IX

  • Köln - 13:00 Uhr



    Die Durchsuchung hatte ungewöhnlich lange gedauert, was an dem durchaus aufwändigen Sicherheitssystem des chemischen Labors hing. Hartmut war wie gefesselt von der neuartigen Firewall- und Verschlüsselungstechnik, mit der er sich schnell vertraut machte. Dann musste er dafür sorgen, dass allerlei Aufzeichnungen und Unterlagen auf die eigens dafür vorgesehenen Festplatten kopiert wurden, die er aus der KTU mitbrachte. Man konnte natürlich nicht, wie bei einer Privatdurchsuchung, einfach einen PC mitnehmen, da es sich hier um größere Server handelte. Schubert erschien kooperativ, auch der IT-Techniker mit dem Hartmut zusammenarbeitete und mit dem er sich ausführlich austauschte, stellte sich in keinen Fragen oder Forderungen quer. Man hatte den Eindruck, als wolle die Firma mithelfen, den Fall zu lösen. Semir war dementsprechend misstrauisch bei soviel Hilfsbereitschaft.
    Er und Lucas beugten sich mit Bretten über sämtliche analoge Archive, die ehemalige Projekte mit der amerikanischen Firma PEC zusammen betrafen. Man durchblätterte Ordner für Ordner, zwei Forscher halfen mit wenn es an die technischen und chemischen Details ging. Doch Bretten hatte Recht, als er früh sagte: "Ich müsste mich doch sehr wundern, wenn jene Verbrecher schmutzige Geschäfte in den normalen Ordnern abheften würden." Semir stimmte dem zu: "Richtig. Aber manchmal findet man Codewörter, die in mehreren Projekten auftauchen, die vielleicht keinen Sinn ergeben." Allerdings würde es wohl Wochen dauern, das alles durchzuarbeiten.



    Semir war enttäuscht. Er hatte gehofft, dass sich einer der Techniker mit irgendwas verdächtig machen würde. Ironischerweise waren heute sogar alle Mitarbeiter des betreffenden Labors da, niemand hatte Urlaub, niemand hatte einen kurzfristigen Krankenschein. Allerdings konnte sich auch in den Verhören niemand erklären, warum der Raum nun in dem Gebäudeplan tatsächlich so markiert ist, wie er war. Und niemand konnte sich erklären, wie man mit regenerativen Energien irgendeinen Schaden anrichten konnte, was auf ein Verbrechen hindeutete... ausser, man missbrauchte die Labore natürlich für andere Zwecke. "Wir sind nicht nur auf regenerative Energien ausgerichtet", gab Bretten zu bedenken.
    Der erfahrene Polizist war sowieso mit seinem Kopf ganz woanders... nämlich bei seinem Partner. Ben hatte sich dermaßen kurzfristig einfach abgemeldet, das war nicht normal. Das Misstrauen siegte aber gegen die Neugier und die Sorge, mit der er seinen besten Freund unbekannten Zieles ziehen ließ. Das Misstrauen galt nämlich Lucas... nach wie vor. Und Ben schien am Telefon selbst ebenfalls ziemlich kurz angebunden... scheinbar wollte vor allem der Anrufer nicht, dass andere mithörten. Im Laufe des Mittags reifte immer mehr der Verdacht, dass es tatsächlich Christian gewesen sein könnte. Allerdings erwartete Semir zügige Nachrichten oder Rückmeldung seines Kollegens, die allerdings ausblieb. Dementsprechend nervös wurde er mit jeder Viertelstunde, die ohne Meldung verging.



    Als sie endlich mit dem Gröbsten fertig waren und Polizistenschlangen Körbe voll Akten und bespielten Festplatten raustrugen, konnte er endlich zumindest einen Anrufversuch unternehmen. Doch Bens Handy war ausgeschaltet und Semirs Gesicht wurde misstrauisch. "Alles okay?", fragte Lucas, der scheinbar mit Adleraugen Semir beobachtete. "Hmm, ja ja." "Wo ist dein Kollege hin?" "Musste was dringendes erledigen. Der erzählt mir ja auch nicht alles.", sagte der Polizist schulterzuckend und spielte dem CIA-Agenten vor, dass das Verhältnis zu Ben nicht so dicke war, wie in Wahrheit. Doch der schaute nur etwas missbilligend. Semir unterschätzte die Beobachtungsgabe von Lucas, der sich ziemlich schnell ein Bild von Menschen machen konnte, und wie sie miteinander umgingen.
    Als sie nach draussen gingen fragte Semir einen der uniformierten Kollegen, ob er sich einen Dienstwagen ausleihen könnte, um zurück zur Autobahndienststelle zu kommen. "Kein Problem.", rief Rolf, den er gut kannte, und warf ihm den Schlüssel zu. "Und das ist dann so üblich bei euch, dass zwei Kollegen einfach irgendwo ohne Auto stehen gelassen werden?", meinte Lucas nochmal mehr neugierig als schnippisch und Semir spürte, dass Lucas das Gegenteil von naiv war. "Kommt schon mal vor.", war seine kurze, nichtssagende Antwort.



    Kaum in der Dienststelle angekommen, versuchte es Semir noch zweimal. "Verdammt...", murmelte er, als jedes Mal nur die Mailbox reagierte. Er wurde unruhig, ein untrügerliches Gefühl das ihn selten täuschte. Und er wusste nichts, keinen Anhaltspunkt wo Ben hingefahren sein könnte. Oder was überhaupt los war... er sah auf die Uhr. Es war bereits kurz vor 14 Uhr und um diese Zeit hätte er sich längst gemeldet. Lucas bemerkte die Unruhe des Deutschtürken, als dieser heraus zu Andrea ging. "Andrea, hat sich Ben vielleicht bei dir gemeldet?" Sie schüttelte den Kopf und blickte vom Monitor auf. "Was ist denn los?" "Ich...", wollte er gerade beginnen, doch er spürte fast schon den Blick des CIA-Agenten hinter sich, der gerade von der Toilette kam und interessiert aufsah. "Nichts... nichts wichtiges."
    Es war schrecklich in seiner gewohnten Umgebung nicht einfach frei reden zu können. Das merkte auch Lucas, dem das ganze mehr als unangenehm war, denn mittlerweile fühlte er sich innerlich zerissen. Er wusste um die Absichten, hinter denen seine Organisation stand, und er wusste was für ihn auf dem Spiel stand wenn er die Regeln brach. Andererseits hatte Semir ihm den Hals gerettet, und Lucas war niemand, der sowas vergaß.



    Als die beiden zurück ins Büro gingen, hielt Lucas Semir am Arm fest. "Ich weiß nicht, was mit deinem Partner ist...", begann er mit fester bestimmter Stimme. "... aber wenn es den Fall betrifft, dann solltest du mit mir reden." Semir sah den Mann an. Hier standen sich zwei Männer auf Augenhöhe gegenüber mit einem riesigen Schatz an Menschenkenntnis, die in ihren jeweiligen Job bereits alles gesehen und alles erlebt hatten. Semir fühlte sich keinesfalls mental überlegen, was ihm gegenüber Kevin und Ben hin und wieder vorkam. "Vertrauen setzt einiges voraus.", merkte der erfahrene Polizist an und zog dabei eine Augenbraue hoch. "Zum Beispiel die Beantwortung unserer Frage heute morgen. Wegen ihres Namens." Lucas schnaubte: "Ich hab ihnen doch schon gesagt, dass ich mich..." "Wenn sie sich schon mal in diese Organisation eingeschlichen hätten, würde die CIA sie nicht an vorderste Front gegen diese Typen stellen. Oder hat das CIA so wenig fähige Männer?", kam Semir ihm mit lauter Stimme zuvor, die autoritär klang und keine Widerworte duldete. Lucas lehnte ein wenig am Türrahmen und schüttelte nur den Kopf. "Du hast keinen Schimmer...", sagte er geheimnisvoll was den Polizisten noch wütender machte. "Ich kann dir nur sagen, dass du meine Hilfe nicht ausschlagen solltest gegen diese Typen. Ich denke, du weißt mittlerweile wie gefährlich sie sind." Dann drehte er sich um und öffnete die Bürotür... und Semir musste zugeben, dass er Recht hatte. Mit Lucas an seiner Seite hatte er gegen diese Leute wahrlich bessere Chancen. Und sein erstes Ziel auf der Suche nach Ben war dessen Wohnung... ob allein, oder mit Lucas.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Keller - 13:45 Uhr



    Schwärze... alles um Ben herum war in Schwarz getaucht, dachte er. Seine Augenlider schwer, er hörte dumpfe Geräusche. Als läge er irgendwo im Sarg... Oh Gott... nicht schon wieder. War da nicht auch ein Tropfen Wasser, der ihm ins Gesicht fiel, so wie damals. Plötzlich riss er die Augen auf, denn der Tropfen verwandelte sich in eine Welle, die sein Gesicht, die Haare und den oberen Teil seines Shirts durchnässte. Das Licht der einzelnen Fassung in dem schummrigen Keller brach sich an den Wasserfäden, die ihm vor die Augen liefen. Das Wasser stammte aus einem Eimer, der wiederrum von einem Mann mit asiatischem Aussehen gehalten wurde. "Wach werden! Los!", herrschte er Ben an und schlug ihm unsanft an den Hinterkopf, dass die Tropfen von den Haaren flogen.
    Der junge Polizist versuchte sich zu orientieren... der Unfall, die Verfolgungsjagd... dann Schwärze. Er musste das Bewusstsein verloren haben, an seiner Stirn, die Schläfe herab zur Wange spürte er angetrocknetes Blut und ein leichtes Brennen. Verdammt, sie hatten ihn geschnappt... und scheinbar nicht nur ihn. Seine Augen wanderten langsam durch den Raum, er erkannte seinen Cousin neben sich, an einen Stuhl gefesselt und mit Klebeband verstummt. Jetzt spürte auch Ben Beengtheit um seine Fußknöchel und Hände.



    Aber im hinteren Teil des Raumes standen weitere Männer, die auf eine Frau und ein Kind aufpassten. Die hatte Ben noch nie gesehen, beide sahen verängstigt aus und schauten in Richtung der beiden jungen Männer. "Was... was wollt ihr von uns?", fragte Ben, obwohl natürlich klar war, was hier ablief. Sie wollten den Stick... und nach langer Suche hatten sie zumindest endlich den Besitzer gefunden. Dass Christian noch lebte, bedeutete dass er bisher dicht gehalten hatte. "Frag nicht so dämlich.", sagte der Mann zu ihm in erstaunlich gutem Deutsch, sogar mit leicht französischem Akzent. Offenbar war die Gruppe derer, die den Stick an sich bringen wollten über ganze Europa verteilt. Wo waren sie jetzt, waren sie noch in Belgien? Wieder zurück in Deutschland? Wie spät war es eigentlich?
    "Leider redet dein Freund hier nicht... und wen er redet, sind es überflüssige Worte aus seinem Mund. Wir wollen nur wissen, wo der Stick ist." Ben schaute ruckartig zu Christian, dessen Augen voller Furcht und Panik waren. Er hatte geschwiegen und offenbar hatten sie ihm keine Gewalt angetan. Er hatte ebenfalls nur Kratzer im Gesicht, die nach Autounfall aussahen. Und irgendwie war er stolz auf seinen Cousin, dass er dicht hielt... nicht auszudenken, wenn die Typen an die brisanten Informationen kommen würden.



    "Ja... das ist Pech für euch, Jungs.", sagte Ben und setzte seine gespielte Lockerheit auf, die so manchen Geiselnehmer zur Weißglut bringen konnte. "Ich weiß es nämlich nicht." Der Mann, eine sehr stattliche, kräftige Erscheinung, schwarzem Pferdeschwanz und beinahe gutmütigem Gesicht, beugte sich zu Ben runter und kam mit seinem Gesicht dicht an Bens Gesicht heran. "Wie schade. Aber du kannst trotzdem zu etwas gut sein." Dann sah er auf und nickte kurz. Ben hatte sich nicht umdrehen können und sah deswegen den weiteren Mann hinter ihm nicht. Deswegen erschrak er, als dieser die Lehne des Stuhls griff und ihn nach hinten zog. Der Polizist fiel in die Waagerechte, fest an den Stuhl fixiert, den Kopf aber auf dem Boden liegend. "Hey!!" rief er kurz erschrocken und hörte noch unverständliche Laute seines Cousins.
    Mit einem lauten "Ratsch" bekam dieser das Klebeband vom Mund entfernt. "Lasst ihn da raus! Er hat damit nichts zu tun.", jammerte er mit weinerlicher Stimme. "Dann sag uns, wo der Stick ist!" "Nein Christian! Der Stick darf ihnen nicht in die Hände fallen", kam vom Boden von Ben. Der Mann lachte. "So so, ein Held. Und du weißt sogar, worum es hier geht. Das macht das Ganze einfacher." Ein paar Worte in einer absolut fremden Sprache fielen, es klang nach Anweisungen an die Männer um Ben und Christian herum.



    Plötzlich wurde Ben ein Lappen aufs Gesicht gedrückt. Um ihn herum wurde alles schwarz, der Lappen roch unangenehm modrig, aber nicht nach Betäubungsmittel. "Hey, lasst das!", wollte er rufen, aber es kam unverständlich gedämpft durch den Stoff durch. Auf einmal hatte der Polizist das Gefühl, dass man ihn unter Wasser drückte. Als hätte man seinen Kopf genommen und in eine Badewanne getaucht und zusätzlich das Wasser angemacht, das auf ihn herablief. Er versuchte die Luft anzuhalten, doch immer mehr Wasser fiel auf ihn herab, als würde er unter einem gigantischen Wasserfall stehen, dessen Säule ihn zu Boden drückte.
    Das Klebeband schnitt sich in seine Haut, weil er in Panik unmenschliche Kräfte entwickelte. Mit den Händen und Beinen zerrte er an den Fesseln, unverständliche Laute kamen von ihm, was sich, je mehr Wasser der Typ aus einer Flasche auf den Lappen in Bens Gesicht kippte, mehr nach einem Gurgeln anhörte. Er hatte tatsächlich das Gefühl, er müsste ertrinken. So hat sich sicher Jenny gefühlt, als sie gefesselt im Auto lag, das langsam im Rhein versank, ehe Kevin sie todesmutig gerettet hatte. Ganz dumpf, weil ihm auch Wasser in die Ohren lief, hörte er das Geschrei seines Cousins, doch verstehen konnte er ihn nicht. Dann hörte das Wasser auf, der Lappen kam weg und die ganze Szenario war vor Bens Augen verschwommen, er hustete und sog gierig Luft in seine Lungen, bevor die Tortur nochmals began.



    Bens Körper bebte, er erhob sich und bäumte sich auf, als wäre er im Todeskampf. Es konnte bei dieser Foltermethode im Prinzip nichts passieren, trotzdem hatte er das Gefühl zu ertrinken, er konnte dem Wasser nicht ausweichen, es floß durch den Lappen in sein Gesicht. "Hört auf!! Ich sags euch!", schrie Christian, und der Mann zog die Augenbrauen nach oben. Das Wasser hörte auf und während Ben erneut sich die Seele aus dem Leib hustete, wurde sein Stuhl wieder aufgerichtet. "Dann lass uns mal hören, wo du das kleine Ding hinterlegt hast, für uns.", sagte er erwartungsvoll während Ben keuchte: "Tu es nicht, Christian?" "Die bringen dich um..." "Quatsch...", Zwischendurch musste Ben immer wieder durchatmen. "Semir ist bestimmt auf dem Weg. Und ohne uns finden die das Ding nicht."
    Dem Mann wurde das Spielchen zuviel. "Na gut... wir haben auch noch andere Möglichkeiten.", sagte er wütend und Ben bekam es sofort zu spüren. Brutal wurde ihm der Kopf in den Nacken gelegt und mit Gewalt eine Apparatur in den Mund eingeführt, dass er diesen nicht schließen konnte. Wieder kamen panische Laute von ihm, wieder versuchte er sich zu wehren als er die Zange in der Hand des Mannes sah, der sich offenbar nicht davor scheute, selbst Hand anzulegen. "Welche Zähne braucht man wohl am wenigsten..."



    "Hört auf! Hört sofort auf. Ich sage es!!", schrie Christian wieder, denn er konnte nicht mehr zuschauen, was mit Ben passierte. Der spürte nur, wie sich das Eisen der Zange einen Zahn fasste und Druck ausübte. "Ob der so einfach rauskommt... oder ob man ihn abbrechen muss?", hörte er die grausame Stimme, die dann harsch forderte: "Wo ist der Stick!" "Er ist... in einem Blumenkübel vergraben. In einer Wohnung in Köln. Dort habe ich ihn versteckt." Der junge Polizist spürte, wie der Mann ein wenig mit der Zange wackelte... schon ohne große Gewalt oder Kraft löste es Schmerzen im Kiefer aus. "Die Adresse!" "Es... es ist..." und dann nannte Christian die Adresse. Plötzlich waren alle Schmerzen bei Ben vergessen und seine Augen fuhren herum zu seinem Cousin... es war Bens Adresse.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Ben's Wohnung - 14:00 Uhr



    Carina hatte heute frei. Sie wusste noch gar nichts von den neuesten Verwicklungen in Bens Fall, dass dieser verschwunden war und seit zwei Stunden nicht mehr auffindbar. Überhaupt hatte die junge Frau, mit der Ben jetzt bereits fast ein dreiviertel Jahr zusammen war, noch wenig Gespür für Bens Job bekommen, weil sie noch nie direkt mit ihm konfrontiert wurde... ausser natürlich bei ihrem Kennenlernen. Aber danach konnte der Polizist sie oft aus allem raushalten, erzählte nur oberflächlich von den Fällen, zB als Kevin fremdgesteuert war, oder man wiederholt mit seiner Vergangenheit konfrontiert wurde. Sie hatte sich in ihrem zweiten Leben nach dem Tod ihrer Mutter zurecht gefunden, einen Job in einer kleinen familiären Tierarztpraxis gefunden, wo sie sich vor allem um den Verwaltungskram kümmerte... und mit Ben ihren rettenden Engel gefunden.
    Doch ihre Beziehung wurde gerade in den letzten Wochen auf eine harte Probe gestellt, nach Kevins Tod hatte Ben sich verändert. Leicht reizbar, aufbrausend und schlecht gelaunt. Carina nahm vieles hin, zeigte sehr viel Verständnis. Etwas, was sie durch die Alzheimer-Erkrankung ihrer Mutter geradezu lernen musste... doch irgendwann wurde es ihr zuviel. Es kam diese Tage zum Streit, und die blonde Frau sah ihr Glück aus den Händen gleiten. Dann kam er heute Nacht auch nicht nach Hause, was ihre Sorge weiter bestärkte, auch wenn die SMS von Semir am Abend die Sorge etwas abschwächte.



    Viel wohltuender war Bens Anruf am frühen Morgen. Er entschuldigte sich, sah ein wie falsch er gehandelt hatte und wie egoistisch er war. Irgendetwas musste vorgefallen sein, was ihm die Augen öffnete, doch er wollte nicht damit rausrücken. "Das erzähle ich dir in Ruhe heute Abend.", sagte er und wollte Jennys Ausfall nicht am Telefon erzählen. Carina war beruhigter... und glücklich. Jetzt saß sie in Bens (ehemaliger) Junggesellenwohnung und klickte sie im Internet wieder durch allerlei Häuser-Anzeigen und Prospekte von verschiedenen Bauherren. Das Projekt, das Appartement in ein Haus umzutauschen, hatten sie schon vor einigen Wochen mal besprochen, kurz bevor es zu Kevins Tod kam. Dann lag die Sache, zumindest von Bens Seite aus, erstmal auf Eis. Ermutigt durch seine Entschuldigung nahm Carina die Recherchen wieder auf.
    Unterbrochen wurde sie durch ein Klingeln an der Tür. Sie stand vom Küchentisch auf und schaltete an der Wohnungstür den kleinen Monitor, der wie ein Tablet an der Wand hing, ein um nach der Kamera zu schauen, die im Hauseingang angebracht war. Drei Männer in Anzügen standen da, sie blickten ohne Ausdruck in den Augen in alle Richtungen, so dass es Carina kurz mulmig wurde. Erwartete Ben Besuch? Und wenn ja... wer, zum Teufel, war das? Sie beschloss, weder den Öffner zu drücken, noch über die Sprechanlage die Männer zum Gehen zu bewegen. Stattdessen wählte sie Bens Handynummer, doch es meldete sich nur die Mailbox.



    Gerade, als Carina die Augen wieder vom Smartphone weghob, sah sie auf dem Bildschirm, dass die Männer verschwunden waren. Die junge Frau spürte ihr Herz schlagen, spürte das Pochen in ihrer Brust, denn ihr war unwohl zu Mute. Gerade das Auftauchen von Bens undurchsichtigem Cousin und der Angriff auf die beiden war ihr noch gut in Erinnerung geblieben. Langsam, als könnten die Männer es draussen noch hören, dass sich in der Wohnung doch etwas bewegt, ging sie zurück an den Laptop und setzte sich wieder hin.
    Dann schreckte sie wieder auf... und diesmal nahm der Herzschlag zu und drückte ihr die Kehle zu. Es klackerte, klickte und der Türgriff der Wohnungstür bewegte sich nach unten. Die Tür schwang auf und im Türrahmen standen jene drei Männer, die sie gerade noch über die Kamera beobachtet hatte. Sie hielt sich die Hände vor den Mund, als einer der Männer in die Jackentasche griff und eine Waffe mit Schalldämpfer auf sie richtete. "Oh mein Gott... bitte...", begann sie zu zittern und der Mann legte vielsagend einen Finger auf seine Lippen. Mit ein paar Schritten war er bei der jungen Frau, und sie spürte erst eine Waffenmündung an ihrer Stirn, dann einen Stich im Hals. Vor ihrem Blick verschwomm alles, und langsam, wie durch einen Schleier gehüllt, spürte sie noch, wie sie vom Stuhl auf den Boden glitt.



    "Da... schau mal." Semir zog die Stirn ein wenig in Falten, als Lucas auf dem Beifahrersitz auf einen schwarzen Jeep zeigte, der bei Ben vor der Tür stand. "Ich weiß nicht, aber seit ich mit diesen Typen zu tun habe, habe ich eine Paranoia bei schwarzen Autos.", setzte er noch hinzu. "Du meinst...", begann Semir und konnte Lucas Gedanken geradezu erraten... waren die Typen bei Ben in der Wohnung? Hatten sie ihn vielleicht hierher gebracht? Oder hatte Christian was damit zu tun? Semir hatte Lucas immer noch nicht anvertraut, warum Ben von der Durchsuchung abgehauen ist. "Was ist hier los?", fragte er deswegen nochmal, als Semir für die letzten Meter nochmal beschleunigte und mit quietschenden Reifen den Jeep ordentlich zu parkte... nur für den Fall der Fälle.
    Beide Männer liefen zur Tür und verharrten kurz. Lucas wollte schon die Klingel drücken, doch Semir hielt ihn zurück. "Damit warnen wir die Typen noch, falls jemand oben ist.", sagte er. "Und wie sollen wir dann rein?" "Mit dem Schlüssel natürlich." Semir und Ben waren beste Freunde... es war wie selbstverständlich, dass jeder für den Notfall einen Hausschlüssel des anderen hatte. Ben hatte einen Haustürschlüssel von Semirs Haus, Semir dagegen sowohl einen Haus- als auch Wohnungsschlüssel von Ben. In gebotener Eile, aber ohne lautes Gepolter, gingen die beiden Männer die Treppe hoch.



    Noch bevor sie die letzten Stufen erreichten, sahen sie die offene Haustür. "Fuck...", flüsterte Lucas und griff nach seiner Waffe, Semir tat es ihm gleich. "Ganz ruhig blieben. Bens Freundin darf nichts geschehen.", flüsterte Semir stattdessen und übernahm die Führung. Lucas wollte erwidern, dass er niemals Unschuldige in Gefahr bringen würde, doch er verkniff sich jedes weitere Wort. Langsam betraten sie die Wohnung. Es gab keinen richtigen Flur, sobald man durch die Tür ging, stand man mitten im riesigen Wohnzimmer. Eine Pflanze lag umgestürzt auf dem Boden, der Topf kaputt und die Erde ringsherum zerstreut. Die beiden Männer gingen im Schleichgang einige Schritte weiter. Sie konnten ein angestrengtes Scharren, das gedämpfte Reden in einer fremden Sprache hören.
    Als sie um die Ecke Richtung Esszimmer sahen, wurde ihnen ein groteskes, und gleichzeitig bedrohliches Bild geboten. Ein Mann, der im Blumenkübel auf einem Sideboard grub, ein zweiter gab gedämpfte, ungeduldig klingende Anweisungen und der dritte wiederrum hielt den erschlafften Körper von Carina im Arm und fuhr als erstes herum. "Keine Bewegung! Waffe fallen lassen!!", rief Semir und zielte, Lucas tat es ihm gleich. Doch der Mann benutzte Carina als lebendes, wenn auch bewusstloses Schutzschild und hielt ihr die Waffe an den Kopf, die anderen beiden Männer griffen ebenfalls zu den Waffen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Ben's Wohnung - 14:10 Uhr



    Es war eine klassische Patt-Situation, als Semir und Lucas ihre Waffen auf die unbekannten Männer richteten, die ihrerseits mit ihren Waffen auf die beiden Polizisten zielten. Es gab nur einen Unterschied... die Angreifer hatten einen Joker, ein fünftes Ass, nämlich die bewusstlose Carina im Arm, die zum Glück gerade nicht mitbekam, wie ihr die tödliche Mündung einer Pistole an die Schläfe gehalten wurde. "Werft die Waffen weg.", knurrte einer der Männer mit Akzent. "Oder ihr könnt ihr Hirn von der Küchenablage aufwischen.", setzte er noch als zusätzliche Drohung hinterher. "Vorher fangen wir mit deinem Hirn an.", war Lucas gleichermaßen drohende, wenn auch kühler formulierte Ankündigung. Semir sah konzentriert zwischen den Männern hin und her, wollte im ersten Affekt die Waffe senken, doch die eigene Sicherung hielt ihn zurück. Würden sie sich entwaffnen lassen, wäre das vielleicht ihr Todesurteil.
    Das Herz schlug ihm bis zum Hals, er hatte eine ungeheuere Verantwortung der Freundin Bens gegenüber. Würde ihr was passieren, er würde es sich wohl niemals verzeihen. Deswegen scheute er sich davor, einzugreifen, gleichzeitig aber auch die Waffe wegzulegen. Lucas schien entschlossener, man merkte ihm keinen Funken Nervosität an. Sein Augenpaar blieb starr auf den Mann gerichtet, der die junge bewusstlose Frau bedrohte. Kein Finger, der zuckte, er griff nicht nach, er zog nicht einmal mehr Luft durch die Nase als nötig.



    "Wo ist der Stick?", fragte der Mann irgendwann, der sich ein wenig hinter Carina verschanzte. "Welcher Stick?", fragte Lucas scheinheilig und schien den Mann nur nervöser zu machen. Die komplette Ruhe, die man von Handlangern eigentlich erwarten könnte, waren die drei nämlich nicht. "Frag nicht so dämlich, ihr wisst genau welchen Stick wir suchen. Händigt ihn uns aus, und keinem wird etwas passieren." "Wo ist mein Partner?", war nun Semirs Frage und er nahm immer abwechselnd die beiden Männer ins Visier, die ihrerseits mit der Waffe zielten. "Ihr werdet ihn nicht finden, bevor wir den Stick nicht haben! Und nun nehmt eure Waffen runter.", verlangte der Mann noch einmal mit Nachdruck. Semir begann immer mehr zu schwanken... der Finger am Abzug der Waffe an Carinas Kopf krümmte sich schon verdächtig.
    Ein kurzer Seitenblick zu Lucas, doch der blieb starr wie eine Statue. Plötzlich durchschnitt ein mechanisches Brummen, dass zweimal rythmisch erklang, die schneidende Stille. Es kam aus Lucas' Hosentasche. "Was war das?", fragte Semir. "Hab ne Whatsapp bekommen.", antwortete Lucas, ohne den Blick zu verändern. "Wie bitte?"



    In dem Moment knallte es, Blut spritzte über die Küchenzeile als Lucas den Abzug drückte... genau in dem Moment, als sich der Mann hinter Carina bewegt hatte. Lucas' Kugel schlug ihm über dem linken Auge in den Kopf, sein Griff löste sich augenblick um die bewusstlose Carina, die wie in Zeitlupe mit ihm zu Boden ging. Semir erschrak genauso, wie die beiden Männer, die kurz zusammenzuckten. Er war einerseits natürlich erschrocken, dass Lucas sich plötzlich zum Eingreifen entschlossen hatte und somit Carina einer erheblichen Gefahr aussetzte, gleichzeitig war er über die Skrupellosigkeit und Brutalität geschockt, auch wenn diese Gedanken erst später kommen würden. Mehr aus Reflex denn aus irgendeiner Absprache heraus, ging er in Hockestellung und schoss einem der beiden Männer zweimal in die Kniescheibe, während Lucas mit einem Hechtsprung sich auf in Richtung der bewusstlosen Frau warf, um sie vor dem dritten Mann zu schützen.
    Doch der war nun darauf bedacht, dass wenigstens einer aus diesem Raum heil herauskam. Er musste die Info weitergeben, dass die Suche hier erfolglos war, dass man wieder gescheitert war... und dass man dafür entweder den Polizisten, oder andere büßen lassen würde. Er schoss zweimal in Richtung Semir, traf aber durch die Reaktion des Polizisten nicht. Dann war er mit zwei schnellen Schritten an der Zwischentür zum Flur und auf dem Weg zur Wohnung hinaus. Semir kam der ganze Vorgang wie eine Zeitlupe vor, und erst als er sich aufrappelte, über den stöhnenden angeschossenen Verbracher hinwegstieg und dessen Waffe einsammelte, lief die Zeit wieder normal.



    Wo er sonst ein kurzes "Alles okay?" in Richtung seines Partners rief, unterließ er es diesmal. Er konnte später nicht sagen, warum... aber irgendetwas entfremdete ihn von Lucas noch mehr. Er nahm den selben Weg wie der Verbrecher, raus aus der Wohnung und durch das Treppenhaus nach unten. Dabei vernahm er auf dem Gehweg einen weiteren Schuss, und ahnte schon Furchtbares. Der Bursche war verdammt schnell, und als Semir auf dem Gehweg ankam, fuhr der schwarze Jeep gerade weg. Der erfahrene Polizist drehte sich zu seinem Wagen und sah die Bescherung des platt geschossenen Reifens. Einerseits Erleichterung, dass der Typ nicht auf Passanten geschossen hatte... andererseits Verärgerung, denn eine Verfolgungsjagd fiel aus. Und in der ruhigen Nebenstraße müsste er eher ein parkendes Auto aufbrechen, als dass er jemanden anhalten könnte. Der Typ war weg. "Warum kommen immer ausgerechnet die Typen raus, die den Schlüssel haben.", murmelte er.
    Als er wieder in der Wohnung ankam, hatte Lucas Carina bereits auf die Couch gelegt. Ihr Gesicht hatte einige Blutspritzer abbekommen, und sie konnte von Glück sagen, dass das Mittel, was man ihr injeziert hat, scheinbar sehr gut wirkte. "Sag mal, hast du sie noch alle? Bist du vollkommen wahnsinnig geworden? Du hättest sie fast abgeknallt!!", schrie Semir ohne Vorwarnung oder vernünftigem Gespräch und packte den glatzköpfigen Lucas am Kragen. Der sah die Sache natürlich anders.



    "Bleib mal auf dem Teppich. Die hätten uns abgeknallt, wie die Hasen. Du weißt nicht, wozu die fähig sind.", sagte er mit ruhigem, leicht arroganten Tonfall und schüttelte die Hände von seinem Kragen ab. "Ach ja? Ich weiß nur, dass du das Leben der Freundin meines besten Freundes aufs Spiel gesetzt hast." "Ich weiß nur, dass ich uns alle drei gerettet habe. Und jetzt sollten wir vielleicht die Spurensicherung suchen, damit die die Sauerei hier wegmachen, bevor die holde Schönheit wach wird, und direkt nochmal in Ohnmacht fällt, wenn sie ihre Küche sieht." Der Kopfschuss hatte wirklich ganze Arbeit geleistet, und Semir erinnerte sich plötzlich an Patrick und Kevin im Keller. Dann beugte sich Semir zu dem Mann am Boden. "Wo ist mein Partner! Spucks aus!" Wimmernd, aber hasserfüllt blickte der Mann Semir an und schwieg. "Vergiss es. Die würden sich eher die Zunge abschneiden lassen, als irgendwas zu verraten.", meinte Lucas. "Wir sollten lieber den Stick suchen, damit wir etwas zum Austausch deines Partners haben." Semir wählte schnell die Nummer der Zentrale, verlangte Krankenwagen, Leichentransport und die Spurensicherung. Dann beteiligte er sich mit Lucas zusammen als Gärtner. Gemeinsam begannen sie die restlichen Topfpflanzen zu durchwühlen, denn aus irgendeinem Grund hatten die Männer da gesucht. Lucas vermutete, dass man es schon aus Ben oder Christian rausgequetscht hat... die Yakuza hätten ihre speziellen Methoden. Der Satz flösste Semir im Gedanken an seinen besten Freund eine Gänsehaut ein.



    Endlich, im Gästezimmer, wurde Semir fündig. Lucas biss ein wenig die Zähne zusammen... hätte er den Stick gefunden, hätte er ihn besser verschwinden lassen können, um seine eigene Mission abzuschließen. Doch je länger er darüber nachdachte, desto mehr hatte er das Bedürfnis gegen seinen Auftraggeber zu handeln und Semir einzuweihen. "Gut so... und was jetzt?" "Jetzt...", doch die Männer wurden in ihrem Dialog jeweils unterbrochen. Beide bekamen per WhatsApp einen Videoanruf... und beide starrten mit weit aufgerissenen Augen auf ihr Smartphone. Auf Lucas' Telefon wurde in einem dunklen Raum auf zwei, mit Säcken über den Kopf vermummte Gestalten gezeigt. Eine der beiden Gestalten war klein und zierlich... die Statur eines Kindes. Der Magen des ehemaligen Navy-Soldaten zog sich zusammen, als die Säcke von den beiden entfernt wurden. Unbeschreiblicher Hass baute sich in den Augen auf, als er erkannte, dass unter dem ersten Sack seine geknebelte Ex-Frau Marlaine saß, die krampfhaft durch die Nase atmete und ihr Gesicht mit Tränenspuren übersät. Doch seine Hand begann zu zittern und wollte das Telefon zerdrücken, als unter dem zweiten Sack das verheulte und verängstigte, ebenfalls geknebelte Gesicht von Cynthia, seiner achtjährigen Tochter erschien. Er sah herüber zu Semir, der ebenfalls fassungslos auf sein Telefon starrte. In einem Video-Anruf ging derjenige, der das Smartphone zum Filmen hielt, gerade die Treppe eines Wohnhauses nach oben. Er ging durch den Flur geradewegs zu einer Zimmertür, die er langsam lautlos öffnete. Semir kannte die Treppe, den Flur und die Zimmertür. Genauso kannte er das junge Mädchen, das am Schreibtisch saß, mit dem Rücken zur Tür und mit In-Ears in den Ohren zum Takt der Musik wippend Hausaufgaben machte, und nicht zu merken schien, was hinter ihr passierte. Semir hatte ihr 100mal gesagt, dass sie sich sicher nicht besser mit Musik in den Ohren konzentrieren konnte... es war Ayda, seine Tochter.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Keller - 14:10 Uhr



    Als die schwere Eisentür ins Schloß fiel und die vier Gefangenen alleine gelassen wurden, hatte das Geräusch der Tür etwas endgültiges. Sie hatten was sie wollten... jetzt konnten sie die vier da unten verschimmeln lassen. Die namenlosen Männer hatten Ben mitsamt seinem Stuhl wieder aufrechtgestellt, seine Haare klebten nass am Kopf und an der Stirn und seine Brust hob und senkte sich heftig. Ein ekliger eisenhaltiger Geschmack lag von der rostigen Zange auf seiner Zunge, die gerade noch drohend einen seiner Zähne gepackt hatte. Doch das merkte er gar nicht, er spuckte Wasser aus und blickte herüber zu seinem Cousin, der Höllenqualen zu leiden schien. "Sag mal, bist du wahnsinnig? Warum hast du es verraten? Weißt du, in welcher Gefahr meine Freundin jetzt schwebt?", rief Ben wütend.
    Die Antwort war ein verwirrter, verständnisloser Blick. Das Versteck zu verraten hatte Christian Überwindung gekostet, doch er konnte nicht den Profit, sein Gieren nach Aufmerksamkeit auf seine Arbeit bezogen über das Wohl seines Cousins stellen. "Ich... ich konnte doch nicht zusehen, wie sie dir die Zähne ziehen." Ben war rasend vor Sorge um Carina, denn es war glasklar, dass die Typen nun auf die Suche nach dem Stick gingen. "Scheiss auf meine Zähne! Wer weiß, was sie mit Carina anstellen.", schrie er wütend und wusste, dass er falsch reagierte. Christian sah bedrückt Richtung Boden: "Wenn sie sich nicht wehrt, werden sie ihr wohl nichts tun." "Ach..."



    Dann wurde Ben aktiv. Er zog an den Fesseln, zerrte, bewegte sich... keine Chance. Der Stuhl war aus massiven Holz, kein Stühlchen den man mit Wippbewegungen zum Brechen bringen konnte. Die Fesseln waren auch nicht von schlechten Eltern, man hatte alle gut verschnürt, so dass ihm alsbald die Arme einschliefen, weil er überhaupt keine Bewegungsfreiheit hatte. Jedes Rucken, auch der Versuch aufzustehen, brachte nichts. Und im Raum konnte er nichts entdecken, was er auch nur theoretisch benutzen konnte, um sich zu befreien. "Fuck... Fuck... FUCK!!!", wurde er dabei immer wütender, während Christian zunehmend apathisch neben ihm saß und selbst in ein Loch fiel. Die Schlacht war verloren, der Krieg kippte... seine Erfindung, zehn Jahre Arbeit, schien gerade zerstört zu werden.
    Ben beruhigte sich langsam und gab es auf. Er würde die Kraft vielleicht später noch brauchen, redete er sich ein. Doch kaum hatte er die Versuche aufgegeben, meldete sich die bohrende Sorge um seine Freundin zurück. Würden die Männer seine Wohnung überfallen, und sie war zuhause... nicht auszudenken. Er blickte auf und bemerkte jetzt erst vollständig die Anwesenheit der Frau und des Mädchens. "Wer sind sie?", fragte er mit wesentlich gemäßigterem Ton, doch sie sah ihn nur verständnislos an. Ben stellte die gleiche Frage nochmal auf Englisch, und jetzt antwortete sie. "Mein Name ist Marlaine. Das ist meine Tochter Cynthia." Beide Namen hörten sich amerikanisch oder englisch an, und auch ihr Englisch klang Amerikanisch. In Ben baute sich langsam ein Verdacht auf.



    "Sind sie... sind sie die Frau von Lucas? Lucas Blake?" Zuerst wollte sie nicken, doch als sie den Nachnamen hörte, verharrte sie. "Nein. Mein Ex-Mann heisst Lucas, und ich glaube wegen ihm sind wir auch hier. Aber er heisst O'Connor." Ben verdrehte innerlich die Augen, sie waren also doch auf der richtigen Spur. Doch warum kannten seine Feinde seinen richtigen Namen, während seine vermeintlichen Freunde, der CIA, einen falschen Namen gespeichert hatte. Wenn... Augenblick. Bens Hirn setzte aus. Wer sagte eigentlich, dass der CIA seine Freunde sind... und wer sagt, dass diese asiatischen Verbrecher immer seine Feinde waren. Verdammt, auf welcher Seite stand Lucas. Die Frau sah, wie es in dem jungen Polizisten arbeitete. "Was ist mit Lucas? Woher kennen sie ihn?", fragte sie dann und es schwang etwas Sorge in ihrer Stimme mit.
    "Arbeitet Lucas beim CIA?", fragte er dann und erhoffte sich, ein wenig Licht ins Dunkel zu bringen. Die Frau schüttelte sofort den Kopf, allerdings zögerlich und wenig überzeugend: "Er war bei der Army. Er war in Krisengebieten und ständig unterwegs. Dann haben wir uns getrennt. Zuletzt, wenn wir geredet haben, haben wir wenig über Berufliches gesprochen. Er meinte, er hat etwas geregeltes... nichts gefährliches mehr. Die Voraussetzung, dass wir es vielleicht nochmal versuchen. Keine Behörde." Ben biss sich auf die Lippen. Irgendetwas stimmte nicht. So oft, wie sie von den Japanern aufgespürt wurden, aber warum hatten sie auch Lucas selbst unter Beschuss genommen? Welches Interesse hatte er an den Daten? Warum hatte er ihm im Parkhaus damals geholfen? Die Lüge mit dem CIA, seine gefakete Akte, und warum kidnappten die Typen seine Familie? Über das Nachdenken überhörte er die erneute Nachfrage der Frau, denn er befürchtete, dass Semir sich in großer Gefahr befand.




    Köln - 14:30 Uhr



    Semir war im Tunnelblick, nachdem er das Video gesehen hatte. Er bekam gar nicht mit, dass Lucas selbst ebenfalls erschreckende Nachrichten auf seinem Smartphone bekommen hatte, als er sein Handy einsteckte und mit schnellen Schritten die Wohnung verlassen wollte. Nur Carina hielt ihn noch zurück, natürlich konnten sie sie nicht einfach so liegen lassen. Zum Glück kam genau in diesem Moment die Verstärkung, Beamte, Krankenwagen, die KTU mit Meisner, der sich um den Toten kümmern sollte. "Es sei dringend, sie müssten weg.", liess sich der sonst zu ruhige besonnene Beamte noch entlocken, und Meisner reagierte verwirrt, wenn auch souverän. Semir wirkte nervös, irgendetwas musste vorgefallen sein. Ben fehlte... der grau-melierte Mann zählte Zwei und Zwei zusammen, und liess ihn gehen.
    Lucas unterdrückte seine innere Aggression. Sie durften sich jetzt nicht trennen, sie durften sich jetzt nicht entzweien in der Frage, wie man zuerst reagierte. Noch dazu hatte er keine Idee, woher dass Video stammte, wo dieser Ort war, wo man seine Tochter und seine Ex-Frau gefangen hielt. Semir dagegen schien ein klares Ziel zu haben. Im Treppenhaus begann er zu rennen, in den Wagen stieg er in Rekordzeit. Lucas schien er gar nicht mehr richtig wahrzunehmen, und der kahlköpfige Mann musste sich beeilen, die Füße in den Wagen zu ziehen, bevor der kleine Polizist beschleunigte.



    "Was ist los?", fragte er dann endlich, auch wenn er sich denken konnte, dass auch sein Sidekick eine beunruhigende Video-Message bekommen hatte, anders war seine Reaktion nicht zu deuten. Semir war im Ausnahmezustand, und seine Abteilung "Misstrauen" im Kopf funktionierte nicht richtig. Vor allem: Was sollte es jetzt noch schaden. Während er den Wagen in Rekordzeit durch den Vorstadtverkehr zwang und Kurs auf sein Wohngebiet nahm, zog er sein Handy aus der Jeans. "Hier!", sagte er und zeigte seinem Nebenmann das Video. Das Mädchen, abgelenkt von der Musik, und die unbekannte Hand, die im Video zu sehen war, schwarzer Handschuh, wie er dicht hinter dem Mädchen stand, und kurz davor war, zu zu packen. "Scheisse.", murmelte er. "Ja, scheisse. Richtig scheisse! Verdammt!!"
    Mit quietschenden Reifen warf Semir seinen Dienstwagen um die Ecken. Seine Sorge kannte keine Grenze. Andrea war im Büro, Ayda hatte nur bis 12 Uhr Schule und fuhr mit dem Bus nach Hause. Sie hatte sich seit dem Schul-Amoklauf wieder zurück an ihren normalen Rythmus gewohnt und wollte auch wieder auf den Fahrdienst ihres Papas verzichten. Lilly dagegen wurde von Andrea's Eltern von der Grundschule abgeholt und erst am späten Nachmittag nach Hause gebracht. Ayda war also allein daheim... grundsätzlich kein Problem. Jetzt würde es für Semir wieder zu einer Psychokiste kommen, wenn ihr etwas zugestoßen ist. Lucas hielt sich am Haltegriff über der Tür fest, obwohl er selbst jedes wagemutige Fahrmanöver beherrschte, aber Beifahrer zu sein war ihm suspekt.



    Vor dem Haus verlangsamte Semir, zog seine Waffe und entsicherte sie. Lucas packte ihn am Arm. "Glaub mir... die sind nicht mehr drin. Wenn, dann haben sie sie mitgenommen... oder sie wollen dir nur Angst machen." Er sah in Augen, die er in der kurzen Zeit des Zusammenarbeitens nie gesehen hatte. Braune aufgeschreckte Augen, Semirs Mund halboffen, als würde er einen Marathon laufen, die Augenbrauen drückten Sorge aus, und seine Falten an Stirn und Gesicht wirkten tiefer als sonst. "Ich werde mich jetzt nicht auf irgendwelche "Gefühle" von dir verlassen. Hier gehts um meine Tochter!!", sagte er uneinsichtig und stieg aus dem Wagen aus. Lucas presste die Lippen zusammen... und er verstand den Mann. Seine Sorgen waren die gleichen, er konnte sie im Moment nur mit Mühe unterdrücken.
    Die Haustür war verschlossen, aber nicht zugesperrt. Eigentlich wie immer, Ayda sperrte sich nie zu Hause ein. Mit zittrigen Fingern öffnete Semir die Haustür und eine umheimliche Stille empfing ihn. "Ayda? Bist du da?", rief er beinahe zaghaft, voller Sorge und bekam keine Antwort. Er hielt die Anspannung nicht mehr aus und verwarf sein eigenes Vorhaben, vorsichtig vor zu gehen. Lucas hatte Recht... warum sollten sie hier mit Ayda auf ihn warten? Sie war wohl nur die "Notlösung", falls die Suche bei Carina schief ging. Und so rannte er die Treppe rauf, so dass vermutlich jeder ihn im oberen Stockwerk hören könnte. Jeder, der nicht gerade in seine Hausaufgaben vertieft war und Inears mit Popmusik in den Ohren hatte, so wie Ayda in ihrem Zimmer, und die völlig überrascht war, als ihr Vater keuchend in der Tür stand, ein fremder Mann hinter ihm und sie, völlig perplex, von ihrem Vater in den Arm genommen wurde.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 14:45 Uhr



    Unglaubliche Erleichterung machte sich in Semir breit, als die Erkenntnis in ihm reifte, dass Ayda in Sicherheit war. Niemand war ihm Haus, er nahm seine Tochter in den Arm die den Gefühlsausbruch ihres Vaters überhaupt nicht nachvollziehen konnte. Der erfahrene Polizist vermied es dann auch, die entsprechende Begründung zu liefern, er wollte seine Tochter nicht unnötig verängstigen. Vergegenwärtigte er sich dagegen aber, in welcher Gefahr sie schwebte, wurde ihm übel. Man wollte ihm Angst machen, und verdammt, man hatte es geschafft. Doch Semir war jetzt gewarnt und er leitete Gegenmaßnahmen ein. Kurzerhand "packte" er seine Tochter ins Auto und würde sie zur Dienststelle fahren, wo sie bei Andrea bleiben konnte. Die Großeltern wohnten nicht in Köln, trotzdem informierte Semir seinen Schwiegervater mit kurzen knappen Sätzen. Er solle niemanden reinlassen, am besten machten sie einen Ausflug.
    Lucas nahm das ganze stoisch und ruhig auf, obwohl er innerlich zum Zerreissen gespannt war. Und als er die Sorge eines Vaters in Semirs Augen sah, daraufhin seine Erleichterung, fasste er einen Entschluss. Er brauchte Hilfe, und in Semir fand er sie. Denn er war genauso Vater wie Lucas, er würde genau verstehen, was gerade in Lucas vorging. Seine Organisation dagegen hatte ihn verraten, und er konnte sich ausmalen, was sie ihm sagen würde. Gerade als Ayda nach hinten eingestiegen war, packte Lucas Semir am Ärmel und zeigte ihm stumm das Video, das er bekommen hatte. "Meine Ex-Frau und meine Tochter.", sagte er ohne weitere Erklärung. "Verfluchte Scheisse...", entfuhr es dem kleinen Polizisten.



    Gefahrlos, aber im höchsten Tempo fuhr er mit Lucas und Ayda zurück Richtung Dienststelle. Unterwegs funkte er bereits Hartmut an, inklsuive Ortungs-Equipment, zur Dienststelle zu kommen. Es sei dringend und Semirs Stimme duldete keinen Aufschub... das spürte Hartmut. Etwas in Semir sagte ihm, dass sich Ben und Lucas' Familie am gleichen Ort aufhielten. Erstmal stellte er dem Mann neben ihm keine bohrenden Fragen... aber das würde er müssen. Zunächst wählte der aber eine Nummer. Obwohl er Englisch sprach, konnte Semir fast alles verstehen. Lucas hatte, nachdem er seinen Entschluss gefasst hat, auch keinen Grund mehr für Heimlichtuerei.
    "Du verdammter Bastard", fluchte er in den Hörer und benutzte dafür das F-Wort, dass Ayda eigentlich nicht hören sollte. "Du hast gesagt, meine Familie wäre in Sicherheit. Einen Scheiss ist sie!" "Jetzt beruhig dich mal, Lucas.", kam die Stimme aus dem Lautsprecher des Smartphones. Sie klang ruhig, wenn auch leicht gestresst. Lucas' Auftraggeber machte sich weniger Sorgen um die Familie ihres besten Mannes, als um ihren besten Mann selbst... und dessen Entscheidungsfindung in dieser Ausnahmesituation. "Seit wann wisst ihr, dass sie weg sind? Hmm?" "Seit drei Tagen. Nachdem du uns angerufen hast, haben wir das leere Haus vorgefunden. Dein Sohn allerdings ist auf einer Klassenfahrt, er ist definitiv in Sicherheit." Lucas biss die Zähne zusammen, dass die Kiefer schmerzten.



    "Du musst jetzt die Nerven behalten. Haben die Typen Forderungen gestellt?" "Willst du mich verscheissern? Was wollen die woll? Den verdammten Stick wollen sie." Semir konzentrierte sich auf die Strasse und gleichzeitig auf das Gespräch. Lucas liess gerade so manche Maske fallen. Spätestens wenn die Familie in Gefahr war, wurde aus jedem eiskalten CIA-Mann... oder was auch immer Lucas war... ein Nervenbündel. "Okay.", meinte der Mann beschwichtigend. "Habt ihr den Stick?" Lucas sah auf die Straße. Er biss sich auf die Lippen, zog sich Luft durch die Nase. "Ja, den haben wir." "Dann will ich dass du so schnell wie möglich zu uns kommst. Damit der Stick in Sicherheit ist. Dann kümmern wir uns um deine Familie." Obwohl Lucas genau diese Antwort vermutete, konnte er es nicht fassen, dass sie tatsächlich kam.
    "Das kannst du dir in die Haare schmieren. Ich scheisse auf euch und den Auftrag. Zur Not tausche ich den Stick um meine Familie da raus zu holen." "Das wirst du nicht tun, Lucas. Es geht hier um tausende, wenn nicht hundertausende Menschenleben! Das weißt du ganz genau. Der Stick darf nicht in die falschen Hände kommen." Der Mann schwitzte und die Fahrt zur Dienststelle kam ihm ewig lange vor. "Das ist mir scheissegal!" "Wenn du den Stick nicht lieferst, werden wir dich finden. Du weißt, was das bedeutet.", sagte der Mann drohend. "Was willst du machen, hmm? Mir ein Killerkommando schicken?" "Nein, Lucas. Du kommst vors Kriegsgericht... vielleicht erinnerst du dich an Afghanistan. Und du weißt, dass es die Todesstrafe in Amerika auch im Militärstrafrecht gibt." Sein Puls pochte in seinen Schläfen. "Sei vernünftig, Lucas. So leid es mir tut... aber du kannst deine Frau und deine Tochter nicht gegen 100.000 unschuldige Zivilisten aufwiegen, die sterben werden wenn die Pläne dieser Waffe an Terroristen und Diktatoren verkauft wird." Der Mann fuhr sich mit den Fingern durch die Augen. Wenn man selbst nicht betroffen war, dann hatte die Stimme am anderen Ende der Leitung nicht unrecht. "Genauso würdest du im Krieg auch handeln. Du würdest zwei deiner Männer opfern um Tausende Unschuldige zu retten. Ist es nicht so? War es nicht so?" "Halts Maul!", rief Lucas. "Ich hole meine Familie da raus. Was du danach mit mir machst, ist mir scheissegal." Dann legte er auf und wollte das Handy am liebsten mit den bloßen Händen zerdrücken.



    Semir blieb stumm, bis er den Wagen auf dem Parkplatz stoppte. Hartmuts Wagen war noch nicht zu sehen. "Lauf schon mal rein zu Mama.", sagte er Ayda, und die älteste Tochter stieg aus dem BMW. Auch Lucas machte Anstalten, auszusteigen doch Semir hielt ihn am Arm fest. "Ich will jetzt die ganze Geschichte hören. Wenn wir deine Familie und meinen Partner da rausholen wollen, müssen wir uns vertrauen. Ich kenne jetzt zwei Namen von dir... welcher ist der Richtige?" Lucas atmete durch. Es war sowieso alles durch... er wollte nur noch seine Familie zurück und müsste sich danach in ein kleines Rattenloch verkriechen. "O'Connor. Den Namen, den die Asiaten kennen." Semir nickte... das machte die Sache nicht einfacher. "Was hat es mit diesem Lucas Blake auf sich? Das CIA-Profil?" "Das ist mein Alias. Für Jobs wie dieser." Eigentlich das, was Semir und Ben irgendwie schon vermuteten. "Deshalb ist er auch recht einfach zu finden... wenn es mal jemand nachprüft, so wie ihr."
    Wieder ein Nicken. Semir hatte sich halb zu Lucas gedreht, den linken Arm auf den Lenker gelegt. Solange Hartmut nicht da war, brauchten sie keine Eile zu schieben. "Gut. Du arbeitest nicht für den CIA und für die Jungs aus Asien auch nicht. Ich will jetzt wissen, für wen du arbeitest und ich will nicht angelogen werden." Semir erreichte Lucas nicht mit seiner Autorität, wie er einen Ben oder Kevin erreichen würde. Aber Lucas erreichte er damit, dass er auf Augenhöhe sprach. Und weil Lucas spürte, dass Semir ihm helfen würde.



    "Okay. Ich arbeite für eine Organisation. Der Name ist unwichtig und es ist besser für dich, wenn du ihn nicht kennst." Semir wollte bereits protestieren, doch Lucas kam ihm zuvor: "Wichtig ist nur, dass du weißt, dass wir zu den "Guten" gehören. Wenn der CIA oder das FBI Aufträge hat, Operationen und ähnliches, an denen man sich die Finger verbrennen kann, in denen man nicht nach dem Gesetz der USA vorgehen kann... dann ruft man uns. Ich wurde von einem Mann dort hineingebracht, der mich aus der Army kannte. Und nachdem ich dort..." er räusperte sich kurz, was Semir sofort erkannte, dass Lucas hier einen Teil der Geschichte ausliess "... dort aufgehört hatte, hat er mir dieses Angebot gemacht. Und mein Auftrag war, den Stick mit den Plänen zum Projekt IX zu beschaffen." "Projekt IX?", fragte Semir nach. "Das Projekt IX steht für eine neuartige chemische Waffe, mit den 9 gefährlichsten chemischen Giften dieser Welt. Die Pläne für diese Waffe wurden in einer Firma erstellt... und dieser Christian ist unser Kontaktmann, da er daran beteiligt war. Er sollte mir den Stick beschaffen. Das hat auch geklappt, aber er hat mich bei der Übergabe in New York betrogen."
    Semir zog die Stirn in Falten... das war also Christians Rolle an der ganzen Geschichte. Er nickte und hörte weiter zu: "Naja, und den Rest solltest du kennen. Ich habe ihn hierher verfolgt, er ist zu seinem Cousin gegangen und den Stick dort versteckt. Seitdem werden wir von den Yakuzas verfolgt, die alles drumgeben, an diesen Stick zu kommen. Und jetzt werden sie ihn gegen meine Familie austauschen wollen."



    Der erfahrene Kommissar schüttelte den Kopf. Die Sache war weitaus größer, schwerwiegender und weitreichender als er je angenommen hatte. Musste er bei sowas nicht die Chefin informieren? Konnte man das noch, mir nichts dir nichts, einfach alleine durchziehen. "Mit was erpresst dich die Organisation?", fragte er noch und Lucas sah überrascht zu Semir. "Wie meinst du das?" "Ich hab das Telefonat schon auch verstanden. Und ich sage dir aus eigener Erfahrung: Bei einer solchen Bedrohung sind zwei Menschenleben nichts wert. Und die Organisation will sicherlich den Stick... egal was mit deiner Familie passiert. Vor der gleichen Entscheidung stand ich auch schon mal... meine Familie zu retten, oder hundertausende Menschen in Köln." Semirs Stimme zitterte, als er sich an diese Situation im Fernsehturm vor fast 12 Jahren zurückerinnerte. Und dass er sich damals, obwohl in der Überzeugung, das Richtige getan zu haben, schwere Vorwürfe gemacht hat. "Und? Wie hast du dich entschieden?", fragte Lucas.
    Semir blickte kurz geradeaus durch die Scheibe, bevor er antwortete. "Im Affekt... für die Menschen in Köln. Aber zum Glück konnte ich meine Familie dennoch retten. Aber das war Zufall. Ich hatte im Affekt meine Familie, meine Frau und meine erste Tochter geopfert." Seine Stimme war plötzlich leise, und Lucas hatte eine andere Antwort erwartet. "Solch eine Entscheidung wünsche ich meinem schlimmsten Feind nicht.", setzte er noch hinzu. In diesem Moment rollte Hartmuts Transporter auf den Parkplatz, und beide Männer waren froh von dieser unangenehmen Situation erlöst zu werden. Semir sagte: "Komm... wir werden versuchen, beides zu schaffen. Deine Familie und meinen Partner zu retten... und den Stick."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - 15:00 Uhr



    Es musste schnell gehen, und es wurde hektisch. Hartmut eilte, von Semir getrieben, in die Dienststelle und baute sein Equipment im Büro von Semir und Ben auf. Jenny blickte von ihrem Platz auf, als sie das hektische Treiben mitbekam und lief ebenfalls zu Semir ins Büro, wo sie von dem kleinen Polizisten kurz über die neuesten Entwicklungen in dem Fall instruiert wurde. Eigentlich sollte sie heute und morgen zusammen mit Semir und ein paar Kollegen zur Verstärkung die beschlagnahmten Akten aus dem Labor durchwälzen, doch Semir hatte das im Kopf schon abgehakt. Es würden nicht mehr viel Ermittlungen auf sie zu kommen, jetzt war schnelles Handeln gefragt. Natürlich wurde auch die Chefin auf die hektische Versammlung aufmerksam. "Darf ich, nur nebenbei, fragen was hier vor sich geht?", fragte sie mit katzenfreundlicher Stimme, bevor sie in das Büro trat.
    Semir nahm sie kurz beiseite und warf einen schnellen Blick auf Lucas. Nachdem der Semir reinen Wein eingeschenkt hatte, und der erfahrene Polizist das Gefühl hatte, dass der Amerikaner kein Interesse mehr an Verheimlichung hatte, wollte er auch die Chefin in alles einweihen. Lucas nickte, während Hartmut seinen Laptop hochfuhr um sofort zu versuchen, jegliche verfügbare Handynummern von Ben, Christian, Lucas Ex-Frau und dem Dienstwagen von Ben zu orten. Zu Semir und Anna Engelhardt gesellte sich auch Jenny, um alles zu erfahren.



    "Ben wurde von Christian während unsrer Durchsuchung angerufen. Scheinbar ist irgendetwas vorgefallen, jedenfalls ist Ben von der Durchschung abgedüst." "Und sie haben ihn einfach gehen lassen?", fragte die Chefin erstaunt und Semir sah kurz auf Lucas. "Wir konnten uns nicht verständigen... weil ich nicht wusste, auf welcher Seite Lucas steht." "Und auf welcher Seite steht er?", fragte Jenny nun interessiert, während Semir den Kopf kurz hin und her wog. "Er hat uns bezüglich des CIAs tatsächlich angelogen und uns einiges verschwiegen. Aber er steht auf unserer Seite. Er arbeitet für eine Organisation, die verhindern will, dass der Stick in falsche Hände gerät. Der CIA und das FBI sind die Auftraggeber, wenn sie selbst nichts tun könnten." Die Chefin griff sich mit einer Hand in den Nacken, eine Geste die sie oft tat, wenn sie ihre Skepsis zum Ausdruck bringen wollte.
    "Glauben sie ihm?" "Zumindest glaube ich ihm, dass er erstmal das Gleiche will, wie wir. Die Asiaten haben seine Frau und seine Tochter in ihrer Gewalt. Er hat ein Video bekommen. Ausserdem..." er blickte kurz durch die Fensterscheibe, wo Ayda es sich neben Andrea am Schreibtisch bequem gemacht hat. "... war jemand bei mir in der Wohnung. Bei Ayda. Um mich, quasi, zu warnen." "Was?", fragte Jenny nun entsetzt und sah sorgenvoll auf das Mädchen bei Andrea. Nicht auszudenken, was passieren hätte können, gerade bei Ayda, die in den letzten zwei Jahren einiges mitmachen musste...



    "Ausserdem wussten die Typen, dass Christian den Stick in Bens Wohnung versteckt hat. Diese Information können sie nur von Christian selbst bekommen haben. Und wenn Ben sich mit Christian getroffen hat...", erklärte der kleine Polizist ernst "... dann ist es sehr gut möglich, dass Ben ebenfalls von den Gangstern einkassiert wurde.", schlussfolgerte Jenny sorgenvoll, was Semir nickend bestätigte. Man hatte also mindestens drei, mit Christian sogar vier Leute in unmittelbarer Gefahr. "Ich informiere das SEK... damit die bereit sind, wenn wir wissen, wo es hingeht.", sagte die Chefin und wollte sich schon zum Gehen wenden. "Was ist jetzt überhaupt auf diesem Stick?", fragte sie dann noch und ihre Besorgnis wurde nicht kleiner, als Semir ihr auch darüber kurz Auskunft gab. Zumindest eine Sache beruhigte sie: Lucas schien mit offenen Karten zu spielen.... schien.
    Anna Engelhardt, mit all ihrer Erfahrung, gab aber zu bedenken: "Natürlich dürfen wir den Stick nicht aus der Hand geben, sondern versuchen die Geiseln so zu befreien. Aber Semir... bei aller Liebe. Ich weiß nicht ob es klug ist, den Stick danach Lucas zu überlassen. Wer weiß, für welche Zwecke ihn diese ominöse Organisation benutzt, wenn diese Waffe wirklich so gefährlich ist." "Ja, darüber habe ich auch schon nachgedacht.", sagte Semir mit leichtem Nicken. "Aber zunächst mal ist nur wichtig, dass wir Ben und Lucas' Familie da rausbekommen. Und Christian natürlich auch. Wobei mir noch nicht ganz klar ist, welche Absicht der verfolgt."



    Nach dem Austausch verschwand die Chefin in ihrem Büro um Schröder, den Chef des SEKs anzurufen und über die Lage zu informieren. Man solle sich bereithalten. Das Innenministerium wollte sie zunächst nicht informieren, weil auch ihr klar war, dass dann ein wesentlich größerer Apparat in Gang gesetzt wurde, und man dann das Wohl des Sticks über das Wohl ihres Beamten und der jungen Familie stellen würde. Dafür war auch während des Einsatzes noch Zeit, und sie würde das entsprechend begründen können. Jenny hielt Semir kurz am Arm fest: "Hast du gar nichts mehr von Ben gehört?", fragte sie voll Sorge und Semir schüttelte den Kopf. In Jenny machte sich eine untrügerliche Angst breit... es war erst wenige Wochen her, als sie den wichtigsten Menschen in ihrem Leben verloren hatte. Ben war für sie ebenfalls eine ganz enge Bezugsperson.
    "Mach dir keine Sorgen. Ben kann auf sich aufpassen, und wir holen ihn raus, wenn er in Problemen steckt.", sagte Semir und wollte in erster Linie beruhigend wirken, auch wenn er selbst natürlich voll Sorge um seinen besten Freund war. "Ich weiß... aber... weißt du. Das mit Kevin ist noch so frisch. Was wenn... was wenn wir auch noch Ben.", sagte sie auf einmal stockend, als kämen urplötzlich Erinnerungen und Bilder in ihr hoch. "Darüber darfst du jetzt nicht nachdenken, ok? Wir holen ihn da raus. Ja?", sagte der erfahrene Polizist und griff Jenny an beide Handgelenke. Sie riss sich zusammen und nickte fest. Als Semir sich umdrehte, wischte sie sich kurz durch die Augen.



    "Einstein, hast du schon was?", fragte Semir, als er mit Jenny zusammen wieder sein Büro betrat. Hartmut, das rothaarige Genie der KTU und enger Freund der Dienststelle, saß an seinem Laptop und seine Finger flogen über die Tastatur. "Also... hmm... erstmal haben wir Lucas' und dein Handy auf Überwachung, falls die Typen sich melden. Dann haben wir versucht die Handys zu orten. Das Handy von Lucas' Frau ist seit drei Tagen ausgeschaltet. Da ist nichts zu holen. Das gleiche gilt für Christians Handy. Bens Handy war bis vor kurzem noch eingeloggt, und zwar in einem Waldstück in den Ardennen. Dort in der Nähe ist auch das letzte Funksignal des Dienstwagens." "In den Ardennen?", fragte Semir nochmals nach und der KTU-Techniker nickte. "Scheisse, da müssen wir sogar noch die ausländischen Behörden informieren.", stöhnte Jenny.
    "Wie weit kannst du das Gebiet eingrenzen?", fragte Lucas sofort. "Das Handysignal ist weitläufig... alles Wald, das ist riesig. Aber das GPS-Signal des Autos kann ich sehr genau lokalisieren...", sagte er und tippte. "Das wird nicht nötig sein, Hartmut.", hörten alle die Stimme von Bonrath, der in der Tür stand, den letzten Satz mitbekommen hat... und ebenfalls sorgenvoll blickte. "Diese Mail ist gerade gekommen. Von den belgischen Kollegen." Es war ein offizielles Schreiben, das Protokoll eines gemeldeten Helikopterabsturz auf einer Landstrasse. Direkt daneben das Unfallauto mit den Kennzeichen, die auf die Autobahnpolizei zugelassen waren. "Oh Fuck...", sagte Semir und bei den Bildern drängte nun die Angst um Ben in den Vordergrund, die er die ganze Zeit erfolgreich nach hinten gedrängt hatte, um konzentriert zu bleiben. "Man hat nur zwei Leichen im Helikopter gefunden, nicht im Fahrzeug. Allerdings Blutspuren am Lenker und am Beifahrersitz." Semir biss sich auf die Lippen. Die Gangster würden sich kaum die Mühe machen, Ben und Christian in den brennenden Helikopter zu ziehen. Oder hatte man versucht, die beiden nach dem Unfall zu entführen und war dann abgestürzt? Nein... Semir schüttelte den Kopf. Ausgeschlossen... dann hätten sie die Information zum Stick nicht gehabt. Ihr Problem war allerdings jetzt, dass sie keinerlei Hinweis auf einen Aufenthaltsort hatten.

    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • Köln - 15:30 Uhr



    Semir und Lucas waren hin und hergerissen. Einerseits wollte Semir am liebsten Hartmut einpacken und mit ihm in die Ardennen fahren, um sofort den Unfallwagen auf den Kopf zu stellen. Doch einerseits konnte Hartmut nicht aus der Dienststelle raus, weil man jede Minute damit rechnen konnte, dass die Geiselnehmer anriefen und andererseits versuchte der Rotschopf seinen Freund zu beruhigen: "Semir, die haben dort in Belgien auch Experten." Dann wählte er die Rufnummer eines belgischen Kollegen, den das Genie bei zahlreichen Schulungen und Technik-Tagungen getroffen und kennengelernt hat. Dieser versicherte Hartmut, dass sie bereits über den Unfall informiert waren, und die Unfallautos auf dem Weg zur Untersuchung. "Wir vermuten eine Entführung. Wir müssen wissen, woher der Helikopter kam.", sagte Hartmut und erklärte kurz die Umstände.
    Van Bakken, der tüchtige Leiter der belgischen KTU versprach, sich als erstes um das GPS-Gerät des Helikopters zu kümmern und hoffte, aus dem Haufen zusammengeschmolzenen Blech würde sich noch etwas herauslesen lassen. "Damit kriegen wir dann wenigstens raus, wo die Typen herkamen." Und mit einem Blick auf Semir: "Es bringt ja jetzt nichts, dorthin zu fahren, wo sie Ben einkassiert haben. Wichtig ist, wo sie ihn hingebracht haben." Semir kam nicht drum herum, seinem Technikfreund Recht zu geben. Langsam bröckelte die Fassade von Semir etwas, die er die ganze Zeit aufrecht hielt.



    Lucas dagegen war wie ein Buch mit sieben Siegeln. Er saß stocksteif in Bens Stuhl, während sie abwarteten. Sie waren sich sicher, dass die Asiaten den Stick wollten, deswegen wähnte er seine Familie in Sicherheit. Aber unter der Oberfläche brodelte es... und Lucas konnte sehr unangenehm werden, wenn er wütend war. Diese Typen hatten es gewagt, seine Familie zu entführen und er würde sicherlich keine Regeln der deutschen Polizei befolgen, wenn es darum ging, sie zu befreien. Natürlich würde er nichts tun, was Marlaine oder Cynthia in irgendeiner Form gefährden würde, doch er würde die Entführer auch nicht mit Samthandschuhen anfassen. Immer wieder bemerkte der Mann, der für diese Organisation arbeitete, den etwas misstrauischen Blick von Semir, wenn dieser sich mit seiner Frau unterhielt. Er konnte es ihm nicht verübeln, auch wenn er ehrlich war. Semir kannte Lucas nicht.
    "Ich weiß nicht. Er ist so ruhig, so abgebrüht. Ich meine, seine Tochter und seine Frau sitzen in irgendeinem Loch. Ich würde wahnsinnig werden... werde ich ja jetzt schon, weil wir nichts tun können.", sagte er zu Andrea am Schreibtisch. Auch sie warf immer mal wieder einen Blick auf den geheimnisvollen Mann. "Du weißt ja nicht, wie es in ihm drin aussieht. Erinnere dich mal an Kevin." Den Namen sagte sie etwas leiser und sah kurz auf Jenny, doch die tippte am PC und hörte dem Gespräch nicht zu. Auch Kevin war jemand, der nach aussen hin unantastbar wirkte, im Inneren aber zerbrechlich und sensibel war.



    Hartmut begann währenddessen fieberhaft zu versuchen, den Stick zu knacken. Lucas konnte ihm zwar Hinweise geben, doch von der Entschlüsselung hatte er selbst wenig Ahnung an. Nach 20 Minuten gab Hartmut entnervt auf. "Nichts zu machen. Man braucht Schlüsseldateien, die ich nicht einfach herstellen kann. Das würde mit einem NSA-Superrechner Monate dauern.", sagte er. "Aber vielleicht..."
    Semir wollte gerade noch etwas erwidern, was das Misstrauen gegenüber Lucas aufrechterhielt, als in diesen plötzlich Bewegung kam. Eine kleine Bewegung, die aber blitzschnell war und zeigte, dass er keinesfalls so abgebrüht war, wie er nach aussen gab. Als nämlich endlich sein Handy einen Anruf verzeichnete und er danach griff, um diesen sofort entgegen zu nehmen, nicht ohne zu beachten dass auf dem Display "unbekannt" stand. "Ja?", meldete er sich amerikanisch und seine braunen Augen drückten Entschlossenheit aus, als Hartmut ihn über den Rand seines Monitors ansah. Das Programm hatte die Aufnahme gestartet und versuchte, den Anrufer zu lokalisieren.
    "Lucas... ich brauche dir ja nicht zu sagen, dass du etwas hast, was wir gerne hätten und dass wir etwas haben, was du vermutlich gerne hättest.", hörte er die helle Stimme am anderen Ende der Leitung, die ebenfalls amerikanisch sprach, allerdings mit deutlichem Akzent. "Ich schätze, du hast unser Video erhalten?" "Hör einfach auf mit dem Gequatsche, Lee.", sagte Lucas mit kalter Stimme, während Hartmut zuhörte. Durch sein Studium sprach er fliessend Amerikanisch und verstand sofort jedes Wort, was Semir immer ein wenig schwer fiel. Englisch schreiben und lesen war kein Problem, aber sicher reden oder zuhören und sofortiges Übersetzen, das machte ihm Probleme. "Wohin soll ich dir den Stick bringen?"



    Angestrengt lauschte er den Worten des Mannes, der gerade seine Frau und sein Kind in dessen Gewalt hatte. Irgendwann sah er prüfend auf die Uhr, ruhig und kühl, als müsse er zu einem Notartermin und checkte, ob die Zeit noch reichte, nebenbei tanken zu gehen. "Okay, das schaffe ich.", bestätigte er. "Ja... okay, bis dann." Dann legte er auf. Hartmut schüttelte unterdessen den Kopf. "Satelittentelefon. Keine Ortung." "Wo sollst du hinkommen?", fragte Semir den schweigsamen Glatzkopf, und für einen Moment arbeitete es in Lucas. War der Weg, den er ging richtig? Die Polizei mit hineinziehen, lästige Fragen danach beantworten? Er konnte den Stick nicht den deutschen Behörden überlassen, er würde sein altes Leben nicht zurückbekommen. Die Organisation würde ihn finden, wenn er den Auftrag nicht erledigte.
    Aber konnte er auf die Hilfe des kleinen Polizisten verzichten? Er konnte nicht an zwei Orten gleichzeitig sein, und ob Lee, der Anführer jener Gruppe, die hier in Deutschland war, die Geiseln wirklich zum Treffpunkt mitbrachte, war eine andere Geschichte. Er biss sich auf die Zähne und ging zu einer Deutschlandkarte, die an der Wand hing, dort zeigte er mit den Fingern auf einen kleinen Ort nahe der belgischen Grenze. "Ein stillgelegter Güterbahnhof in Afden. Dort soll ich in anderthalb Stunden sein. Alleine, mit Stick, ohne Polizei. Dann bekomme ich meine Familie, deinen Partner und dessen Cousin, der uns den ganzen Mist eingebrockt hat." Semir nickte. "Dann mal los."



    Gerade als er los wollte, wurde er von Hartmuts Stimme zurückgehalten. "Die Kollegen haben gerade aus dem Helikopter die GPS-Daten ausgelesen. Gestartet ist der Vogel zu seinem letzten Flug aus Heerlen. Das ist quasi direkt auf der anderen Seite der Grenze bei Afden. Ich schick dir die Koordinaten aufs Handy." Die beiden Männer blieben nochmal stehen. "Ich glaube nicht, dass die Typen die Geiseln zum Treffpunkt mitbringt. Vielleicht ist in Heerlen ihr Versteck. Da könnten wir sie überraschen.", sagte Lucas. "Wir dürfen die Übergabe aber nicht platzen lassen.", bemerkte die Chefin, die während des Telefonats wieder zu ihren Männern gekommen ist. "Das wäre vielleicht das Todesurteil." Semir dachte kurz nach. "Wir müssen uns aufteilen." Die Chefin nickte sofort, während Hartmut auffällig hektisch tippte.
    "Jenny, sie fahren mit Semir und einigen Einsatzkräften nach Heerlen zu dem Startpunkt des Helikopters. Schauen sie sich dort um. Der Rest des SEKs, Lucas und ich fahren zur Übergabe. Wir werden uns im Hintergrund halten und darauf achten, dass ihnen nichts passiert." Lucas kaute kurz auf der Lippe und sagte: "Ich denke, ich kann ganz gut auf mich aufpassen." Anna Engelhardt dagegen setzte ihr "verständnisvolles" Gesicht auf, wenn sie mit einem Einwand gar nicht einverstanden war. "Sie werden uns gar nicht bemerken... Los gehts!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Afden - 16:50 Uhr



    "Verflucht", knurrte Schröder, der Leiter des SEKs. Er saß in dem dunklen Mercedes-Van im Laderaum an den Monitoren, eine Handvoll SEK-Beamter in drei Wagen verteilt. Man hatte sich weit abseits des Güterbahnhofs zwischen den Häuserzeilen "versteckt", so dass noch niemand, nicht einmal wenn er Gäste erwartete, auf sie aufmerksam geworden wäre. Anna Engelhardt war quasi die Kundschafterin... eine harmlos wirkende Fußgängerin in Hosenanzug und Sonnenbrille, sowie einer nicht erkennbaren Bodycam an der Brust. Die Livebilder wurden direkt in die Schaltzentrale gestreamt, wo Schröder jedes Detail des Güterbahnhofes in Augenschein nahm. Sie hatten nur 10 Minuten Zeit, um sich einen möglichen Angriffsplan auszudenken, sollte die Übergabe der Geiseln gelingen.
    Der Grund für Schröders Fluch allerdings war, dass sich so ein Plan hier nicht umsetzen ließ. Das Gelände um den Bahnhof war weitläufig, es hab wenig Deckung, einige hohe Zäune und keine Chance, sich irgendwo versteckt zu halten. "Die haben diesen Treffpunkt nicht zufällig gewählt. Wenn wir uns postieren, und sie haben auch nur einen Beobachter irgendwo, fliegen wir auf.", sagte er über Funk zu Frau Engelhardt, die einen Knopf im Ohr trug, der unter ihren Haaren nicht zu erkennen war. Sie hielt ihr Telefon, als würde sie eine WhatsApp-Sprachnachricht schicken und sagte dabei mit verliebter Stimme: "Das sehe ich auch so, Schatz."



    Lucas schmunzelte. Er hatte ebenfalls einen Knopf im Ohr, den er allerdings ausziehen würde, wenn er gleich das Gelände betrat. Er hatte Respekt vor der Chefin, ihrer Art zu arbeiten und ihrer Loyalität gegenüber den Mitarbeitern... zumindest, was er bisher so mitbekommen hatte. Etwas vollkommen anderes als er in der Organisation oder bei der Navy kennengelernt hatte. In der Navy ordnete sich alles dem Gehorsam unter. Wer nicht spurte, hatte schnell verloren und auf Empfindsamkeiten wurde keine Rücksicht genommen. Ebengleiche harte Hand führte Lucas selbst, als er im Rang aufstieg und Verantwortung übernahm. Bei der Organisation herrschte kein Befehlston, aber eine kühle Unterdrückung. Man machte den "Mitarbeitern" bei Bedenken der jeweiligen Aufträge schnell klar, dass man am längeren Hebel saß. Lucas hatte diese Bedenken nie geäussert. Er funktionierte einfach und erledigte seine Arbeit. Skrupellos, vordergründig.
    Jetzt aber zeigte er seine Gefühle. Keine gefühlskalte Maschine, kein eiskalter Kerl der seine Ziele erreichen wollte ohne mit der Wimper zu zucken. Seine Familie war nicht nur fiktiv, sondern real in Gefahr und notfalls würde er sein Leben geben, um sie zu retten. Jetzt saß er in dem dunklen BMW, klopfte mit den Fingern aufs Lenkrad und erwartete einen weiteren Anruf. Als das Telefon klingelte, sagte er noch kurz ins Funkgerät: "Das sind sie. Ich melde mich vom Funk ab.", und zog den Knopf aus dem Ohr, bevor er den Anruf annahm.



    "Bist du da?" "Voll und ganz." Kurze Wortfetzen flogen durch die Leitung hin und her, der ehemalige Navy-Soldat hatte das Gefühl die Nähe zu seinem Gegner bereits spüren zu können. "Fahr mit deinem Wagen auf das Gelände. Das Tor ist offen. Rechts über die Schienen, dann siehst du eine eingefallene Lagerhalle. Dort wartest du. Ich hoffe für deine Familie, dass du alleine bist. Ich weiß, dass du mit den Bullen zusammen gearbeitet hast, um den Stick zu finden." Der vorletzte Satz befeuerte Lucas Zweifel, und seine Ängste. Er sah in den Rückspiegel, als könne er dort die Armada des SEKs dort aufgestellt sehen. Als wären sie Fluch und Segen zugleich. Er vertraute sowohl Anna Engelhardt, als auch Semir, dass sie nichts taten, was seine Familie gefährdete... doch er traute ihnen nicht zu zu wissen, mit wem sie es zu tun hatten. Er wusste es besser...
    Lucas warf das Funkgerät sowie seinen Knopf aus dem Fenster, damit es Lee und seine Männer nicht im Wagen fanden. Das war abgesprochen. Nicht abgesprochen war, dass er sich auch des Peilsenders sowie des Mini-Mikrofons im Kragen seines Jackets entledigte. Der Peilsender flog auf den Rücksitz, das Mikrofon auf den Asphalt. Dann legte er den Gang ein und fuhr auf das Gelände. Wie befohlen kam er vor der Lagerhalle zum Stehen. "Und jetzt? Hallo? Lee?" Plötzlich war das Telefon tot, die Leitung unterbrochen... doch man hatte ihn erwartet. Der Mann aus Japan, mit dem markanten Seitenscheitel und kalten Augen stand bereits neben der Fahrertür, die er jetzt öffnete. Mit der Waffe brauchte er Lucas gar nicht erst zu bedrohen, den aus der Tür kamen weitere Männer.



    "Schön dich zu sehen, Lucas.", sagte er mit seiner hellen Stimme. Lucas nickte nur schwach und sah sich um. "Was ist los? So nervös kenne ich dich gar nicht." "Wir sollten die Übergabe woanders durchführen... und schnellstens von hier verschwinden.", sagte er dann plötzlich. Lee kniff die Augen zusammen. "Wie bitte?" "Pass auf Lee... ich kenne deine Interessen, und du kennst meine Interessen. Wir können uns um den verdammten Stick prügeln oder uns die Kugeln um die Ohren feuern. Ich habe einen Auftrag, und du hast einen Auftrag. Aber die Polizei hat mich gezwungen, nicht alleine zu kommen, wie du es verlangt hast." Das Gesicht von Lee verfinsterte sich, auch wenn er sich das hätte denken können. "Das ist nicht sehr klug von dir." "Warte...", sagte Lucas schnell und hob beschwichtigend die Hände. "Ich kann das SEK von hier weglocken... und dann bringst du mich zu meiner Familie. Du hast mich, und den Stick... und dann sehen wir weiter. Aber erst müssen wir hier weg."
    Lee dachte nach... er würde Lucas niemals ohne Weiteres und einfach so trauen. Allerdings wusste er um den Auftrag des Ex-Soldaten und über die deutschen Behörden wusste er, als hochrangiges Yakuza-Mitglied, natürlich auch bestens Bescheid. Niemals würden die Behörden es erlauben, dass Lucas den Stick mitnahm... ausser, er würde seine Rolle als CIA-Beamter durchziehen. Doch mittlerweile war soviel vorgefallen, wie der Absturz des Helikopters, dass Lee daran Zweifel hatte. Dass Lucas jetzt mit der deutschen Polizei zusammenarbeitete, konnte nur bedeuten, dass er ihnen halbwegs reinen Wein eingeschenkt hat.



    Lee übergab Lucas das Satellitenhandy, das nicht ortbar war. "Na gut, Lucas. Lock sie weg. Sie sollen allesamt den Weg an dem Gelände vorbeifahren, einer unserer Späher wird sie dann beobachten. Wieviele Wagen?" "Ein Van und drei Limousinen" Der Mann nickte und Lucas wählte die Nummer von Frau Engelhardt, die mittlerweile im Van bei Schröder Platz genommen hatte. "Frau Engelhardt... ich... also, ich bin aufgeflogen. Man hat den Peilsender gefunden.", sagte Lucas mit leicht nervöser Stimme. Schröder verdrehte die Augen. "Ich dachte, der Mann sei ein Profi." Die Chefin winkte genervt ab. "Verstanden, Lucas. Was sollen wir tun." "Die Männer verlangen euren sofortigen Abzug. Ihr sollt zurück über die Grenze fahren, an der Lagerhalle vorbei. Ihr werdet beobachtet. Wenn jemand zurückbleibt, oder umkehrt... dann stirbt meine Familie. Und ihr Beamter." Er ließ in seiner Stimme keinen Zweifel.
    Die Chefin biss sich auf die Lippe. "Sind sie sicher, dass sie das alleine durchziehen können?" Die Frage war eher rhetorisch. "Von Können kann jetzt keine Rede mehr sein. Wir können meine Familie und ihren Mann nur retten, wenn wir tun was verlangt wird. Ich bitte sie!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Versteck - gleiche Zeit



    Es war still geworden in den letzten Stunden. Alle hingen ihren Gedanken nach, Ben musste sich von der Folterattacke ein wenig erholen und quoll innerlich über vor Sorge um Carina. Waren die Typen schon bei ihr? Hatten sie gefunden, was sie suchten und hatten sie hoffentlich in Ruhe gelassen? War sie vielleicht gerade beim Einkaufen gewesen und hatte Glück? Zumindest eine der Möglichkeiten schloß er mittlerweile aus... wenn sie den Stick gefunden hätten, wären sie schon längst hier gewesen und hätten die vier freigelassen... oder umgebracht. Anhand der Skrupellosigkeit der asiatischen Gangster ging Ben von Letzterem aus, weswegen seine weiteren Gedanken auch immer mal bei einem Fluchtplan lagen. Er sah herüber zu Christian, der wie ein Häufchen Elend da saß. Beide konnten sich nicht rühren, die Gelenke schliefen ein und es war schwer zu sagen, wie lange sie nun hier saßen.
    Dazu begann das kleine Mädchen langsam zu quengeln. Auch ihr taten Hände und Füße weh, sie musste zur Toilette und es war eine Tortur für das Kind. Zumindest hier zeigten die Verbrecher so etwas wie Erbarmen und lockerten die Fesseln ein wenig. Das Kind konnten sie aber nicht zu einem Fluchtversuch "benutzen". Alle Viertelstunde, manchmal kam es Ben länger, manchmal kürzer vor, kamen zwei der Männer um nachzusehen, dass alles in Ordnung war. Man überließ nichts dem Zufall. Für Ben war es unmöglich, sich zu befreien.



    Auch um Lucas drehten sich seine Gedanken. Auf welcher Seite stand er wirklich... er hatte Semir und ihn selbst angelogen, versucht auf eine falsche Fährte zu locken. Er hatte ihnen allerdings auch geholfen. Kämpfte er vielleicht für eine dritte Seite? Nicht für die Gerechtigkeit, aber auch nicht für die Yakuza? Stand er zwischen den Stühlen? "Ben?", hörte er die müde Stimme seines Cousins. "Hmm?" "Ich wollte deine Freundin da wirklich nicht mit reinziehen...", wiederholte er nun zum wiederholten Male. "Ja, es ist ja gut. Darüber reden wir, wenn wir hier raus sind.", wiegelte Ben genauso oft ab. Es brachte nichts, sich jetzt darüber auszutauschen. Und ein wenig tat ihm sein Cousin auch leid, schließlich wusste der Polizist nicht, wie er reagiert hätte, wenn jemand neben ihm gerade gefoltert wird.
    "Hey... weißt du noch, wie wir meinen Vater im Sommer mal im Garten erschreckt hatten?", fragte Christian plötzlich und er blickte Ben an. Der zog die Stirn ein wenig verwirrt in Falten. "Was meinst du? Den Anfall?" Sein Cousin nickte eifrig und Marlaine blickte ebenfalls auf. "Wenn ich das vortäuschen würde." "Ich weiß nicht... die lassen dich am langen Arm eher verrecken, bevor sie mich freimachen." Christian schüttelte den Kopf. "Der Stick ist verschlüsselt. Die brauchen mich, um das Teil zu entschlüsseln.", sagte er. Ben dachte nach... vielleicht war es wirklich die einzige Chance. Aber sie würden vielleicht das Leben der Frau oder des Kindes riskieren. Einerseits. Andererseits... wenn die Gangster an den Stick kommen, war ihr Leben eh nichts mehr wert. Er nickte.



    Als die beiden Männer einige Minuten später zu ihrer Routinekontrolle kamen, bemerkten sie dass Christian schlaff im Stuhl hing und von Ben Aufregung ausging. "Endlich! Mein Cousin ist ohnmächtig geworden.", rief er laut. Die beiden Männer sahen sich kurz an. "Willst du uns verarschen?" "Er ist Epileptiker. Vor einem Krampfanfall kann es sein, dass er das Bewusstsein verliert." Plötzlich ging von Christian ein gewaltiges Zucken aus, mit dem er an den Fesseln riss. Er hatte die Augen weit aufgerissen und starrte die beiden Männer panisch an. In seinem Mund hatte er Spucke gesammelt und aufgeschäumt, was er sich jetzt zwischen zusammengepressten Lippen herausquellen ließ. Es war ein beängstigender Anblick und die beiden Männer wussten zuerst nicht, was sie tun sollten.
    "Verdammt, macht ihn los! Sonst bricht er sich die Knochen!!", rief Ben panisch. Von dem Anblick und der Aufregung begann die kleine Cynthia zu schreien, was für zusätzlichen Stress der beiden Männer sorgte. Sie schauten sich an. "Beeilt euch! Oder soll er ersticken, wenn er die Zunge verschluckt?" Die Männer wussten natürlich, dass sie vor allem Christian lebend brauchten. Deshalb folterten sie ja auch Ben, nicht Christian selbst. In den Größeren kam Bewegung, während der andere auf asiatisch Zweifel anmeldete: "Ach, was soll er in dem Zustand schon tun?" Christians Anfall war wirklich überzeugend.



    Die Fesseln fielen und Christian zuckte zu Boden, wo er weiter verkrampfte und würgte. "Scheisse scheisse scheisse!!!", rief Ben panisch, ebenfalls überzeugend gespielt, voller Sorge. "Er verschluckt sich die Zunge. Ihr müsst ihm die Zunge aus dem Hals ziehen. Oder macht mich los!" "Auf keinen Fall!" "Dann helft ihm, verflucht!!" Der große Asiate blickte zu Marlaine und wollte sie schon losbinden, da von ihr weniger Gefahr ausging, als von Ben. "Sie machen das." Ben fluchte und er hoffte innerlich, dass sie sich etwas einfallen ließ, ihn davon abzuhalten. Ein "Oh Gott, ich kann das nicht", oder ähnliche Hysterie. Doch die recht schlank wirkende Frau, in ihrer Markenjeans und modischen Top recht gut gekleidet, nickte nur und blickte zu Ben. Er glaube plötzlich, Zuversicht zu spüren.
    Als Christian die Augen verdrehte, beeilte sich der Mann, Marlaines Fesseln zu lösen. Mit schnellen Schritten, soweit es die eingeschlafenen Gelenke zu ließen, ging sie zu Christian, legte ihm beiden Hände auf die Schultern und schien an seinem feuchten Mund zu hantieren. Der breitgebaute Asiate stand direkt hinter ihr, beiden hatten die Waffe in den Holstern. Beide waren sich sicher, dass von einem Epileptiker und einer schlanken Frau keine Gefahr ausging, im Gegensatz zu einem Polizisten. Der sah seinen Plan gescheitert.



    Der breitgebaute Asiate wusste nicht, wie ihm geschah. Plötzlich spürte er einen unnormalen Schmerz an einer empfindlichen Stelle, wo ihn die Sohle von Marlaine traf, die gezielt nach hinten austrat. Dieser Angriff sah für Ben, der völlig perplex beobachtete, was passierte, gar nicht so geübt aus... allerdings unglaublich effektiv, denn der Schrank fiel wimmernd in sich zusammen. Auch Christian vergaß für einen Moment, seinen Anfall weiterzuspielen und selbst der, etwas schmächtigere Kollege des Schrankes, der eben noch Zweifel angemeldet hatte, reagierte nicht sofort. Ebenfalls ein Vorteil für Marlaine... bei Ben hätte der vermutlich mit einem Angriff gerechnet.
    Der Zweite stand an Christians Kopf, also genau in Richtung Marlaine. Diese stand nach dem Tritt sofort auf, und noch bevor der Typ zum Holster greifen konnte, bekam Ben eine Demonstration von zwei, drei effektiven Tritten einer Kampfsportart, die er selbst nicht genau zuordnen konnte. Ein Kniehieb zum Magen, ein Tritt zum Kopf, und als der Mann noch auf allen Vieren verharrte, trat sie ihm gezielt unter den Brustkorb, was eine sofortige Ohnmacht zur Folge hatte. Das Stöhnen hinter ihr empfand sie als Sicherheitsrisiko, und mit einem Handkantenschlag unters Kinn wurde auch der Schrank ins Reich der Träume geschickt. Christian hob verdattert den Kopf und wischte sich den Schaum vom Kinn. Ben blickte die, für ihn noch fremde Frau mit großen Augen an, als sie im amerikanischen Akzent sagte: "Was? Ich war jahrelang mit einem Navy-Soldaten zusammen, der ein fanatischer Kampfsportler ist. In einer Beziehung teilt man seine Hobbys." Sie sprach es mit sicherer Stimme, aber ihre Hände zitterten vor Aufregung. Sie hatte es sicher nicht geplant und war keine eiskalte Kämpferin... aber ihr Mutterherz überwand die Angst. Das merkte Ben, als sie zuerst zu ihrer Tochter ging, um sie zu befreien, während Christian Bens fesseln löste. "Wir müssen schnell hier raus!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Heerlen - gleiche Zeit



    Die, etwas kleinere Armada aus dunklen Limousinen, angeführt von Semirs silbernen BMW, rollte an ein Flugfeld in der Nähe des Örtchens Heerlen. Die GPS-Koordinaten, die Hartmut ihnen übermittelt hatte, hatte Jenny ins Navi eingetippt, das sie direkt hierher geführt hatte. Es war ein ehemaliges Flugfeld für Sportflugzeuge, etwas abgelegen, verlassen und ein ideales Versteck. Der dunkle Helikopter hinter einem alten Hangar fiel gar nicht auf, und sollte sich ein Keller unter dem Hangar befinden, würde man auch etwagige Schreie nicht hören. Semir und Jenny waren etwas vorgefahren und lugten am Eingangstor vorbei. Es schien ruhig, die Kulisse im Herbstlicht mit den bunten Bäumen drum herum beinahe romantisch. Erst ein Mann mit umgehängter Waffe, der immer nur kurz ein paar Schritte aus dem Hangar ging, passte nicht in die Idylle.
    "Puh... wir sind hier richtig. Die bewachen irgendwas.", sagte Jenny, als sich die beiden Polizisten wieder zurück zogen. Semir nickte zustimmend und war froh, dass Jenny sich voll und ganz auf den Einsatz konzentrieren konnte, nachdem sie die letzten Tage einen eher zurückgezogenen Eindruck machte. "Ja. Wir müssen warten, bis die Übergabe gelaufen ist." Beide setzten sich wieder in ihren Wagen, der in etwas Entfernung stand, Semir gab über Funk die Lage an den Leiter des SEK. Er selbst war Einsatzleiter.



    Dann versuchte er die Chefin zu erreichen. "Semir, hier läuft etwas schief.", sagte sie sogleich, als ihr erfahrenster Mitarbeiter mit seinem Lagebericht fertig war. "Wieso? Was ist los?" "Lucas hat uns angewiesen, die Stellung abzuziehen. Sein Peilsender wurde gefunden." In Semirs Hirn begann es sofort fieberhaft zu arbeiten. "Das heisst, wir können ihn nicht mehr orten, und sie wissen auch nicht, ob er die Örtlichkeit verlässt." "Genauso ist es. Wir müssen auf die Forderung eingehen, um das Leben der Frau, des Kindes und Bens Leben zu schützen." "Chefin, da ist etwas faul. Der Typ ist ein erfahrener Mann in solchen Dingen, der lässt sich doch nicht nach ein paar Minuten auffliegen." Der erfahrene Polizist äusserte den ersten Verdacht aus seinem Kopf, obwohl er Lucas gerade eben noch vertraute.
    Die Chefin hatte bereits den gleichen Gedanken, doch sie musste Vorsicht walten lassen. "Was denken sie? Wäre ein Zugriff gefahrlos durchführbar?" Der Polizist wog den Kopf hin und her. "Schwierig. Wir wissen nicht, wie es da drin aussieht, und wieviele es sind. Ich will nicht das Leben von Ben riskieren, oder das Leben einer Frau oder eines Kindes. Ich denke, wir ..." plötzlich stockte Semirs Stimme. "Semir, was ist los bei Ihnen?", fragte die Chefin. "Die schiessen da drin!"



    Ben hatte sich aus dem Holster der beiden ausgeschalteten Männer die Waffen gezogen, nachdem er von Marlaine befreit wurde, die ebenso ein Klappmesser gefunden hatte, das die Typen bei sich trugen. Cynthia klammerte sich an ihre Mutter, während Ben eine Waffe in den Gürtel steckte. "Damit können sie nicht auch zufälligerweise umgehen?", fragte er noch, um nicht eine wichtige, unerwartete Hilfe zu verschenken. Doch die schlagkräftige Frau schüttelte den Kopf. "Ich habe mich aufs waffenlose Verteidigen beschränkt.", meinte sie beinahe entschuldigend. "Naja, immerhin.", sagte Ben lächelnd. Das Ausschalten der beiden Handlanger geschah immerhin relativ geräuschlos, so dass niemand oben gewarnt wurde.
    "Ist das nicht viel zu gefährlich, da jetzt raus zu gehen?", gab Christian zu bedenken, immer noch recht blass um die Nase. Gerade, als Ben die Tür erreicht hatte, drehte er sich um. "Du kannst ja gerne hier bleiben.", erwiederte er genervt und spürte schon wieder den "bösen Ben" in sich aufsteigen, der in den letzten Wochen so oft Besitz von ihm ergriffen hatte. "Ich meinte ja nur... da oben sind wir doch Zielscheiben." Sein Cousin atmete durch, unterdrückte sein böses Ego und antwortete mit etwas versöhnlicherer Stimme: "Irgendwann wird denen da oben auffallen, dass zwei Mann fehlen. Entweder kommen sie dann runter nachsehen, und wir müssen es büßen... oder die beiden werden vorher wieder wach... und wir müssen es büßen. Es macht keinen Unterschied." Das sah auch Christian ein. "Ausserdem werden sie dir nur in die Beine schiessen, damit du den Stick noch entschlüsseln kannst. Und auf Lucas' Frau werden sie auch nicht schiessen, so lange sie den Stick nicht haben. Auf sein Kind ebenso nicht. Also los jetzt."



    Wir an der Perlenschnur schlichen die vier einen dunklen Flur entlang. Ben ging vorne, die entsicherte und geladene Waffe im Anschlag, langsam sich um jede Ecke herumwindend. Dieser Keller war größer, als er gedacht hatte... endlich kam er zu einer Treppe. Mit einer lautlosen Handbewegung bedachte er seine Verfolger, kurz zu warten. Die Treppe war aus Lochblech, dementsprechend schwierig war es für ihn, diese lautlos nach oben zu steigen. Sonnenlicht fiel durch den Treppenaufgang, und möglichst lautlos schob er den Kopf an die Oberfläche. Was ihn erwartete, gefiel ihm gar nicht... ein Hangar in dem zwei Autos standen, zur Flucht bereit, und mehrere Männer, die bewaffnet umher liefen. Da der Treppenaufgang in dieser Garage gänzlich ungeschützt war, war es zwangsläufig, dass er gesehen wurde. Die ersten Rufe hallten mit Schüssen durch den Hangar und Ben zog den Kopf sofort wieder ein.
    "Scheisse...", rief er als Kugeln am Geländer abprallten und Cynthia vor Schreck begann zu schreien. Blitzschnell tauchte Ben auf, und gab Antwort in Form von mehreren Schüssen. Dabei zielte er nur ungefähr in die Richtung, in der er die Schüsse vermutete. Als er bemerkte, dass auch vor ihm die Kugeln, die ihn verfehlten, einschlugen, wusste er dass er von zwei oder sogar mehreren Seiten ins Visier genommen wurde. Ein Mann stieß einen Tisch um, ein zweiter ging hinter den bereitgestellten Fluchtautos in Deckung.



    Nach kurzer Zeit war die erste Waffe leer geschossen, und Ben griff zur Zweiten. Er hatte tatsächlich nicht mit soviel Widerstand gerechnet, gleichzeitig hörte er wildes Rufen durch den Raum zwischen den Angreifern. Etwas Mut keimte ihn ihm auf, als er dadurch, dass er sich drehte und schoß, einen Angreifer ausschalten konnte, der ihn von hinten beschossen hatte. Der Mut verließ ihn wieder, als eine Kugel ihn schmerzhaft am Arm streifte, seine Jacke aufriss und eine klaffende Fleischwunde hinterließ. "Fuck...", presste er hervor. Der Plan begann zu kippen... auch wenn es ihr einziger Ausweg war. Ben wusste nicht, wieviel Schuss er noch im Magazin hatte, als er sich auf der Treppe niederließ und durchatmete. Sein Herz schien ihm bis an die Kehle zu schlagen. Hatte sich so Kevin gefühlt, als er in Kolumbien auf der Brücke stand und sich in eine auswegslose Lage manövriert hatte?
    Der Überraschungsmoment war weg. Einer der Männer rief in gebrochenem Deutsch, dass er aufgeben sollte, und ihnen würde nichts geschehen. Zumindest sein eigenes Leben wäre wohl keinen Pfennig wert, während man Marlaine und Cynthia als Druckmittel, Christian als Entschlüssler weiterhin brauchte. Er dachte über die Alternative gar nicht erst nach, als er plötzlich das beste Geräusch der Welt hörte. Zumindest in diesem Moment. Sirenengeheul, das Schussgeräusch der HK MP5, die das SEK benutzt, sowie die Dienstwaffe von Semir. Und die Tatsache, dass die Männer sich plötzlich selbst unter Beschuss sahen und ihr Feuer in andere Richtung, als auf den Treppenaufgang lenkten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Heerlen - 17:15 Uhr


    Lee saß auf dem Beifahrersitz des zweiten von drei dunklen Fahrzeugen, die sich in Afden auf den Weg machten, nachdem das SEK vollständig abgezogen war. Lucas hatte sich in dem gleichen Wagen nach hinten gesetzt, wo ihm ein hünenhafter "Bewacher" zu geteilt war, der ihn unentwegt angrinste. Der ehemalige Navy-Soldat kannte aus seinen Recherchen ja so manche der asiatischen Handlanger, aber das schelmisch grinsende Gesicht dieses Riesenbabys war ihm neu. "Lucas, machen wir es uns nicht so schwer.", hatte Lee erneut gönnerhaft gesagt, als das Flugfeld schon langsam in Sichtweite kam. "Vergiss es. Erst bringst du mich zu meiner Familie, dann bekommst du den Stick. Wie abgemacht." Ihm war mulmig, dass er seine einzige Unterstützung abhängen musste, aber es war seine freie Entscheidung. Das Vertrauen in die Autobahnpolizei zu wenig, dass sie ihn nach der Übergabe mit dem Stick einfach verschwinden ließen. Aber er brauchte den Stick - für seine Freiheit.

    Jetzt aber war er auf sich alleine gestellt. Keine ungewohnte Situation generell... doch normalerweise hatte er für solche Fälle einen ganz klaren Plan. Lucas hasste es, ungeplant und spontan in ein "Gefecht" zu ziehen, etwas was er aus seiner Zeit in Afghanistan gelernt hatte. Jede Operation ohne Plan war zum Scheitern verurteilt. Jeder musste genau wissen, was er wo zu tun hatte. Jeder musste sich auf den anderen verlassen können. Jetzt musste sich der Kahlkopf auf niemanden verlassen, denn er war allein... doch er wusste nicht, was ihn erwartete.


    Lee dagegen war ruhig. Er und seine Männer unterschätzten Lucas nicht, und dass er sich glaubhaft seiner Verfolger entledigte und zumindest nicht mit den deutschen Behörden zusammenarbeitete, beruhigte ihn. Ausserdem wusste er, dass der Vater das Spiel so lange mitspielte, wie er die Frau und das Kind in seiner Gewalt hatte. Natürlich war es für den Asiaten klar, dass es keine Zeugen geben würde, wenn die Sache erledigt war. Weder der Physiker noch dessen Cousin würden die Halle lebend verlassen, doch im Moment machte er noch gute Miene zum bösen Spiel.

    Lucas Unruhe, die er keinesfalls auch nur im Entferntesten nach Außen trug, wuchs als er das Ortschild sah. Verdammt... sie fuhren tatsächlich nach Heerlen. Die GPS-Koordinaten des Helikopters stimmten, Lee hatte seine Familie scheinbar tatsächlich hier versteckt. Es ergaben sich neue Optionen für seinen Plan, sollte das SEK auch hier schon eingefallen sein, doch für sein Vorhaben bezüglich des Sticks war die Sache nicht zuträglich, denn dann stand wieder das alte Problem, dass man den Stick deutschen Sicherheitsbehörden übergeben würde. Innerlich biss Lucas sich auf die Lippen. Er konnte Lee aber nicht nochmal warnen, denn natürlich musste er zu allererst an seine Familie heran. Ein unglaublicher innerlicher Konflikt begann, und Lee schien mit einem Blick in den Rückspiegel Lucas Unsicherheit in dessen Augen zu bemerken. "Ganz ruhig, Lucas. Gleich bist du bei deiner Familie und dann haben wir das Geschäft fast geschafft."


    Die Kolonne aus drei dunklen Wagen, ein SUV und zwei Limousinen, rollte langsam an den Hangar heran. Als Lee über Funkgerät versuchte, seine Mitarbeiter anzufunken, dass die das Tor des Hangars öffnen sollten, wurde der Funkspruch nur mit einem monotonen Rauschen beantwortet. "Was geht da vor?", fragte er verwirrt, doch dann entspannte er sich. Langsam öffnete sich das Tor, seine Gesichtszüge lockerten sich um dann endgültig zu vereisen. Statt, dass seine Männer ihn hereinbaten, lagen sie aufgereiht auf dem Boden, die Arme auf dem Rücken, in Reih und Glied. "Was zum ...", kam ihm gerade noch über die Lippen, als Anna Engelhardt über Funk den erneuten Zugriff befehligte.

    Die Autos wurden umzingelt, und noch bevor die Fahrer Rückwärts- oder Vorwährtsgang einlegen konnten, wurden die Fahrertüren zuerst aufgerissen. Lee, Lucas und jeder einzelne Mitfahrer in den drei Wagen wurden aus dem Auto gerissen und zu Boden gedrückt. Eine Mischung aus deutschen Befehlsrufen und asiatisch klingenden Flüchen erfüllte den Flugzeughangar. Zwei der Männer schafften es noch an ihre Waffen zu gelangen, Schüsse peitschten durch die Luft. Ein SEK-Beamter wurde am Arm getroffen, die beiden Schützen allerdings schnell ausgeschaltet. Semir und Ben kamen ebenfalls aus der Deckung mit gezückten Pistolen, überließen die Hauptarbeit aber den Beamten in der schwarzen Uniform. "Lasst mich los, ich gehöre zu euch!", knurrte Lucas am Boden und spürte den schmutzigen Asphalt an der Wange.


    Mit einem Ruck wurde er, wie der Rest, auf die Beine gehoben. Doch entgegen seiner Erwartung, dass man ihn schnell losließe, blieb der Griff um Handgelenke und Nacken stahlhart. Die Chefin, Semir und Ben kamen auf den Amerikaner zu, im Hintergrund sah er erleichtert seine Frau und seine Tochter unversehrt bei Jenny und Christian stehen. Doch der Blick der Chefin gefiel ihm gar nicht. "Warum haben sie sich den Peilsender aus dem Jacketkragen gerissen und im Wagen gelassen?", fragte sie mit strenger Stimme. Eben hatte sie Semir und Ben kurz und schnell über alles informiert, genauso hatte Ben erzählt, was alles geschehen war. Und natürlich hatten alle drei den Verdacht, dass Lucas eben doch ein doppeltes Spiel spielte. Das anfängliche Vertrauen, was sich auftat, nachdem Lucas Semir gerettet hatte, war schnell zerstört, so fragil wie es war.

    "Die Sache war mir mit dem Peilsender zu gefährlich. Lee und seine Männer sind Profis. Ich wollte meine Familie nicht in Gefahr bringen.", rechtfertigte er sich. "Du hast den Stick absichtlich im Auto gelassen, damit wir denken, du wärst in dem Gebäude. Hättest du ihn in die Gasse geschmissen, hätten wir das sofort gemerkt. Also erzähl uns keine Scheisse.", herrschte Ben ihn an, dessen Adrenalinspiegel nach der ganzen Sache noch nicht nach unten gefahren war. "Er braucht den Stick, sonst ist er ein toter Mann.", lachte Lee, der gerade abgeführt wurde.


    Mit einer Handbewegung bedeutete Semir autoritär, dass die SEK-Beamten die komplette Yakuza-Gruppe abführen sollte, damit man in dem Hangar unter sich war. Vor der Halle fuhren bereits Krankenwagen ein, um den verletzten Polizisten zu versorgen. Lucas wurde losgelassen und rieb sich die Handgelenke. "Also raus mit der Sprache!", wurde er von Semir aufgefordert. "Du hast meine Frage vor einigen Stunden nicht beantwortet. Mit was erpresst dich deine Organisation?" Er sah zu seiner Frau... seinem Kind. Ein kurzes, energisches Kopfschütteln ging von ihm aus und seine Frau verstand diese Geste. Sie legte ihren Arm um Cynthia, und beide nahmen von der Gruppe etwas Abstand. Marlaine kannte die Geschichte scheinbar, und Cynthia sollte sie nicht hören. Christian und Jenny folgte ihnen, als Lucas begann: "Wir hatten in Afghanistan den Auftrag, ein Terrorlager auszuheben. Wir hatten ganz klare Informationen über den Ort." Es war, als hätte er im Kopf eine Playtaste gedrückt und ein Film spielte sich ab, den Ben, Semir und die Chefin jetzt schauten. "Uns lief die Zeit davon, denn es war angeblich ein Anschlag geplant. Also hatten wir die Planung verkürzt. Mehr Risiko, aber um hunderte Leben zu retten, habe ich diese Entscheidung gefällt, als Verantwortlicher der Operation. Wir haben das Lager nicht ausgekundschaftet, sondern angegriffen. Erst mit mehreren Raketen, dann wollten wir das Lager einnehmen." Es klang wie ein Roman, den sich Semir und Ben schlecht vorstellen konnten. Von Einsätzen, Verfolgungsjagden und Schiessereien hatten sie Erfahrung... aber vom Krieg. Sie merkten, wie Lucas die Kälte in seiner Stimme, seiner Haltung und seinem Gesicht langsam ablegte.


    "Es war ein Desaster.", kam nur schwer über seine Lippen und er sah zu Boden. Semir erwartete, dass das fehlende Auskundschaften ein Fehler war, und die US-Armee deswegen mehr Verluste erlitt, als geplant. Doch er irrte: "Es war kein Terrorcamp. Es war ein Flüchtlingslager, getarnt als Terrorcamp. Frauen, alte Männer und Kinder wurden als Kanonenfutter bereitgestellt. Als wir das Lager einnahmen, haben wir es erst gemerkt. Allerdings waren da schon über 200 Menschen tot." Ben bekam eine Gänsehaut und auch die Chefin weitete entsetzt die Augen. "Jedenfalls habe ich danach die Verantwortung gezogen. Ich wurde aus Afghanistan zurückbeordert, und aufgrund meiner... Verdienste... konnte ich "ehrenhaft" aus der Armee austreten.", wobei er das "ehrenhaft" nicht besonders wertig betonte. "Dann hat mich die Organisation angesprochen, das habe ich ja bereits erzählt." Semir nickte. "Und mit diesem Einsatz erpresst dich die Organisation? Aber das muss doch schon Jahre her sein." "So lange ist es noch nicht her, vielleicht 4 Jahre. Die Sache wurde sehr klein gehalten und nie wirklich abgehandelt. Die Akten existieren noch. Jedenfalls sucht sich die Organisation nur Leute aus, die erpressbar sind. Und wenn ich nicht liefere, werden sie diesen Einsatz so drehen, dass ich das Flüchtlingslager wissentlich bombardieren ließ. Und ich werde als Kriegsverbrecher verurteilt." Die beiden Autobahnpolizisten pusteten durch. Die Chefin schüttelte den Kopf: "Wir können sie mit dem Stick nicht einfach gehen lassen." "Frau Engelhardt. Sie brauchen den Stick nicht. Ihre Regierung würde ihn Amerika übergeben... soweit so gut. Aber das ganze wird öffentlich, das darf nicht passieren."


    "Ganz richtig, Frau Engelhardt.... sie brauchen den Stick nicht. Aber ich.", hörten die vier plötzlich eine wohlbekannte, wenn auch völlig veränderte Stimme hinter sich. Sie drehten sich um und konnten, allen voran Ben, nicht glauben, was sie sahen. Jenny stand vor ihnen, mit verunsichertem Blick und schwer atmend. Hinter ihr Christian, eine Waffe in der Hand, die er Jenny gegen die Halsschlagader drückte. mit der anderen Hand hatte er sie am Kragen gegriffen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hangar - 17:45 Uhr


    Bens Verletzung tat auf einmal gar nicht mehr weh, Semirs Puls stieg an und Lucas schien seinen Augen nicht zu trauen. Christian, der die ganze Zeit einen zusammengeknickten und eher weinerlichen Eindruck gemacht hatte, strahlte plötzlich eine kalte Entschlossenheit aus, als er die Mündung fest seitlich an Jennys Hals drückte. Im ersten Affekt taten alle vier das Gleiche und zogen ihre Dienstwaffen. Frau Engelhardt hielt die Mündung zu Boden, Semir genauso. Ben und Lucas dagegen richteten die Waffe auf das nervös wirkende Bündel in Christians Griff. Lucas war abgezockt und ein Mann der Tat, jemand der auch ohne zu zögern ein Risiko eingehen würde... das wusste Semir seit dessen Auftritt in Bens Wohnung, und deswegen wunderte es den erfahrenen Polizisten nicht, dass der ehemalige Soldat sich nicht in Deeskalation übte.

    Doch Bens Reaktion überraschte ihn. Es musste Überwindung kosten, dass er überhaupt auf seinen Cousin zielte. Doch Ben schien wütend zu sein, seine Hand verkrampfte sich um den Griff. "Das würde ich an eurer Stelle nicht tun.", warnte Christian und stieß Jenny die Waffe fester gegen die Halsmuskeln. Zur Verdeutlichung legte er den Finger an den Abzug. "Runter mit den Waffen." Ganz eiskalt, wie es zunächst erschien, war Christian nicht. Seine Stimme zitterte ein wenig, es war aber keine Wut, sondern doch Nervosität. Sein Eingreifen hatte er scheinbar nicht geplant, es war eine spontane Reaktion.


    "Okay...", sagte Semir und hob beschwichtigend eine Hand. Er hatte direkt in Jennys Augen gesehen, und erkannte die Furcht der jungen Frau. Zu oft war sie in letzter Zeit in einer derartigen Gefahrensituation, und der erfahrene Polizist spürte, dass man ihr keinen Gefallen tat, wenn man es auf ein Spiel mit dem Geiselnehmer ankommen ließ. Die Chefin folgte ihrem besten Beamten, die Waffen glitten gesichert zu Boden. Semir blickte dann auch mit strengem Blick zu Lucas, der bereits abwägte, ob er einen ähnlichen Rettungsschuss begehen konnte. Doch Semirs Blick und das deutliche Kopfnicken liessen ihn von diesem Vorhaben abkommen. Scheinbar befürchtete der erfahrene Polizist ebenjenen Eingriff von Lucas. Mit verkniffenem Gesichtsausdruck legte er die Waffe ebenfalls nieder. Er dachte an seine Ex-Frau und sein Kind, bei dem Christian eben noch war. Wehe, er hätte...

    Ben dagegen senkte die Waffe nicht, auch nicht auf das fürsorgliche "Ben...", seines Partners neben ihm. Jenny stand ihm nahe, sie waren zusammen in Trauer um Kevin. Damals bereits, als er in Kolumbien verschollen war, trösteten sie sich gegenseitig, wenn auch anders als diesmal. Aber schlimmer war der Schock darüber, dass Christian scheinbar doch auf der "anderen" Seite stand. Nicht Lucas war der, der eigene Interessen verfolgte, es zumindest nicht durchzog... sondern Christian. "Leg die Waffe weg, Ben.", sagte Christian warnend.


    "Warum? Nur wegen deiner scheiss Forschung?", herrschte Ben seinen Cousin, mit dem er als Kind spielte und die sich dann irgendwann zu Teeniezeiten entzweiten, mit erstickter Stimme an. Er meinte, Christian grinste vor Hohn. "Ach Ben, du denkst, wie immer, viel zu klein. Ich habe meine Lebenszeit und Energie für die Forschung an der Zusammensetzung für diese Waffe doch nicht verschwendet, damit die amerikanische Regierung den Stick in irgendeinen Asservatenschrank sperrt. Oder dass die Yakuza sich noch mehr bereichert, als sie es durch Prostitution, Drogenhandel und sonstiges eh schon hat." Er schüttelte den Kopf und stieß Jenny etwas an, damit er dichter an die Gruppe heran gehen kann. Das SEK war draussen, verlud die Verhafteten und bekam nicht mit, was in der Halle passierte.

    Jennys Lippen zitterten. Sie starrte mit aufgerissenen Augen direkt in Bens Mündung und hatte schreckliche Flashbacks im Kopf. Als Kevin vor ihr stand, nicht Herr seiner Sinne und die Waffe gegen ihre Stirn richtete. Als sie gefesselt auf dem Stuhl saß und dachte, sie müsse sterben. Gerichtet durch den Mann, den sie liebte. Dem sie alles anvertraut hätte, von dem sie dachte, er sei tot. Sie schien ihren Polizeikollegen mit dem Blick anzuflehen, bitte die Waffe nieder zu legen. Ihre Beine wollten nachgeben und ihre Hände waren zu Fäusten geballt, so dass die Haut an den Gelenken weiß wurde.


    "Warum die ganze Show?", fragte Ben. "Als wir rausbekommen hatten, was wir da erforscht haben, hat unser Laborleiter kalte Füße bekommen. Er hat dann den Deal mit der Organisation eingefädelt, damit unser Unternehmen das Ding los ist. Niemand wollte Verantwortung übernehmen." "Verantwortung für Zehntausende Tote, die durch dieses Ding vielleicht ums Leben kommen?", fragte Lucas ohne Gefühlsregung in der Stimme. In Afghanistan hatte er genug mit sinnlosen Attentaten zu tun, die vor allem zu Lasten der Zivilbevölkerung ging. "Jeden Tag sterben irgendwo Menschen, die unschuldig sind. Das wird nicht aufhören, wenn dieser Stick irgendwo in einem Schrank verschwindet.", rechtfertigte Christian sich in seiner unvorstellbaren Gier. "Die richtigen Terrorgruppen werden für diese Informationen dreistellige Millionen zahlen. Dafür habe ich gearbeitet." "Deswegen der falsche Stick?", fragte Lucas erneut und Christian nickte. "Ich habe gesehn, wie die Yakuza dich vor dem Cafe attackierte. Deswegen wusste ich, dass ich zunächst den Stick zwischenlagern musste." "Und dafür kam dir dein blöder Cousin in den Kopf, du falsche Ratte?", rief Ben nun wesentlich erregter, was Semir Sorgen machte. Sein Partner und bester Freund war ein Bauchmensch, der in solchen Situationen oftmals nicht sachlich genug agierte. "Richtig. Allerdings hatte ich nicht geplant, dass Yakuza mich in Köln so schnell findet. Also musste ich untertauschen. Aber natürlich brauchte ich den Stick, und deswegen habe ich dich nach zwei Tagen wieder kontaktiert." "Und die Yakuza hat ihnen in Belgien erneut einen Strich durch die Rechnung gemacht.", schlussfolgerte die Chefin den Angriff auf Ben und Christian, sowie deren Entführung.


    "Es wollten einfach zuviele an meiner Arbeit mitverdienen. Aber damit ist jetzt Schluss." Ben presste die Lippen zusammen und sein Griff um die Waffe, die immer noch auf das Pärchen aus Geiselnehmer und Geisel gerichtet war, wurde fester. "Ben...", hörte er jetzt die Stimme von Jenny. "Leg die Waffe bitte runter." Es war nur dieser Eindruck, der sie nervös machte. Als Ben endlich nicht mehr auf sie zielte, schien die Angst vor der Waffe an ihrem Hals plötzlich ganz weit weg. "Der Stick!", forderte Christian nun erneut. Semir und die Chefin blickten zu Lucas, der langsam in seine Hose griff und das silberne Teil ans Tageslicht brachte. "Gib ihn mir.", befahl Christian, damit er sich nicht seiner Deckung entledigen musste. "Ich mach das.", sagte Ben schnell und nahm Lucas den Stick aus der Hand. Genau wie Semir befürchtete er, der forsche Soldat könnte ein unkalkulierbares Risiko eingehen. Er wurde daraufhin von Lucas ebenfalls mit einem arggewöhnischem Blick bedacht.

    Als Ben direkt bei Christian stand und ihm den Stick in die Hosentasche steckte, knurrte er: "Ich werde dich kriegen. Und wenn du Jenny auch nur ein Haar krümmst, bringe ich dich um, das schwöre ich dir." Christian schien diese Worte erwartetet zu haben, so realistisch war er. "Ich wollte dich da nicht reinziehen, es tut mir wirklich leid. Wäre uns die Yakuza nicht auf die Schliche gekommen, hätten wir ein paar coole Tage verbracht und ich wäre mitsamt dem Stick wieder weg gewesen." "Deine Entschuldigung kannst du dir sonst wohin stecken."


    Ben ging wieder ein paar Schritte zurück, mit seiner Hand streifte er kurz die eiskalte Hand von Jenny. Dann zog Christian die junge Frau nach hinten und ging langsam rückwärts, bis er zu einem der Wagen kam, die die Yakuza zur schnellen Flucht bereitgestellt hatte. "Ich übernehme die Verantwortung für vielleicht Zehntausende Tote, wie er so schön sagte.", meinte er und zeigte kurz auf Lucas... "...also wird mir ein weiteres Menschenleben nicht viel ausmachen. Deshalb würde ich euch nicht raten, mir zu folgen." Er schaffte es, mit Jenny fast gemeinsam im Wagen zu verschwinden und Jenny dabei auf den Fahrersitz zu stoßen. Dann ließ er den Wagen an und fuhr Richtung Hintertor, bevor die drei Männer im Vollsprint nach draussen zu ihrem Dienstwagen rannten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Heerlen - 18:00 Uhr


    Mit einem lauten Krachen durchbrach die dunkle Limousine, von Jenny gesteuert und von Christian bedroht, das Tor auf der Rückseite. Spätestens, als die drei Männer und Anna Engelhardt zur Vorderseite rausliefen, bekam das SEK mit, was gerade passierte. Semir stieg mit Ben in den silbernen BMW, Lucas stieg in einen schwarzen BMW vom SEK. Semir rief noch laut einem SEK-Beamten zu, dass er Lucas den Schlüssel geben sollte. Das ganze dauerte vielleicht eine Minute, dann fuhren die beiden Wagen an dem Hangar vorbei auf den Feldweg dahinter, über den Christian geflohen ist. Da der Feldweg gerade war und das Land dahinter flach und ohne Wald, konnten sie den flüchtenden Wagen und die Staubwolke noch sehen und sich orientieren. "Scheisse... scheisse ist das gelaufen!", schimpfte Semir und schlug aufs Lenkrad. "Das hätte ich mir nicht träumen lassen.", hörte er dabei die fassungslose Stimme seines Partners.

    Der Forstwirtschaftsweg führte an Feldern vorbei und schlängelte sich allmählich Richtung Autobahn. Offenbar hatte Christian auch noch Glück. Er hielt die Waffe fest an Jennys Rippenbogen gepresst, die mit beiden Händen das Lenkrad umklammerte, damit ihr der Wagen auf dem holprigen Weg nicht aus den Händen sprang. Durch die Vordersitze sah er immer wieder durch die Heckscheibe und bemerkte natürlich zwei weitere Staubwolken, die ihn verfolgten. "Verdammt...", knurrte er, was Jenny veranlasste, auch in den Rückspiegel zu schauen. "Gib auf. Das bringt alles nichts!", startete sie wenigstens den hoffnungslosen Versuch.


    Der Wagen schleuderte um eine Abzweigung und nahm nun direkten Kurs Richtung Autobahn. Der Forstwirtschaftsweg mündete in einen Rastplatz, wo Jenny vom Gas ging um keine Passanten zu gefährden. "Was soll das? Geb Gas! Häng sie ab!", schrie Christian wütend und stieß die Waffe fest gegen Jennys Körper. "Sonst schwöre ich dir, kommst du hier nicht lebend raus." Es war Jennys einziges Ziel... hier lebend raus zu kommen. Ja, sie hatte Angst in einer Situation, in der sie eigentlich keine Angst haben durfte. Sie war Polizistin, verdammt, sie musste kühl und sachlich bleiben. Und klaren Kopf behalten. Doch das tat sie nicht. Sie beschleunigte wieder, wich zwei Autos aus, denen sie die Vorfahrt nahm und beschleunigte auf der Ausfahrt Richtung Autobahn. Semir ging bei der Fahrt über den Parkplatz mehr Risiko ein, Lucas ebenso.

    Der nahm die zweite Abzweigung und schleuderte knapp an zwei Glascontainern vorbei, so dass er Semir und Ben überholte und vor den beiden Autobahnpolizisten auf den Beschleunigungsstreifen gelang. "Hossa...", meinte Semir und zog die AUgenbrauen nach oben, als er die Fahrkunst des Mannes betrachtete. Nun waren alle drei Wagen auf der Autobahn und die Verfolger kamen Christian immer näher, denn Jenny schaffte es, nicht jede Gelegenheit zu nutzen, sich durch den dichter werdenden Berufsverkehr zu schlängeln.


    Ben griff zum Handy und wählte die Rufnummer von Hartmut. "Ben, was gibts?" "Hartmut! Du musst sofort Jennys Handy auf Überwachung und Ortung stellen. Christian hat sie als Geisel genommen, und falls wir sie verlieren müssen wir sie orten können!", rief Ben in eine Mischung aus Motorengeräusch und Reifenquietschen. Hartmuts Stimme klang erstaunt und erschrocken. "Jenny... Geisel? Warum? Und warum Christian?" "Er will den Stick selbst als Waffe verkaufen. Er hat das ganze von Anfang an geplant und Jenny gekidnappt, als wir gerade den Zugriff hatten." Das rothaarige Genie schien fieberhaft zu überlegen. Man hörte Tastaturgeklapper. "Okay Ben. Ich werde sie gleich hier auf dem Schirm haben. Aber wegen dem Stick..." "Was ist mit dem Stick?" "Also... weil ihr diesem Lucas nicht getraut habt, hab ich nix gesagt. Ich hab heute mittag, bevor ihr abgehauen seid, es noch geschafft den Stick zu entschlüsseln. Und ich habe eine Software auf den Stick gespielt, die das Teil unbrauchbar macht." Ben zog die Augenbrauen nach oben und schaltete das Handy auf Freisprech, damit Semir mithören konnte, gerade als der den BMW veriss und auf dem Standstreifen an zwei LKWs vorbeizog und Lucas folgte. "Sag das nochmal!" "Der Stick ist nur noch scheinverschlüsselt. Die Software startet im Hintergrund, sobald man den Stick öffnet. Und sobald jemand versucht, das Ding zu entschlüsseln, werden alle Daten auf dem Stick gelöscht. Allerdings erst beim Kopiervorgang, das heisst, die Yakuza hätte sich zur Kontrolle die Daten ansehen können, damit sie die Geiseln freilassen."


    Die beiden Polizisten sahen sich gegenseitig an. "Christian wird mit dem Ding nix anfangen können.", wurden sie von Hartmut nochmal bekräftigt. "Vielleicht gibt er auf, wenn er das weiß.", dachte Semir laut nach und warf einen kurzen Blick auf seinen Partner, der seinen Cousin wohl wesentlich besser einschätzen konnte. Doch Bens Kopf war wie leergefegt, eine leere Schublade, in die er reinsah und nicht verstand, warum er keine Antwort darin fand. "Ben?" "Ich... ich weiß nicht. Vielleicht. Vielleicht dreht er dann aber auch total durch.", stammelte Ben und sah, wie Lucas nun an den beiden Autobahnpolizisten vorbeizog, und den Abstand zu Christian verkürzte. "Was wird das denn jetzt?", knurrte der erfahrene Autobahnpolizist und gab ebenfalls wieder mehr Gas.

    Auf einem kurzen Stück, wo die Bahn frei war, zog er neben Lucas und machte eine vielsagende Armbewegung nach hinten. Er sah Lucas verständnislosen Blick, der offenbar vor hatte, die Flucht endgültig zu beenden, doch Semir wollte keine Eskalation. Stattdessen entschied sich Ben dazu, seinen Cousin anzurufen. Der meldete sich auch sofort: "Verschwindet endlich! Das ist meine letzte Warnung!", keifte er in den Apparat. Ben hatte das Gefühl, einer fremden Stimme zu lauschen, die nichts mehr mit der seines Cousins Christian zu tun hatte.


    "Christian, hör zu! Die Daten auf dem Stick sind nichts wert. Es ist alles vorbei.", sagte Ben mit bemüht, fester Stimme in den Hörer. Es schien, als könne er das kurze Nachdenken seines Cousins spüren. "Hör auf mich zu verarschen!" "Es ist die Wahrheit. Unser Techniker hat den Stick geknackt und eine Software aufgespielt. Sobald die Daten kopiert werden, löschen sie sich." "Das könnt ihr gar nicht! Das ist unmöglich." Ben schloss die Augen und Semir versuchte durch die Heckscheibe der Limousine zu erkennen, was in dem Wagen vor sich ging. "Christian, die ganze Sache ist sinnlos. Fahr rechts ran und halt an. Bisher ist noch keinem von uns etwas passiert." "Vergiss es, Mann! Du verarschst mi...", weiter kam er nicht. Ben hörte plötzlich Stöhnen, Keuchen und sein Partner sah, wie das Auto vor ihm zu schlingern begann.

    "Christian? CHRISTIAN!!!", rief Ben in den Hörer und beiden Polizisten stockte der Atem, als sie sahen, was geschah... sie konnten den Schuss dumpf hören, doch was sie sahen bereitete ihnen wesentlich mehr Sorgen. Die Seitenscheibe auf der Fahrerseite zersplitterte nach aussen, was bedeutete dass Christian offenbar auf Kopfhöhe in Jennys Richtung geschossen hatte. "Oh Gott, nein!", entfuhr es leise Semirs Lippen, einen Sekundenbruchteil später verlor der Wagen jegliche Kontrolle und schleuderte in die Mittelleitplanke.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Heerlen - 18:10 Uhr


    Jenny konnte an Christians Augen die genaue Reaktion ablesen, die Gedanken die ihm durch den Kopf gingen. War das Polizeitaktik? War Ben kalt genug, die auch bei seinem Cousin durchzuziehen? Der Stick wertlos und damit die gesamte Flucht sinnlos? Christian starrte einen Moment aufs Handschuhfach, als würden sich dort Antworten abbilden, das Quietschen der Reifen und Dröhnen des Motors rückten plötzlich in den Hintergrund. Als er seinem Cousin dann widersprach, empfand Jenny die Situation als Chance, dass der Flüchtige zu sehr abgelenkt war auf das Gespräch. Sie griff zu, wie sie es gelernt hatte, hielt das Lenkrad noch mit einer Hand fest, um nicht die Kontrolle zu verlieren. Sie drückte die Waffe und damit Christians Arm nach unten in den Fahrerraum und versuchte mit dem Ellbogen zu zu schlagen.

    Doch Christian war in diesem Moment geistesgegenwärtiger, als sie es einschätzte. Er ließ das Telefon fallen und schlug Jenny mit der Faust in die Rippen, um ihren Griff zu lockern. Die Polizistin nahm die zweite Hand zur Hilfe, doch das Auto bewegte sich mit einem Ruck. Sie konnte aus dem Augenwinkel gerade noch sehen, wie der Mann neben ihr den Arm mit der Pistole hochriss. Sie hatte keine Angst, in diesem Moment denn es ging alles viel zu schnell... anders als im Keller, als schon mal jemand mit einer Waffe auf sie zielte. Der Knall hallte ihr in den Ohren und um sie herum war alles schwarz.


    War das nun so, wenn man erschossen wird? Jenny erschrak. Sie öffnete die Augen, ihr Ohr und ihre Gesichtshälfte schmiegte sich an eine weiche Decke. Vor ihrem Blick verschwamm alles, sie nahm Meeresrauschen und eine leichte, frische Brise wahr. An ihren nackten Füßen spürte sie Sand und langsam manefestierte sich das Bild eines Strandes vor ihren Augen. "Um Gottes Willen...", dachte sie für einen Moment. Noch viel mehr erschrak sie, als sie eine wohlbekannte Stimme hinter sich hörte. "Na, gut geschlafen?", klang es monoton, aber mit einer positiven Aura im Klangbild. Jenny hob den Kopf und drehte sich ruckartig herum.

    Tatsächlich saß neben ihr auf einer Decke ihm Sand Kevin, der sie freundlich anlächelte. Seine Haare abstehend vom Wind, der an ihnen zog, er trug seine, an den Knien zerrissene Jeans und einen Kapuzenpullover... beinahe wie früher, bevor er zur Polizei ging. "Was... was mache ich hier?", fragte Jenny ein wenig ängstlich. Sie hatte schon viel von Nahtod-Erfahrungen gelesen, von Tunneln mit Licht, davon dass man Verstorbene wieder sieht und mit ihnen redet. Und dass sie scheinbar gerade entweder erschossen oder zumindest angeschossen wurde, erhärtete in ihr einen schrecklichen Verdacht. "Du hast ein bisschen geschlafen.", sagte Kevin leise und blinzelte in die Sonne. "Ich wollte dich aber nicht aufwecken." Jenny fasste sich an den Kopf, an die Stirn und ihre Schläfe... sie spürte weder Blut noch Schmerzen. Und auch Kevin neben ihr sah völlig zufrieden aus.


    "Bin.... bin ich tot?", traute sie sich dann doch zu fragen und blickte Kevin fest von der Seite an, nachdem sie sich auch richtig hingesetzt hatte. Sie wusste nicht warum, aber irgendwas hielt sie davon ab, ihm stürmisch um den Hals zu fallen, auch wenn sie sich natürlich freute, ihn zu sehen und sie auch das wohlig warme Gefühl in sich aufsteigen spürte. Das Gefühl von Liebe und Zuneigung. "Wieso solltest du?", fragte Kevin verblüfft und am liebsten würde Jenny gerade in den hellblauen Augen versinken, die sie so sehr vermisste. "Na... weil... weil ich... ich glaube, ich hatte einen Unfall. Und... und ich sitze hier mit dir plötzlich am Meer.", stotterte sie. Konnte man das eigene Herz schlagen spüren, wenn man tot war? Denn genau diesen Eindruck hatte sie gerade... als wolle ihr Herz in ihrer Brust zerspringen. Sie wusste nur nicht, ob das der Tatsache geschuldet war, dass Kevin neben ihr saß, oder sie eventuell Ben und Semir nie wieder sehen würde.

    "Und weil du bei mir sitzt, bist du tot?", lachte Kevin, und seine Stimme hörte sich völlig befreit an. Frei von Sorgen, frei von Problemen, die ihn sein ganzes Leben lang quälten. Auch das traf Jenny sowohl positiv als auch negativ. "Ja... weil du auch tot bist.", sprach sie die bittere Wahrheit aus, von der sie überzeugt war. Sie meinte ein schelmisches Grinsen in Kevins Gesicht zu sehen, als sie diesen Satz sagte, bevor er den Blick von ihr abwandt um auf den Horizont zu sehen, der das Meer endlos erscheinen ließ.


    "Kevin?", fragte Jenny nochmal, denn er gab darauf keine Antwort. Verdammt, was ging hier vor? Wo war sie hier und warum saß ihr Freund, der seit Wochen tot war, neben ihr? Es war so surreal, es fühlte sich nicht wie ein Traum, aber auch nicht wie die Realität an. Es fühlte sich aber auch nicht so an, als er neben ihr saß und sich verabschiedete. "Wie gehts Ben und Semir?", fragte der Mann neben ihr völlig unvermittelt, was Jenny nun völlig verwirrte. Sie wollte wissen wo sie ist, in welcher Welt sie hier gefangen war... und Kevin begann plötzlich einen Smalltalk, als würde er sie im Urlaub besuchen. Deswegen klang ihre Stimme auch weiterhin stockend und verwirrt: "Ja... also... Ben nimmt die ganze Sache ziemlich mit." Das Grinsen verschwand aus Kevins Gesicht. "Das wird schon werden. Lass noch ein paar Wochen vergehen."

    Plötzlich griff die junge Frau ihren Freund am Arm. "Kevin! Du hast mir in den letzten Tagen Angst gemacht. Am Anfang habe ich auf deine Worte gehört, die du mir gesagt hast... aber dann... ich weiß nicht. Ich hab mich manchmal von den Gedanken an dich bedroht gefühlt. Und... und ich hab deine Pillen genommen. Ich glaube, je krampfhafter ich versuche die Trauer in positive Energie umzuwandeln, desto schlimmer wird es." Ihre Augen füllten sich mit Tränen und ihre Stimme zitterte, als sie jetzt Kevins Blick sah. "Das tut mir leid, Jenny. Aber ich bedrohe dich nicht. Du bist so stark... so viel stärker als ich.", sagte er nur, und diesmal klang seine Stimme traurig. "Deswegen sag mir bitte... wo bin ich hier? Bin ich tot und bleibe ich jetzt bei dir, oder warum bin ich hier?"


    Nun kam wieder ein kleines Lächeln auf Kevins Gesicht, er beugte sich vor zu Jenny um sie sanft auf die Wange zu küssen, was in Jenny eine positive Gänsehaut auslöste. Und dann sagte er einen Satz, der sie nicht mehr loslassen sollte. "Wir sind beide nicht tot." Sie stumm zu ihm auf, als er sein Shirt auszog und im Laufschritt Richtung Wasser lief, in dass er, als er einige Meter hineingelaufen war und es tiefer wurde, mit einem kräftigen Sprung eintauchte. Als wären sie im Urlaub beobachtete Jenny still die Bewegungen ihres Freundes, dessen Haare sich durch das Salzwasser flach hinlegten. Jenny wäre ihm gerne nach diesem Satz gefolgt, doch eben dieser Satz schien sie zu knebeln, schien sie festzuhalten auf dieser Decke. Sie hatte kurz das Gefühl, jetzt doch so etwas wie Schmerz zu empfinden am Kopf, als Kevin sich immer weiter von ihr entfernt hatte. Als sie hinter sich ihren Namen hörte, drehte sie sich ruckartig herum... doch da war nichts, ausser Sand und Büschen, wie an einem riesigen einsamen Strand. Doch Jenny erschrak erneut, denn sie drehte den Kopf zurück in Richtung Wasser... Kevin war verschwunden. "Nein... NEEEIN!", rief sie laut und wollte aufstehen, um ihm nach zu laufen... doch sie konnte es nicht. Wie von einer unsichtbaren Macht wurde sie zurück auf die Decke gedrückt.


    Als sie erneut die Augen aufmachte, brannte es in ihrem Blick. Ein brennender Schmerz, von der Schläfe zu ihren Augen, ihren Nacken herab in die Wirbelsäule, in alle vier Gliedmaßen ausstrahlend. Sie spürte, dass ihre Füße nun in Schuhen steckte, eine Hand lag auf dem Asphalt, der Rest ihres Körpers auf einer Rettungsdecke aus Semirs Auto. "Jenny? Jenny, kannst du mich hören?" Neben ihr kümmerten sich zwei Autofahrer, die angehalten hatten, mit Ben zusammen um Christian, den man ebenfalls aus dem Auto gezogen hatte. Ihr Kopf schrie... er schrie vor Schmerzen. Und sie konnte Semir keine Antwort geben, sie konnte das Zittern in ihrem Körper nicht unterdrücken und sie konnte auch nicht sagen, was ihr passiert war. Starb sie jetzt? Semirs Blick war sorgenvoll, bevor sie in die Dunkelheit zurückkehrte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 18:10 Uhr


    Für Ben und seinen Partner Semir, sowie für Lucas im zweiten Verfolgungswagen lief der ganze Crash und alles was danach kam, wie in Zeitlupe ab. Der Wagen, der in die Leitplanken prallte und davon weg geschleudert wurde. Fliegender Dreck, Autoteile, qualmende Bremsen von anderen Verkehrsteilnehmern. Semir und Lucas reagierten jeweils sofort und hielten ihre Wagen bereits an, als das schleudernde Wrack noch gar nicht wirklich zum Stillstand gekommen war. In allen drei Köpfen schaltete der Kopf in den automatischen Notfallmodus, wo man ohne Gefühl nur funktionierte und einen klaren Plan abarbeitete. Ben sprintete aus dem Wagen sofort zum qualmenden Wrack, Lucas tat es ihm von seinem Wagen aus gleich. Als Ben sah, dass der kahlköpfige Mann zur eingedrückten Fahrerseite lief, entschied er sich für die Beifahrerseite.

    Semirs Weg führte zuerst zum Kofferraum seines BMWs, wo er den mobilen Feuerlöscher griff und nur wenige Sekunden später am Wrack eingriff. Der Dampf stellte sich als Kühlmittel heraus, es waren keine Flammen zu sehen, so dass der kleine Polizist die eventuellen Löscharbeiten schnell einstellen konnte.


    Ben riss die Beifahrertür auf und blickte überrascht, als Christian ihm mit weit aufgerissenen, geschockten Augen entgegenstürzte. Sein Gesicht war blutverschmiert, der rechte Ärmel aufgerissen. Der Mann, der sein wahres Gesicht gezeigt hatte, stürzte aus dem Auto auf den Asphalt und versuchte ihm ersten Affekt, ob aus Schock oder dem weiteren Drang zu fliehen, auf allen vieren davon zu krabbeln. "Christian!! Hey!!", rief Ben und packte seinen Cousin am Kragen seiner zerissenen Jacke. Er drückte ihn zu Boden, wie er es als Kind schon gemacht hatte, wenn sich die beiden prügelten und Ben oftmals die Oberhand hatte. Sein Cousin stöhnte vor Schmerzen auf, Ben ließ wieder etwas von ihm ab, aber gerade soviel, dass er nicht nochmal flüchten konnte. Trotzdem musste er natürlich etwas Vorsicht walten lassen, wegen eventuellen Rückenverletzungen.

    Lucas kümmerte sich um Jenny und wurde nur Sekunden später von Semir unterstützt. Sie hing bewusstlos überm Lenkrad, ihre Augen geschlossen und Blut tropfte aus ihren Haaren. Semirs Herz blieb für einen Moment stehen und er befürchtete gleich ein Einschussloch in ihrem Kopf zu finden, so wie es für die beiden Polizisten hinter Christian ausgesehen hatte. Der Amerikaner, mit mehr Distanz zu Jenny als Semir, blieb ruhig und legte zwei Finger an Jennys Hals. "Sie lebt noch.", war seine kurze Antwort. Dann nahm er fachmännisch ihren Kopf und Hals und legte sie vorsichtig nach hinten in den Sitz zurück, ohne die Wirbelsäule unnötig zu bewegen. Semir beugte sich unter dem etwas größeren Mann durch, schnallte Jenny ab und packte ihre Beine und Hüfte. Gemeinsam zogen sie die junge Frau schonend aus dem Fahrzeug und legten sie auf eine Rettungsdecke, die weitere Autofahrer, die hinter dem Unfall anhielten, bereits bereitgelegt hatten.


    Diese Autofahrer waren es auch, die bereits mehrere Notrufe an die Zentrale abgesetzt hatten. Als Lucas und Semir ihre verletzte Fracht vorsichtig ablegten, bemerkten sie neben mehreren tiefen Schrammen an Armen und Beinen auch zwei stark blutende Kopfverletzungen. Eine davon an der Seite, und definitiv von dem Unfall herstammte weil es aussah wie eine Platzwunde und das Blut aus dieser durch ihre langen Haare lief. Die zweite war seitlich an der Stirn und sah mehr wie eine tiefe Schramme aus, die ebenfalls stark blutete. "Semir? Was ist mit Jenny?", hörte der kleine Polizist die Stimme seines Partners. "Lebt noch!", war die kurze Antwort. In Notfallsituationen war keine Zeit für lange Erklärungen und Semir ahnte, dass Christian auch nicht besonders schwer verletzt war, wenn Ben beim Retten Zeit hatte, sich nach Jenny zu erkundigen.

    Für einen Moment schlug Jenny dann die Augen auf. Ihre Pupillen waren ganz klein und ihr Blick nicht klar. Sie schaute einen Moment zu Lucas und dann an beiden Männern vorbei, als wäre sie allein. "Jenny? Kannst du mich verstehen? Jenny?", fragte Semir hastig und versuchte zu ihrem Bewusstsein durchzudringen. Sie wollte den Kopf drehen, doch der wurde ihr von Lucas immer noch festgehalten. "Nicht bewegen, Jenny... ganz ruhig. Wir sind bei dir.", redete ihr Kollege beruhigend auf sie ein. Dann fielen ihr die Lider wieder zu, als sie die Sirenen hörte.


    Danach hatten zumindest die beiden Autobahnpolizisten das Gefühl, ihre Welt durch einen Watteschleier zu sehen. Alles kam ihnen unwirklich vor, als die Notfallsanitäter kamen und ihre Arbeit begannen. Jenny wurde der Nacken stabilisiert, ihre Atmung unterstützt weil man Angst hatte, sie hätte aufgrund von Wirbelverletzungen vielleicht auch eine Lungenruptur. Der Wagen war auf der Fahrerseite wesentlich beschädigter, weil sie im 45° Winkel nach links in die Leitplanke eingeschlagen waren. Semir hatte das Gefühl, all das schon mehrmals erlebt zu haben und jedes Mal ein Deja-Vue zu verspüren. Verunfallt, angeschossen, schwer verletzt. Er selbst als Retter, Zuschauer oder Opfer. Er betrachtete gedankenverloren seine Hände, an denen Jennys Blut klebte.

    Ben fühlte sich doppelt betroffen. Einerseits war seine Kollegin, mit der er ein enges Verhältnis hatte, schwer verletzt und er hatte die gleichen Empfindungen wie Semir neben ihm. Doch gleichzeitig wurde sein eigener Cousin gerade gleichermaßen von Sanitätern verarztet, als auch von holländischen Polizisten bewacht, die informiert worden waren von Frau Engelhardt. Ben selbst spürte getrocknetes Blut in seinem Gesicht durch die Misshandlungen im Keller und den Unfall mit seinem Wagen einige Stunden vorher. Es begann langsam zu dunkeln und dieser turbulente Herbsttag neigte sich endlich dem Ende zu. Obwohl ihr Verhältnis nie besonders eng war, und Ben Christian hätte schlagen können dafür, dass er Carina in Gefahr brachte, so machte ihn der Sinneswandel hin zu einem geldgierigen, skrupellosen Mann, der für Euro-Scheine über Leichen gegangen wäre, sehr zu schaffen. Nun war er auch noch schuld daran, dass Bens Kollegin verletzt wurde. Der junge Polizist warf Christian einen verachteten Blick zu, als dieser in den Kastenwagen verladen wurde.


    Lucas schaute sich das ganze Schauspiel nur ein paar Minuten an. Er merkte, wie mitgenommen die beiden Autobahnpolizisten waren, er selbst dachte nur daran, dass seine Frau und sein Kind wohlbehalten aus dieser Nummer heraus gekommen waren. Und einen anderen Gedanken erfasste ihn jetzt in einem Moment, als die beiden Polizisten nur Jenny im Kopf hatten. Während sie den Rettungsmaßnahmen beiwohnten, Semir zum Beispiel die Infusionsflasche für Jenny hielt, drehte sich der kahlköpfige Mann um und ging mit schnellen Schritten zu dem Autowrack. Er wies sich bei den holländischen Kollegen, die gerade ankamen und eine Vollsperrung eingerichtet hatten, aus und beugte sich von der Beifahrerseite her in den zerstörten Wagen. Das Lenkrad war nach vorne gerückt, die A-Säule auf der Fahrerseite eingedrückt und sogar die Pedale hatten ihre Position verändert. Die Beifahrerseite war wesentlich weniger beschädigt, nur das Glas war gesplittet und das Handschuhfach hatte sich durch den Anprall wegen den Airbags geöffnet. Lucas liess seine Augen durch den Wagen gleiten und am Boden im Fussraum fand er, was er suchte. Er streckte die Hand danach aus und ergriff den USB-Stick. Als er ihn in der Hand hielt, blickte er durch die Scheibe auf Semir und Ben, die ihm teilweise unbewusst, teilweise Semir aber auch bewusst geholfen hatten, um ihm aus der Klemme zu helfen. Hatte der rothaarige Technikfreak der Autobahnpolizei geblufft, oder waren die Daten wirklich verloren? Konnten die Spezialisten seiner Organisation dem Algorithmus zuvor kommen?


    Für einen Moment stand Lucas stocksteif an dem Wrack, hielt den Stick in der Hand, und es fühlte sich so an, als würde der Stick glühend heiß werden. Er war beeindruckt, wie sehr die beiden Polizisten auf Jenny fokussiert waren, und ihn völlig ausser Acht ließen. Ihre Aufmerksamkeit galt nur der verletzten Kollegin, und dieses Verhalten nutzte Lucas aus. Er fühlte sich schäbig, aber der Gedanke daran, wieder frei zu sein, vielleicht sogar mit seiner Familie, ließ sein Gewissen verstummen. Er steckte den Stick ein, und genauso unscheinbar, wie er den Platz der Rettungsmaßnahmen verlassen hatte, gesellte er sich wieder dazu.

    Kurz bevor der Krankenwagen dann aber abfuhr erinnerte sich Semir, selbst auch noch einen Blick in das Fahrzeug zu werfen. Ihm war die kurze Abwesenheit Lucas tatsächlich nicht aufgefallen, und er wollte Jenny nun nicht lange alleine lassen. Einige der deutschen SEK-Kollegen waren mittlerweile auch eingetroffen, und als Semir beim kurzen oberflächlichen Nachschauen den Stick nicht fand, gab er die Order weiter, das Auto und den Unfallort gründlich zu durchsuchen. Als die beiden Krankenwagen abfuhren, folgten Semir und Ben dem Krankenwagen, während Lucas zur Lagerhalle zurückfuhr.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 18:45 Uhr


    Die Momente des Wartens waren wieder unerträglich lange. Semir und Ben waren natürlich mit ins Krankenhaus gefahren, wo besonders auf den jüngeren der beiden Polizisten eine Zereissprobe wartete. Semir hatte ihm auf dem Weg ins Krankenhaus mit vorsichtigen Worten offenbart, was sich in seiner Wohnung zugetragen hatte. Die Konfrontation mit den Handlangern der Yakuza, der Schusswechsel und Carina zwischen den Fronten. "Wie bitte?", rief Ben geschockt und sah seinen Partner mit großen Augen an. "Warum erfahre ich das jetzt erst?" "Wann hätte ich es dir denn sagen sollen? Ausserdem war Carina ausser Gefahr, sie wurde betäubt, von Meisner betreut bis sie wach wurde und wir hatten zwei Mann vor ihrer Wohnungstür positioniert. Hier, schau.", rechtfertigte sich Semir und zeigte Ben eine Whatsapp-Nachricht, in der Meisner versicherte, dass Carina wieder fit war. Die Nachricht war gekommen, als Semir noch keinen direkten Kontakt zu Ben hatte.

    Sofort telefonierte Ben mit seiner Freundin, er entschuldigte sich gefühlte 100te Mal, dass sie in die Sache mit reingezogen wurde. Carina klang gefasst, aber doch ein wenig wackelig in der Stimme. Sie war ebenfalls heilfroh, dass ihr Lebensgefährte aus der, ebenfalls sehr gefährlichen Gefangenschaft ohne Verletzung rausgekommen war. "Ruh dich aus. Ich bin bald zu Hause.", sagte er dann noch, bevor sie sich mit Liebesbekundungen verabschiedeten. Semir merkte, dass durch diese Erlebnisse der letzten Tage vielleicht einiges wieder ins Lot gekommen war, was wegen Kevins Tod aus den Fugen gerutscht war.


    Im Krankenhaus war es dann Semir der telefonierte. Denn gerade als er auf den Besucherparkplatz fuhr, kam ihm der Gedanke schlagartig. "Ach du scheisse...", sagte er und blickte erschrocken zu seinem Partner. "Was ist denn?" "Wir haben den Stick völlig vergessen." Auch Ben fuhr sich durch die Haare und biss sich auf die Lippen. Die Sorge um Jenny, die Wut auf Christian... all das hatte ihren Blickwinkel verengt. "Wenn Christian ihn nicht hat, muss er ja im Auto sein." Semir nickte und meinte: "Pass auf, geh du mit Jenny rein und sieh direkt mal bei Christian nach dem Stick. Ich ruf die Kollegen an der Unfallstelle an."

    Ben eilte durch den Empfang sofort zur Notaufnahme. Christian war bei Bewusstsein, doch er blickte von seiner Rettungstrage nur desillusioniert auf, als er Ben erkannte. Man verband ihm gerade den Kopf in Erstmaßnahme, danach würde er zum Röntgen gebracht werden, wo Jenny bereits war. Das hatte Ben zuerst nachgefragt, wurde jedoch typischerweise sofort abgewürgt, der verletzten Kollegin zu folgen. "Wir werden sie erstmal eingehend untersuchen, bitte haben sie solange Geduld.", wurde er von dem Krankenpfleger beruhigt. Jenny hatte das Bewusstsein immer noch nicht wieder erlangt, als man sie in die Untersuchungsräume schob und Ben warf ihr einen sorgenvollen Blick hinterher... mal wieder. So langsam nahmen die Krankenhausaufenthalte überhand, dachte er noch, bevor er in den Untersuchungsraum neben an eintrat, wo sein Cousin verarztet wurde.


    "Wo ist der Stick?", fragte er ohne Umschweife und Mitleid in der Stimme. In diesem Moment war Christian für ihn ein einfacher Verbrecher. Kein Cousin, kein Familienmitglied. Seinem Onkel das Ganze schonend beizubringen würde noch eine Herkulesaufgabe werden für Ben. Christian drehte bei der Frage den Kopf weg. "Wo der Stick ist, hab ich dich gefragt!", wiederholte Ben lauter und die beiden Krankenschwestern schauten etwas überrascht auf. "Keine Ahnung.", war die leise Antwort des Mannes, der Moral gegen Geld eintauschen wollte. Ben machte einen schnellen Schritt zur Trage und wollte ihm gerade in die Hosentasche langen, als er von der älteren Frau zurückgehalten wurde. "Hallo? Verbrecher hin oder her, aber im Moment ist der Mann ein Patient nach einem schweren Autounfall. Ich muss also sehr bitten!".

    Ben bremste sich vor dem ersten Griff nochmal. "Ich werde ganz behutsam vorgehen. Ausserdem ist das mein Cousin, und der hat gegen eine Taschenkontrolle sicher nichts einzuwenden." Tatsächlich wehrte sich Christian nicht, als Ben ihm in alle Hosentaschen langte, den Stick aber nicht hervorzaubern konnte. Auf die erneute Frage, wo der Stick sei, gab Christian keine Antwort. Es war vor dem Unfall zwar Zeit, den Stick zu verstecken... aber hatte Bens Cousin dafür wirklich die Nerven bei der Flucht? "Dann hätten wir es ja jetzt. Wir würden gerne weitermachen.", forderte die Krankenschwester den Polizisten unmissverständlich zum Gehen auf.


    Semir stand währenddessen vor dem Eingang des Krankenhauses um zu telefonieren. Es dunkelte jetzt deutlich, der Wind wurde stärker und riss an den bunten Blättern in den Bäumen. Bald würde der erste große Herbststurm kommen und die farbenfrohe Landschaft Stück für Stück entfärben und in das triste Grau verwandeln, vor dem sich Winter-Pessimisten so fürchten. "Ihr habt das Auto schon untersucht? Wer hat das angeordnet? Ah, die Chefin. Ja und?", sprach er ein wenig gehetzt und fuhr sich über die hohe Stirn. Die Antwort schien ihm nicht zu gefallen. "Nicht gefunden? Habt ihr auch überall nachgesehen? Wirklich überall? Ja, dann schaut nochmal. Und durchsucht den Seitenstreifen, vielleicht wurde er bei dem Aufprall ja rausgeschleuert. Ja okay, ich warte auf deinen Rückruf, ciao." Zum Glück kannte Semir den Leiter der hiesigen Spurensicherung, so weit war man von der Heimat ja nicht entfernt. Doch wie ein wenig befürchtet war der Stick nicht im Auto.

    Seine Laune besserte sich nicht, als er im Flur vor den Untersuchungsräumen auf Ben traf. "Und?" "Er hat den Stick nicht." Der kleine Kommissar schüttelte den Kopf. "Das gibts doch nicht, Mensch. Im Auto ist er scheinbar auch nicht. Die Kollegen haben ihn nicht gefunden." "Vielleicht rausgeschleudert?" "Ja, das hab ich denen auch gesagt. Aber dann kann er bis auf die Gegenrichtung geflogen sein.", meinte Semir ein wenig niedergeschlagen. "Naja, ist das so wichtig? Schließlich kann niemand etwas mit dem Stick anfangen.", gab Ben zu bedenken und der erfahrene Polizist wankte mit dem Kopf hin und her. Dann schwiegen sie und warteten darauf, dass ein Arzt endlich mit guten Nachrichten kam.


    Plötzlich drehte Semir den Kopf Richtung Ben. "Verdammte Scheisse." "Was ist denn jetzt schon wieder?", fragte Ben irritiert, denn scheinbar hatte sein Partner eine Idee... oder einen Einfall, der aber nicht positiv war. "Hattest du die ganze Zeit Lucas im Auge?", fragte er und Ben dachte kurz nach. "Nein... also die ganze Zeit nicht. Aber er stand doch bei uns, als Jenny verarztet wurde, oder?" "Die ganze Zeit? Ich weiß es nicht, ich hatte mich auf Jenny konzentriert." Die beiden Männer sahen sich an, der junge Polizist wusste, worauf sein bester Freund rauswollte. "Du meinst... er hat den Stick an sich genommen, als wir nicht aufgepasst haben?", sprach Ben es schließlich aus und sofort bestätigte Semir diese Ahnung per Nicken. "Aber warum? Er weiß doch von der Software von Hartmut. Was soll er mit dem Stick anfangen?", entkräftete Semir seine Theorie.

    Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare, wie immer wenn er nachdachte. "Entweder will er die Organisation täuschen...", dachte er laut nach, wurde von Semir durch Kopfschütteln aber bereits verneint. "Glaube ich nicht. Der Typ hat vor nichts Angst, aber das würde er nicht riskieren, nachdem was er mir erzählt hat. Schon alleine wegen seiner Familie." "Dann... hmmm....", dachte Ben weiter und wurde unterbrochen: "Ich glaube eher, dass die auch sehr fähige Leute haben... und vielleicht eine Möglichkeit den Löschmechanismus zu umgehen. Er will dort mit aller Macht raus." In Semir breitete sich ein Gewissenskonflikt aus. "Und jetzt?" "Ich werde mit ihm reden...", sagte der erfahrene Polizist, er mit Lucas auf Augenhöhe kommunizierte, sofort und stand auf. "Du bleibst hier, bis du weißt, was mit Jenny ist. Meld dich!", rier er dann noch und lief den Flur entlang.


    Nur wenige Minuten später kam ein Arzt aus dem Untersuchungszimmer und Ben stand auf. Das Schlimmste befürchten und das Beste hoffen, so waren in diesem Moment immer seine Gedanken. "Sie sind ein Kollege?", fragte der Arzt nochmal sicherheitshalber, was Ben bejahte. "Frau Dorn hatte Glück. Ein Schleudertrauma und eine mittelschwere Gehirnerschütterung durch den Unfall, sowie eine Fissur an der Schädeldecke im Stirnbereich, wo sie der Streifschuss getroffen hat. Dabei hatte sie wirklich wahnsinniges Glück gehabt." Das konnte Ben sich vorstellen... er hatte es am eigenen Leib erfahren. Eine Kugel hatte ihm eine Rippe gebrochen, statt ins Herz einzudringen. Und das war noch nicht lange her. "Ausserdem hat sie sich, scheinbar durch den Aufprall und das Eindrücken der Pedale, den linken Fuß gebrochen."

    "Wie geht es jetzt weiter?" "Sie wird stationär noch ein paar Tage bleiben, danach kann sie nach Köln verlegt werden. Bei den Untersuchungen ist sie auch erwacht, aber wir haben sie jetzt erstmal noch schlafen gelegt bis morgen. Dann sehen wir weiter. Ihr Zustand ist absolut stabil und sie braucht vor allem jetzt noch Ruhe." Ben nickte und war froh, dass es scheinbar nicht so schlimm war. "Was ist mit Christian?" Die Frage war mehr dienstlich, als wirklich persönlich, zu groß war der Groll. "Den hat es besser erwischt. Ebenfalls Schleudertrauma, allerdings nicht so schlimm. Ein paar Schrammen. Medizinisch gibt es keinen Grund, ihn hier zu behalten." Ben nickte und würde sofort eine Streife rufen, die ihn in die nächste JVA bringt. Er tat es ohne Gewissensbisse oder schlechtes Gefühl...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 20:00 Uhr


    Es war mittlerweile spät geworden, es war stockfinster vor der Polizeidienststelle. Der Wind hatte aufgefrischt und es schien sich ein kleiner Herbststurm anzukündigen, der endgültig die letzten bunten Blätter von den Bäumen wehen wollte. Lucas kribbelte es in den Handflächen, als er mit seiner Tochter auf dem Rücksitz und seiner Ex-Frau neben ihm wieder zur Dienststelle fuhr. Die Chefin bestandt darauf, ihn nochmal kurz sprechen zu können... doch der Stick in seiner Tasche brannte wie ein glühender Stab. Das schlechte Gewissen ebenso. Er hatte Semir und Ben geholfen, die beiden hatten ihm geholfen. Und vertraut. Jetzt würde er sie hintergehen, aber verdammt, er musste egoistisch sein. Für seine Freiheit, für seine Familie.

    Die Chefin hielt ihr Wort und die Unterredung kurz. Sie konnte verstehen, dass die Frau und ihr Kind nach diesen traumatischen Erlebnissen, einer Entführung über den großen Teich, so schnell wie möglich wieder nach Hause wollten, und das Lucas deren Rückreise organisierte. Sie bedankte sich bei Lucas für die Zusammenarbeit und schüttelte dessen Hand. Natürlich hegte die erfahrene Chefin ein gewisses Misstrauen gegenüber dem noch unbekannten Mann, doch er hatte ihnen geholfen, warum sollte er jetzt noch die Seiten wechseln.


    Mit schnellen Schritten ging der vermeintliche CIA-Mann zu seinem Wagen. "Und?" "Alles erledigt. Ich fliege mit euch zurück.", gab er seiner Ex-Frau zur Antwort. "Und dann ist Schluss mit alldem. Endgültig... Versprochen.", sagte er mit sanfter Stimme und der berechtigten Hoffnung, vielleicht nochmal einen Turnaround in seinem Leben zu schaffen. Die Hand auf die Gangschaltung gelegt, spürte er darauf die zarten Hände der Frau, mit der er seine glücklichsten Jahre verbracht hatte. Ein kurzes Lächeln huschte über beide Gesichter, und der Mann legte den Rückwärtsgang ein. Gerade, als er rückwärts aus der Parklücke gefahren war, und das Fahrzeug nach vorne Richtung Ausfahrt bewegen wollte, wurde er von Semir überholt, der seinen Dienstwagen quer vor den von Lucas stellte.

    "Was... was ist denn jetzt los?", fragte Marlaine überrascht, aber ohne Angst in der Stimme. Im Dunkeln konnte Lucas Semirs Gesicht erkennen, als dieser die Tür öffnete und das automatische Licht im Fahrerraum aufleuchtete. "Warte kurz.", sagte er und, schaltete den Wagen aus und stieg ebenfalls aus. Er wusste, dass Semir Bescheid wusste. Der kleine Ermittler war nicht auf den Kopf gefallen, und wenn der Stick nicht im Wagen lag, gab es nur eine Möglichkeit wo er hätte sein können.


    Die beiden Männer, beide mit ihrer Kurzhaarfrisur unangreifbar für den aufkommenden böigen Wind, trafen sich zwischen den Autos. Semir hatte eine ernste, aber keine feindselige Miene aufgesetzt, ein wenig das mahnende in Semirs Stimme, wenn er ehemals versuchte, Ben oder Kevin zum Einlenken zu bewegen. Doch dieses Mahnen würde bei Lucas nichts bringen, denn der war in einem anderen Alter und ein anderer Charakter. Der wiederum hatte einen etwas verkniffenen Gesichtsausdruck, der jedoch keinerlei Gefühlsregung verriet. "Du verlässt uns, ohne dich zu verabschieden?", begann Semir erst harmlos, was ein wenig konträr zu seiner Autoblockade war. "Ich denke, du verstehst, dass meine Familie so schnell wie möglich nach Hause will.", sagte Lucas ehrlich. Der kleine Polizist nickte.

    "Du hast uns sehr geholfen." "Ihr mir auch." "Ich weiß... und deshalb sollten wir weiter ehrlich sein. Du hast die Karten auf den Tisch gelegt, also tu es auch jetzt." Die beiden Männer blickten sich an, ohne dass einer von ihnen den Blick senkte. Wie bei einem Duell im Wilden Westen... wer blinzelte, würde sterben. "Also... hast du den Stick?" "Ist er nicht im Auto?", fragte Lucas und hätte sich für die Dämlichkeit seiner Frage selbst ohrfeigen können. Diesmal konnte Semir den mahnenden Blick nicht verhindern.


    "Semir, ich brauche den Stick. Er wird keinen Schaden anrichten, wenn die Organisation ihn hat. Sie werden die Beweise gegen mich nur vernichten, wenn ich ihnen den Stick liefere.", schenkte Lucas dem Polizisten dann doch schnell reinen Wein ein. Es brachte ja alles nichts. Und er betete, dass Semir einlenken würde. Denn ansonsten hatte er eine weitere Flucht vor sich, und er würde es nur schwer übers Herz bringen, Hand oder Waffe gegen Semir zu erheben. Aber er würde es tun, für seine Freiheit. "Wie stellst du dir das vor, Lucas? Was soll ich der Chefin sagen? In den Berichten schreiben? Lucas O'Connor oder Blake, wie auch immer, hat den Stick zu seiner Organisation gebracht, alles in Ordnung?" Er schüttelte dabei den Kopf.

    Lucas sah kurz zur Seite, er konnte Semir natürlich verstehen. "Schreib, dass ihr den Stick nicht finden konntet. Dass er zerstört wurde beim Unfall... irgendwas.", sagte er dann und blickte Semir erneut an. "Die Organisation wird mich jagen. Vielleicht wird sie auch meine Familie jagen. Oder ich muss weiterhin für sie arbeiten." Dabei schüttelte er den Kopf. "Ich will mein altes Leben zurück. Mit meiner Familie... aber das geht nur, wenn ich der Organisation den Stick liefere."


    "Lucas..." "Du hast gesagt, du hast selbst Familie. Semir, du würdest das Gleiche tun." Mit diesem Vergleich erwischte man Semir immer. Ja, er würde vermutlich für seine Familie das Gleiche tun. Er wusste nicht, inwiefern er für seine Verfehlungen geradestehen würde, denn so etwas wie Lucas hatte er nie erlebt. "Vor allem... nach deiner Entscheidung damals... deine Familie zu opfern. Du würdest es nicht noch einmal tun, ganz gleich wieviele Menschenleben daran hingen." Lucas Stimme klang eindringlich und Semirs braune Augen hatten den Mann fixiert. "Ich im Gegensatz weiß, dass niemand sterben wird, wenn ich den Stick der Organisation übergebe. Aber du musst mir vertrauen." "Ich weiß aber auch, dass niemand sterben wird, wenn ich den Stick über den offiziellen Weg übergebe.", entgegnete ihm Semir.

    Lucas presste kurz die Lippen zusammen. "Doch. Ich werde dann sterben." Wieder herrschte Stille, nur der Wind jammerte immer lauter und das Rauschen der Autobahn waren die Geräuschkulisse. "Auf vielfachen Mord und Kriegsverbrechen steht in Amerika immer noch die Todesstrafe. Oder die Organisation erledigt das." Semir atmete hörbar aus. "Bitte Semir. Du siehst mich nie wieder und wirst niemals mehr etwas vom Projekt IX hören. Lass mich und meine Familie gehen, und lass mich meinen Auftrag beenden. Bitte!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Krankenhaus - 20:45 Uhr


    Immer wieder war Ben in einen leichten Schlaf gefallen. Er konnte sich nicht von Jennys Krankenbett losreißen, es band ihn die Verbundenheit zu der jungen Frau. Sie waren mehr als Kollegen, mehr als Freunde. Ausserdem drückte Ben das schlechte Gewissen. Sie war verletzt worden, als Geisel in der Hand seines Cousins. Als sei der Polizist mitverantwortlich dafür, weil der Täter aus seiner Familie stammte. Weil er seinem Cousin half, nicht bewusst dessen dass vieles von ihm genauso eingefädelt war, ausser dass sie von den Asiaten gefangen genommen wurden. Und so fühlte sich Ben nun in der Zeit einige Wochen zurückversetzt, als er auf dem Krankenhausflur stand, durch das Zwischenfenster starrte und Jenny an Kevins Bett sitzen sah. Wie sie seine Hand hielt, seine Haare streichelte - und am Ende doch alles umsonst war.

    Auch er hatte nun das Gefühl, dass etwas Schlimmes passieren würde, wenn er jetzt einfach fahren würde, und so war er geblieben. Eine Stunden, zwei Stunden. Er wartete auf Semirs Anruf, und obwohl die Sehnsucht ihn eigentlich in die Arme seiner Freundin Carina treiben sollte, bei der er sich vorher gemeldet hatte, so konnte er Jenny jetzt nicht alleine lassen. Auch wenn die freundliche Krankenschwester im hoch und heilig versprach, besonders gut auf die Polizistin aufzupassen, und die Verletzungen nicht lebensbedrohlich waren.


    Wieder war er eingenickt auf dem wackeligen, unbequemen Krankenhausstuhl, diesmal ließ ihn sein Handy-Klingelton aufschrecken. Jenny rührte sich nicht, doch sie atmete weiterhin gleichmäßig, so dass Ben unbewusst aufatmete und das Gespräch annahm. Als könne er die junge Kollegin wecken, dämpfte er seine Stimme. "Semir?" "Ja, ich bins. Bist du schon zuhause?" "Ich... Nein. Ich bin noch bei Jenny.", sagte Ben gedämpft. Er meinte, Semirs hochgezogene Augenbrauen sehen zu können, obwohl sie sich natürlich gerade nicht anschauten. "Wieso denn das?" "Ich weiß nicht. Ich komm einfach nicht hier weg." Semir presste die Lippen aneinander, eine Mischung aus Kopfschütteln und Verständnis für seinen Partner.

    "Ben, komm schon. Ihre Verletzungen sind nicht lebensbedrohlich, und wir fahren morgen früh sofort wieder hin. Sie ist in den besten Händen. Und nach all dem, was in den letzten Tagen passiert ist, wäre es wirklich am besten für dich, wenn du so schnell wie möglich zu Carina fährst - sofern sie noch nicht die Schlösser ausgetauscht hat." Semirs kleiner flapsiger Spruch am Schluss zauberte Ben ein kleines Lächeln ins Gesicht. "Ich war in den letzten Tagen ein A.rschloch, oder?" Semir nickte. "Und kein kleines, mein Freund."


    "Was ist mit dem Stick. Hatte Lucas ihn?" Ben konnte beinahe spüren, wie sich die Stimmungslage am anderen Ende der Leitung von der Erleichterung zu einer gewissen Schwere änderte. "Semir?", fragte er, als auch nach einer halben Minute keine Antwort kam. "Hmm. Ja... also... ich denke ja. Ich denke, er hatte ihn." "Was heisst, ich denke? Was hat er gesagt?" Wieder eine Pause. Warum fiel es Semir so unglaublich schwer, diese Fragen zu beantworten? Was war vorgefallen? "Er sagt, dass er den Stick hat." Die Stimme seines langjährigen Partners klang unglaublich schwer, beinahe fremd. Bens Augen zuckten durch den Raum, als suchten sie eine Erklärung für das merkwürdige Verhalten. Doch sie blieben nur an medizinischen Geräten, Jennys Bett oder der Wand hängen.

    "Hat er dir den Stick gegeben?", fragte er, bemüht ruhig. "Nein." Nein?, hallte es in Bens Kopf weiter. "Semir, verflucht! Was ist mit dir los? Was ist passiert?" Es dauerte nach Bens Empfinden unglaublich lange, bis Semir eine Antwort gab, und sie kam zögerlich, stockend. "Ben... glaubst du dass es nur richtige und falsche Entscheidungen gibt?" Ben schluckte, das Handy in seiner Hand fühlte sich an wie ein glühendes Stück Metall. Eigentlich stellte er seinem erfahrenen Partner solche Fragen. "Nein, das glaube ich nicht." Es war wie eine Bestätigung, die Semir gebraucht hatte. Ben würde ihm keinen Vorwurf machen. "Ich glaube, ich habe heute eine Entscheidung getroffen, die gleichzeitig richtig und falsch war... oder nichts von beidem. Ich weiß es nicht..."



    Jennys Wohnung - 23:00 Uhr


    Das Bett war leer, der ganze Raum dunkel. Draussen peitschte der Wind den Regen an die Fensterscheibe und ließ die halb heruntergelassenen Rolläden erzittern. In dieser Wohnung erinnerte nur der Koffer im Schrank und ein einziges Bild auf der Anrichte an Kevin. Jennys Gedanken an ihn waren stattdessen in ihrer alten Wohnung, wo sie einige schöne Stunden verbracht hatten, sich gestritten haben und einprägende Momente erlebt hatten. Die schlimme Nacht, als er die Tasche gepackt hatte, bevor er nach Kolumbien fuhr. Der Moment, in dem Kevin sein ganzes Leben in eine andere Bahn hätte lenken können.

    Jetzt im Moment war Jennys Wohnung verlassen, denn sie lag im Krankenhaus. Das Bett verwaist und zerwühlt, der kleine Apparat mit der Anrufbeantworterstation auf der Küchenanrichte. Jenny war der Typ Mensch, der der Meinung war "Wenn es wichtig ist, ruft er oder sie bestimmt nochmal an", Mailbox-Nachrichten hörte sie im Monatstakt ab, oder wenn der Speicher voll war. So nahm sie oft gar nicht wahr, wenn das rote Licht blinkte. Jetzt hallte der Klingelton durch die leere Wohnung, den sie sich ausgesucht hatte. Es klingelte einmal, zweimal, dreimal, viermal. Bis Jennys Stimme durch den Raum klang, fröhlich und locker, den Spruch aufgenommen als ihr Leben noch nicht nach und nach in kleine Scherben, die aus einer Vergewaltigung, Verlust, Kindestod und Trauer zerfiel. "Hier ist der automatische Anrufbeantworter von Jenny Dorn. Ich bin gerade nicht erreichbar, aber du kannst mir gerne eine Nachricht nach dem Piepton hinterlassen." Das Piepen erklang nur kurz und wurde von einem unheimlichen Rauschen abgelöst. Ein Rauschen, das klang als würde sich der Anrufer entweder unter Wasser befinden, oder an einem Ort mit ganz schlechtem Netz. Schwach war ein rasselndes Atmen, beinahe ein Röcheln zu vernehmen, des zitternd klang. Und dann, schwach, tonlos, zwei Worte: "Hilf mir...", bevor das Gespräch abbrach.



    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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