zufriedenstellend verlaufen sei und es ihm gut ginge, aber jetzt gerade ein Mitpatient versorgt würde, was einen Besuch unmöglich machte. „Richten sie ihm liebe Grüße aus, ich komme dann morgen Nachmittag!“, trug sie der Schwester auf und zum ersten Mal seit Tagen schlief sie in dieser Nacht wieder tief und traumlos.


    Jenny war mit Hartmut noch auf einen Absacker gegangen. Anhand des Pkw- Kennzeichens, das sie sich gemerkt hatte, hatte man mühelos den Wohnsitz des Tierarztes ausfindig gemacht. Der Geländewagen stand auf dem Hof geparkt und die Gattin des Veterinärs, die ihr Enkelkind drei Straßen weiter gehütet hatte, fiel aus allen Wolken, als ihr Frau Krüger, die persönlich die Ermittlungen übernommen hatte, nach ihrer Rückkehr den Haftbefehl für ihren Mann und den Durchsuchungsbefehl für das komplette Anwesen präsentierte.

    „Wissen sie, wir haben uns schon lange auseinander gelebt“, erklärte sie mit dem typischen Dialekt der Siebenbürger Sachsen. „Er wurde immer merkwürdiger, war manchmal nicht er selbst und hatte Spaß daran mit dem Protzauto, das dort in der Garage steht, herum zu fahren. Die Praxis lief normal, ich habe keine Ahnung wie er sich das leisten konnte, aber mir hat er nichts gesagt. „Das ist Männersache!“, war seine Rede. Ich sollte das Haus und den Garten in Ordnung halten und mich um die Familie kümmern. Unsere drei Kinder und inzwischen mehrere Enkel wohnen ganz in der Nähe und ich wollte einfach keinen Ärger haben“, gab sie zu Protokoll. Als sie gebeten wurde zu sehen was aus dem Haus fehlte, denn nach einer kurzen Durchsuchung war klar, dass die beiden Täter sich zumindest hier nicht versteckten, konnte sie das Fehlen ihres Kleinwagens vermelden, dazu eine größere Menge Bargeld, eine Reisetasche und Kleidung. Im Bad lagen blutige Verbände auf dem Boden und es sah alles nach einer eiligen Flucht aus.


    Nach der ersten Augenscheinnahme des Spyders war klar, dass er das Todesfahrzeug war, das den Familienvater getötet hatte. Es würde abtransportiert und in der KTU gründlich untersucht werden.
    Die Tierarztfrau, die inzwischen von einem erwachsenen Sohn getröstet wurde, der vorbei gekommen war und ihr völlig selbstverständlich zur Seite stand, gab bereitwillig die Beschreibung des Corsa und Frau Krüger veranlasste sofort eine Fahndung. Als man der Gattin mitteilte, dass ihr Mann mit dem Sportwagen vermutlich einen Familienvater totgefahren hatte, brach sie in Tränen aus und sicherte völlige Mithilfe zu. „Ich wüsste eigentlich nur einen Ort wo mein Mann hingefahren sein könnte. Ich denke er wird sich in unsere alte Heimat in Siebenbürgen absetzen, da hat er Freunde und Verwandte, die ihn sicher verstecken werden. Ach mir tut das alles so leid, ich hätte ihn schon eher anzeigen sollen, denn er hat sich aus dem Tiermedikamentenschrank bedient, war oft aggressiv und hat sich so auch ans Steuer gesetzt, aber ich wollte einfach meine Ruhe haben und kein Aufsehen erregen!“, gestand sie unter Tränen und auch ihr Sohn musste um seine Fassung ringen. „Falls er Kontakt mit ihnen aufnehmen sollte, oder sie irgendwelche Hinweise bekommen, wo er sich aufhält, sagen sie mir bitte sofort Bescheid. Hier ist meine Karte, sie können mich jederzeit anrufen“, sicherte ihr Frau Krüger zu und die ältere Frau nahm sie blass und mit einem Nicken entgegen. Sie würde heute bei ihrem Sohn übernachten, so konnte die Polizei ungestört ihre Arbeit machen.


    Obwohl man eine Fahndung nach dem Corsa heraus gab, war der ungarische Zöllner nachts unaufmerksam und winkte das unscheinbare Auto durch und als sie in den frühen Morgenstunden die rumänische Grenze passierten, ignorierte der Grenzbeamte die Fahndung, als ihn der Beifahrer, der schwer angeschlagen aussah, im Dialekt seiner Heimat ansprach und einige Euros rüber wachsen ließ. War doch ihm egal was da im fernen Deutschland abgelaufen war - sie als Siebenbürger Sachsen mussten zusammen halten!


    So erreichten nach einer Ochsentour und völlig übermüdet die beiden Flüchtigen den Vorort von Hermanstadt, in dem der Tierarzt aufgewachsen war. Sein Cousin glaubte die Story, die ihm aufgetischt wurde und bot den beiden Obdach, Essen und Trinken. „Du brauchst einen Arzt!“, sagte er noch zu seinem Verwandten, aber der lachte laut. „Na komm, ich bin selber Tierarzt, du kannst mir Medikamente besorgen, damit ich den Hundebiss, den mir so ein Drecksköter bei der Arbeit verpasst hat, behandeln kann, aber das Wichtigste ist, dass wir ein wenig ausruhen können und nicht auffindbar sind. Die deutschen Steuerfahnder sind die Pest, auch meine Frau braucht nicht zu erfahren wo ich bin!“, untermauerte er seine Story und nachdem ein wenig Bargeld über den Tisch gewandert war, bekamen die beiden Männer momentan ein Zimmer und morgen würde ihr Gastgeber ihnen die Jagdhütte in den Bergen herrichten, damit sich seine Gäste gut erholen konnten. Der Corsa war in der Garage verschwunden und so wusste aktuell niemand, wo der Mörder und sein Gehilfe unter getaucht waren.



    Semir und Ben hatten erholsam geschlafen, auch wenn Ben zweimal nachts geweckt worden war, um seine Werte zu checken, die Fußpulse zu tasten und das Ultraschallgerät auf den Bauch zu halten. Man gab ihm aber zuvor gut Schmerzmittel und so dämmerte er danach immer sofort wieder weg.
    Beim Waschen half ihnen beiden dann der Pfleger, Semir wurde in einen Stuhl heraus mobilisiert und Ben betrachtete neidvoll den Kaffee und das Marmeladenbrötchen, die Semir gerichtet und eingegeben wurden. Den Kaffee trank er sogar schon mit einem Strohhalm selber, es waren ja nur seine Arme, die noch nicht so richtig mitmachten und nach der Verplattung geschwollen waren und weh taten. Der Dunkelhaarige war noch nüchtern bis zur Visite, aber nachdem die Werte stabil waren und im untersuchten Punktat auch keine besorgniserregenden Stoffe waren, wurde ihm vom Viszeralchirurgen zumindest flüssige Kost erlaubt. Der Unfallchirurg besah sich die Schwellung des Beins und begutachtete den Sitz der Extension. „Wir erhöhen das Gewicht, das die Knochenenden auseinander zieht um 500 g, denn sie haben eine gut ausgeprägte Oberschenkelmuskulatur, die da dagegen arbeitet, aber ich denke, wenn ihr Allgemeinzustand es zulässt, können wir zügig die endgültige Versorgung der Fraktur planen - wir sehen uns dann morgen im Laufe des Vormittags im OP“, kündigte er an und Ben hatte zwar einerseits Angst vor der Operation, aber andererseits war alles besser, als weiter in diesem doofen Gestell zu hängen, wie der Hofhund an der Kette.
    „Semir ich habe das Gefühl, wir sind beide noch mal mit einem blauen Auge davon gekommen, es könnte schlimmer sein, auch wenn uns jede Gräte weh tut. Aber ich sag dir eins - diesem Tierarzt und seinem Gehilfen will ich höchstpersönlich auf der Anklagebank in die Augen sehen, wenn er das Urteil „lebenslang“, erhält, das ist meine Motivation!“, kündigte er an und nahm dann genüsslich einen Schluck Kaffee aus dem Schnabelbecher. „Und noch was ist wichtig – Sarah soll uns beiden später nen ordentlichen Kaffee besorgen, von diesem Gebräu kriegt man ja Flöhe im Bauch!“, verkündete er und Semir musste jetzt lauthals loslachen. Das war wieder sein alter Ben voller Lebensmut.

  • Sarah rief am Morgen gleich auf der Intensiv an und bekam positive Neuigkeiten. Auch Andrea ließ Semir ausrichten, dass sie ihn am Nachmittag besuchen würde.


    Bei Semir kam die Physiotherapie, machte Lymphdrainage an beiden Armen, Bewegungsübungen und Atemgymnastik mit ihm und auch Ben wurde ein wenig durch bewegt und erhielt Übungsaufgaben. „Mann nicht mal im Krankenhaus kann man seine Ruhe haben - ich bin schließlich krank und muss mich ausruhen!“, beschwerte sich der Dunkelhaarige, der wegen der Opiate gerade gut drauf war. Denn eigentlich war sein ganzer Körper ein einziger Bluterguss, die Hufabdrücke des schweren Pferdes zeichneten sich jetzt plastisch auf seinem Bauch ab, aber die Schmerzmittel wirkten und so konnte er auch gut durchatmen. Die junge Krankengymnastin schüttelte lächelnd den Kopf, ließ sich aber nicht von ihrer Arbeit abhalten und so schlummerten wenig später die beiden Freunde erschöpft vor sich hin, das war ja anstrengender als ein Tag auf der Autobahn!


    Ben erwachte weil er fühlte dass ihn jemand ansah. Als er die Augen öffnete, konnte er Semir´s Blicke auf sich ruhen sehen und auch ihn erfasste eine tiefe Zuneigung und Erleichterung, die er in den Augen seines Freundes intuitiv erfasst hatte. „Sind wir noch mal davon gekommen“, sprach der aus, was Ben ebenfalls dachte. „Wir beide schaffen das gemeinsam, wir haben uns die Suppe eingebrockt, indem wir die halbwilden Ponys eingespannt und uns so in Gefahr begeben haben, aber jetzt müssen wir schnell gesund werden, damit wir die wahren Schuldigen, nämlich den Fahrer des Spyder und den Pferdehändler, schnappen und hinter Gitter bringen. Stell dir mal vor, da wären deine Kinder drauf gesessen und wären jetzt tot oder schwer verletzt. Und das braucht mir niemand zu erzählen, dass das ein Einzelfall war. Irgendwas haben der Tierarzt und der Händler mit den Tieren gemacht, sonst wären die nicht an einem Tag lammfromm und am nächsten die reinsten Furien. Da läuft etwas, was gefährlich ist und anscheinend gutes Geld abwirft, sonst kann sich kaum jemand einfach so einen Spyder leisten. Ben ich bin so froh dass wir beide leben und wieder ganz gesund werden, ich kann mir keinen besseren Freund und Partner als dich vorstellen, das musste einfach mal gesagt werden“, resümierte Semir und Ben hatte jetzt verdächtig feuchte Augen. „Ich liebe dich auch kleiner Türke!“, murmelte er und jetzt glänzte das nächste Augenpaar feucht.

    Gut dass wenig später die Schwester mit zwei Tabletts herein kam und nicht nur Semir im Stuhl sitzend ein Mittagessen bekam, sondern auch Ben eine klare Suppe und sozusagen als Nachtisch eine Flüssignahrung die nach Schokolade schmeckte. „Gott sei Dank, ich wäre sonst auf der Stelle verhungert!“, behauptete er und die Schwester die Semir das Essen eingab musste laut auflachen.


    Lucky machte ebenfalls weiter Fortschritte und auch wenn Besuche in der Tierklinik normalerweise nicht erwünscht waren, weil die Tiere den Trennungsschmerz jedes Mal aufs Neue durchlebten, wenn Herrchen oder Frauchen dann wieder gingen, ohne sie mit zu nehmen, die telefonischen Nachrichten klangen durchwegs positiv und Sarah und Hildegard getrauten sich auf zu atmen. Sarah hatte auch mit Jenni geschrieben, die gerade in der Past die Morgenbesprechung absolviert hatte und nun Hartmut, Frau Krüger und den Rest des Teams informierte.
    Leider waren der Tierarzt und sein Gehilfe wie vom Erdboden verschwunden, auch wenn in ganz Europa die Fahndung nach ihnen lief. Die Hausdurchsuchung beim Tierarzt hatte Unmengen von aus Rumänien importierten Billigmedikamenten und Impfstoffen zutage gebracht, die teilweise abgelaufen und umetikettiert worden waren, viele Mikrochips die man Tieren implantieren konnte und in einem Tresor Geld und ein Büchlein, das im Augenblick den Polizeibeamten noch Rätsel auf gab.


    In Sibiu, der rumänischen Stadt, die von deutschen Siedlern bereits im Mittelalter gegründet worden war, wo auch heute noch einige Siebenbürger Sachsen lebten, die durch einen strengen Ehrenkodex zusammen hielten, hatten sich der Tierarzt und der Händler inzwischen ausgeruht. Allerdings hatte der Ältere fluchend immer mal den Verband an seinem Arm gewechselt und hatte sichtlich Schmerzen. Nach ein paar Telefonanrufen war ein junger Rumäne erschienen und ein Päckchen wechselte gegen eine Bargeldsumme den Besitzer. Wenig später war der Tierarzt, der kurz im Bad verschwunden war, wieder gut drauf. Nur sein langjähriger Kompagnon erahnte den Grund, weil seine Pupillen eng waren. Sie stärkten sich mit deftiger Küche, am Abend kamen Bekannte von früher, überwiegend ältere Männer vorbei und man trank und feierte und amüsierte sich über die Anekdoten, die der Tierarzt erzählte. Obwohl sie in Rumänien waren, verstand der Gehilfe des Händlers fast jedes Wort, wenn so manche Formulierung auch ungewohnt war. „Die Sprache die wir sprechen ist eine sehr alte Sprache, die dem Mittelhochdeutschen ähnlich ist, das in Deutschland vor vielen hundert Jahren gesprochen wurde. Wir sind sehr stolz auf unsere Kultur und sind die Nachfahren der Siedler, die, überwiegend aus Moselfranken, bereits im zwölften Jahrhundert hier heimisch geworden sind. Vor dem Krieg lebten hier noch über 300 000 Siebenbürger Sachsen, inzwischen ist es nur noch ein Zehntel, weil die Jungen fast alle nach Deutschland gegangen sind, wo die Regierung sie frei gekauft hat. Auch ich habe in den achtziger Jahren, frisch verheiratet, aus wirtschaftlichen Gründen die Heimat verlassen. Aber die Sehnsucht nach den Orten meiner Kindheit, meinen Verwandten und Freunden ist immer da. Darum werden wir morgen früh gemeinsam in die Berge fahren und uns eine schöne Zeit mit Jagen und Fischen machen, bis in Deutschland die Suche nach uns abgebrochen wird, danach sehen wir weiter“, erläuterte der Tierarzt seinen Plan und am nächsten Morgen wurde der Corsa, dessen Nummernschild man einfach gegen ein Einheimisches ausgetauscht hatte, nochmals flott gemacht und schwer bepackt strebten sie der Jagdhütte zu.



    In der Klinik war inzwischen die Besuchszeit angebrochen, auch Sarah hatte sich daran gehalten, denn sie hatte zu Hause genügend zu tun, die Nachrichten aus dem Krankenhaus hatten gut geklungen und so war Andrea die Erste, die die Intensivstation betrat. Aus den Augenwinkeln nahm sie wahr, dass das Bett neben Semir belegt war, aber da stand gerade eine Pflegekraft davor, die einen Perfusor wechselte, so dass sie nicht erkennen konnte, wer darin lag. Ach Mann, warum musste Semir ausgerechnet in einem Zweierzimmer sein, das war der Erholung ja nicht sonderlich dienlich.


    „Schatz, ich liebe dich!“, sagte sie einfach und beugte sich über ihn, um ihm einen Kuss auf den Mund zu geben. Er gefiel ihr heute viel besser, auch war nach der gestrigen Operation das furchteinflößende Metallgestell auch um den zweiten Arm verschwunden und nur elastische Binden reichten von den Fingern bis zur Achsel. Semir schien wieder Kräfte geschöpft zu haben, woher auch immer und strahlte eine innere Ruhe aus, die sie tiefe Erleichterung verspüren ließ. Hier war wieder der alte Semir, der Mann den sie geheiratet hatte, der mutig war, einen Plan hatte und für das was ihm wichtig war, bereit war zu kämpfen. Jetzt war sie auf einmal sicher dass alles wieder gut werden würde.
    „Hallo Andrea!“, sagte auf einmal eine wohl bekannte Stimme hinter ihr und Andrea drehte sich erstaunt um. Sie hatte doch die Tür im Blick gehabt, wie war Ben hier herein gekommen? Sie erschrak als sie sah, dass Ben der zweite Patient im Zimmer war und recht blass in seinen Kissen lag. Sein Bein hing in einem Metallgestell, aber er lächelte und schien genauso wie Semir gut drauf zu sein. Was auch immer geschehen war, die beiden Freunde taten sich gut, das war sofort zu erkennen. „Hattest du ebenfalls einen Unfall?“, fragte sie und deutete auf die Extension und Ben nickte. „So kann man das auch ausdrücken. Ich bin den Männern, die die Ponys zum Durchgehen gebracht haben, zu nahe gekommen und sie wollten mich dann von einem riesigen Kaltblut zu Tode trampeln lassen. Aber Lucky und Sarah haben mich gerettet, so bin ich her gekommen“, erzählte er die Kurzfassung und jetzt fiel plötzlich von Andrea die ganze Bitterkeit und die Schuldzuweisungen ab. Sie hatte in Ben den Schuldigen für die schweren Verletzungen ihres Mannes gesehen, aber auch er war wohl nur Opfer gewesen und so waren die drei kurze Zeit danach in eine angeregte Unterhaltung vertieft und bemerkten kaum wie Sarah das Zimmer betrat. „Schatz, gut dass du da bist - wir brauchen sofort vier Tassen Kaffee und zwar einen guten, sonst wandere ich hier aus!“, beauftragte Ben seine Frau und als sie wenig später die vier großen Tassen auf einem Tablett herein brachte wusste sie, es würde alles wieder gut werden!

  • Am nächsten Morgen musste Ben nüchtern bleiben und Semir hätte am liebsten sein Frühstück ebenfalls abgelehnt, wusste er doch wie schwer es seinem Freund fiel, ihm beim Essen zu zusehen. Aber die Schwester die ihn heraus gesetzt hatte, richtete ihm das Marmeladenbrötchen mundgerecht her und steckte einen Strohhalm in die Kaffeetasse. „So Herr Gerkhan, jetzt versuchen sie mal alleine zurecht zu kommen, ich komme später wieder“, beauftragte sie ihn und wenn seine Hände ihm eigentlich noch nicht so richtig gehorchten, weil sie noch geschwollen und schmerzhaft waren – er schaffte es trotzdem sein Frühstück alleine zu essen, auch wenn er froh war, dass man ihm ein Handtuch wie einen Latz um den Hals gelegt hatte.


    Ben hatte am Morgen beim Waschen schon kräftig mit geholfen und die Rasur des gebrochenen Beins bis zur Leiste skeptisch beäugt. „Mann da muss ich mir zuhause von meiner Frau dann nen Ladyshaver ausleihen und das zweite Bein angleichen, wie sieht das denn aus, wenn nur eines nackig ist und das andere voller Haare!“, überlegte er und jetzt musste Semir grinsend den Kopf schütteln. „Eitel auch noch sein, du hast vielleicht Probleme!“, lachte er, war aber insgeheim froh, dass sein Freund so positiv in die Zukunft sehen konnte. Als gegen neun dann die Intensivschwester mit einem Arzt das Zimmer betrat und mit ein paar geübten Handgriffen der Transportmonitor am Bett befestigt wurde, eine Infusion und zwei wichtige Perfusoren, dazu das Arteriensystem in eine Halterung umgebaut wurden, war Ben dennoch blass und angespannt. Wohl jeder hatte Angst vor einer Operation und den Schmerzen danach. Dazu kam, dass der Assistenzarzt beim Aufklärungsgespräch am Vorabend noch deutlich betont hatte, dass es jederzeit zu Blutungen, Wundheilungsstörungen und einer Verkürzung des Beins kommen konnte. Ben hatte dennoch sein Einverständnis gegeben und unterschrieben, was blieb ihm auch anderes übrig. „Ich kann ja schlecht dieses Gestell mit nach Hause nehmen“, hatte er da noch geflachst, aber je näher die Operation rückte, desto stiller wurde er.


    „Ich wünsche dir von Herzen alles Gute und du wirst sehen, die reparieren das genauso gut wie bei mir und in ein paar Wochen ist der Spuk vergessen!“, gab ihm Semir mit auf den Weg und Ben flüsterte noch ein leises „Danke!“, während er zur Tür hinaus geschoben wurde.


    In der Schleuse wurde es noch kurz schmerzhaft, als man das Bein aus der Extension nahm und er auf das Schleusenband gefahren wurde, aber wenig später lag er mit angewärmten grünen Tüchern zugedeckt, nackt auf dem weichen Operationstisch und musste in der Einleitung noch kurz warten, wurde dabei aber von einer freundlichen Anästhesieschwester betreut. Sein Blick fiel auf den Tisch auf dem bereits alles zum Intubieren her gerichtet war und er musste sich danach bemühen an etwas anderes zu denken, als dass in Kürze dieser Tubus in seinen Hals geschoben werden würde. Leider war die Erinnerung an Semir´s Intubation auf dem Acker noch sehr frisch und er wusste genau wie das ablaufen würde. Hoffentlich war er da auch wirklich ganz weg. Er hörte noch das Klirren von Instrumenten und gedämpfte Stimmen aus dem Operationssaal und seine Nervosität stieg, wie man an der schnellen Herzfrequenz erkennen konnte, aber da verwickelte ihn die Schwester in ein Gespräch. Sie fragte ihn nach Sarah, die sie von ihrer gemeinsamen Fachweiterbildung über zwei Jahre gut kannte, nach den Kindern und dann stand auch schon der grün vermummte Anästhesist vor ihm. „Guten Morgen Herr Jäger, ich werde sie jetzt ein wenig schlafen legen“, sagte er freundlich und dann ging alles ganz schnell. Nachdem ja der ZVK bereits lag, spritzte man über den das Opiat, dann das Narkosemittel und als Ben die Augen zufielen noch das Muskelrelaxans und wenig später war er intubiert, der Tubus verklebt und bereit in den OP gefahren zu werden.



    Dort stand ein Team aus zwei erfahrenen Unfallchirurgen und einem Assistenzarzt bereit und nachdem man Ben fachgerecht gelagert hatte, das gesamte Bein mit Desinfektionsmittel mehrfach abgestrichen war, wurde unter Bildwandlerkontrolle - einem speziellen Röntgengerät - der eingestauchte Mehrfragmentbruch mit Platten, Winkeln, Nagel und Schrauben repariert. Da war handwerkliches Geschick und Kraft genauso gefragt wie Fachwissen und als die Operation fertig war und man die Wunde mit sauberen Einzelknopfnähten verschloss und wegen der Infektionsgefahr auch auf eine Saugdrainage verzichtete, dafür das Bein von den Zehenspitzen bis zur Hüfte mit elastischen Binden umwickelte, damit es zu keinem Stau von Gewebeflüssigkeit kam, verglich der Chirurg am noch leicht schlafenden Patienten die Beinlängen.


    „Ich glaube das haben wir ganz gut hin gekriegt, ich kann keine Beinlängendivergenz feststellen. Das Hämatom am Bein haben wir auch ausgeräumt und die inneren und äußeren Blutergüsse am Bauch und im Thoraxbereich müssen sich selber auflösen, ich würde sagen, da hat unser Patient, wenn alles gut heilt, noch mal Glück gehabt“, resümierte er und nun begann Ben sich zu regen, denn der Anästhesist hatte zum genau passenden Zeitpunkt das Narkosegas abgedreht und auch keine weiteren intravenösen Narkosemittel mehr verabreicht. Als er wirklich komplett selbstständig atmete, saugte der Narkosearzt nochmals den Mund ab und befreite ihn vom Speichel, die Anästhesieschwester hatte derweil schon die Kleber gelöst und nun entblockte man den Tubus und zog ihn rasch heraus, was Ben heftig husten ließ, aber danach war er sofort wieder eingeschlafen, gerade das starke Opiat wirkte noch sehr gut.


    Vom Umlagern in der Schleuse bekam er auch nichts mit und Semir atmete erleichtert auf, als drei Stunden nachdem er abgeholt worden war, sein Freund wieder ins Zimmer gefahren wurde. „Und wie ist es gelaufen?“, überfiel er regelrecht den Stationsarzt mit seinen Fragen und der musste grinsen. „Na ja eigentlich bin ich mir nicht so sicher, ob ich ihnen gegenüber jetzt auskunftberechtigt bin, aber ich würde sagen - es lief alles nach Plan. Der Operateur hat auch schon mit der Ehefrau telefoniert, die kommt dann in ein paar Stunden vorbei, aber jetzt soll ihr Freund erst mal seine Narkose ausschlafen“, berichtete er und Semir, der in der Zwischenzeit schon wieder sein Mittagessen fast selbstständig gegessen hatte und bereits eine Runde Physio hinter sich hatte, drehte sich jetzt ebenfalls erleichtert um, um ein kleines Mittagsschläfchen zu halten.


    Er wurde wach, weil Ben stöhnte, drückte sofort auf den Klingelknopf und wenig später hatte sein Freund erneut ein starkes Schmerzmittel und pennte fürs Erste noch ein bisschen weiter. Semir hatte sich zur Seite gedreht und sah ihm beim Schlafen zu und eine warme Welle der Zuneigung und Erleichterung überfiel ihn. Was hatten sie beide schon miteinander durch gestanden, was gab es Schöneres, natürlich neben Familie und Kindern, als eine tiefe Freundschaft.

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