Verloren

  • Köln - gleiche Zeit



    Claus Frege hatte sich, für die beiden Polizisten, denkbar schlechteste Fluchtauto ausgewählt. Ein schwerer Sattelschlepper, dazu noch mit einigen Autos beladen, bedeutete Lebensgefahr für alle Verkehrsbeteiligten. Und auf solche nahm Claus in der Minute des psychischen Ausnahmezustandes auch keinerlei Rücksicht. Deswegen hatte Semir sofort das Gefühl, dass er auf dem LKW mehr ausrichten konnte, als mit Ben im Dienstwagen dahinter. Die Anstrengung des Sprints merkte er in solchen Momenten nicht, genauso wenig stellte er mathematische Berechnungen an, wann er jetzt vom Asphalt abspringen musste, um definitiv die Kante des LKWs zu erreichen, an der er sich jetzt festklammerte. In solchen Situationen verließ er sich voll und ganz auf sein Gefühl, und dieses ließ ihn auch diesmal nicht im Stich.
    Hinter sich hörte der kleine Polizist sofort Reifengequietsche und Sirenengeheul. Er blickte sich kurz um, konnte über die Schulter aber wenig erkennen ob sich jetzt Streifenbeamte oder Ben an seine Fersen hefteten. Er ergriff den weiteren Verlauf der Metallteile, die zum Auffahren auf den LKW da waren, bis er endlich auch an den Füßen einen sicheren Stand hatte. Dann atmete er für einen Moment durch, er stand jetzt direkt hinter einem kleinen Toyota, der als letztes auf der unteren Ladefläche stand. Dann sah er sich um und blickte fast direkt in Bens fragendes Gesicht, der direkt hinter ihm fuhr.



    Lange konnte der kleine Polizist aber nicht verschnaufen, denn plötzlich machte der LKW einen Ruck, der Semir straucheln ließ. Reflexartig griff er nach irgendwas haltbaren, genügend Gestänge links und rechts von ihm waren vorhanden. Der Grund für das Rucken kam sofort für ihn ins Bild, als der LKW und danach die Polizeikolonne einen Kleinwagen überholten, der entgegen der Fahrtrichtung stand, mit eingedrücktem Kofferraum. Scheinbar hatte Frege den Wagen gerammt, ein Streifenwagen bremste sofort um sich um eventuell Verletzte zu kümmern. Die Bewegungen des LKWs hatten sich noch nicht beruhigt, da spürte der erfahrene Kommissar erneut, wie die physikalischen Kräfte an ihm rissen, als Frege an einer Kreuzung rechts abbog. Gemerkt, dass er einen blinden Passagier an Bord hatte, schien er noch nicht zu haben.
    Semir dachte nach. Solange sie in der Stadt seien, konnte er nicht angreifen, das Risiko eines Unfalls war viel zu hoch. Er hoffte, Frege würde auf die Landstraße flüchten, besser als die Autobahn. Weil dieser den Verkehr doch eher hinderlich fand, entschied sich der Flüchtige ebenfalls für diesen Plan und steuerte den Autoaufflieger auf eine Straße, die aus Köln herausführte, und auf der nur wenig Verkehr war. Semir atmete auf, er hielt sich immer noch an den Gestänge des "zweiten Stocks" fest, des Oberrangs wo weitere Autos standen. Dann griff er zu seinem Handy.



    Natürlich klingelte es sofort bei Ben im Auto, der abhob. "Was ist denn jetzt?", rief er gehetzt, während er versuchte an dem flüchtenden LKW dran zu bleiben. "Komm auch rauf! Wir müssen ihn von zwei Seiten überraschen, ich hab keine Lust mit ihm im Graben zu landen!", rief Semir und sah Ben dabei an, der die Lippenbewegung seines Partners sah und verzerrt am Hörer seine Stimme hörte. "Wie soll ich das machen? Hier ist keine Leitplanke, um den Wagen einzuklemmen." Er beobachtete, wie der kleine Polizist sich gehetzt umsah. Sie mussten Frege stoppen, bevor es zu weiteren Unfällen kam. "Na dann fahr halt auf?" "Wie bitte?" Er sah wie Semir sich bis zu dem Bedienbord des LKW-Aufliegers hangelte und begann, die beiden Schienen zum Auffahren herunter zu lassen. Der LKW war zum Glück älter, so dass man dies noch nicht vom Führerhaus steuerte, und es dort auch keine Meldung gab, was da hinten passierte. Frege sah und hörte im Rückspiegel nur die Sirenen der Verfolger, aber nicht was auf seinem Aufflieger vor sich ging.
    Die Autos waren zum Glück nicht abgesperrt. Semir öffnete von dem hinteren unteren Wagen die Tür, löste die Handbremse und nahm den Gang heraus. Gehalten wurde der Wagen nun nur noch von zwei Spanngurten, die um die Vorderreifen gebunden waren. Während der gesamten Aktion musste er sich immer wieder festhalten, wenn der LKW durch Kurven fuhr und der Fahrtwind riss an seinen Klamotten.



    Er machte Ben ein Zeichen, dass dieser Abstand halten sollte und wartete bis zu einer Linkskurve. Den ersten Spanngurt schnitt er vorher durch, den zweiten als sie in der Linkskurve waren, so dass der Kleinwagen gefahrlos geradeaus ins Feld rollte. Ben fuhr daran vorbei und schüttelte den Kopf. "Ein Typ..." Ein Parkplatz auf dem LKW war jetzt frei für Ben, Frege sah währenddessen immer öfters in die Seitenspiegel, denn das er ein Auto verloren hatte, bekam er natürlich mit. Der Polizist mit dem Wuschelkopf nahm etwas Abstand, bevor er das Gaspedal ganz durchdrückte und mit Schwung auf den LKW-Auflieger fuhr. Das Auto tat einen Schlag, er setzte vorne einen Moment auf denn normalerweise fuhr man mit geringerer Geschwindigkeit auf einen solchen Anhänger. Am Dienstwagen hinterließ die Aktion böse Schrammen unterhalb der Frontlippe.
    Ben zog die Feststellbremse, die Beamten, die dem LKW immer noch folgten, wunderten sich nicht schlecht. Semir zog seine Dienstwaffe, Ben tat es ihm gleich, nachdem er ausgestiegen war. "Und jetzt?" "Du lenkst ihn an der Beifahrertür ab, ich schlag ihn an der Fahrertür KO." "Klingt nach nem simplen Plan.", bemerkte Semirs bester Freund, und die beiden hangelten sich langsam während der Fahrt an beiden Aussenseiten des Transporters entlang, bis sie knapp hinterm Führerhaus waren. Frege allerdings hatte im linken Rückspiegel Semir bereits gesehen, die Waffe in der Hand und entsichert.



    Doch zunächst wurde er durch Klopfen am Fenster der Beifahrertür aufmerksam. Ben zielte durch die geschlossene Scheibe auf Frege und rief, gedämpft durch das Glas, laut "Anhalten! Sofort anhalten!" Frege wäre der erste Flüchtende, der sich an die Anweisung von Ben gehalten hätte, und so zielte er seinerseits auf die offene Scheibe. Ben hatte natürlich damit gerechnet und schwang sich wieder ein Stück zurück vom Fenster, als die Waffe knallte und die Fensterscheibe splitterte. Genau in diesem Reflex riss Semir die Fahrertür auf, holte mit der Waffe aus und schlug zu, doch als hätte Frege damit gerechnet duckte er sich zur Seite weg, so dass der Hieb des Polizisten ins Leere ging. Noch bevor Semir realisierte, dass sein Plan gerade dabei war, zu scheitern, zielte der Polizist auf der Flucht und drückte ab. Ein stechender Schmerz in Semirs Oberarm, der die Waffe hielt, die klappernd zu Boden fiel war die Folge.
    Schnell schwang er sich ebenfalls wieder ins Freie, zum Glück hatte Frege nicht in den Arm geschossen, mit dem er sich festhielt... Semir wäre unweigerlich aus dem LKW auf den Asphalt gestürzt. "Fuck...", zischte er, als ihm ein wohlbekanntes Brennen im Arm deutlich wurde und er spürte das warme Blut bis zur Hand laufen. Er war jetzt unbewaffnet, beide waren wieder knapp hinter dem Führerhaus, und jetzt begann Frege wilde Schlangenlinien zu fahren, um die lästigen Verfolger im wahrsten Sinne des Wortes "abzuschütteln."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 12:45 Uhr



    Die Nächte schienen Jenny ewig. Sie lag im Bett, wälzte sich verschwitzt herum und hatte das Gefühl, eine Flut von Bildern würde sie krampfhaft wach halten, immer wenn sie gerade im Begriff war, einzuschlafen. Gerade dann, wenn sie das Gefühl hatte, endlich wegzudösen, sprang ein neues erschreckendes Bild vor ihre Augen... Kevin blutverschmiert, Kevin in Atemnot auf dem Asphalt liegend, oder Kevin, der eine Waffe auf sie richtete. Die junge Polizistin glaubte, ständig würde ihr Gehirn ihr Dinge aus der Vergangenheit vorgaukeln. Ins Gedächtnis rufen. Aber immer waren es negative Dinge, nie einen schönen Moment den sie mit Kevin verbracht hatte, nie eine zärtliche Berührung, ein Kuss, ein Lachen des jungen Polizisten.
    Jetzt, nach dem Anruf von Juan, fühlte sie sich unendlich müde. Kaum Schlaf letzte Nacht, der aufregende Tag davor... wenn sie nächtliche Einsätze hatte, hatte sie damit nie Probleme. Sie war dann auf Achse, aktiv und unterwegs, konnte dabei die Müdigkeit unterdrücken. Doch jetzt im Krankenzimmer, immer sitzend dicht bei Kevin hatte sie keine Möglichkeit, die Müdigkeit irgendwie weg zu schieben. Am liebsten würde sie sich zu ihrem Partner ins Bett legen, sich dicht an ihn kuscheln und von ihm beschützt werden... so wie früher.



    Ihre Hand streichelte unablässig zärtlich über den Handrücken von Kevin. Die Beatmungsmaschine gab ohne Unterbrechung Töne von sich, gnadenlos. Auch die Pieptöne des Überwachungsmonitors blieben konstant, Jenny hatte den subjektiven Eindruck, dass sie langsamer waren seit Kevins Blutwerte sich verschlechtert hatten. Doch die Krankenschwestern und -Pfleger hatten ihr immer wieder versichert, dass soweit alles in Ordnung war... soweit man den jetzigen, kritischen Zustand auf der Intensivstation "in Ordnung" nennen konnten. Keiner wollte sich aus dem Fenster lehnen, ob Kevin überlebt. "Komplikationen können immer auftreten. Eine Infektion ist so eine Komplikation.", sprachen die Götter in Weiß in Ärztesprache. Aber was sollten sie auch sonst sagen?
    Jenny hatte den Kopf auf die Matratze dicht neben Kevins Oberkörper gelegt und die Hand unter die des schwer verletzten Polizisten geschoben. Das Piepen erschien für einen Moment weit weg, als sie die Augen schloß und leise atmete. Sie konnte am Kopf spüren, wie Kevins Brustkorb sich hob und senkte, friedlich als würde er schlafen. So wie früher, da hatte sie den Kopf auch auf seine Brust gelegt, statt daneben und konnte am Ohr deutlich sein Herz schlagen hören. Dann fühlte sie sich sicher und hatte das Gefühl, dieses Herz schlug für sie und würde niemals aufhören solange sie zusammen waren.



    Plötzlich erschrak sie, denn die Hand auf ihrer kleineren Hand hatte sich bewegt. Jenny riss die Augen auf, hob den Kopf und blickte zu Kevin. Die Hand zog sie nicht weg, denn es fühlte sich plötzlich so vertraut an, so unglaublich gut. Heiß und kalt lief es ihr den Rücken herunter, als sie in das Gesicht ihres Freundes blickte, das ein wenig verdeckt war vom Beatmungsschlauch und der Sonde in der Nase. Aber sie konnte ganz klar erkennen, was passiert war... Kevin hatte die Augen geöffnet und blickte unsicher hin und her. "Kevin...", flüsterte Jenny und ihre Hand begann unter der von Kevin zu beben, als dieser wie im Reflex, als seine Augen die junge Polizistin erblickten, seine Hand mehr um die von Jenny schloß.
    Das Piepen am Monitor nahm ein wenig zu, Jenny kannte den Warnton, wenn es für ihren Freund gefährlich wurde. Doch noch schien alles in Ordnung... er wurde wach. "Kevin... kannst du... kannst du mich hören?", sagte sie leise und bemühte sich, nicht zu aufgeregt zu wirken. Der junge Mann nickte nicht, er schloß nur die Hand noch fester um die von Jenny, und die junge Frau blickte tief in das Hellblau seiner, oftmals kalt wirkenden Augen, die aber eine große Faszination auf sie auswirkten.



    Jenny war oft in diesen Augen versunken, und sie kannte viele Eindrücke seines Blickes. Wut, Trauer, Zorn, Freude, Melanchonie... auch Panik. Aber nie hatte Kevin diesen Ausdruck in seinen Augen. Er hatte ihr vor langer Zeit, als sie noch zusammen waren, erzählt, dass er nichts benennen könnte, vor was er sich fürchtete. Ausser einer Sache: Alleinsein. Er hatte Angst davor, alleine zu sein, was mit seiner Vergangenheit, seiner Kindheit, zu tun hatte. Nicht das Alleinsein in einem Haus, in seiner Wohnung oder im Auto... sondern das "Verlassensein", niemanden zu haben, an dem er sich festhalten kann, oder - und das war noch wichter - für den er selbst da sein könnte. Diesen Zustand durchlebte er einige Jahre nach Janines Tod, und diese Zeit löste diese Angst aus.
    Jetzt hatte er diese Angst in seinen Augen, das bildete Jenny sich ein. Sie glaubte es zu erkennen, als würde der Blick sprechen. "Ich bin bei dir, Kevin. Ich lasse dich nicht alleine, egal was passiert. Das habe ich dir versprochen.", flüsterte sie und streichelte durch seine stacheligen abstehenden Haare. Sein Blick haftete an Jennys Gesicht, doch die Angst in den Augen verschwand nicht. Er konnte nichts sagen, er konnte sich nicht bewegen, nur seine Hand hielt Jennys Hand und seine Augen sagten mehr als tausend Worte.



    "Pass auf... ich bin bei dir. Ich rufe nur einen Arzt, ja? Ich bin sofort wieder da.", sagte die junge Frau und schien ein wenig Erleichterung in seinem Gesicht ausmachen zu können. Sie selbst musste sich zurückhalten, nicht aus dem Zimmer zu rennen und ging langsam und gemäßigt, immer wieder zu Kevin blickend bis zur Tür. "Hallo! Hallo!!", rief sie und sofort erschien das Gesicht einer Krankenschwester aus einer Tür. "Mein Freund... er ist aufgewacht! Er hat die Augen geöffnet.", sagte Jenny aufgeregt und die erfahrene Krankenschwester kam mit schnellen Schritten in das Krankenzimmer. Jenny ließ ihr den Vortritt, drehte sich um prallte zurück. Ihre Gesichtszüge vereisten, das leichte, erleichterte Lachen um ihre Lippen erstarb.
    Der Piepton klang genauso wie vorher... nicht schneller und nicht langsamer. Kevin lag ruhig, mit geschlossenen Augen im Bett... genauso, wie zu dem Zeitpunkt, als Jenny ihren Kopf neben ihn gelegt hatte. Seine Hand war offen und entspannt. "Frau Dorn... Frau Dorn?", hörte sie die Stimme der Krankenschwester ganz weit weg. Sie konnte an Kevins Zustand keine Veränderung feststellen, und ein Erwachen aus dem Koma wäre von den Geräten aufgezeichnet worden. Jenny konnte zwischen Traum und Realität nicht unterscheiden. "Frau Dorn, sind sie vielleicht neben dem Bett eingeschlafen?" Die junge Polizistin stand stocksteif im Raum, blickte auf das Gesicht von Kevin und spürte, wie sich die Klammer um ihre Brust wieder enger zog...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Landstraße - 12:50 Uhr



    Nun wurde es für Unbeteiligte doch brandgefährlich, und es war genau das was die beiden Autobahnpolizisten vermeiden wollten... und sollten. Frege Schlangenlinien gingen weit über den durchgezogenen Strich der Mittelmarkierung hinaus und mehrmals mussten entgegenkommende Fahrzeuge dem schlingernden LKW ausweichen. Ben und Semir klammerten sich hinter dem Führerhaus an das Stahlgestänge der Auflieger fest, Semir musste aufgrund den Schmerzen in seinem Arm auf die Zähne beißen. "Wäre langsam Zeit für nen Plan, hä?", rief Ben ihm gegen den Fahrtwind und das Quietschen der Reifen laut zu. "Der fährt hier Amok!" Semir nickte heftig und strengte den Kopf an. Er sah sich um... konnte er hier irgendwas gebrauchen, um den LKW möglichst gefahrlos für sich und seinen Partner zu stoppen?
    "Ein paar Kilometer ist doch der Steinbruch, oder?", rief Ben dann irgendwann. "Ja und?" "Die haben dort doch große Baumaschinen! Damit könnten wir eine Straßensperre errichten!" "Dann wird er einen Umweg nehmen! Das Land dort ist völlig flach, eine Straßensperre würde er sehen. Kurz davor sind zwei Kreuzungen, da müsstest du acht Straßen sperren!", rief Semir ihm zurück. Sie blickten beide zum Führerhaus, natürlich waren die Fenster offen. "Fuck...", murmelte der junge Polizist und kletterte näher zu Semir. "Ich hab ne Idee. Vertrau mir! Du musst hier bleiben, und mir Bescheid sagen, falls er die Route ändert!" Die Antwort war ein mahnender Blick von Semir... aber natürlich vertraute er seinem besten Freund.



    Ben kletterte sogleich zu dem Dienstwagen zurück, startete ihn und ließ ihn langsam wieder die Ladefläche herunterrollen. Er legte den Leerlauf ein, damit die Hinterräder sofort mitliefen, damit das Getriebe nicht kaputtging, als die Räder den Asphalt berührten. Dank seiner Fahrkunst konnte er den Wagen stabilisieren, bis er komplett auf dem Asphalt war, dann gab Ben Gas und überholte den Auto-LKW, als dieser gerade wieder auf die eigene Spur zurückschwenkte. Semir kletterte unterdessen unbemerkt ans hintere untere Ende des LKWs um sich hinter dem letzten PKW auf der unteren Etage zu verstecken. Es klappte. Die Schlingerbewegungen ließen nach und Frege glaubte, beide hätten wieder den Abflug gemacht. Jetzt würde er vermutlich bald mit den ersten Straßensperren rechnen... ob SEK oder Baumaschinen.
    Semir schaffte es, sich so gut es ging festzuhalten und das Handy zwischen Schulter und Ohr zu klemmen. So konnte er mit Ben kommunizieren. "Wir fahren immer noch auf der Landstraße ostwärts, sind noch nicht abgebogen. Wo bist du?" "Ich brauch noch ne Minute bis zum Steinbruch! Schau mal, ob du eins der Autos kurzschließen kannst, denn du musst auch irgendwann runter von der Karre!" "Alles klar.", gab Semir zurück und steckte das Handy ein, ohne aufzulegen. Dann begann er an einem der Autos rumzuhantieren, um sich dann wie sein Partner vorher ebenfalls im richtigen Augenblick von der Rampe rollen zu lassen.



    Der wiederrum hatte sich in Windeseile aus dem Sichtfeld des LKWs entfernt. Zu seinem Glück führte die Landstraße zuerst noch durch ein Waldgebiet, wo sich auch die beiden Kreuzungen befanden, bevor es direkt nach den letzten Bäumen rechts in einen Feldweg zum Steinbruch ging. Ben musste sich beeilen, denn er hatte nicht viel Zeit. "Seit ihr schon im Wald?", rief er in den Apparat und hörte nur ein, von Windgeräuschen verzerrtes "Nein! Aber bald!" Ben bremste und veriss das Lenkrad, der Wagen rumpelte in den Feldweg und seinen Herz machte einen Hüpfer. Direkt zu Beginn stand der erste, große Kipplaster, bei dessen Anblick kleine Jungen feuchte Augen bekamen. Er lenkte den Dienstwagen, der bereits nach den ersten Metern durch den wieder getrockneten Boden völlig verstaubt war, an die Seite und sprang in höchster Eile heraus.
    Einer der Arbeiter blickte ihn etwas arggewöhnisch an, als er mit gezogenem Dienstausweis angerannt kam. "Autobahnpolizei, Jäger! Ich müsste mir mal ganz kurz ihr Gefährt ausleihen! Es ist dringend!!" Bevor der Arbeiter sich irgendwelche Widerworte ausdenken konnte, gab Ben seinem Anliegen mit einem "Na los!! Den Schlüssel!!" Nachdruck. Dann kam auch in den Mann Bewegung, der sogleich in seine Hose griff und Ben den Schlüssel zu warf. "Können sie mit so einem Ding überhaupt umgehen???", rief er ihm noch zu als er beobachtete, wie der drahtige junge Mann ins Führerhaus kletterte. "Auto ist Auto!"



    In der Tat... Schlüssel herumdrehen, Anlasser drücken... Ben hatte schon mehrere LKWs gefahren, insofern hatte er kein Problem das schwere Arbeitsgerät in Gang zu bringen. Zum Glück musste er nicht wenden und rollte im Schutz der Bäume langsam bis zur Landstraße heran. "Semir?", rief er in den Apparat. "Ja?" "Wo seid ihr?" "Sind jetzt an der ersten Kreuzung vorbei!" "Kommt euch jemand entgegen?" Er hörte den Stress, den Semir gerade hatte. "Woher soll ich das wissen?" "Dann schau halt nach, Mensch!!" Der kleine Polizist stieg nochmal halb aus dem bereits kurzgeschlossenen laufenden Wagen um über das Führerhaus hinweg auf die Straße zu blicken. Er sah die zweite Kreuzung und dahinter die gerade Strecke aus dem Wald heraus. "Nein! Es kommt niemand!" "Dann schau dass du vom Karren kommst, und sag mir wenn der LKW die Kreuzung passiert hat!"
    Er konnte übers Handy das Aufheulen von Semirs Auto hören, das Geklapper als er die Schienen herunter rollte und das Quietschen der Reifen, als er auf den Asphalt traf. Semir ging nicht so zögerlich um wie Ben. "Kreuzung passiert!!", schallte es aus Bens Hörer, und er verließ sich rein auf sein Zeitgefühl und Intuition. Es war gefährlich, denn de facto riskierte er einen Zusammenstoß, doch er musste Frege von der Straße kriegen. Und so ließ er die Kupplung einrasten und der große Kipplaster machte einen Satz nach vorne.



    Es war pure Reaktion... natürlich kannte Frege diese Strecke und wusste, dass hinter dem Wald die gefährliche Einmündung zum Steinbruch lag. Dass es dort wegen der Uneinsehbarkeit ständig zu Unfällen kam, wussten aber vor allem Ben und Semir. Jetzt sah Frege nur, wie ein großer Kipplaster mit Schwung aus der Einmündung gerollt kam und seinen Weg kreuzte. Ben hatte alle Muskeln gespannt, den Türgriff schon in der Hand um eventuell noch abzuspringen, doch Frege reagierte wie jeder Autofahrer reagierte, wenn er noch Zeit dazu hatte... und die hatte Frege. Er veriss das Lenkrad des schweren LKWs, diesmal anders als vorher, diesmal unkontrolliert. Die schweren Reifen frassen sich in den Asphalt, es dröhnte, quietschte und der leistungsstarke Motor heulte auf.
    Semir konnte die Szene von hinten beobachten und wusste aus Erfahrung, dass das schief ging. Einen solchen LKW zu halten nach einem Ausweichmanöver bedurfte Erfahrung und Fahrkunst... und Frege hatte im LKW weder das eine, noch das andere. Die linken Räder kippten über den Straßenrand in den Graben, der Rest des LKWs folgte mit lautem Krachen und Getöse. Auf der Fahrertür gelegen, eingehüllt in Staub und Dreck des Ackers kam der Autoauflieger zum Liegen, Ben stand mit dem Kipplaster halb auf der Landstraße und Semir brachte den, vorher aufgeladenen Kleinwagen mit quietschenden Reifen neben dem LKW zum Stehen. "Game Over...", murmelte Ben erleichtert, dass seine Aktion geklappt hatte.



    Gerade als der kleine Polizist mit gezückter Waffe um den LKW herumlief, wurde von innen die Rettungsklappe am Dach des Führerhauses aufgedrückt und hinterlässt im Acker eine kleine Staubwolke. "Ganz langsam! Ich will die Hände sehen!!", machte Semir sofort klar, nicht lange zu fackeln. Aber Frege war nicht mehr zumute für eine Auseinandersetzung, ausserdem hatte er bei dem Unfall im Führerhaus seine Waffe verloren. Als Rauch vom Motor aufstieg bekam er Panik und verspürte nicht das Interesse, die Waffe nochmal zu suchen. Es erschienen Hände, ein blutendes Gesicht und Stück für Stück krabbelte der Leiter der Mordkommission aus dem umgekippten Laster stöhnend in den Acker. Ben kam im Laufschritt um den LKW herum und sah dass Semir alles unter Kontrolle hatte. "Ich ruf nen Krankenwagen.", sagte er noch und zog sein Handy während sein erfahrener Kollege kein Risiko einging. Trotz Freges leichter Verletzung legte er ihm Handschellen an...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Charmin - 18:00 Uhr



    Als Anis an diesem frühen Abend die Türen seines Clubs aufsperrte, hatte er keinen blassen Schimmer, wie dieser Abend sich entwickeln würde. Es schien auch alles wie immer... niemand war in dem Gebäude, in dem es in zwei Stunden losging mit dem Abendbetrieb. Er war stets der Erste - und wer auch nur wenige Tage für ihn arbeitete, wusste das. Anis durchschritt den dunklen großen Raum, machte sich hinter der Bar Licht um dann aber zuerst in sein Büro zu gehen. In seinem Terminkalender hatte er aufgeschrieben, ob er irgendwelche "besonderen" Gäste heute haben würde. Seine Laune war gut... schließlich war ihm das Attentat auf Kevin gelungen. Ob schwer verletzt oder tot... eine Schlacht war geschlagen, wenn auch der Krieg noch nicht gewonnen. Alles eine Frage der Zeit.
    Als er seine Bürotür öffnete und das Licht anschaltete, wich er zurück. "Was zum Teufel machst du hier?", zischte er mit zorniger Stimme, als er den jungen, braungebrannten Mann mit dem Pferdeschwanz entdeckte, der es sich hinter seinem Schreibtisch auf Anis Stuhl gemütlich gemacht hat. Frech hatte er die Schuhe auf den Tisch gelegt, in seiner Hand hielt er ein Glas Whisky. "Hola, mi amigo. Ich hab nur auf dich gewartet.", sagte Juan in all seiner Seelenruhe und er lächelte in Richtung des Tunesiers.



    "Du hast in meinem Büro nichts verloren, Alter. Wie bist du überhaupt hier reingekommen.", sagte Anis und er konnte nicht abstreiten, dass er den Kolumbianer für einen äusserst fähigen Mitarbeiter hielt... wenn er ihn auch für ziemlich dumm hielt, und glaubte, er könne ihn mit der Bezahlung öfters übers Ohr hauen. Um Infos zu bekommen hatte der das Spiel mit guter Miene mitgespielt... sei schlau, stell dich dumm. "Du hast mich als Einbrecher engagiert, da ist es doch wohl ein Leichtes hier in deinen Laden zu kommen.", sagte er grinsend. Anis' Laune sank langsam und mit zwei schnellen Schritten war er bei Juan, um ihn am Kragen hochzuziehen. Dabei verschüttete der Kolumbianer etwas von seinem Whisky und Anis konnte nur für ihn hoffen, dass es nicht sein Teuerster war.
    "Los, verpiss dich. Ich hab zu arbeiten.", sagte er und schubste Juan vom Schreibtisch weg. Dessen selbstsicheres Lächeln verschwand nicht... und das verwirrte Anis. "Ja, das würde ich auch gerne. Von Luft und Liebe lebt es sich hier schlecht. Hast du was für mich?" "Nein, habe ich im Moment nicht. Was ist mit Zack." "Der sagt mir schon seit Tagen das Gleiche." Anis seufzte und sah zu dem Mann mit dem Pferdeschwanz hoch. "Dann hast du Pech, Alter." "Schade..." Die Stimme von Juan klang beinahe übertrieben geknickt und er schien sich zunächst zur Tür zu wenden.



    Dann blieb er an der Klinke stehen und trete sich nochmal zu Anis um. "Ich kann auch mehr als einbrechen. Zum Beispiel Polizisten aus fahrenden Autos über den Haufen schiessen.", sagte er und wie bei einem Schuljungen hellte seine Miene wieder auf, in der Hoffnung doch einen Auftrag, und damit wieder Bares zu bekommen. Der Clubchef sah vom Schreibtisch aus wieder zu Juan. "Wie meinst du das?" "Naja... ich hab da sowas... gehört." Anis verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich zurück. "Gehört?" "Der Autobahnbulle." Ein kurzes Lachen ging von dem Tunesier aus, was Juan innerlich noch weiter zum Kochen brachte. "Jobs die mir wichtig sind, führe ich selbst aus. Da brauche ich keine Laufburschen, mein Freund."
    "Also warst du es?" "Ist das wichtig für dich?" Juan schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. "Mich hätte vielleicht das Warum interessiert." Sein Gegenüber seufzte auf... warum hielt er sich so lange mit einem seiner Mitarbeiter auf? Und dann auch noch einem, der gerade mal ein paar Wochen für ihn arbeitete. "Pass auf... ich würde ja sagen, dass es dich einen Scheissdreck angeht, aber das wäre unhöflich. Aber du musst nicht alles wissen. Nimm es einfach wie es ist."



    Juan kam, betont langsam, zurück zu Anis' Schreibtisch, wo er aus dem offenen Etui eine Zigarre nahm und daran roch. "Okay... ich nehme es. Wie es ist.", sagte er nun ohne Lächeln und roch an der Zigarre. "Oh chico... in Kolumbien sind die Dinger besser." Juan strahlte auf Anis plötzlich etwas aus, was defintiv keine Dummheit war... sondern eine Autorität, eine Dominanz... eine Gefahr sogar. Deswegen unterließ er auch eine weitere Zurechtweisung des Kolumbianers, der sich jetzt endgültig zum Gehen wandte und noch, bevor er die Tür schloß, leise "Ir al infierno!"
    Anis schüttelte den Kopf. "Was für ein Opfer...", murmelte er und begann seine Schreibtischunterlage nach seinem kleinen schwarzen Büchlein abzusuchen. Trotz Smartphone schrieb er sich alles auf, doch er stutzte, als ihm Bilder in die Hände fielen, die er nicht kannte. Und auch wenn Anis ein hartgesottener Typ war, stellten sich ihm die Nackenhaare auf. Die Bilder waren recht dunkel, ein wenig verrauscht und verwackelt, aber trotzdem war alles darauf zu erkennen. 7 oder 8 Mann lagen dort, gefesselt, auf dem Bauch im Gras. Tote Gesichter starrten Anis an... und die Tatsache, dass sie aus dieser Lage Anis angucken konnte, machte die Sache noch grausamer. Denn ihre Köpfe waren vom Rumpf abgetrennt und lagen vor den Körpern in ihrem eigenen Blut. Das zweite Bild war etwas weiter weg aufgenommen, und zeigte einen Mann, der über diesen Leichen stand. Er hatte ein Muskelshirt an und einen Pferdeschwanz. Dem Tunesier wurde es heiß.



    Mitten in diesen Eindruck hörte er plötzlich vor der Tür ein Geräusch. Schnell sah er auf die Uhr... eigentlich war es noch zu früh für seine Mitarbeiter, die meist erst um halb sieben kamen. "Kamal?", rief er auf Verdacht, doch er bekam keine Antwort. "Ari?" Ebenfalls keine Antwort, nur erneut ein klackendes Geräusch, als wäre an der Bar irgendetwas umgefallen. Randalierte dieser Mistkerl jetzt in seinem Laden? Anis stand auf und ging zum Tresor, um seine Waffe rauszuholen, einen Revolver. Er lud ihn durch und entsicherte ihn, bevor er zur Tür ging. "Mir machst du keine Angst, du kleiner Bastard.", sagte er und drückte die Tür langsam zum Flur auf. Es war dunkel, das Licht im großen Saal ebenfalls erloschen.
    Anis tastete nach dem Lichtschalter, das Licht im Flur flackerte auf. Aber es war zu spät... er konnte gar nicht so schnell reagieren, um noch etwas zu verhindern. Das Letzte, was Anis spürte, war ein Schlag und ein scharfer Schmerz am Hals. Dann wurde alles schwarz und sein Körper schlug dumpf auf den Boden.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Köln - 19:00 Uhr



    Ben hatte immer ein wenig Angst, wenn er den Krankenhausflur betrat. Was würde ihn heute erwarten? Der gleiche Zustand wie gestern? Ein lächelnde Jenny, die sagte, dass es aufwärts gehe? Oder die absolute Horrorvorstellung, dass er plötzlich vor dem leeren Bett seines Freundes stand. Letztendlich hatte er, als er mit Semir an dem Fenster im Flur stand und auf die Szenerie im Krankenzimmer sah, das Gefühl ein Deja-Vue zu haben. Es zeichnete sich für die beiden Polizisten exakt das gleiche Bild wie am Tag zuvor. Kevin im Bett, die Beatmungsmaschine im ewigen Zyklus genauso wie das Piepen des Überwachungsmonitors. Jenny saß auf dem Stuhl neben dem Bett, sie las eine Zeitschrift, doch im Minutentakt ging ihr Blick immer wieder weg von den Buchstaben hin zu ihrem Freund... aus Angst, sie könnte es verpassen, wenn er erneut die Augen aufschlug, auf wenn sie sich immer noch nicht sicher war, ob sie das geträumt hatte, oder nicht.
    Heute nachmittag hatte sie zumindest eine freudige Überraschung erlebt, als es an der Tür draussen klopfte und ein lächelnder Hotte, im Rollstuhl, mit Kopfverband und nur langsam sprechend vor ihr saß. Bonrath, der heute frei hatte, hatte ihn besucht, er war wach und hatte die Operation tatsächlich sehr gut überstanden. Er müsse sich zwar noch schonen, das Sprechen fiel ihm noch etwas schwer was nach so einem Eingriff aber nicht unüblich war. Einige Sitzungen bei einem Logopäden würden das aber beheben, in einigen Wochen wäre Hotte wieder ganz der Alte. In den Dienst, das wussten er wie auch sein langjähriger Partner, würde er aber wohl nicht mehr zurückkehren. Die Krankheit hatte seine Frage auf die Arbeitszeitverlängerung vorweg genommen. Der dicke Polizist wusste mittlerweile auch von Kevin und reagierte bestürzt.



    Für Jenny stand wieder der schwerste Gang an... Kevin verlassen für eine Nacht, ihn hier zurücklassen. 10, 11 Stunden in denen alles passieren konnte, und sie wusste genau wie übel ihr morgen früh wieder war, wenn sie hier nach oben gehen würde, ungewiss ob er die Nacht überlebt hatte. Sein Zustand war immer noch kritisch und die Sepsis hatte, nach Auskunft des Arztes, noch nicht abgenommen, die Entzündungswerte wären unverändert hoch. Das wäre nach so kurzer Zeit aber nicht unnormal und die Polizistin nahm es mit stoischer Ruhe hin. Mittlerweile war sie nicht mehr interessiert an Wasserstandsmeldungen, Auskünften, Prognosen. Sie wollte einfach nur wissen, ob und wann Kevin wieder aufwachte.
    Mit Ben und Semir fiel es ihr etwas leichter, das Zimmer zu verlassen. Die beiden Männer fuhren sie gerade nach Hause, als unterwegs ihr Handy klingelte. "Jenny? Hier ist Juan." Es klang, als sei er unterwegs, seine Stimme war ruhig aber Hintergrundrauschen war zu hören. "Ich wollte dir nur sagen... also, dass ich heute abend nach Kolumbien zurückfliege. Ich muss mich schließlich wieder um mein Reiseunternehmen kümmern." Dass Juan kein gewöhnlicher Reiseguide war, konnten sich mittlerweile alle drei denken... die Wahrheit hatte ihnen Juan nie gesagt. Sie wollten es auch nicht wissen. Jenny nickte am Telefon. "Also... nimm es mir nicht übel, wenn ich nicht ins Krankenhaus gekommen bin und mit dir zusammen Kevin Hand halte. Das... das ist nicht so mein Ding." Die Polizistin glaubte, den ihr sympathischen Kolumbianer dabei verschämt grinsen zu sehen, und sie wusste, wie er das meinte. "Das ist schon okay.", sagte sie verständnisvoll. Und dann sagte er etwas, was Jenny Mut machte... es war ein ganz normaler Satz, und trotzdem traf er Jennys Seele. "Er soll mich mal anrufen, wenn er aufgewacht ist, okay?" Juan schloß die Möglichkeit, dass Kevin nicht mehr aufwachte oder nicht mehr in der Lage sei, zu telefonieren, gar nicht in seine Überlegungen ein. Diese Möglichkeit existierte für ihn nicht, genau diesen Eindruck vermittelte er Jenny mit diesem banalen Satz, den er aber mit vollster Überzeugung sagte. "Ich werds ihm sagen, versprochen.", antwortete sie ihm leise, bevor er sich mit "Adios, mi Amiga" verabschiedete.



    Sie erklärte kurz Semir und Ben, dass Juan wieder abreisen würde, dann stieg sie vor ihrer Wohnung aus. Mit einem Küsschen bedankte sie sich und wünschte ihren beiden Kollegen eine gute Nacht. Sie fühlte sich müde, obwohl sie viel herumgesessen hatte, ihr Körper sehnte sich nach einem Bad, obwohl es draussen noch sehr warm war. Danach, als sie sich in kurzen Hosen und Shirt auf die Couch saß, fühlte sie sich etwas wohler. Sie hatte von Kalle Kevins Karton bekommen, der momentan nutzlos bei ihr in der Wohnung stand... "damit jemand darauf aufpasst.", hatte sie Jenny vertrauensvoll gesagt. Er kam ihr schwerer vor als vorher. Mittlerweile hatte sie kein schlechtes Gewissen mehr, hinein zu schauen. Nach dem Streit, den sie deswegen mit Kevin hatte, hatte er ihr alles gezeigt... und ihr gesagt, dass sie jederzeit darin stöbern soll, wenn ihr danach ist.
    Neben den Fotos, Zetteln alter Texte und anderen Schriftstücken, die sie schon kannte, fand sie ein kleines Buch. Es sah aus, wie ein Tagebuch, aber es war unverschlossen. Hatte Kevin sowas geführt? Dafür war er doch eigentlich gar nicht der Typ... Sie schlug die erste Seite auf und sofort war ihr klar, dass es sich nicht um Kevins Schrift handelte, denn sie war wunderschön geschwungen und exakt geschrieben. Ganz eindeutig die Schrift einer Frau, oder eines jungen Mädchens, aus dem die Worte einfach raussprudelten, und das diese Worte festhalten wollte. Die Texte waren von Janine.



    "Bier ist so ein grässliches Zeug. Ich kann gar nicht verstehen, warum Kevin das so gerne trinkt. Aber die Mädels, mit denen er abhängt, sind alle super nett. Sie haben mich direkt mit in die Stadt genommen, wir sind in Kleiderläden gegangen und haben unsere private Modeschau gemacht. Das war cool. Ich hätte nie gedacht, dass die sich mit mir abgeben wollen, weil sie alle viel älter sind als ich." Ein Blick auf das Datum des Eintrages verriet Jenny, dass Janine da erst 12 oder 13 gewesen sein muss... scheinbar hatte Kevin sie damals das erste Mal mit zu seiner Clique genommen. Und die Mädels aus der Clique hatten scheinbar Spaß daran, dass junge Mädchen mitzuziehen, das scheinbar keine Lust hatte mit Gleichaltrigen abzuhängen.
    "Puh... heute ist etwas gruseliges passiert. So ein ekliger Typ hat mich vor der Halle, in der wir mit Kevins Freunden manchmal sind, angemacht. Der wollte mir Geld für irgendwas geben." Daneben hatte sie ein Comic-Mädchen gezeichnet, das sich übergab. "Widerwärtig. Aber zum Glück kam mein großer Bruder (Superheld ^^) und hat den Typ vertrieben. Naja... vertrieben ist vielleicht nicht das richtige Wort. Verdroschen triffts eher. Ich mag sowas ja nicht, aber der hatte es echt verdient." Am Ende der Seite hatte sie eine Superhelden-Comicfigur gezeichnet, die durch die Luft flog... ganz klassisch, mit Maske und Umhang. Doch die schwarz-rot abstehenden Haare verrieten sofort, wenn Janine damit meinte. Jenny musste mit Tränen in den Augen grinsen, ja sogar lachen.



    "Kevin ist so ein Vollidiot. Warum kann er sich nicht mal aus meinen Dingen raushalten! Warum redet er nicht einfach mal mit mir. Er hat heute in der Schule Sebastian zusammengeschlagen. Genau, der Sebastian von dem ich dir vor einigen Wochen noch vorgeschwärmt habe, dass er so toll küssen kann. Und heute hat er mit einer anderen geknutscht... ja und? Wir waren nicht mehr zusammen, weil es halt nicht passte. Ich glaube, das ist bei 14 und 15jährigen voll normal. Nur mein großer Superbruder (Helikopterbruder)" Daneben hatte sie eine Comiczeichnung gemalt, die scheinbar wiederum Kevin als Jungen abbildete, der waagerecht in der Luft lag, ein Fernglas in der Hand und Rotorblätter auf dem Rücken "musste natürlich erst zuschlagen und dann fragen, was denn überhaupt los sei. Und dass Sebi eben nicht fremdgeknutscht hat. Mann, das war so peinlich." Dann schien es, als ließe sie einige Zeilen frei, als würde sie nachdenken. "Überhaupt ist er in letzter Zeit so aggressiv. Nicht gegen mich, aber gegen jeden anderen. Er ist nachts auch oft weg. Vielleicht ist es wegen Annie, scheinbar läuft es nicht mehr so gut, ich sollte sie mal darauf ansprechen. Er hat so krasse Stimmungsschwankungen. Manchmal ist er wie aufgedreht und super gut gelaunt und eine halbe Stunde später schreit er rum. Das nervt mich, aber ich mach mir auch Sorgen. Hoffentlich kriegt er das in den Griff, mit mir redet er ja nicht darüber." Am unteren Rand der Seite fand Jenny dann noch eine Abbildung eines gezeichneten schwarzen Raben und ein kleines, schräg geschriebenes Gedicht, was Janine wohl gerade eingefallen war.



    Schwarz ist die Farbe meines Rabenkleids
    Er fliegt so hoch, er fliegt so weit
    Hätt' ich drei Wünsche frei, ich gäb' sie her
    Für Hoffnung und für Wiederkehr



    Janine hatte das Tagebuch nicht jeden Tag geführt... scheinbar immer dann, wenn etwas besonderes passiert war. Über ihren Vater schrieb sie fast nichts... und irgendwie beruhigte Jenny das. Erik Peters hätte er so manches zugetraut, aber wenn er sie angefasst hätte, hätte sie das sicher aufgeschrieben. Und vor allem Kevin erzählt. Aber die vorherige Passage kam Jenny so bekannt vor... "Warum redet er nicht einfach mal mit mir." Auch in der Lebensphase, in der Kevin noch lange nicht so verschlossen war, schien er diese Angewohnheit zu haben. Und auch sein Hang zur Gewalt, was Annie bereits erzählt hatte, war seiner Schwester nicht verborgen geblieben. In den weiteren Zeilen wurde es wieder positiv, als Janine ihrem Tagebuch erzählte, wie leicht ihr die Schule fiel, und welche Zukunftsvisionen sie hatte... Abitur, Studium, vielleicht ins Ausland gehen... Janine schien lange nicht so sehr von ihrem Bruder abhängig zu sein, wie dieser es sich vielleicht wünschte. Sie kam Jenny in den Einträgen erwachsener vor als 15. Erwachsener, als Kevin mit 17 vielleicht war. Und sie empfand die Zeit in der Clique als Spaß, ohne in der Ideologie der Punks ihren Lebensmittelpunkt zu sehen.
    Dann zog sich wieder eine Schlinge um die Brust der Polizistin. Denn schon als sie das Datum sah, wusste sie dass dies vermutlich der letzte Eintrag war. Es war vom 15.07. "Heute Nacht, Punkt 12 Uhr wird mein Bruder endlich 18." Daneben hatte sie ein Feuerwerk gezeichnet. "Ich freue mich schon auf die Party mit den anderen allen. Jerry hat uns eine Überraschung versprochen^^. Aaaaaaaaber ganz egal, wie alt mein Bruder auch sein mag: Er bleibt für IIIIIIIIMMER mein Bruder, der mich immer und überall beschützt und dem ich alles anvertrauen kann. Vielleicht zeig ich ihm morgen früh, wenn er seinen Rausch ausgeschlafen hat, mal diese Seite hier, damit er weiß wie wichtig er mir ist und dass ich ihn über alles liebe. Egal was passiert."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 8:30 Uhr



    Es klang alles so normal... aber nichts fühlte sich normal an. Das Rauschen am Funk, das Gemurmel auf der Dienststelle, das Klingeln der Telefone. Semir drehte sich von seinem Platz um und sah durch die Glasscheibe ins Großraumbüro. Es klang so normal, aber es sah nicht normal aus. Hottes Platz war leer, und Hotte selbst würde nicht mehr an ihn zurückkehren. So gut die OP gelaufen war... die Rente war für den dicken Polizisten unvermeidbar. In der Auswahl, die für ihn bei der Diagnose bereitlag, schien es eins der besseren Lose zu sein, die er gezogen hatte... auch wenn er sich sein Dienstende anders vorgestellt hatte. Das Büro am anderen Ende des großen Raumes dagegen war komplett leer... sowohl Jennys Platz, als auch der von Kevin.
    Andrea bemerkte den nachdenklichen Blick ihres Mannes durch die Glasscheibe, zog ein ausgedrucktes Blatt Papier aus dem Drucker und ging zu ihrem Mann. Unnötigerweise klopfte sie an und lächelte. "Ich hab grad von der Staatsanwaltschaft gehört: Die Anklage gegen Frege steht, die Beweislast ist erdrückend... sieht gut aus für lebenslänglich. Ihr wurdet lobend erwähnt." Semirs typisches Verlegensheitslächeln, obwohl ihm dazu gerade nicht zumute war, zauberte sich auf sein Gesicht. "Immerhin, kommt ja nicht so oft vor." "Und dann hab ich gerade noch das gelesen... ich dachte, das interessiert dich.", setzte sie hinzu und gab Semir den Ausdruck. Dieser verzog das Gesicht.



    "Morgen...", war eine mürrische wie müde Stimme zu hören, die in diesem Moment das Büro betrat. "Morgen... schon was gegessenn?", fragte Semir mit kurzem Blick auf seinen Partner. "Ne, dann wäre ich besser gelaunt." Semir reichte mit ernster Miene das Blatt an Ben weiter, der ebenfalls einen Blick darauf warf. "Aua...", murmelte er, las einige Zeilen, blickte auf die Tatortfotos und verzog ebenfalls das Gesicht. "Da war aber jemand verdammt sauer auf unseren Freund Anis." "Ja, die Rübe abmontieren ist normalerweise kein Freundschaftsbeweis." Andrea ließ die beiden Männer wieder alleine, während Ben die Kaffeemaschine anwarf. "Da halten wir uns mal schön raus. Soll sich die Mordkommission drum kümmern... falls sie noch genug Leute hat."
    Sein bester Freund blickte gedankenverloren auf den Ausdruck. "Und wenn er es doch war? Und nicht Torben?" Ben drehte sich ein Stück von der Kaffeemaschine weg: "Das ist mir scheissegal. Torben hat Jenny fast umgebracht. Der sitzt im Knast schon richtig. Schade nur, dass sein Kollege Hasenfuss den Kopf noch aus der Schlinge gezogen hat." So kannte Semir seinen Partner nicht. Sie waren Polizisten, sie konnten nicht wegsehen, wenn Unschuldige hinter Gitter kamen. Aber konnte er es ihm verübeln? Wie würde sich Jenny fühlen, wenn sie sich nun für einen Kollegen einsetzen, der einen Anschlag auf sie verübt hatten. Und vielleicht war Torben es ja doch...



    Ben sah gedankenverloren aus dem Fenster, die dampfende Tasse Kaffee in der Hand. "Was ist los mit dir? Das ist doch nicht nur die Sorge um Kevin, oder?", sagte Semir beim Blick auf seinen besten Freund. "Nein... das ist die Sorge darum, dass wir uns jeden Tag einer Gefahr aussetzen. Für Menschen, die wir überhaupt nicht kennen.", sagte er nachdenklich. "Ich hatte diese Gedanken schon, nachdem ich angeschossen wurde. Okay, damals haben wir deine Tochter gerettet, aber trotzdem. Wie lange haben wir noch Glück, bei dem was wir tun?" Mit einem Ruck drehte er sich vom Fenster weg. "Du hast zwei Kinder. Eine fantastische Frau. Ich habe endlich meine Frau fürs Leben gefunden, mit der ich mir... eine Familie vorstellen kann." Der junge Polizist hielt kurz inne, während Semir ihn weiter anblickte. "Semir, lass uns einfach aufhören. Lass uns ... keine Ahnung... Streifendienst machen, eine Kneipe aufmachen, Versicherungen verkaufen... irgendwas." Es war beinahe ein Bitten, ein Flehen, dass Semir einverstanden wäre, sie ihre Entlassungen schrieben und dann hier raus spazierten. Aber Semir schüttelte den Kopf. "Ben, das ist doch jetzt nur eine Kurzschlussreaktion." "Nein... ich..." "Pass auf, ich weiß wie du dich fühlst. Niemand versteht das besser als ich, denn ich habe schon zwei Kollegen verloren, und von einem Dritten dachte ich es. Ich hätte schon fünf Mal kündigen können und zehn Mal in den Innendienst wechseln." Semir ging zwei Schritte auf Ben zu und packte ihn am Arm. "Aber ich hab es nicht getan, weil ich Polizist bin. Und weil die Opfer nicht umsonst gewesen sein sollen. Tom und Chris hätten nie gewollt, dass ich wegen ihnen meinen Job, für den ich lebe, an den Nagel hänge. Und egal, was mit Kevin passiert... er würde es bei dir auch nicht wollen." Sein bester Freund sah ihn nicht an, er sah fortwährend aus dem Fenster. "Egal wie schwer es jetzt fällt... wir müssen weitermachen."



    Ben schluckte und nickte langsam, dann schüttelte er wieder den Kopf. Es schien, als sei er diesmal nicht so leicht zu besänftigen, wie sonst. "Ich muss darüber nachdenken. Ich denke... ich denke, dass ich den Urlaub nachhole. Natürlich hier zu Hause... aber weg von der Arbeit. Um den Kopf etwas frei zu kriegen, von allem." Semir nickte nachdenklich, und zu aller Sorge um Kevin kam bei ihm die Angst auf, dass Ben es diemal ernst meinte. "Ich rede mit der Chefin... sollen uns die anderen Dienststellen auch mal unterstützen, so wie wir es für sie immer machen.", sagte der erfahrene Polizist und legte seinem besten Freund die Hand auf die Schulter. "Aber jetzt lass uns erst mal ins Krankenhaus fahren, ok?"




    Krankenhaus - 9:00 Uhr



    Jenny war heute mit ihrem eigenen Auto gefahren, an diesem überaus kühlen, wolkenverhangenen Sommertag. Es war, als hätte der liebe Gott die Heizung abgestellt, das Thermometer fiel nach einem Gewitter in der Nacht um 15 Grad, von heißen 32 Grad auf 17. Die fühlten sich am Morgen zwar noch unangenehm an, doch sollte heute nachmittag der Wind auffrischen. Es war, als wäre es ein harter Schlussstrich unter den Sommer. Als Jenny den Raum betrat, in dem Kevin lag, kam ihr sofort etwas anders vor. Bildete sie sich das etwa nur ein, oder war er blasser als sonst? War das Piepen schneller? Sie setzte sich zu ihrem Freund ans Bett, sagte ihm wie jeden Morgen "Hallo", als könnte er es hören und drückte kurz seine Hand. Sie war kälter als sonst, und seine Stirn war feucht. Es beunruhigte Jenny... aber die Geräusche der Maschine waren okay, sonst würden sie Alarm schlagen.
    Sie wusste nicht, wie lange sie im Zimmer war, sie wusste nicht mal mehr, welcher Tag heute war, als Jennys Alptraum begann. Sie hatte sich dieses Horrorszenario in den letzten Tagen so oft vorgestellt und immer wieder verscheucht... und jetzt war es so unreal, als es passierte. Das Piepen wurde schneller, und sie erschrak. Ein panischer Blick zu Kevin, um sie herum verschwomm alles und ihr wurde schwindelig. "Oh Gott...", flüsterte sie, als die rote Alarmleuchte aufblinkte und ein schriller Ton im Raum zu hören war. Sofort sprang Jenny auf und versuchte, jeden letzten klaren Gedanken zu behalten. Sie lief zur Tür, riss sie auf und schrie sofort über den Flur. "Einen Arzt! Schnell!!! Einen Arzt!!"



    Es dauerte nur wenige Sekunden, bis die erste Krankenschwester im Laufschritt ins Zimmer kam, da war Jenny noch nicht wieder ans Bett zurück gekehrt. Ihr folgten ein Mann, den sie bereits als Arzt kennengelernt hatte, und zwei weitere Schwestern. Sie begannen an Kevin zu arbeiten und Jenny konnte nicht mal einen Handgriff genau verfolgen, denn plötzlich sah sie die Welt nur noch durch einen Schleier... ein Schleier aus Schwindel, Tränen und unendlicher Angst um ihren Freund. Panisch klammerte sie beide Hände um seine Hand, die Anweisungen der Helfer nahm sie überhaupt nicht wahr. "Frau Dorn, kommen sie... wir kümmern uns, aber sie müssen draussen warten." Als ein paar Hände die Frau anfassten, schrie sie und wollte sich losreißen. "Kammerflimmern! Verdammt, bringen sie die Frau hier raus!!", rief der Arzt.
    Plötzlich hörte Jenny vertraute Stimmen. "Was ist denn hier los?" Semir und Ben hatten das Chaos bereits auf dem Flur bemerkt, weil die Tür offen stand und ein weiterer Pfleger mit schnellen Schritten in Kevins Zimmer lief. "Ein Herz-Kreislauf-Stillstand, vermutlich von der Infektion!", sagte die Krankenschwester, die gerade versuchen wollte, Jenny aus dem Raum zu bringen, die immer noch fest Kevins Hand umklammerte. "Bitte bleib bei mir... bitte bitte, lass mich nicht allein... Kevin, bitte lass mich nicht allein!!"



    Nun war es Ben, der die junge Frau an den Schultern griff und sie versuchte, von Kevin zu lösen. "Komm, Jenny... komm jetzt, die Ärzte kümmern sich um ihn." Er benötigte sanfte Gewalt, und es tat ihm unendlich weh, Jenny in diesem Moment, wo Kevin sie brauchte, von ihm zu trennen. Er blickte auf, sah in Semirs geschocktes Gesicht, als dieser voll Sorge an der offenen Tür die Bemühungen um ihren Partner verfolgte. Als Ben hinter sich, während er Jenny herausschob, das Wort "Reanimieren" vernahm, zwang er sich, sich nicht umzudrehen. Er kniff sogar die Augen zu, als wolle er in diesem Moment die Welt anhalten, und sich woanders hinwünschen. Irgendwohin... mit Semir, Andrea, Jenny, Carina und Kevin... alle zusammen, alle gesund. Doch als er die Augen wieder aufmachte, war er auf dem Krankenhausflur... Jenny, die sich an ihn klammerte in einer Mischung aus hysterischen Schreien und hemmungslosen Weinen. Semir, dessen braune Augen auf einmal nichts mehr von der Zuversicht und Stärke hatten, die er vorhin auf der Dienststelle noch ausstrahlte. Und einer Tür, die hinter ihm ins Schloß fiel, als eine der Krankenschwestern rief: "Wir verlieren ihn!"

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus



    Als er die Augen öffnete, war alles um ihn ganz ruhig. Er spürte eine Decke auf sich, obwohl Kevin seine normalen Straßenkleider an hatte, und unsicher sah er sich im Zimmer um. Geräte standen neben ihm, Schläuche und Kabel waren mit seinem Körper verbunden, allerdings war alles abgeschaltet. Er war alleine und fühlte plötzlich keine Schmerzen mehr, als hätte er ewig lange geschlafen. Er bewegte einen Arm, ein Bein... es funktionierte alles. Aber so lange konnte er nicht geschlafen haben, warum hatte er noch seine normalen Klamotten an. Und warum... zum Geier... sein Shirt war vollkommen sauber. Das hatte Kevin, als er auf dem Asphalt lag, anders in Erinnerung. Langsam, wie in Zeitlupe, stöpselte er die Kabel ab, zog sich den Schlauch aus der Kanüle und die Ernährungssonde aus der Nase. Dann setzte er sich auf den Rand des Bettes und rieb sich mit den Händen übers Gesicht.
    Seine Erinnerung war ganz klar. Anis, der den Arm aus dem Fenster des fahrenden Autos streckte und abdrückte. Kevin, der Jenny geistesgegenwärtig zu Boden stieß, sich selbst aber nicht fallen ließ... als würde ihn jemand davon abhalten. Als hätte er, nachdem Geständnis dass Jerry der Verräter an Janines Mord war, nicht die Kraft dazu. Als hätte er Anis noch zugerufen: "Ja, drück ab!" Der junge Polizist schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht so. Es ging einfach zu schnell... er wollte Jenny schützen, und dann war es schon zu spät.



    Aber was war hier los? Waren hier keine Ärzte? War es vielleicht Nacht, und Jenny war zu Hause. Er hatte doch ihre Stimme gehört, ihre Hand dicht bei sich gespürt. Aber jetzt war niemand da... und warum war sein Shirt sauber? Warum hatte er überhaupt normale Klamotten an? Kevin stieg langsam vom Bett auf und ging zur Tür. Auch auf dem Flur herrschte gähnende Leere, die Beleuchtung auf dem Flur brannte und kam dem jungen Mann greller vor als sonst. Er schloß die Tür hinter sich und ging den Flur entlang, dabei spürte er keine Schmerzen, kein Pochen in der Stirn, nichts. Als er im die Ecke bog, sah er die erste Person dort auf einem Stuhl im Flur sitzen... es war sein Vater. War er der Einzige, der hier an seinem Bett wachte? Das konnte doch nicht sein...
    "Papa?", fragte Kevin zaghaft und erschrak vor sich selbst... wann hatte er seinen Vater zuletzt mit "Papa" angeredet? Das machte er sonst nie. Und Erik Peters reagierte auf das Fragen, er drehte den Kopf zu Kevin und stand ruckartig auf. "Wo warst du so lange? Du elender Rumtreiber weißt genau, dass du mir heute abend im Laden hättest helfen sollen. Stattdessen ziehst du mit deinen Assozialen um die Häuser!" Kevin stand völlig perplex vor seinem Vater, der mit der Hand kurz ausholte und dem jungen Mann mit der flachen Hand ins Gesicht schlug. Er spürte die Fingerabdrücke seines Vaters auf der Wange, als er einen Schritt zurückging. "Was zum ...", stöhnte er und sah noch, wie sein Vater laut schimpfend sich umdrehte und in einer Doppeltür ins Treppenhaus verschwand.



    Für einen Moment blieb Kevin in diesem merkwürdigen Flur stehen und fragte sich, was er da gerade erlebt hatte, bis er eine Stimme seinen Namen rufen hörte. "Kevin! Kevin, komm!" Er kannte diese Stimme und sie löste ein Glücksgefühl in ihm aus. Er ging weiter, um hinter der nächsten Biegung wieder stehen zu bleiben. Sein Gesicht drückte Verwunderung aus... Verwirrtheit. Mitten im Krankenhausflur spielten drei Kinder, zwei Jungen und ein Mädchen. Das Mädchen spielte Himmel und Hölle, sie hatte mit Kreide die Kästchen mit den Zahlen einfach auf den Flurboden gemalt. Die zwei Jungs kickten einen Fussball hin und her, sie schienen ein wenig älter als das Mädchen. Als der Ball einmal dem kleinen Mädchen in die Beine rollte, meckerte sie: "Mensch Andreas, pass doch mal auf." In Kevin weckte das eine Erinnerung, die irgendwo nicht mehr in der richtigen Schublade lag, seit seinem Sturz von der Brücke. Aber er lächelte... er lächelte und wusste nicht warum.
    Daneben stand Juan, mit dem Rücken an die Wand gelehnt, den Fuß an der Wand angestellt und die Arme vor der Brust verschränkt. "Hey Chico.", begrüßte er Kevin mit Handschlag und seinem Sunnyboy-Lächeln. "Juan... was geht hier vor?", fragte Kevin weiter verwirrt und hoffte, von dem Kolumbianer Antworten zu bekommen. "Was hier vorgeht? Ich hab deinen Jungs nur ein bisschen unter die Arme gegriffen." "Unter die Arme gegriffen? Was meinst du?" Juan lachte und zeigte mit dem Finger weiter den Flur entlang. Dort, genau vor einer Tür standen Semir und Ben, sie winkten Kevin zu. Juan klopfte ihm aufmunternd auf die Schultern und meinte noch, bevor er ging: "Du bist echt einer der verrücktesten Typen, die ich kennengelernt habe.", dabei machte er mit den Fingern das "Ruf mich an" - Zeichen.



    Bevor Kevin Semir und Ben erreichte, hörte er wieder diese Stimme, die seinen Namen rief. Sie zog Kevin magisch an, und eigentlich wollte er zuerst dieser Stimme nachgehen, bevor er sich mit seinen Freunden unterhielt. Auch sie begrüßten den jungen Mann, Ben umarmte ihn kurz. "Was macht ihr hier?", fragte Kevin, obwohl er es sich denken konnte... sie wollten ihn vermutlich besuchen. "Ihr seid vor der falschen Tür, mein Zimmer ist da hinten." "Wir sind hier genau richtig. Wir haben sie alle erwischt.", sagte Semir stolz und klopfte mit der Faust gegen die Tür, vor der sie standen. "Wie bitte?" "Jeden einzelnen. Schau mal rein.", präzisierte Ben und ging einen Schritt zur Seite. Die Tür hatte ein Glasfenster und Kevin sah hinein. In dem Raum saßen, wie in einer Therapiestunde, verschiedene Leute... Kevin erkannte sie alle. Anis, Patrick und Carsten, Peter Becker, der seine Schwester umgebracht hatte, Thorben und Bastian zusammen mit Claus Frege, einige Faschos von der Sturmfront und Mike Kühne, der im Knast versucht hatte, Kevin umzubringen. Jeder einzelne saß da, stumm, in Handschellen und schien auf seine Verhandlung zu warten. Jeder einzelne hatte mit Kevin zu tun, und seine beiden Freunde hatten sie unschädlich gemacht, um Kevin zu schützen. Sie grinsten stolz. "Wir lassen dich nicht allein, Kevin.", sagte Semir nickend während Ben dem jungen Mann auf die Schulter klopfte. "Komm, lass uns zur Dienststelle fahren." Die beiden Polizisten setzten sich in Bewegung. "Wartet mal... da ruft mich doch ständig jemand. Hört ihr das nicht?" Semir drehte sich um. "Lass sie rufen! Was hast du damit zu tun? Du musst mit uns zur Dienststelle kommen. Die Chefin wird sonst sauer." Doch Kevin blieb wie angewurzelt im Flur stehen und sah den beiden Polizisten nach. An der Tür zum Treppenhaus blieben sie erneut stehen und sahen sich zu ihrem Kollegen um. "Was ist denn nun?", rief Ben ungeduldig. "Ich hab Kohldampf, wir holen uns unterwegs noch ein paar Schokocrossaints. Und heute abend machen wir ein bisschen Mucke zusammen." "Kevin!! Jetzt komm!" Der junge Polizist fühlte sich hin und her gerissen. Diese Stimme war so vertraut und löste in Kevin viel mehr Glücksgefühle aus, als die Aussicht zur Dienststelle zurück zu kehren. "Ich... ich komme nach.", sagte der junge Polizist und drehte sich von seinen beiden besten Freunden weg. "Kevin! Du musst mit uns zurückkommen! Hörst du!!", hörte er noch Semirs Stimme hinter sich... irgendwann war er aus Kevins Sichtfeld verschwunden.



    Der Flur schien sich, bis zur nächsten Biegung, ewig zu strecken. Mittlerweile war Kevin klar, dass hier irgendwas nicht stimmen konnte... warum sperrten Semir und Ben die Verbrecher im Krankenhaus in ein Zimmer? Warum schlug sein Vater ihn einfach, weil er nicht im Laden half? Und wer waren diese drei Kinder? Plötzlich sah er zwei vertraute Personen auf Stühlen im Flur sitzen, und sein Gesicht hellte auf. Er erkannte sofort die rote Frisur von Annie, und hörte ganz deutlich Jennys Lachen. Die beiden Frauen saßen nebeneinander und redeten angeregt, lachend. Als sie Kevin erblickten, leuchteten ihre Augen. "Hey... habt ihr mich gerufen?", fragte Kevin, denn immer noch konnte er diese Stimme nicht identifizieren, die nach ihm gerufen hatte. Jenny schüttelte den Kopf. "Nein, aber wir warten hier auf dich. Wir wollten dich abholen kommen." Sie stand auf und umarmte Kevin innig, der junge Mann spürte ihre Hände auf seinem Rücken, während er dahinter Annie sah, die ihn liebevoll anlächelte... liebevoll, im Sinne dessen dass sie sich mit dem Paar freute... Paar? Sie waren doch gar kein Paar mehr... also, nicht so richtig. Das Gefühl und Annies Blick verwirrte ihn. "Komm, wir gehen nach Hause.", sagte Jenny und blickte den jungen Polizisten an, wobei sie beide Hände von ihm festhielt. "Aber da ruft mich doch ständig jemand." "Rufen? Ich hör nichts." "Kevin!!" Die Stimme klang lauter und liebevoller als zuvor. Der junge Polizist spürte, wie sein Herz schlug, denn er meinte, die Stimme jetzt erkannt zu haben. Der Griff um seine Hände wurde fester und er ging einen Schritt von Jenny weg in Richtung der Stimme... er meinte, im Flur jemanden zu sehen.



    "Kevin! Komm doch jetzt mal!", rief die Stimme ungeduldig und klar. Jetzt erkannte er die Stimme... und er erkannte das Mädchen, das im Flur stand, und in die Stimme mischte sich das leise Lachen eines Babys. "Oh Gott...", murmelte Kevin leise. Im Flur stand seine Schwester Janine, sie lächelte und winkte mit einer Hand. Ihre Stimme klang ungeduldig wie früher, wenn sie nach ihrem Bruder rief und der sich erst nach dem dritten Mal bequemte. "Jetzt komm doch endlich mal! Wir müssen heim, sonst kriegen wir wieder Riesenärger." Seine Schwester war nicht allein. Im Arm trug sie ein Bündel, von dem die leisen Babylaute kamen. Und neben dem jungen Mädchen stand eine etwas größere Frau, die Kevin nicht kannte, die aber doch eine riesengroße Vertrautheit auf ihn auswirkte. Sie hatte den Arm um Janine gelegt und lächelte ebenfalls. Ohne sie jemals selbst bewusst gesehen zu haben, wusste Kevin sofort, wer sie war.
    Sein Körper zitterte und seine Schwester, die ihn so lange verfolgt hatte, übte eine unglaubliche Anziehungskraft auf sie aus. Er wollte zu ihr, wollte sie umarmen, wollte das Baby selbst in die Arme nehmen... er wusste, es war ihr Kind, das Kind von Jenny und ihm, das die junge Frau verloren hatte. Tränen stiegen in ihm auf, als er zwei Schritte in Richtung Janine ging, als er Jennys Hand spürte. "Kevin! Was machst du da? Bleib hier!", sagte sie flehentlich. "Siehst du das nicht? Da ist unser Kind.", entgegnete Kevin ihr und zeigte in Richtung seiner Schwester. Jenny blickte Kevin intensiv an und drückte seine Hand noch fester. "Kevin... unser Kind ist tot. Und deine Schwester ist auch tot! Wach auf!! Du musst aufwachen und hier bleiben. Hier bei uns!! Hier bei mir!! Du hast es mir versprochen!" Er presste die Zähne zusammen und blickte zwischen Jenny und Janine hin und her. "Wir müssen heim, Kevin. Papa wird toben!" Ihre Stimme und das vergnügte Quieken des Babys brachen ihm das Herz genauso, wie Jennys flehentlicher Blick und ihre Berührung an Kevins Hand. Er fühlte sich zerrissen wie nie zuvor in seinem Leben und er spürte, wie ihm die Tränen an den Wangen herunterliefen. "Ich liebe dich, Kevin! Du musst hier bleiben!! Du MUSST!" Seine Schwester blickte enttäuscht und es schien, als wolle sie sich zum Gehen abwenden.



    "Nein... nein...", flüsterte der junge Polizist, als er es beobachtete und hörte Jennys Stimme hinter sich: "Du... du hast mir doch gesagt... dass Helden unsterblich sind." Der Griff um seine Hand festigte sich, und Kevin blickte herum zu seiner Freundin, sah im Hintergrund immer noch Annie sitzen, weiter hinten standen Ben und Semir immer noch an der Tür zum Treppenhaus, kaum erkennbar. Er atmete heftig und sah Jenny mit traurigen Augen an. Er schluckte, und dann lächelte er bitter: "Ich weiß... das hab ich gesagt." Dann zuckte er, immer noch lächelnd, mit den Schultern. "Aber leider bin ich kein Held..." Dann löste er die Hand von Jenny, ging rückwärts einen Schritt von ihr weg in Richtung Janine und sah noch, wie seine Freundin bitterlich zu weinen begann... Er hatte das Gefühl, dass ihm die Kraft und der Willen fehlte, nochmal zurück zu gehen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Cornwall Lands End - Einige Tage später



    Der Flug war unruhig, auf der Busfahrt dagegen hätte man wohl herrlich schlafen können. Doch Magenschmerzen bei Jerry verhinderten, dass er irgendwie zur Ruhe kam. Schon ganz früh am Flughafen heute morgen hatte er nichts gegessen, stattdessen die ersten Beruhigungsmedikamente genommen. Der alte Punk hatte vor nichts Angst, aber in so eine Höllenmaschine steigen kostete ihn höchste Überwindung. Jetzt am Boden, Lands End und Annie als Ziel, plagte ihn nur mehr die Vorahnung auf einen schwierigen Nachmittag, das Überbringen einer schlimmen Nachricht. Und das schlechte Gewissen lastete wie eine Eisenstange mit Gewichten auf seiner Brust, unter der er eingeklemmt war, und gerade niemand da, der ihn aus dieser Klemme befreien konnte.
    Er hatte seinen besten Freund verlassen... Aber wann hatte er ihn verlassen? Jetzt, als er in den Flieger stieg um Annie die Nachricht zu überbringen? Als Jenny Kevin erzählte, dass er, Jerry, seinen besten Freund und seine Schwester verraten hatte? Oder hatte er Kevin bereits verlassen in dem Moment, als er dem Druck von Peter Becker nachgab, damit dieser ihm die Spielschulden erließ. Der Bus zischte, als die Türen an der Haltestelle in dem kleinen verlassenen Dörfchen aufgingen, wo die rothaarige junge Frau lebte.



    Den Rucksack halb über dem Rücken, trottete Jerry durch den Ort, der an diesem Sommertag besonders lebhaft war. Zwar waren nur wenige Autos unterwegs, weil man nach langem Ringen endlich eine Umgehungsstraße um das Örtchen gebaut hatte, dafür waren aber umso mehr Radfahrer, Fußgänger, tobende Kinder und der ein oder andere Tourist in den Straßen unterwegs. Jerry nahm von dem Trubel eher weniger war, es fühlte sich taub um ihn herum an. Der Wind wehte über seinen Kopf, seine kurzen Haare, doch auch das nahm er nicht besonders wahr. Seine Augen hatten das rote kleine Backsteinhaus fixiert, das ein wenig so aussah, als wäre es aus Norddeutschland hierher geschwemmt worden. Der weiße Zaun, die Hecken akkurat englisch geschnitten... früher hätte Jerry die Bewohner abfällig als Spießer verspottet. Heute beneidete er sie.
    Er las den Nachnamen und wusste, dass er richtig war. Ole hatte ihm die richtige Adresse genannt. Was würde er sagen? "Hey, Annie... ich bin aus dem Knast raus, wie gehts, wie stehts, übrigens... da ist was wegen Kevin..." Ihm war übel, die Magenschmerzen drückten und zu gerne hätte er sich auf dem Absatz umgedreht und wäre wieder nach Hause geflogen. Aber der Gedanke an Annie belastete ihn schon seit er bei Kevin am Bett stand, und er Jennys Hand im Gesicht spürte. Und jetzt... er musste es ihr sagen... und das nicht übers Telefon.



    Vom Klingeln bis zum Öffnen der Tür kam es ihm vor wie eine Ewigkeit. Und dann war die Vertrautheit da, als er Annies rote Haare sah, ihr Lächeln als sie realisierte, wer da vor ihrer Tür stand. "Jerry? Jerry!!", schwang sie von verwirrt zu euphorisch und fiel ihrem Mentor um den Hals. "Hey, meine Kleine.", sagte er fürsorglich, väterlich und schlang die Arme um das Mädchen, bis sich ihre Körper wieder trennten. "Wie kommst du denn hierher? Seit wann bist du draussen?", letzteren Satz sagte sie ein wenig leiser, weil sie nicht unbedingt wollte, dass ihr Vater mehr von dem Besuch mitbekam, als unbedingt nötig. "Ein paar Tage.", war Jerrys Antwort, und sein Lächeln war etwas gequält.
    Annie packte den Mann bei der Hand und nötigte ihn, mit ihr zum Strand zu gehen, wo sie ungestört reden konnten. Und auf dem Weg dorthin, nahm sie Jerry quasi die Worte aus dem Mund. "Warum bist du nicht mit Kevin zusammen gekommen? Er hatte sich auch bei mir angekündigt." Jerry sah überrascht auf. "Was hat er?" Annie nahm ihr Handy aus der engen Jeans und suchte nach den Whatsapp-Nachrichten. Sie fand die letzte von Kevin, vor einigen Tagen früh morgens... aber komischerweise hatte er ihre Antwort immer noch nicht gelesen. Sie hielt Jerry das Handy vors Gesicht, und der Ex-Punk las: "Ich werde in den nächsten Tagen bei dir vorbeischneien. Diesmal vielleicht für länger. Hoffe, mein "Zimmer" bei dir ist noch frei." Jerry zog die Stirn ein wenig in Falten... sein junger Freund hatte sich bereits angekündigt, nachdem er ihn überreden wollte, die Selbstverteidigungsschule nicht in Köln aufzumachen... weil er dort weg wollte. Er las auch noch Annies Antwort: "Dein Zimmer ist frei. Ich freu mich auf dich." Er biss sich auf die Lippen.



    Annie bemerkte die Reaktion von Jerry natürlich, auch wenn sie sie nicht sofort zuordnen konnte. Die beiden standen an dem schmalen Asphaltweg, direkt am Strand und konnten das Meer schon hören und riechen. Das Meer, von dem Annie immer schwärmte, wenn sie ihnen in der Lagerhalle von ihrer Kindheit erzählte, wenn sie hier ihre Oma besuchte. Jerry konnte sich noch dran erinnern, wie geknickt sie war als sie entschloß, nicht mit ihren Eltern zurück nach England zu kehren. In das "fascist regime", wie es die Sex Pistols besungen hatten. Jetzt war sie hier, und sie fühlte sich so wohl wie noch nie in ihrem Leben. Auch wenn sie äusserlich die Wildheit durch ihre Frisur, ihre Piercings und ihre Tattoos nicht abgelegt hatte, so hatte sich ihr Wesen durch die Erlebnisse doch sehr gewandelt.
    "Jerry, was ist los? Kevin muss doch mitbekommen haben, dass du aus dem Knast gekommen bist." Die junge Frau ging nicht mehr weiter auf dem Weg, sie blieb stehen und hielt Jerry an den Handgelenken fest. Dessen Blick wurde traurig, er kaute etwas Unsichtbares im Mund und suchte nach Antworten. Nach Worten generell. Nach einem Wort, das nicht wehtat. Als Annie bemerkte, wie seine Lippen zitterten, spürte sie auf einmal ein beklemmendes Gefühl im Hals. Plötzlich wurde ihr klar, dass Kevin der Grund war, warum Jerry hier ist. "Annie... ich muss dir etwas sagen..."



    Die Möwen kreischten ihr Lied im Takt des Meerrauschens, den die Natur vorgab. Diese weißen Geschöpfe saßen auf Felsen, Bäumen und Dächern rings um die Szene, die sich auf dem kleinen Steinweg direkt am Stand abspielte, als Jerry nur wenige Worte sprach... leise, mit brüchiger Stimme. Wie Annie langsam, erst in Zeitlupe, dann immer schneller werdend den Kopf schüttelte, erst schrie und sich an Jerry festklammerte, bis ihr die Knie wegsackten und sie von ihrem väterlichen Freund gehalten, langsam zu Boden sank. Alle Erinnerungen an Kevin brachen über sie herein, von ihrer Jugend, ihrem Wiedersehen und ihrem Abenteuer in Kolumbien. Und zuletzt die herrlichen Tage vor einigen Wochen, die sie hier gemeinsam verbracht hatten. Tage, die sich tief in Annies Seele gebrannt hatten, genauso tief wie diese Nachricht von Jerry. Sie kniete auf dem Steinweg, von Jerry umarmt und weinte hemmungslos.
    Stunden später lag Annie alleine in ihrem Zimmer unterm Dach im Bett. Im gleichen Bett, wo sie vor einigen Wochen mit Kevin geschlafen hatte. Ihr Vater, ein Arzt, hatte ihr etwas zur Beruhigung gegeben, nachdem Jerry ihm erzählt hatte, was passiert war. Mit rötlichen Augen hatte sie das Kissen umklammert, das vor Tränen feucht war. Regen, der einen Gewittersturm an der Küste ankündigte, prasselte an das Dachfenster und hörte sich so erbarmungslos an, wie die rothaarige Frau das Leben gerade empfand. Neben ihr lag das Handy, die letzte Nachricht von Kevin geöffnet. Und ein Zettel, den er ihr damals hier gelassen hatte... ihr Text für ihn, den er mit Ben zusammen auf der Bühne gesungen hatte. Immer wieder las sie die Zeilen, und sie hörten sich in ihren Ohren, nach dieser Nachricht, wie ein todtrauriger Traum an...



    Hilf mir mich zu finden nach all diesen Jahren
    Nimm mich ein kleines Stück Weges mit dir
    Heile die Wunden, die unheilbar waren
    Ich wär' fast gefallen, doch dann warst du hier



    Tränen tropften aufs Papier, und die Kugelschreibertinte, mit der sie damals den Text geschrieben hatte, begann zu verlaufen. Eine der Tränen fiel auf den Titel, den Kevin selbst darüber geschrieben hat, als er den Text vertonte... und er wirkte auf Annie so traurig und zerstörerisch, so endgültig... "Verloren".



    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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