Verloren

  • Prolog



    Kann man den eigenen Herzschlag verstummen hören? Bekommt man das noch mit? Gerade spürte er, wie das Herz fest gegen den Brustkorb schlug. Es hämmerte, als wolle es aus seinem knöchernden Schutzpanzer, den Rippen, ausbrechen. Es pumpte unaufhörlich Blut durch den Körper, doch je mehr es arbeitete, desto schlechter ging es dem Besitzer des zuckenden Muskels. Denn das Blut nahm nicht den normalen Weg durch seinen Körper, sondern trat schäumend aus zwei Schusswunden im Brustbereich aus ihm heraus. Es ging alles ganz schnell... ein Auto, Schüsse und ein stechender Schmerz. Er versuchte sich instinktiv sofort an das Auto zu erinnern, als hätte ihm ein Unbekannter gewunken, gegrüßt oder den Vogel gezeigt. Doch er hatte geschossen... und verdammt, er hatte getroffen.
    Spürt man es, wenn man stirbt? Tut es mehr weh als der Schmerz, wenn man atmen möchte, aber jeder Atemzug sich anfühlt, als würde die betrogene Geliebte einem für jeden Seitensprung einmal ein Küchenmesser in die Rippen stoßen? Oder ist es wie eine Erlösung? Gerade konnte er sich nichts Schlimmeres vorstellen, als auf dem Asphalt an dieses Auto gelehnt zu sitzen und zu spüren, wie sein eigenes warmes Blut unter seinem Shirt an der Haut herunterlief. Nur die zarte Frauenhand, die ihn plötzlich ergriff, fand er schön. Unglaublich schön.



    Schmeckte Blut schon immer so nach Eisen? Er konnte sich nicht erinnern. Schon oft hatte er sich geprügelt, aufgeplatzte Lippe, angerissenes Zahnfleisch oder eine blutende Nase, bei der ihm das Blut den Hals herab lief. Jetzt drückte es sich aus der Lunge nach oben, und als ihn die Männer um ihn flach auf den Asphalt lagen und irgendwann die rot leuchtenden Notfalluniformen über ihn beugten, war er schon zu müde, um es auch zurück zu halten. Einer der Männer hatte ihm irgendwas auf die Brust gedrückt, und er wollte der Frau neben sich sagen, dass sie doch aufhören solle zu weinen. Aber er konnte nicht, denn ihm fehlten Sprache und Worte, um sich zu kommunizieren. "Bleib wach... bleib um Gottes Willen wach.", konnte er in dem Gewusel an Stimmen verstehen.
    Etwas bewegte sich, Türen knallten, das Gewusel wurde leiser und von einem Summen übertönt. Martinshörner... er war im Krankenwagen. Warum halfen sie ihm nicht? Warum taten sie immer noch nicht mehr als auf seine Brust zu drücken. Die Stimmen um ihn wurden lauter, hektischer, chaotischer. Jemand beugte sich über ihn, leuchtete ihm in die Augen und am liebsten hätte er den Mann einen Idioten genannt, er sollte aufhören mit der Scheisse. Das helle Licht brannte ihm in den Augen, und am liebsten hätte er sie fest zugedrückt. Dabei merkte er nicht, dass er sie selbst gar nicht mehr offen halten konnte.



    Erst das grelle Licht im Krankenhausflur ließ ihn wieder einen stechenden Schmerz aus dem Kopf entlocken, der sich neben das konstante Stechen in der Brust gesellte. Sein leises, ruckartiges Atmen war nur mehr ein rasselndes Röcheln. Das Shirt längst in Streifen geschnitten, mehrere Meter Druckverband vollgeblutet... so kam er sich vor. Meine Güte, warum ließen sie ihn nicht einfach in Ruhe. Er war müde, er wolle schlafen und sie ließen ihn nicht. Er wollte sie anschreien, schütteln und jeden von der fahrbaren Trage wegstoßen, die ihn gerade in aller Eile über diesen wackelig, holprigen Flur schoben. Und eine Stimme konnte er jetzt deutlicher hören, und sie klang verheißungsvoll, wie ein Versprechen:



    "Wir verlieren ihn! Verdammt, wir verlieren ihn..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Einige Tage zuvor:



    Autobahn - 9:30 Uhr



    Die Sonne stand bereits hoch am Himmel und es sollte ein wunderschöner Spätsommertag werden. Ben und Kevin, die auf ihrer Routinefahrt auf der Autobahn waren, konnten sich bei diesem Wetter etwas Schöneres vorstellen, als Kilometer auf der Autobahn abzureißen oder im stickigen Büro zu hocken, wo nur die Klimaanlage das Überleben halbwegs angenehm machte. Zu allem Überfluss hatten sie nichts zu tun... keine Drängler, keine Geschwindigkeitsübertretungen und keine übermüdeten LKW-Fahrer. Beide Männer hatten Sonnenbrillen auf, Ben eine modisch schicke und sicherlich etwas teurere Markenbrille während Kevin eine verspiegelte größere Fliegerbrille trug... manchmal auch spöttisch 80er-Pornobrille genannt, die wieder in Mode kam. Die Fenster waren auf Durchzug offen, sonst wäre die Klimaanlage kollabiert, und um den Luftzug im erträglichen Maße zu halten, rollte Ben mit seinem Benz auf Tempo 100.
    "Sollen wir nicht wenigstens mal an nem LKW die Ladungssicherung oder Reifenprofil überprüfen, um mal etwas an die frische Luft zu kommen?", maulte Ben und fuhr sich durchs dichte dunkle Haar, unter dem er im Sommer noch mehr litt als seine beiden Kollegen. Semir hatte da mit seiner absoluten Kurzhaarfrisur wenig Probleme, Kevins Haare, ebenfalls recht kurz geschnitten, taten sowieso meist was sie wollten... was aber von Kevin gewollt und manchmal durch Spray oder Haargel unterstützt wurde. "Die haben so nen Zeitdruck, lass die doch in Ruhe.", meinte er etwas abwesend. "Ausserdem hast du in drei Tagen genug Frischluft."



    Das stimmte. Ben würde endlich in Urlaub fahren... der erste Urlaub seit mindestens zwei Jahren. Die Dienststelle war voll besetzt, die Sommerferien vorbei und damit die Alltagsarbeit etwas weniger geworden. Er würde mit Carina zusammen und einem gemieteten Motorrad drei Wochen über die Highways von Amerika und Kanada düsen, durch Schluchten, an Wiesen vorbei, von Süd nach Nord und von West nach Ost. Ein Urlaub, der eigentlich gar nicht Carinas Art war, aber sie ließ sich darauf ein und freute sich bereits. "Ohja... und wehe, es kommt noch irgendwas dazwischen.", seufzte der Mann mit der Wuschelfrisur.
    Kevin konzentrierte seine Gedanken wieder in die beiden Klarsichtmappen, die auf seinem Schoß lagen. Eine war geschlossen, die andere hatte er geöffnet und las darin. Es waren zwei Verkaufsangebote von Immobilien, die für die Boxschule von Jerry in Frage kämen, um die der junge Polizist sich kümmern sollte. Die beiden waren in der engeren Auswahl, doch als er die Details und die Bilder besah, verging ihm die Laune. "Die sind nicht mehr ganz normal.", brummte er irgendwann mit seiner ton- und emotionslosen Stimme. "350.000 Euro für eine Immobilie, in die man nochmal die Hälfte davon investieren müsste, weil alles im Eimer ist. Als ob die dafür jemals nen Verkäufer finden." "350.000 für eine Innenstadtlage in den Geschäftsbereichen ist nicht besonders viel.", sagte Ben, der sich auf diesem Markt etwas auskannte.



    Kevin klappte die Mappe zu. "Mag sein, aber es ist nicht erschwinglich. Geh mal auf ne Bank als Ex-Knacki, der sich ein selbstständiges Standbein aufbauen will. Ein bisschen Eigenkapital, aber keine Sicherheit, ausser einen Geschäftspartner, der Beamter ist. Die lachen sich kaputt." "Geschäftspartner? Willst du da fest einsteigen?", wunderte sich sein Partner und sah kurz herüber. "Zumindest mal formel, sonst bekommt Jerry keinen müden Cent. Aber die Welt bekomme ich auch nicht von der Bank. Ist nicht so einfach, wie er sich das vorstellt.", seufzte Kevin. Er war eigentlich auch kein Experte in solchen Dingen und hatte bei einem Bankgespräch vor einer Woche das Bedürfnis den Berater nach 10 Minuten zu verhaften.
    Ben hatte solche Probleme nicht. Sein Vater war Millionär, er selbst mehr als auf Rosen gebettet, vor allem was die Zukunft anging. Er schämte sich manchmal dafür, und wollte, wenn es um Geld ging, vor allem seinen Freunden helfen. "Was braucht ihr denn noch?", fragte er vorsichtig, doch Kevin roch den Braten. "Vergiss es..." "Ich will euch doch nur helfen. Je nachdem, wie viel..." "Ben, das ist lieb gemeint. Aber wenn etwas Freundschaften zerbricht, dann ist es weil man Frau, Auto oder Geld verleiht." Der Polizist am Steuer musste auflachen... so flapsig kannte er Kevin nur selten. "Und wenn dir die Arbeit dort Spaß macht? Hörst du hier dann auf?", fragte er noch und hatte wieder einen etwas ernsthafteren Unterton. Kevin sah ihn an und zuckte mit den Schultern. Ben sah nur seinen Ausdruck der Lippen, jedoch nicht die Augen hinter der verspiegelten Sonnenbrille und konnte schlecht einschätzen, ob er es ernst meinte oder Spaß machte. "Vielleicht." Dann grinste er.



    Bens Aufmerksamkeit wurde auf ein Auto vor ihnen gelenkt, der leichte Schlangenlinien fuhr. Er war ihm vorhin schonmal aufgefallen, als er sich Richtung Mittellinie bewegt hatte, aber wieder in die richtige Spur zurückkehrte. Der erfahrene Polizeibeamte hatte es unter einer Unaufmerksamkeit abgetan. Aber die Schlangenlinien jetzt waren schon auffälliger. "Guck mal. Ich glaube, gleich bekomme ich meine Frischluft." Kevin sah auf und schaltete das Blaulicht an. "Glaube ich auch... irgendwoher kenne ich das Auto.", sagte er nachdenklich und sah auf den, ihm bekannten Ford Mondeo.
    Gerade als Ben im Begriff war, auf den merkwürdig fahrenden Ford aufzuholen, lenkte dieser ruckartig nach links. "Scheisse!", rief Ben erschrocken und brach den Beschleunigungsvorgang ab. Der Ford traf auf gleicher Höhe einen Kleinwagen, der dadurch in einem flachen Winkel die Mittelleitplanke touchierte. Funken flogen und geistesgegenwärtig trat die Fahrerin des Wagens sofort in die Bremsen um weitere Aufpralle zu verhindern. Allerdings wich ein Kleinbus einer Sanitärfirma der Frau seinerseits nach Rechts aus und bremste gleichzeitig ebenfalls. Ben bemerkte den Kontakt mit dem ausweichenden Kleinbus am linken Vorderrad und durch eine deutliche Erschütterung im Lenkrad, sowie stöhnendem verbiegenden Metall. Er gab den Kräften nach und lenkte nach und lenkte ebenfalls nach Rechts Richtung Standspur.



    Kevin dagegen verfolgte mit den Augen, wie der Ford, als wäre er führerlos, durch die Kollision mit dem Kleinwagen nun die Richtung änderte und ohne zu bremsen über den Standstreifen fuhr, über den Grünstreifen zur abschüssigen Böschung. "Das geht schief!", rief er noch als der Ford plötzlich der Schwerkraft nachgab und die Böschung herunterfuhr. Mit quietschenden Reifen hielt Ben auf dem Standstreifen, der Kleinbus hatte vor ihnen gehalten und der Kleinwagen an der Mittelleitplanke. Weitere Fahrzeuge konnten zum Glück rechtzeitig bremsen, auch weil der Berufsverkehr zum Glück längst vorbei, und die Autobahn eher weniger befahren war. "Zentrale für Cobra 11, Verkehrsunfall bei Kilometer 32 Richtung Norden, brauchen Krankenwagen und Abschleppdienst, Ende", gab Kevin routinemäßig durch, während Ben bremste. "Ich schau nach dem Ford.", rief er dann beim Aussteigen und rannte los, während Ben mit Kelle in der Hand und wilden Winkbewegungen die nachfolgenden Fahrzeuge zum Anhalten bewegen konnte, so dass er gefahrlos zu den beteiligten Wagen laufen konnte. Zum Glück schien weder die Frau und ihr Kind auf dem Rücksitz verletzt, noch die beiden Mitarbeiter der Sanitärfirma.
    Bens junger Kollege lief über das kurze Stück Gras, dass die Autobahn von der Böschung trennte. Leitplanken gab es hier nicht. Er konnte den rauchenden Ford am Fuße der Böschung sehen. Zum Glück hatte er sich nicht überschlagen, aber durch die Geschwindigkeit hatte er am Ende der Böschung hart aufgesetzt, so dass die Front des Fahrzeuges beschädigt war. Kevin lief, so schnell es das Gefälle zuließ, nach unten zur Fahrertür und öffnete sie vorsichtig. Sofort wurde ihm klar, woher er das Auto kannte. Erwin Plotz hing mit offenen, weit aufgerissenen Augen leblos über dem Lenkrad.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 10:00 Uhr



    Semir bahnte sich in seinem silbernen Dienstwagen den Weg durch den Stau. Mit Lichthupe und Martinshornton brachte er manchen unvorsichtigen Autofahrer, der das Wort "Rettungsgasse" noch nie gehört hatte, in die Bredouille. Ben hatte ihn sofort telefonisch angerufen, als Kevin von dem Fund berichtet hatte, schließlich war nicht klar, ob es sich hier vielleicht doch um ein Verbrechen handelt. Und dann waren alle 4 Kommissare gefragt, solange es keinen zweiten größeren Fall gab, und man sich aufgeteilt hatte. Neben Semir saß Jenny, die sich am Obergriff festhielt, aber nicht den Hauch von Nervosität zeigte. Neben Semir im Auto fühlte sie sich, wie sie selbst sagte, sicherer als in einem Hochsicherheitstrakt. Was das anging vertraute sie dem kleinen Kommissar zu 100%.
    Jenny fühlte sich gut in den letzten Wochen, nachdem ihr Leben zu Beginn des Lebens aus den Fugen geraten war. Kevins vermeintlicher Tod, ihre Fehlgeburt, seine Widerkehr und der Gedächtnisverlust, dazu noch der Tod eines jungen Hamburger Kollegen, mit dem sie gut klar kam, das alles war für sie schwer zu verdauen. Doch sie hatte vor einigen Wochen erkannt, wie wichtig sie für Kevin war, und wie sehr er ihr vertraute. Das hatte der jungen Frau Kraft gegeben. Als sich ihr Ex-Freund dann auch noch gegen seine persönliche Rache und für die Wahrheit ihr gegenüber entschieden hatte, sah sie den Mann wieder mit ganzen anderen Augen. Sie war überzeugt... er hat es endlich geschafft. Er war auf dem Weg, weg vom stillen Einzelgänger und vielleicht wieder ein Stück zurück zum lebensfrohen, lustigen Kevin der er in der Jugend war. Und bei der Arbeit ergänzten sie sich immer besser, auch wenn sie sich in den Teams mittlerweile mal mischten.



    Der BMW wurde am Standstreifen angehalten. Zwei Krankenwagen und zwei weitere Streifenwagen standen schon verstreut auf der Straße, der Kleinwagen an der Mittelleitplanke wurde bereits auf einen Abschleppwagen gezogen damit man die Vollsperrung schnellstmöglich in eine Teilsperrung umwandeln konnte. Um diese Zeit ein Verkehrsunfall mit Vollsperrung der Hauptverkehrsachse war immer unangenehm und viel Arbeit für die Polizisten. Die Feuerwehr hatte vor der Böschung einen Sichtschutz aufgebaut um vor Gaffern zu schützen, während man an der Böschung bereits einige weißgekleidete Mitarbeiter der Spurensicherung sehen konnte. Semir und Jenny stiegen langsam die Böschung herab, es war trocken und somit nicht rutschig, keine Gefahr für die beiden auszurutschen und sich weh zu tun.
    Ben stand am Kofferraum und sah zu, wie ein weißgekleideter Mitarbeiter sich einige Dinge genau ansah und in Plastiktüten verstaute. Kevin saß in der Hocke an der offenen Fahrertür während Meisner, der Chef der Rechtsmedizin, auf dem Beifahrersitz saß und an der Leiche von Plotz hantierte. Er hatte den Körper vom Lenkrad zurück gezogen, um besser arbeiten zu können. Er hatte das Hemd des Toten geöffnet. Jenny kam dicht hinter Kevin und legte ihm fürsorglich eine Hand auf die Schulter, denn sie wusste nicht, wie er auf den Tod des ehemaligen Kollegen reagierte.



    "Und, habt ihr schon was rausgefunden?", fragte Semir schräg hinter Kevin in den Fahrzeugraum hinein. Kevin drehte sich bei der Berührung und Semirs Stimme um, dabei erhob er sich. "Durch den Aufprall ist er nicht gestorben, es sind keine Druckstellen oder Blutergüsse zu sehen.", antwortete der junge Kommissar. "So heftig scheint der Aufprall auch nicht gewesen zu sein.", meinte Jenny bei der Betrachtung des Schadens. "Plotz fuhr vorher Schlangenlinien und hat den Verkehrsunfall ausgelöst. Es muss also vorher etwas gewesen sein.", bestätigte ihr Ex-Freund. "Meisner, was meinst du?"
    Roland Meisner, ein großgewachsener und respektvoller End-Vierziger mit grauen gescheitelten Haaren stieg aus dem Auto aus und legte sich mit beiden Händen auf das Dach des Wagens, um über das Fahrzeug hinweg mit den drei Kommissaren, zu denen sich jetzt auch Ben gesellte, zu reden. "Was genaues kann ich noch nicht sagen. Aber auf jeden Fall kein direkter äusserer Einfluss wie ein Schuss oder ähnliches. Sieht mir, auch aufgrund der Statur des Opfers, eher nach Herzinfarkt aus. Oder Schlaganfall." "Naja, wundern täte es mich nicht.", sagte Kevin leise... fast so als wollte er nicht, dass die anderen seinen sarkastischen Unterton bemerkten. Doch Semir sah ihn ein wenig befremdlich von der Seite an, was Kevin ignorierte. "Wann kannst du was genaueres sagen?", fragte Ben lächelnd und begann wieder eine kleine, fast schon übliche Kabbelei mit Meisner. "Nach der Obduktion. Entschuldige, wenn ich den armen Mann nicht sofort in seinem Wagen aufschnippele." "Das wird vielleicht auch gar nicht nötig sein. Wir müssen eh seine Familie benachrichtigen, vielleicht kann die uns etwas über etwagige Herzprobleme sagen.", hakte Semir sofort ein. Meisner nickte und wandte sich wieder Plotz zu, auf den Kevin einen letzten Blick warf, bevor er sich abwandt.



    Jenny griff ihren Ex-Freund am Arm. "Und mit dir ist alles okay?" Semir bemerkte ihre Frage und sah seinen größeren Kollegen an. "Na klar, wieso nicht?", fragte Kevin und alle merkten sofort dass es nicht die übliche "Alles okay" - Antwort war, obwohl ganz sicher nicht alles okay war. "Naja... immerhin wart ihr beide zusammen Kollegen, eine Zeitlang.", bemerkte auch Semir, dem Kevins Sarkasmus eben schon aufgefallen war. Auch jetzt zog er ironisch die Augenbrauen nach oben. "Kollegen?" Es klang verächtlich und kalt, so dass sich in Semirs Hals ein Kloß bildete. Ja, er wusste wie Kevin zu Plotz stand... Plotz sah den jungen Polizisten damals als Schandfleck der Polizei, als er von seiner kriminellen Vergangenheit erfuhr, und weil Kevin eben nicht das Top-Beispiel eines deutschen Beamten war. Und er war, zwar nicht bewusst, aber genüßlich daran beteiligt, den jungen Polizisten ungerechterweise für einen Mord hinter Gitter zu bringen. Als die Sache aufgeklärt war, konnte sich der dicke Polizist nicht mal zu einer ehrlichen Entschuldigung aufraffen.
    Das wusste Semir alles... aber konnte man wirklich so kalt und abgebrüht sein, einen Menschen so verachten dass man in der Stunde des Todes nicht mal einen Funken an Trauer empfand? Selbst bei unbekannten Opfern hatte Semir immer mal den Gedanken daran, wie sich die Familie jetzt fühlen musste, Freunde, Bekannte. Selbst, wenn einem Kollegen zustoßen würde, den Semir auf den Tod nicht leiden könne... würde er so reagieren? Er, und auch Jenny und Ben fanden Kevins Reaktion befremdlich.



    Der jedoch spürte die Blicke von den drei Kollegen, die ihm gegenüber standen und er empfand sie als unangenehm. "Können wir jetzt unsere Arbeit machen? Jemand muss die Familie benachrichtigen, und die Dienststelle wäre auch nicht schlecht." Der erfahrenste Beamte schaute zu Ben, und der nickte... es brachte nichts, die Diskussion jetzt fortzusetzen. Kevin wollte mit der Arbeit von seinem Verhalten ablenken. "Okay... wer macht was?", fragte er in die Runde, den meist teilten sie sich selbst auf, ohne dass er Anweisungen geben musste, als Ranghöchster. "Also wenn ihr der Chefin Beschwerden ersparen wollt, lasst ihr mich bitte zu seiner Frau fahren. Auf eine Auseinandersetzung mit den Kollegen der Mordkommission habe ich keine Lust.", sagte Kevin sofort, und es war klar dass dort noch einiges mehr im Argen liegen musste. Semir stimmte durch Nicken zu. "Ben und ich fahren zur Mordkommission.", sagte er dann und warf Jenny einen Blick mit einem kurzen Hochziehen der Augenbrauen zu, als Kevin sich umgedreht hatte um die Böschung hinaufzugehen. Ein klares Signal für: "Fahr du mit Kevin... dir erzählt er vielleicht mehr." Kurz bevor sie in die Dienstwagen stiegen, konnte sich Ben eine kurze Frozzelei in Kevins Richtung nicht verkneifen: "Und halt dich mit deinem Sarkasmus bei Plotz' Frau vielleicht ein wenig zurück." Wenn Blicke töten könnten, wäre Ben auf der Stelle tot umgefallen... mehr als ein Blick seines jungen Kollegen kam auch nicht als Antwort. Dafür äusserte sich Semir, nachdem die beiden eingestiegen waren: "Du weißt manchmal auch nicht, wann ein Witz angebracht ist, und wann nicht..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Mord-Kommission - 10:45 Uhr



    Semir parkte seinen BMW auf dem großen Parkplatz vor dem Gebäude der Polizeidirektion Köln. Es war eines von zwei großen Direktionen in Köln, wo verschiedene Abteilungen der Kölner Kriminalpolizei untergebracht waren, neben verschiedenen Dienststellen des Streifendienstes - und der Auutobahnpolizei. Ben erinnerte sich beim Aussteigen, wie er hier mit Semir hereingestürmt war und Plotz die Chesseburger in den Mülleimer geschmissen hatte, nachdem dieser Kevin verhaften hat lassen aufgrund des Mordverdachtes. Er hätte den dicken Kommissaren damals eigenhändig erwürgen können, obwohl dieser, wenn auch gehässig, nur seinen Job getan hatte. Es war ein komisches Gefühl, das Ben beschlich, vor allem im Bezug auf seinen jungen Partner, der eben noch so kalt und abweisend reagiert hatte. Hatte der den wirklich überhaupt keine guten Erinnerungen an Plotz? Irgendetwas, was sie miteinander erlebt hatten?
    Im zweiten Stock gingen sie durch den Flur, bis sie an Plotz' Büro angekommen waren und hineinsahen. Es war leer, der Tisch gegenüber von Plotz penibel aufgeräumt und nur ein Name stand an der Tür. Offenbar war er zur Zeit ohne Partner. "Sucht ihr jemanden?", wurden sie von einer kernigen Stimme angesprochen, die hinter ihnen aufgetaucht war und die beiden sich herumdrehen ließen. "Ah, Morgen Claus.", begrüßte Semir die Stimme und es wurden Hände geschüttelt. Claus Frege war der Leiter der Mordkommission in Köln, ein Mit-Vierziger, der eine sehr steile Karriere bei der Polizei hingelegt hatte. Mit schnellen Schritten durchlief er jede erdenkliche Station und stieg in der Riege schnell bis zum Kriminalhauptkommissar auf. Allerdings wurden ihm Beziehungen in die Politik nachgesagt, was seiner Laufbahn sehr zuträglich war. Als Chef hatte Semir schon öfters gehört, dass seine Führungsmethoden umstritten war.



    "Können wir kurz in deinem Büro reden? Wir haben schlechte Nachrichten.", sagte der kleine Kommissar und blickte ernst. Claus nickte und bat die beiden in sein Büro, ein typisches Vorgesetztenbüro. Größer als die Räume, in denen zwei Kommissare Platz haben mussten, großer Schreibtisch und eine Sitzecke, der obligatorische Akten- und Ordnerschrank. An der Wand hingen einige eingerahmte Gruppenbilder verschiedener Jahrgänge des Teams der Mordkommission. Ben setzte sich nicht sofort, sondern sah sich interessiert die Bilder an. Dabei entdeckte er das, was er suchte. Eine Gruppe Menschen, lächelnd in die Kamera schauend. Der Chef am linken Bildrand, den Arm freundschaftlich um einen Mitarbeiter gelegt. Plotz platzfüllend in der Mitte und vorne, da er einer der Kleinsten war. Und am rechten Rand, beinahe abseits und fremd, als würde er nicht dazugehören, ein junger Kollege mit kurzen Haaren, die er streng nach oben gestachelt hatte. Seine blauen Augen schauten melanchonisch in die Kamera, und er hatte zu seinem Nebenmann eine halbe Armlänge Platz gelassen. Er passte nicht dazu, und am liebsten wäre er nach rechts aus dem Bild verschwunden. Ben schnürte es ein wenig die Kehle zu.
    "Was kann ich für euch tun?", fragte Claus und noch bevor Semir sein Anliegen vorbringen konnte, schob der Leiter der Mord-Kommission eine Frage nach: "Wie geht es Kevin?" "Dem gehts gut. Er hat sich endlich gut eingelebt bei uns.", nickte Semir anerkennend und merkte schnell, dass es eine Höflichkeitsfrage von Kevins ehemaligen Vorgesetzten war... denn genauer fragte er nicht nach. Die Strapazen seines ehemaligen Zöglings waren auch zu ihm durch gedrungen... aber Kevin interessiere ihn nicht.



    "Wir haben leider keine erfreuliche Nachricht.", begann Semir, während Ben sich nun endlich zu ihm setzte. "Erwin Plotz ist vorhin bei einem Autounfall verstorben. Tut mir leid." Claus Lächeln, von dem man oft nicht wusste wie ehrlich es war, verschwand langsam. "Was? Wie... wie ist das passiert?" "Er ist plötzlich von der Straße abgekommen. Wir waren direkt hinter ihm. Er hat einen Kleinwagen gerammt und ist dann die Böschung heruntergefahren. Er ist nicht an den Unfallfolgen verstorben, es sieht eher nach einem Schlaganfall oder einem Herzinfarkt aus.", erzählte Ben, der direkter Zeuge war. Der Leiter der Mordkommission atmete tief durch und fuhr sich mit der Hand über den Mund, mit der Hand einmal über den haarlosen Kopf. Als er mit Mitte 30 bereits anhaltenden Haarausfall und Geheimratsecken bemerkte, nahm er den Rasierer zur Hand und behielt das regelmäßig bei.
    "Puuh... Erwin war seit 20 Jahren bei der Mordkommission. Das trifft mich gerade, er hat mich sehr unterstützt als ich hier den langjährigen Leiter abgelöst hatte, was nicht bei allen auf Gegenliebe getroffen war." Ben, der Claus ein wenig arggewöhnisch anblickte, sagte: "Hat er andere Mitarbeiter denn genauso unterstützt?" Klar war, dass die Frage auf Kevin abzielte und er plötzlich ebenso kühl dachte, wie Kevin vorher und Frege das Gleiche vorwarf, was er eben dachte: Musste man über Tote nicht nur gut denken. "Ben...", murmelte Semir vorwurfsvoll und stieß mit der Hand gegen dessen Oberschenkel. "Wie meinen sie das?", fragte Claus mit resoluter Stimme.



    Semir lenkte von dem anbahnenden Dialog ab. "Weißt du ob Erwin irgendwelche gesundheitlichen Probleme hatte? Hatte er davon mal etwas erzählt, vielleicht mehr Krankentage gehabt, Kur oder irgendwas?" "Vermutet ihr ein Verbrechen?", fragte der Leiter der Abteilung mit hochgezogenen Augenbrauen. "Naja, die Obduktion wird weiteren Aufschluss geben... aber wenn er kerngesund war, dann wird man wohl einige Nachfragen stellen müssen. Denn einfach so kippt ja niemand um, oder?" Ben neben ihm zuckte mit den Schultern: "Erwischen kann es jeden durch sowas...", meinte er schon wieder etwas versöhnlicher. Eigentlich mochte er es nicht, wenn Semir ihn in der Öffentlichkeit maßregelte. "Also ich kann euch nur soviel sagen: Wenn Erwin mal einen Tag krank gemacht hat, dann mit meiner Absprache, weil er zu irgendeiner Vorsorgeuntersuchung war. Die hat er alle ernst genommen, und es kam nie etwas dabei raus. Ich kann mich nicht mal erinnern, dass er mal ne Grippe hatte. Auch wenn er sicherlich nicht gesund gelebt hat.", erklärte er.
    Der erfahrene Polizist neben Ben lehnte sich zurück. "Also es gibt zur Zeit keine Anzeichen für ein Verbrechen. Aber natürlich mussten wir dich informieren, deshalb sind wir hier. Es tut mir wirklich leid.", sagte er und meinte seine Worte ehrlich. Es war immer schlimm, einen Mitarbeiter so zu verlieren, egal wie er nun war.



    Doch Ben konnte sich eine weitere Nachfrage nicht verkneifen: "Wie war Herr Plotz eigentlich so gestellt bei den Kollegen? Eher beliebt, oder...?" Er verpackte seine Frage mit einem Lächeln und ehrlichem Interesse. Doch der erfahrene Frege durchschaute sein Spiel, ließ sich aber nicht auf eine Konfrontaton ein. "Erwin war fachlich bei allen geschätzt. Und menschlich ist jeder eben individuell und nicht jeder kommt mit jedem aus. Aber es gab keine Probleme bei uns auf der Dienststelle. Die hätte ich nämlich längst gelöst. Aber ich kann mir schon vorstellen, woher ihre Voreingenommenheit kommt.", war sein provokanter Konter. "Sie sollten vielleicht nicht alles glauben, was ihr Kollege aus unserer Abteilung oder über Erwin erzählt. Er war ein sehr guter Polizist und hoch geschätzter Kollege." Bevor Ben eine Reaktion zeigen konnte, spürte er den "Halt-Stop"-Griff von Semir auf seiner Schulter, und Claus selbst unterband die Konversation, in dem er aufstand und ankündigte jetzt die Belegschaft zu informieren. Er gab Semir dankend die Hand, während er sich zu dieser Geste Ben gegenüber verweigerte... Ben ebenso. Das Klima war eiskalt.
    Auf dem Rückweg zum Auto stieß der erfahrene Polizist Ben an. "Mensch, Ben... Kevin wollte hier nicht hin, damit es keinen Stress gibt und jetzt machst du den Stress." "Hast du nicht gehört, was der Typ gesagt hat?" "Doch, hab ich. Aber bei solchen Typen muss man einfach mal schlucken und den Mund halten. Wichtig ist doch nur, was wir von Kevin halten..."

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  • Wohnsiedlung - 10:45 Uhr



    Kevin lenkte Ben's Dienstauto, das er auf der Autobahn quasi für sich beansprucht hatte, durch die Straßen von Köln, während die immer gut gelaunte Frauenstimme aus dem Navi den Weg ansagte. Jenny warf ihm immer wieder einen kurzen Seitenblick zu, um irgendeinen Gedanken oder eine Regung aus seinem Gesicht zu lesen. Doch der junge Polizist war wie ein geschlossenes Buch, von dem Jenny nur das Cover sah. Und auf dem schien in großen Buchstaben geschrieben zu stehen: "Denk nicht mal danach, mich zu öffnen." Seine kalten Augen starrten aus der Windschutzscheibe und seine Hände zogen an jeder Kreuzung resolut am Lenkradkranz. Es schien fast wie eine Erlösung, als das Navi verkündete "Sie haben ihr Ziel erreicht." und der Wagen vor einem hübschen, ansehnlich großen Wohnhaus in einer Wohnsiedlung aus den späten 70ern anhielt.
    Natürlich bedrückte ihn etwas... Jenny war ja nicht blind und sie kannte den schweigsamen Polizisten ja nun eine ganze Weile. Aber war es wirklich Trauer? Seine Stimme und sein Tonfall auf der Autobahn klang ziemlich überzeugend, als er diese Gefühl bestritt. Aber war es war es dann? Konnte in diesem Moment tatsächlich längst geschluckte und verdaute Wut wieder aufsteigen? Auf Plotz, auf alte Kollegen? Sie sah dem jungen Mann etwas besorgt hinterher, als dieser auf die Haustür zuhielt und die Klingel betätigte, an der Plotz' Namen an einem Messingschild hing. Hoffentlich würde er professionell bleiben.



    Viele reagierten auf den Tod eines nahen Verwandten anders. Einige schrien, andere weinten, wiederum andere begriffen im ersten Moment gar nicht, was gerade geschehen war. Sie begannen Kaffee zu kochen oder die Wäsche zu bügeln, während die Beamten begannen, erste Fragen zu stellen. Der Zusammenbruch kam dann erst später. Wie immer hatten die Polizisten einen Notfallseelsorger bestellt, der in einem Wagen um die Ecke wartete, falls er eingreifen musste. Doch den benötigte Elfriede Plotz nicht. Die Frau, die ihnen in einer Arbeitsschürze und Alltagskleidung die Tür geöffnet hatte, schien äusserlich perfekt zu Erwin zu passen. Kevin hatte mal ein Bild von ihr auf Plotz' Schreibtisch gesehen, das allerdings schon etwas älter sein musste. Sie war ebenfalls pummelig und nicht sehr groß, hatte lockige Haare und kämpfte gegen die grauen Strähnen mit Farbe. Anhand ihrer Ansätze konnte man erkennen, dass es bald wieder Zeit war, für eine Auffrischung.
    Sie saß nach der schlimmen Nachricht, die Kevin ihr überbracht hatte, ruhig im Sessel des Wohnzimmers. Eine alte Pendeluhr tickte, so dass man es im gesamten Raum wahrnehmen konnte, sie passte zu der etwas altmodischen Einrichtung des Hauses. Schwere Teppiche, hübsche aber altmodische Couchgarnitur, eine Art verkleinerter Kronleuchter als Lampe. Die Gardinen verhinderten, dass der Raum eine freie Atmosphäre bekam, alles wirkte ein wenig zugeschnürt, so kam es Jenny vor. Es war eine ganze andere Atmosphäre, als in ihrer offenen modernen Wohnung.



    "Ich... ich kann mir das gar nicht erklären.", sagte Elfriede und schneuzte sich die Nase in ein Taschentuch, nachdem ihr die beiden Polizisten ein paar Minuten der Stille gegeben hatte. "Frau Plotz, hatte ihr Mann mal irgendetwas von Beschwerden erwähnt?", fragte Jenny mit ihrer einfühlsamen Art, während Kevin sich zurückhielt. Er hatte nur die schwere Aufgabe übernommen, den Tod mitzuteilen und in knappen, weniger ausführlichen Sätzen zu erzählen, was genau passiert war. "Nein. Also... nichts worüber ich mir Sorgen gemacht hätte. Er hatte es ein wenig mit dem Rücken, aber das war bei seiner Statur und seinem Beruf ja kein Wunder.", sagte die Frau im Sessel und wischte sich immer wieder mit dem Taschentuch einzelne Tränen aus den Augen.
    "Er ist auch zu jeder Voruntersuchung gegangen. Da war er sehr penibel, vor allem je älter er wurde. Er wollte gesund in den Ruhestand, denn er hatte sich darauf gefreut." Sie schniefte wieder als sie begriff, dass ihre Träume gerade zerbrochen waren, mit ihrem Mann einen geruhsamen Lebensabend zu haben. Ein wenig Verreisen, das Haus pflegen, zusammen alt werden. Kinder hatten sie keine, auch wenn sie jetzt in diesem Alter gerne mal Enkel gehabt hätte. Aber sie war bisher so zufrieden mit ihrem Leben, ihrer Ehe... sie wollte nicht klagen. Jetzt war alles anders.



    Kevin fühlte sich schlecht, weil er die Frau seines ehemaligen Kollegen da sitzen und weinen sah. Ein Mensch war für jeden etwas anderes. Für Elfriede war Plotz scheinbar der liebende Ehemann. Ein Mann, der sich um Frau und Haus gekümmert hat, und um den es sich lohnte zu trauern. Für Kevin war er ein Ekelpaket, jemand der ihm das Leben zur Hölle gemacht hat. In vielerlei Hinsicht. Der ihm mehrmals beinahe die Polizeikarriere gekostet hatte, und ihn dadurch zurück in das Loch geworfen hätte, aus dem er gerade mühsam gekrochen war. Er brachte kein tröstendes Wort über die Lippen, oder eine Frage die vielleicht Licht ins Dunkel gebracht hätte. So blieb er scheinbar im Hintergrund von Jenny, wie ein Azubi, der noch lernen musste.
    Doch in dieser Rolle ließ ihn Elfriede nicht, den sie hatte ihn längst erkannt. "Sie haben doch mit ihm zusammengearbeitet. Sie sind doch Kevin, oder?" Jenny blickte kurz zu ihrem Ex-Freund und zog etwas verwundert die Augen nach oben. "Ja, das ist aber schon länger her.", wich der Polizist aus. "Er hat aber öfters noch von ihnen gesprochen. Ihn hatte die Sache mit seinem Kollegen, der den jungen Polizisten ermordet hatte, sehr mitgenommen, und dass Sie wegen ihm ins Gefängnis mussten.", erzählte sie und räusperte sich etwas. "Er hat hin und wieder von Ihnen erzählt... und dass er Sie zu einem guten Polizisten machen wollte." Kevin schluckte, und diese Information traf ihn, wie ein Schlag im Ring. Und anders als im Ring wählte er nicht die Konfrontation. "Wir... wir müssen wieder los. Wenn wir etwas genaueres über die Ursachen wissen, melden wir uns.", sagte er und griff sich in die Gesäßtasche, wo er allerdings nicht das fand, was er suchte. "Du hast doch bestimmt ne Karte, oder?", raunte er dann Richtung Jenny, die ihn etwas verständnislos ansah.



    Sie griff in die Tasche ihrer leichten Jacke und gab Frau Plotz eine Visitenkarte. "Haben sie jemand, der vielleicht zu ihnen kommen kann?", fragte die junge Polizistin noch, und Frau Plotz nickte. Sie versprach, ihren Bruder sofort anzurufen, damit dieser mit seiner Frau hierher kommen würde. Aber es wäre kein Problem, sie jetzt alleine zu lassen. Kevin hatte sich längst nach einer kurzen Verabschiedung und einem gemurmelten Beileid zur Tür begeben, wohin Jenny ihm jetzt folgte. Kurz vor dem Dienstwagen hatte sie ihn eingeholt und hielt ihn am Handgelenk fest. "Was soll das?", raunte sie ihren Ex-Freund an, der seine Hand sofort befreite. "Was meinst du?" "Ich habe nicht das Gefühl, dass du besonderes Interesse hast, irgendwie Dunkel in diesen Fall zu bringen.", warf Jenny ihm vor.
    Der junge Polizist schüttelte kurz den Kopf. "Welchen Fall? Plotz hatte einen Herzinfarkt oder Schlaganfall, da gibt es keinen Fall. Wir schreiben unseren Bericht, und damit hat sich die Sache.", sagte er und ging um das Auto herum zur Fahrertür. Jenny konnte es nicht fassen, welche Kaltherzigkeit er gerade zeigte... vor allem ER, der auch einen geliebten Menschen verloren hatte und so darunter litt. "Hat dir die Frau da drin jetzt nicht leid getan?" Kevin seufzte und schaute zu seiner Partnerin über das Autodach hinweg. "Dass mir Plotz' Frau leid tut, ändert nichts an der Person Plotz, oder was er getan hat." Jenny ahnte, dass die Frage nach dem "Was hat er getan?" zu keiner Antwort führte, und lieber führte sie ihrem Partner sein Verhalten vor. "Ich möchte dich sehen, wenn das mal jemand über deine Schwester sagt." Dann stieg sie ein und betete kurz, mit diesem Satz keine Grenze überschritten zu haben. Niemand anderes hätte diese Worte in Kevins Richtung sagen dürfen, denn einzig von Jenny nahm er sie sich zu Herzen. Er schloß kurz die Augen und atmete durch, bevor er sich zu Jenny ins Auto setzte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 13:30 Uhr



    Jenny hatte Angst vor Kevins Reaktion. Auf ihren Satz, auf ihren Einwurf bezogen auf seine Schwester. Ein Thema, so sensibel und zerbrechlich, dass es Semir und Ben niemals auffassten, ausser es gab einen konkreten Bezug dazu. Es abstrakt anhand eines Momentes zu erfassen... das durfte sich tatsächlich nur Kevins ehemalige Freundin erlauben. Ja, sie hatte Angst vor seiner Reaktion... doch es gab keine. Er setzte sich stumm neben sie ins Auto, sie fuhren nach dem Besuch bei Frau Plotz auf die Autobahn. Hin und wieder sah sie zu dem schweigsamen Polizisten herüber, und fragte ihn etwas belangloses um seine Stimmung zu testen. Er gab Antwort... völlig normal, nicht kürzer als sonst, aber auch nicht überaus redselig, was er sowieso nicht war.
    Er war nicht sauer auf Jenny, denn sie hatte natürlich Recht. Egal was seine Schwester angestellt hatte, egal welche Fehler sie hatte... würde sich jemand nach ihrem Tod so über sie äussern, wie es Kevin über Plotz tat, würde er ihm den Kopf abmontieren und sich dabei im Recht sehen. Jetzt sah er sich ebenfalls im Recht, aber er konnte nachvollziehen, dass Jenny es nicht verstand. Sie war nicht dabei in der Zeit, als er vom schwierigen Streifendienst, wo ihn jeder Kollege schief ansah weil ihn die Kleinkriminellen auf den Straßen erkannten, in die Kommissarslaufbahn einstieg, und wegen Personalmangel zur Mordkommission versetzt wurde. Es passierten Dinge, die Kevin einfach nicht vergessen konnte.



    Die junge Polizistin war einigermaßen beruhigt. Sie sprach das Thema nicht mehr an, auch nach der Mittagspause nicht, als Anna Engelhardt nachhörte. "Der Chef von Plotz sagte, dass Plotz bei seinen Kollegen sehr angesehen war. Gesundheitliche Probleme konnte er nicht erkennen, Plotz war wenig krank und nahm jeden Vorsorgetermin war.", erzählte Ben, als sie zu viert, plus der Chefin, in Semirs Büro versammelt waren. Bei dem Satz, dass Plotz bei den Kollegen sehr angesehen war, warf Jenny einen kurzen Blick zu Kevin, doch der zeigte keine Reaktion. Sie war sich nicht mal sicher, ob er überhaupt zugehört hatte, er drehte sich eine Zigarette und steckte sie sich, wie üblich, hinters Ohr. Ein Signal, dass er nach der Besprechung kurz vor die Tür gehen würde.
    Danach übernahm die junge Beamtin das Wort und berichtete Ähnliches aus dem Hause Plotz: "Das hat uns seine Frau bestätigt. Keine Auffälligkeiten gesundheitlicher Art, ausser Rückenproblemen. Sie kann sich zumindest die Sache nicht erklären." Dabei zuckte sie kurz mit den Schultern und die Chefin nickte. "Also, dann warten sie noch das Ergebnis aus der Gerichtsmedizin ab. Wenn es da keinerlei Auffälligkeiten gibt, dann wird er Fall als tragischer Todesfall im Verkehr zu den Akten wandern." Sie nickte kurz, und verließ das Büro.



    Horst "Hotte" Herzberger kam ihr mit einigen Blättern in der Hand entgegen und betrat das Büro. "Leute, der Bericht der Gerichtsmedizin ist gerade per Mail reingekommen. Hier, ich hab ihn euch ausgedruckt." "Ach Hotte, den können wir doch auch am PC lesen. Wir sollen doch Papier sparen, wegen dir sind jetzt bestimmt drei Bäume in Südamerika abgeholzt worden.", witzelte Ben und nahm die Blätter entgegen. "Quatsch. Das ist Recycling-Papier. Ausserdem hat der Staat dafür keinen Cent ausgegeben, die Blätter hat mir meine Frau heute morgen mitgegeben. Auf der anderen Seite ist mein Diätplan, aber den brauche ich nicht.", gab der dicke Beamte zur Antwort und Ben drehte das Blatt mit verwirrtem Blick einmal herum.
    "Ums kurz zu machen: Meisner hat keinerlei Auffälligkeiten gefunden. Alles deutete auf einen ganz normalen Herzinfarkt hin.", nahm Hotte Ben das Wort vorweg, bevor dieser mit Lesen fertig war. "Hmm... naja. Vielleicht wirklich... Pech. Kommt dann halt mal vor, auch bei gesunden Leuten.", sagte er langsam. "Mein Onkel, der war Marathonläufer. Früher. Top Gesundheit, nur Gemüse gefuttert, hat mir immer etwas vom perfekten BMI vorgeschwärmt, als ich jünger war. Mit 56... zack, Herzinfakrt, Feierabend.", erzählte Hotte in seiner typischen Art, wobei er bei dem "Zack" eine horizontale Geste mit der Hand machte. "Denkt immer dran, es kann jeden, jederzeit erwischen.", setzte er mit erhobenen Zeigefinger noch hinten an und verließ dann ebenfalls das Büro.



    "Wenns den nicht gäbe, müsste man ihn erfinden.", kicherte Jenny und setzte die Kaffeetasse an den Mund. Ihr junger Kollege mit der Wuschelfrisur übergab Semir den Bericht, der ihn nach wenigen Minuten an Kevin weiterreichte. "Ja, dann ist es wohl so. Fall abgeschlossen." Kevins Augen huschten über die schwarzen Buchstaben auf weißem Grund und ein wenig kaute er auf seiner Lippe herum. Er war froh, dass es sich um einen Herzinfarkt handelte, und sie in der Sache nicht ermitteln mussten. Es würde wohl nur zu einigen unschönen Aufeinandertreffen mit ehemaligen Kollegen kommen, und darauf konnte er gut verzichten. Genauso würde es irgendwann ebenfalls weniger angenehme Fragen seiner Kollegen geben... zu früher und zu seiner Einstellung zu den Ermittlungen. Nein, dachte er... so war es schon besser.
    Er wollte sich gerade vom Tisch, an dem er lehnte, wegbewegen um nach draussen zu gehen und sich eine "Verdauungszigarette" anzuzünden, als er merkte dass er sein silbernes Aufklapp-Feuerzeug im Büro liegen hatte. Von Semirs Büro ging er quer durch den großen Raum Richtung des eigenen Raums. So konnte er, nachdem er die Eingangstür, die auf den Flur hinausführte, passiert hatte, nicht sehen wer direkt dahinter zur Tür hinein kam und den ersten Beamten ansprach, der sie fragte, womit er ihr helfen könnte.



    Kevin stand mit dem Rücken zur Tür und sah über seinen Schreibtisch um sein Feuerzeug zu erblicken, als Bonrath gegen die Tür klopfte. "Kevin... da sucht dich jemand." sagte er und ließ den jungen Kollegen sich umdrehen und an Bonrath vorbei ins Großraumbüro blicken. Er erblickte die schlanke, blonde, weibliche Gestalt, die gerade jetzt die Sonnenbrille absetzte und sich aufmerksam umsah. Der Polizist stand noch im Schutze von dem schmalen Bonrath und er drehte sich mit aufgeblasenen Backen vom Fenster weg. "Die hat mir gerade noch gefehlt...", murmelte er.
    Es half nichts... er hätte sich höchstens unterm Schreibtisch verstecken und so der Konfrontation entgehen können. Der Weg, vom Büro zu der Frau, die dort auf ihn wartete, war zu kurz um einen Deeskalationssatz bereitzulegen... aber lang genug für eine Provokation. "Saskia Hofmann... ich hatte gehofft, dass wir uns erst wiedersehen, wenn man mich tot aus dem Rhein fischt.", sagte er als Begrüßung mit seiner monotonen, herablassenden Stimme. Die blauen funkelnden Augen, die ihn trafen, hätten töten können. "Die Hoffnung habe ich aufgegeben, Kevin. Ich würde es höchstens noch im Lagebericht lesen, aber nicht mehr bei der Mordkommission. Ich bin jetzt bei der K12." Die Bezeichnung für die Dienststelle, die sich mit den dunkelsten und abscheulichsten Verbrechen beschäftigt. Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und -Pornografie. Kevin konnte sich ein zynisches Grinsen nicht verkneifen. "Ja, da werden die empathielosesten Beamten gesucht."



    Bonrath spürte bei dem kurzen Blick auf die beiden, dass die Temperatur im Raum um 10 Grad fiel und stupste Hotte an. "Wenn einer der beiden gleich die Knarre zieht, mach ich mich klein." Hotte sah seinen baumlangen Partner von Kopf bis Fuß an. "Das wird schwer. Aber wenn du dich klein machst, mach ich mich dünn."
    "Ich bin nicht hierher gekommen, um mich zu streiten." "Fein. Falls du geblitzt worden bist oder dein Auto wurde gestohlen... bitte, wende dich an die Herren in Uniform." Dabei zeigte er in Richtung des ungleichen Duos, und wollte sich wieder zu seinem Büro drehen. "Ich bin hier wegen dem Mord an Erwin." Kevin blieb einen Moment mit dem Rücken zu saskia stehen und verdrehte die Augen. "Der Mord war ein ganz normaler Herzinfarkt.", sagte er, ohne sich noch einmal umzudrehen. "Das war er nicht..." Die Augen des jungen Polizisten wurden schmal... Saskia hatte schon immer die Angewohnheit, statt gleich mit Fakten rauszurücken, wenn sie als Einzigste etwas wusste, die Sache wichtiger zu machen als sie war. Er drehte sich um. "Warst du dabei?" "Nein. Aber ich habe in meiner Mittagspause das hier in meinem Briefkasten gefunden.", sagte sie und zog ein Foto aus ihrer Handtasche. Für eine Sekunde blieb Kevin noch stehen, dann kam er zurück zu ihr und wart einen Blick darauf. Es war das Foto, das Ben aufmerksam an der Wand in Freges Büro betrachtet hatte. Plotz war darauf, Saskia, Kevin und einige mehr. Mit rotem Filzstift hatte jemand Plotz durchgestrichen und gleichzeitig einen roten Pfeil über den Kopf von Saskia gemalt...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 14:00 Uhr



    Es wurde eine spontane Versammlung im Büro der Chefin. Am liebsten hätte Kevin alles abgeblockt und entsprechend still und schlecht gelaunt wohnte er der Runde bei. Doch Ben kam, wie so oft angelockt von der recht attraktiven Erscheinung im Großraumbüro heraus, um herauszufinden wer die fremde Schönheit war, und was sie mit Kevin zu tun hatte. "Tauscht ihr Kindheitsbilder aus?", grinste er und streckte Saskia die Hand hin um sich vorzustellen. Dann erkannte er sofort das Gruppenbild, was er sich bei der Mordkommission selbst noch genau angesehen hatte, nahm die Markierungen war und war sofort im Bilde. "Ach du Kacke... Semir! Jenny!" Er fasste sofort Kevins missmutigen Blick auf. "Was ist?" "Ach, nichts...", gab dieser zur Antwort und Ben erkannte sofort an der Tonlage seines Partners, dass sehr wohl etwas war.
    Jenny und Semir kamen ebenfalls dazu, es wurden Hände geschüttelt und Saskia Hofmann stellte sich vor. Jenny betrachtete sie sofort etwas arggewöhnisch. War das so etwas wie ein natürlicher Reflex bei Frauen? Sie sah Kevin an, ihren Ex-Freund. Sie sah Saskia Hofmann an, mit ihren natürlichen blonden Haaren und langen Beinen sicher ein Schönheitsideal und der Traum vieler Männer, und für einen Moment verglich sie sich mit ihr um wieder auf Kevin zu blicken, der früher mit Saskia zusammengearbeitet hatte. So wie mit ihr selbst. Ach, was für ein blöder Gedanke.



    Saskia zeigte das Foto herum und erzählte kurz, dass es heute Mittag im Briefkasten lag. "Soviel zur natürlichen Todesursache.", murmelte Semir um sofort mit zwei schnellen Schritten an Andreas Tisch zu treten und die Nummer von Meisner anzurufen. "Meisner! Du alte Laborratte. Deinen Bericht kannst du dir als Tellerunterlage nehmen. - Was? - Wieso? Weil wir einen Mord vermuten! Ja, da gibt es klare Hinweise drauf. Also schau nochmal genau drüber." Meisner kannte Semir seit Jahren und fasste die ersten Worte natürlich als Spaß auf. Er versprach, nochmal genauer zu untersuchen und der erfahrene Polizist gab Meisner den Tipp, auf die Blutkörperchen zu achten. Dieser Fehler eines Gerichtsmediziner hatte André vor vielen Jahren beinahe den Job gekostet, als ein Karateschüler von ihm im Ring an einem Herzinfarkt verstorben war. Statt Andrés Schlag war die Ursache ein Aufputschmittel in Tablettenform.
    Die Chefin wurde von dem Trubel aus ihrem Büro gelockt, schließlich standen jetzt mittlerweile 5 Leute mitten im Großraumbüro beisammen und debattierten. "Darf ich mal fragen, was dieser Auftritt zu bedeuten hat?", fragte sie spitz. "Frau Hofmann, das ist Anna Engelhardt, unsere Chefin.", stellte Ben die Chefin vor. "Saskia bitte... Frau Engelhardt, ich bin von K12 und war früher bei der Mordkommission. Heute mittag fand ich das in meinem Briefkasten." Auch der Chefin wurde das Foto gezeigt, sie erkannte Plotz, Saskia und ganz aussen auch Kevin. Mit einem kurzen Blick nahm sie den jungen Ermittler ins Visier. "Na, dann kommen sie mal alle zu mir ins Büro."



    Die Kapazität des Büros der Chefin gelangte an ihre Grenzen. Ben und Jenny saßen auf den beiden Stühlen vor dem Schreibtisch, Saskia und die Chefin auf der Ledersitzgruppe, Semir hatte sich an die Fensterbank gelehnt und Kevin stand mit dem Rücken zur Tür. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt und hatte eine abwehrende Haltung eingenommen. Alle im Raum konnten seine Kälte, die er Saskia gegenüber zeigte, deutlich spüren und er versuchte nicht einmal, sie zu verheimlichen. Irgendwas musste diese tiefe Ablehnung begründen.
    "Haben sie jemanden in Verdacht, Frau Hofmann?", fragte die Chefin, die natürlich die Höflichkeitsform wahrte, während alle anderen im Raum zum "Du" übereingekommen waren. Die junge Frau schüttelte den Kopf. "Nein, überhaupt nicht. Ich meine, Erwin hat so manchen Mörder hinter Gitter gebracht in all den Jahren. Wenn da jemand rausgekommen ist... aber das habe ich alles nicht recherchiert. Ich habe das Foto gefunden und bin danach sofort hierher." Sie nahm kurz Blickkontakt zu Kevin auf, doch der junge Polizist hatte sich seine allbekannte arrogante Schutzmauer hochgezogen. Er reagierte einfach nicht. Er folgte, scheinbar interessiert, dem Gespräch und schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.



    "Hast du bei der Mordkommission Bescheid gesagt? Ich meine, man muss die doch warnen.", sagte Ben, woraufhin die Polizistin als Antwort wieder den Kopf schüttelte. "Naja, wenn man den Pfeil so deutet, dass Saskia als Nächstes dran ist... dann sind die Kollegen noch nicht in Gefahr.", meinte Semir nachdenklich und betrachtete das Bild. Er wischte mit dem Finger ein wenig über den Pfeil, er löste sich. "Filzstift. Er hat es also nicht am Computer editiert." "Und wenn er die Gelegenheit hat, einen anderen vorher abzugreifen?", gab Ben zu bedenken während sein bester Freund sich die rote Farbe vom Finger wischte. "Warum dann der Aufwand?" "Also, den Kollegen von der Mordkommission werden wir definitiv Bescheid sagen, allein aus persönlichen Gründen. Die haben schon ein Recht darauf zu erfahren, ob ihr Kollege ermordet wurde oder nicht.", beendete die Chefin das Geplänkel.
    "Wichtiger dagegen ist zu wissen: Woher hat die Person dieses Foto? Hat sie es irgendwo entwendet, kopiert, abfotografiert?", stellte sie eine zentrale Frage in den Raum. "Wer hat denn das Foto damals alles bekommen?", fragte Jenny, wobei sie immer ihren ehemaligen Freund an der Tür im Blick hatte. "Jeder, der damals drauf war... also, wer wollte. Das war irgendein Anlass, ein Jubiläum als das Bild gemacht wurde. Das könnte also jeder der Kollegen auf dem Bild in seinem Schlafzimmer oder in ihrem Büro hängen haben.", sagte Saskia und warf einen, eher abfälligen Blick auf den Mann mit den abstehenden Haaren. "Ausser Kevin, vermutlich."



    Die hellblauen Augen verengten sich für einen Moment, als Kevin Saskia ansah, und die Temperatur fiel um einige Grad unter den Gefrierpunkt. "Es wäre vielleicht besser, die unter Polizeischutz zu stellen.", sagte die Chefin, doch Saskia wiegelte ab: "Danke, Frau Engelhardt. Aber ich bin niemand, der sich gerne versteckt." Ein kurzes, verächtliches Lachen war der erste Ton, der während dieser Besprechung aus Kevins Mund kam. "Herr Peters, haben sie vielleicht auch einen Wortbeitrag zur Sache?", fragte Anna Engelhardt katzenfreundlich, was ein eindeutiges Warnsignal war. Das Verhalten ihres jungen Polizisten stieß ihr ziemlich sauer auf. Und auch die Blicke von Ben und Semir, die sich jetzt auf ihn richteten, drückten kein Verständnis aus. "Ich denke, dass es sich hier um einen ziemlich makabaren Scherz handelt... mehr nicht."
    Diesmal war es Saskia, die etwas verächtlich lachte. Jenny stand der Mund offen und Ben, der erst sprach und dann nachdachte, ließ ein "Wie bitte?" fallen. Semir sagte gar nichts... er blickte Kevin nur stumm an und wusste genau: Ohne Grund würde er diese Vermutung nicht äussern. "Und wie kommen sie darauf?" "Egal, was Frege euch erzählt hat... Plotz war weder beliebt noch angesehen bei der Mordkommission.", sagte er mit ruhiger Stimme und sein Blick ruhte nun auf Saskia. "Und bei der Truppe gäbe es so manchen, denen ich so eine Geschmacklosigkeit zutraue."



    Die blonde Frau stand von der Sitzgruppe auf und ging beinahe drohend auf Kevin zu. "Was willst du damit sagen? Beschuldigst du etwa, einen von unserer Truppe, dass er mir Angst machen will?" "Eure Truppe...", wurde sie von dem jungen Mann verbessert, der sich aus dieser Gruppe sofort selbst ausschloss. "Warum bist du nicht mehr dabei, hmm? In der verschworenen Truppe?" "Das geht dich einen Scheissdreck an.", zischte sie und blieb nur einen Schritt vor Kevin stehen. Die beiden waren fast gleich groß, ein wenig fehlte Saskia um auf Augenhöhe zu stehen. Aber sie musste sich nicht auf die Zehenspitzen stellen, wie es Jenny manchmal gerne übertrieben machte, wenn sie scherzhaft mit Kevin meckerte.
    "Es reicht jetzt. Herr Peters, sie erzählen uns jetzt, wie sie darauf kommen, dass es sich hier um einen Scherz handeln soll. Frau Hofmann, setzen sie sich bitte wieder." Die Autorität der Chefin war zum Greifen. "Weil ich die Leute aus der Truppe kenne, und weiß wie sie ticken.", war eine Antwort, die alles und nichts bedeuten könnte. "Geht es auch etwas konkreter?" "Nein, Chefin.", grätschte Semir dazwischen, der ein unglaubliches Gespür für Menschen hatte. Und einerseits spürte er, dass die Chefin von Kevin Details wissen wollte, die für den jungen Polizisten hinter seiner Schutzmauer lag. Und er wusste mittlerweile, welchen Weg er gehen musste, um daran zu kommen, und das war nicht das Treten gegen die Tür, wenn 5 Leute ihn anstarrten. Andererseits, und was war wirklich nur ein Gefühl, ohne jeden Hinweis... Saskia war ihm unsympathisch. Der schnelle Stimmungswechsel gefiel ihm nicht. "Das muss er jetzt nicht breittreten. Das besprechen wir intern. Die Mordkommission darf wegen Befangenheit nicht ermitteln, K12 ermittelt sowieso nicht." Dann warf er einen Blick auf Kevin, der schon eher verständnisvoll war, was Ben in diesem Moment nicht nachvollziehen konnte. "... und Kevin eigentlich auch nicht, schließlich ist er auch befangen, als Ex-Partner von Plotz." Es wäre zu auffällig gewesen, aber am liebsten hätte der junge Polizist seinen ältesten Partner dankbar zugenickt.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Vor der Dienststelle - 14:30 Uhr



    Kevin hatte zuerst den Raum verlassen. Ihm brannte die Sucht nun auf der Seele, der Glimmstengel immer noch ungeraucht hinter seinem Ohr, was die Chefin während der Besprechung mehr als kritisch beäugte und das erlösende Feuerzeug immer noch auf seinem Schreibtisch. Semir kam ihm hinterher. "Danke für dein Eingreifen.", murmelte der sonst so wortkarge Polizist. "Kein Problem, mittlerweile kennen wir dich ja ein bisschen. Aber mit der Sprache wirst du trotzdem rausrücken müssen.", stellte der erfahrene Beamte sofort klar. Kevin nickte und nahm das Feuerzeug vom Schreibtisch. "Kann ich vorher noch kurz?" "Na klar." Als Semir dem jungen Mann hinterhersah, sah sie, wie Saskia der Chefin die Hand schüttelte und aus dem Büro trat, dicht dahinter Jenny und Ben. Nur mit Blickkontakt unterhielt sich der Deutsch-Türke mit der Jüngsten im Quartett... sie solle raus zu Kevin. Er hatte zwar keine Angst, dass Kevin die Flucht ergriff... aber vielleicht konnte Jenny es ihm noch ein wenig einfacher machen. Frei zu reden... nur vor ihr, statt auch vor Ben und Semir. Er, mit einer sicheren Menschenkenntnis gewappnet, wusste dass sie eine Verbindung zu Kevin hatte, die er und Ben nicht hatte. Das war okay.



    saskia und Kevin würdigten sich keines Blickes, als die Blondine das Dienststellengebäude verließ und ihn den Mercedes-Dienstwagen von K12 stieg. Er stand an einem Blumenkübel und ließ das silberne Feuerzeug aufschnappen, hielt die kleine Flamme ans Ende der Zigarette und zog den beißenden Rauch gierig in seine Lungen. Saskia, Plotz und diesen Teil der Vergangenheit hatte er schnell aus dem Gedächtnis gelöscht. Aber andere Dinge beschäftigten ihn seit Tagen, seit er im Matrix war. Als Jenny nach draussen kam, huschte ein Lächeln über seine Lippen, aber die Sucht gewann über den Reflex, die Kippe sofort auszudrücken, wenn sie näher zu ihm kam. Er drehte sich aber ein wenig weg, wenn der den Rauch ausbließ. "Das war ja nicht unbedingt die Art, wie man eine ehemalige Kollegin behandelt.", sagte sie ohne Vorwurf in ihrer Stimme. "Sie war auch nie eine Kollegin. Wir haben nur zufällig in der gleiche Abteilung gearbeitet.", war Kevins, noch kryptische Antwort. Er sah sich nicht als Kollege oder Partner der Beamten, die dort mit ihm einige Monate Dienst verrichtet haben. "Woher rührt diese Missgunst? Hat es was damit zu tun, dass du vermutest, dass alles nur ein makabarer Scherz war?" Der Polizist zog wieder den Rauch in die Lungen und nickte, ohne Jenny anzusehen. Sie ergriff seine Hand, zog ihn zwei Schritte zu den steinernden Blumenkübel, wo man sich bequem hinsetzen konnte. Als beide nebeneinander saßen, legte sie ganz selbstverständlich ihre Hand auf seinen Oberschenkel und spielte, sich voll auf seine Stimme konzentrierend, an den Fäden seiner angerissenen Jeans. Eine stumme Aufforderung, zu erzählen, und Kevin verstand sie sofort. Nur Jenny gelang es, Zutritt zu Kevin zu erlangen... er vertraute ihr. Er konnte bei ihr nicht mehr schweigen.



    "Weißt du... als ich meine Ausbildung bei der Polizei angefangen habe, da waren zwei der Ausbilder vorher bei der Bereitschaftspolizei. Der Teil der Polizei, die aufmarschiert waren, wenn es eine Demo zu sprengen gab. Eine Nazi-Demo zu bewachen gab, oder ein besetztes Haus zu räumen war.", begann er leise und wechselte zwischen dem Blick auf Fantasiepunkte vor sich, und dem festen Blick zu seiner Ex-Freundin. "Sie hatten mich erkannt. Sie wussten zwar, dass meine Akte sauber ist... aber sie waren sich sicher, dass ich einer von denen war, der sie einige Jahre zuvor mit Pflastersteinen, Glasaschenbechern und Baustellenschilder beworfen hat." Jenny hatte sich einen Faden der Jeans um den Finger gewickelt und blickte Kevin unentwegt an. "Und du kennst es ja: Der eine redet mit dem, derjenige trägt es zu anderen... es gibt Gerüchte und irgendjemand schaut sich dann vielleicht ein paar verschwommene Fotos von irgendeiner Demo an. Jedenfalls hatte ich den Stempel schon in der Ausbildung." "Und das hat zu Problemen geführt?", fragte Jenny einfühlsam, obwohl sie die Antwort wohl längst kannte. "Ja, aber in der Ausbildung war es nicht so schlimm. Da waren auch andere, die es später nicht geschafft hatten, die auch nicht zimperlich waren, und bei Konfrontationen zu mir hielten. Und wenn es mal krachte, lief niemand zu den Ausbildern um zu petzen. Das war so... mehr ein Jungs-Ding untereinander.", sagte er und wog den Kopf hin und her. Jenny spürte, dass sie gerade einen weiteren Schritt in Kevins Vergangenheit gesetzt hatte, ein weiteres Puzzleteil bekam, um diesen geheimnisvollen Mann zu erforschen.



    "Das wurde aber anders, als ich selbst bei der Bereitschaftspolizei war. Wenn es ein Haus zu räumen gab, oder ein Fascho-Demo zu beschützen... ich wurde immer eingesetzt. Ging es mal darum, meine alten Freunde zu schützen... hat mich die Führung immer rausgenommen. Ältere Beamte hatten mich ausgegrenzt, schikaniert." Kevins Stimme klang beim Erzählen weder deprimiert, noch traurig. Sie klang... gleichgültig. Als wäre es ihm egal, was damals passierte. Er sprach ohne Emotionen, als las er eine Biographie. "Als ich dann zur Mordkommission kam, war ich der Jüngste. Saskia war schon ein Jahr da. Und zwei Beamte, Torben und Bastian, hatten sich schon ein paar Pluspunkte verdient. Ich hatte wenig Unterstützung bei Ermittlungen, die beschissensten Fälle. Man hat mich ausgegrenzt." Die junge Frau neben Kevin hing an seinen Lippen. "Ich hatte damals schon Nachforschungen angestellt, nach dem Mörder meiner Schwester. Ich hatte sie aber nicht geheim gehalten, und so kam Bastian irgendwann dahinter. Saskia kam zu mir, plötzlich katzenfreundlich... hatte mich nach Janine gefragt, was damals wie und wo passiert war... und dass sie mir helfen würde, den Mörder von Janine zu finden." Jennys Magen zog sich zusammen. Ein Spiel mit Kevin zu spielen, wenn seine tote Schwester von der Partie war... allein der Gedanke machte sie traurig. Und als Kevin auf Janine zu sprechen kam, änderte sich auch ein wenig seine Tonlage. Die junge Polizistin ließ ihn weitersprechen. Die Zigarette war längst am Ende, er drückte sie aus und steckte sie in den Beutel mit dem Tabak, um sie mit hinein zu nehmen.



    "Zwei Wochen später hat Saskia mich angerufen. Sie hätte ein Treffen mit einem Zeugen arrangiert, der aber nicht offiziell aussagen wollte. Für mich war das glaubwürdig, wer damals etwas mitbekommen hatte, die hatten alle Dreck am Stecken. Und ich war damals noch so besessen, dass mir jeder Strohhalm Recht war. Also bin ich, leichtsinnig wie ich war, zu der Lagerhalle gefahren." Die grünen Augen von Jenny blinzelten und hatten Kevins Gesicht fixiert. "Zuerst hab ich Tatort-Fotos dort gefunden. Fotos, die ich mir damals nicht ansehen konnte... Fotos von Janines Leiche, wie sie verblutet mit zerrissenen Kleidern im Dreck lag. Die drei hatten sie dort deponiert. Plötzlich tauchten Bastian und Torben auf... sie hatten Sturmmasken an, verstellten die Stimme. Torben hat mir seine Waffe an den Hinterkopf gedrückt, Bastian hat von vorne auf mich gezielt. Ich war im ersten Moment so erschrocken, dass ich sie nicht erkannt habe." Der Polizist spürte, wie sich Jennys Hand um seinen Oberschenkel klammerte. Als würde sie ein verdammt spannendes Hörbuch lesen, so gefesselt war sie... aber gleichzeitig abgestoßen von der Tatsache, dass ihr Ex-Freund das alles wirklich erlebt hatte. Er zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. "Er hat dann abgedrückt. Aber die Waffe war leer." Er sah Jenny fest an. "Eine Scheinexekution? Aber...", flüsterte sie fassungslos. "...warum?" "Ein Spaß. Sie hatten die Masken abgezogen, sich kaputtgelacht und gesagt, dass sie dachten... ich hätte mehr drauf. Wir dachten, du hast mehr drauf... das haben sie gesagt." Jenny war sprachlos... ja, sie wusste nicht, was sie darauf antworten sollte und brauchte einen Moment, sich zu sammeln.



    "Aber... das... warum... warum sind solche Menschen noch Polizisten?" Kevin lächelte wobei er Jenny ansah, und sie spürte dass er dieses Erlebnis der Vergangenheit wesentlich besser verarbeitet hatte, als das Trauma um seine Schwester. "Weil man drei Vorzeigepolizisten, die die Polizeischule mit Bestnoten abgeschlossen haben, mehr glaubt als einem Assozialen von der Straße." Die Polizistin schluckte. "Wie bitte?" "Wenn ich damals angefangen hätte zu weinen, und hätte alles der Polizeipsychologin erzählt... dann wäre dort vielleicht nachgefragt worden. Aber das hab ich nicht." "Und... was hast... du?", fragte Jenny zaghaft und erinnerte sich plötzlich an die Wort von Annie, als sie mit der Jugendfreundin über Kevins Charakter gesprochen hatte... "Kevin neigte zur Gewalt.", hatte Annie gesagt. Er zuckte mit den Schultern, als wolle er sein Verhalten rechtfertigen. "Ich war damals nicht clean, im Dienst ständig auf Entzug und von meinem alten Ich nicht so weit distanziert wie jetzt. Ich hab den beiden noch in der Lagerhalle beinahe die Knochen aus dem Leib geprügelt... wie früher." Bei den letzten beiden Wörtern war seine Stimme ganz leise, als sei er damals wie heute selbst davor erschrocken. "Jedenfalls war das später die offizielle Geschichte. Ich hab die beiden in einen Hinterhalt gelockt um mich an ihnen zu rächen, dass sie nicht besonders nett zu mir waren. Und Frege, damals gegen einige Widerstände neu im Amt, wollte natürlich Stärke demonstrieren. Disziplinarverfahren, Beförderungsverbot, und so weiter. Weil die beiden aber Schiss hatten, dass ein Richter vielleicht doch etwas genauer nachfragt, haben sie mich nicht angezeigt. Oder um mich weiter zu quälen... keine Ahnung." Wieder diese Gleichgültigkeit in der Stimme. "Und Plotz?", fragte Jenny nun mit piepsiger Stimme, und sie spürte, wie sich ein Ring der Beklemmung um ihre Brust gelegt hatte. "Der hatte damit nichts mehr zu tun. Frege wollte nicht, dass ich nochmal mit Torben, Bastian oder Saskia zusammenarbeite. Also musste ich mit Plotz ermitteln. Dem war ich egal, der wollte seine Ruhe wie vor jedem auch, und natürlich hatte er die Vorurteile mir gegenüber nie hinterfragt. Naja...", er stand mit einem Ruck vom Blumenkübel auf, weil die Story ihr Ende fand. "Jedenfalls... Annie ist fremdgegangen, irgendjemand aus der Clique hat mich verraten, Saskia hat mein Vertrauen missbraucht... verstehst du jetzt, warum es mir damals so schwer fiel, irgendjemandem etwas anzuvertrauen?" Ja... das verstand sie jetzt.



    "Puuuh..." Jenny musste zuerst mal durchatmen. Und sie musste gegen Tränen kämpfen, die sich in ihr aufstauten, was Kevin bemerkte, als er auf sie heruntersah. "Hey... ich denke nicht mehr darüber nach. Es kam jetzt nur, weil ich Saskia wieder gesehen habe. Aber das verfolgt mich nicht. Darüber muss du jetzt nicht traurig sein.", sagte er und lächelte auf Jenny herab... dieses starke, selbstbewusste Lächeln von einem Fels in der Brandung, der innen vor Sensibilität aber manchmal hohl und zerbrechlich war. "Das ist es nicht, Kevin...", sagte sie leise und spürte, dass sie den Kampf gegen die Tränen verlieren würde. "Du hast mir jetzt schon soviel von dir erzählt... du warst als Kind allein, weil dein Vater sich nicht gekümmert hat. Du warst allein, als Annie dich verlassen hat... als deine Schwester gestorben ist... in der Ausbildung, bei der Bereitschaftspolizei, bei der Mordkommission... du hast dich immer verloren gefühlt." Eine Träne verdrückte sich jetzt über ihre Wange. "Du warst immer allein." Sein Lächeln war langsam verschwunden und seine Lippen etwas aneinandergepresst. Sie hatte Recht... und vorm allein sein hatte er über die Jahre wahnsinnige Angst bekommen. "Ja... aber vielleicht... gewöhnt man sich irgendwann daran. Ans Verlorensein." Jenny stand mit einem Kopfschütteln und bebenden Lippen von dem Blumenkübel auf. Wie in Zeitlupe legte sie ihre Arme um Kevins Hals, legte ihren Kopf auf seine Schulter und sagte ihm leise ins Ohr: "Egal, was zwischen uns war... oder jemals noch zwischen uns sein wird... ich verspreche dir, dass du niemals wieder alleine sein musst. Dass du dich niemals wieder verloren fühlen wirst. Das verspreche ich dir hoch und heilig." Kevin schloß bei ihrer zarten, zerbrechlichen Stimme die Augen, eine Gänsehaut befiel ihn und seine Arme schloßen sich ebenfalls um den schlanken Körper der jungen Frau.



    Ben und Semir standen am Fenster, wie zwei Väter die ihre beiden Kinder beim ersten zarten Date beobachteten, dass sie ja keinen Unsinn anrichteten. Beide hatten ernste Mienen aufgesetzt. "Egal, was er ihr gerade erzählt hat...", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur in Semirs Richtung, der Bens Gedanken verbal vollendete: "... es war nichts Erfreuliches."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 15:00 Uhr



    Kevin fiel es leichter, seine Geschichte nun auch Ben, Semir und der Chefin zu erzählen, nachdem Jenny nun Bescheid wusste. Er redete mit fester Stimme und ohne mental angegriffen zu wirken. Vermutlich, weil er die Sache eigentlich vergessen hatte, hätte Saskias Auftauchen ihn nicht daran erinnert. Die beiden Polizisten und ihre Vorgesetzte hörten zu, schüttelten Köpfe und hielten den Atem an, als der junge Mann von der Scheinexekution erzählte. "Das ist ja ungeheuerlich.", sagte Anna Engelhardt geschockt mit den Fingern auf den Lippen, eine typische Geste wenn sich die Chefin konzentrierte. Jetzt konnte sie auch nachvollziehen, warum er diese Geschichte bestimmt nicht vor Saskia Hofmann erzählen wollte, und war Semir im Geheimen dankbar für sein Eingreifen, sonst hätte sie vielleicht darauf bestanden.
    "Wenn sie wollen, kann ich jeden verfügbaren Kontakt mobilisieren, dass dieser Sache nochmal nachgegangen wird.", sagte sie als Kevin seine Geschichte beendet hatte, aber der junge Polizist schüttelte den Kopf. "Danke, Chefin. Das weiß ich zu schätzen, aber was würde das bringen. Die Sache hat heute keinen Einfluss auf mich... und was würde das für einen Eindruck machen, wenn ich diese alte Sache nochmal aufrolle, jetzt nachdem es einen Todesfall in der Abteilung gab." "Ja, da haben sie allerdings Recht. Mich schaudert es nur daran zu denken, dass sich solche Menschen unsere Kollegen schimpfen.", lenkte sie ein, Semir und Ben konnten ihr nur zustimmen.



    Für einen kurzen Moment war es still im Büro der Chefin, bis Kevin das Wort ergriff: "Jedenfalls ist das der Grund, warum ich den beiden so einen makabaren Scherz durchaus zutrauen würde. Je nachdem, aus welchen Gründen Saskia aus der Mordkommission weggegangen ist, könnte es durchaus sein, dass Torben und Bastian sie im Visier haben." Die Theorie war plötzlich weitaus greifbarer, als noch vor einer Stunde. Ben sagte: "Du meinst also, die zwei nutzen den zufälligen Tod von Plotz aus, um ihr ein wenig Angst zu machen?" "Genau so. Die zwei sind viel zu feige, um Gewalt anzuwenden, wenn sie etwas gegen jemanden haben. Aber Angst machen... das können sie.", bestätigte der junge Kommissar mit den abstehenden Haaren. Er spürte dabei kurz wieder die Hand von Jenny auf seinem Oberschenkel, eine kleine leise Geste der Zuneigung und der Bestätigung... gut, dass er alles erzählt hatte.
    "Solange Meisner nichts Auffälliges bei Plotz findet, gilt die Vermutung dass er eines natürlichen Todes gestorben ist. Kein Staatsanwaltschaft wird uns da grünes Licht für weitere Ermittlungen geben. Und die Bedrohung gegen Saskia fällt nicht in unsere Zuständigkeit, ausserdem hat sie keine Anzeige erstattet.", stellte Semir klar. Die Chefin nickte: "Dann warten wir den Abschluss der Untersuchungen noch ab. Trotzdem könnten sie, Ben und Semir, den Hausarzt von Plotz besuchen und, freundlich und vorsichtig, nachhaken ob es nicht vielleicht doch irgendetwas gab, weswegen Plotz in Behandlung war."



    Die beiden Polizisten verließen die Dienststelle, während Kevin und Jenny sich zur letzten Streife der heutigen Schicht aufmachten. Sie grüßten kurz in Richtung Andrea, die lächelnd zurückgrüßte um dann an den Schreibtisch zu Herzberger zu gehen, der grummelnd über das Protokollprogramm fluchte. "Ich verstehe das nicht. Das hat gestern doch noch funktioniert.", sagte der dicke Polizist und klickte ungeduldig auf seiner Maus herum. "Warte mal, Hotte... du hast schon wieder vergessen, den letzten Vorgang zu speichern. Dann ändert er die Nummer nicht, und deswegen funktioniert das nicht.", erklärte Semirs Ehefrau geduldig. "Das sag ich ihm jeden dritten Tag...", kam kopfschüttelnd von seinem baumlangen Kollegen Dieter Bonrath. "Jaaaa, ich habs halt mal vergessen." Und etwas versöhnlicher meinte er in Richtung Andrea: "Danke sehr."
    Die Mutter zweier Kinder ging wieder zurück zu ihrem Arbeitsplatz, während Bonrath über seinen Monitor hinweg zu seinem jahrezehnte langen Kollegen sah. Der sah angestrengt auf den Bildschirm, das Tippen war langsam, manchmal im Einfinger-Suchsystem. Bonrath erinnerte sich, als sie vor 15 Jahren das vorherige System eingeführt bekamen und Hotte weitaus schneller die Sachen verstand als Dieter, und ihm immer wieder alles erklärte. Komisch, wie sich die Zeiten änderten... dabei ist das neue Programm doch weitaus einfacher.



    Er hörte Hottes Seufzen... scheinbar klappte schon wieder etwas nicht. "Hotte, lass uns mal nen Kaffee trinken gehen, hmm?", meinte Bonrath freundschaftlich und klopfte seinem Partner auf die Schulter. "Das ist mal ne gute Idee...", seufzte sein bester Freund, und die beiden Streifenpolizisten gingen gemeinsam in die Kaffeeküche. Während Hotte sich an dem Tisch niederließ und in die Keksdose griff, die dort auf dem Tisch stand, nahm sein langer Kollege zwei Tassen aus dem Schrank und kochte Kaffee für sich und seinen besten Freund. "Na komm, jetzt ärger dich nicht über das blöde Programm.", meinte er in das Geräusch der Kaffeemaschine hinein, weil er merkte, dass dieses Problem Hotte gerade ein wenig die sonst so gute Laune vermieste. Doch die Aufforderung erntete nur ein kurzes Kopfschütteln.
    "Dieter... es ist nicht nur das Programm.", sagte er ein wenig leiser und sah seinen Freund an, der sich mit zwei dampfenden Kaffeetassen zu ihm an den Tisch setzte. "Was meinst du denn?" "Ich... also, ich weiß nicht wie ich das sagen soll. Ich vergesse in letzter Zeit soviel. Ich rufe meine Schwester jetzt schon 40 Jahre lang auf ihrem Festnetztelefon an und die hat seit 40 Jahren eine 5stellige Telefonnummer mit Vorwahl. Glaubst du, mir wäre vor einigen Tagen die Nummer eingefallen? Ich habe diese Nummer noch nie vergessen."



    "Mensch, Hotte... man kann doch mal eine Telefonnummer vergessen. Du bist 65, es wäre unnormal wenn du dir noch alles behalten könntest wie mit 40.", lachte Dieter ein wenig schelmisch, er lachte seinen Freund nicht aus sondern nahm seine Sorge durchaus ernst. "Ja... aber es fällt mir in letzter Zeit halt auf. Letzte Woche hab ich auf die Tastatur gestarrt, weil ich einen Buchstaben gesucht habe. Das ist mir auch noch nie passiert." Diesmal lachte Dieter nicht, denn diese Situation kannte er nicht, anders als eine vergessene Telefonnummer. Er fasste Hotte freundschaftlich am Arm. "Wir werden halt alle älter. Ich bin vor kurzem in die Stadt gefahren, und als ich auf dem Parkplatz stand musste ich erstmal nachdenken, warum ich überhaupt in die Stadt gefahren bin." Es war keine Lüge, allerdings verschwieg er einen Streit mit seinem Sohn am Telefon auf dem Weg in die Stadt, so dass es einen triftigen Grund gab, abgelenkt zu sein. Aber er wollte Hotte trösten.
    "Weißt du, Dieter... ich freue mich auf die Rente. Ich habe noch soviel vor... Die Mühle renovieren, Angeln gehen, mir vielleicht ein Wohnmobil kaufen um damit an die Nordsee zu fahren. Manchmal habe ich Angst... dass wir arbeiten und arbeiten, und wenn wir endlich fertig sind, dann passiert etwas, und es ist zu spät." "Hast du diese Gedanken jetzt wegen dem Herzinfarkt auf der Autobahn?", fragte Dieter. "Ja, auch deswegen. Und als mir Ben damals von der Mutter seiner Freundin erzählt hat." Dieter nickte, und wusste für einen Moment nicht, was er hätte Hotte sagen können, doch der fand selbst oft die gute Laune wieder. So gesehen weckte der Kaffee zumindest alte Kampfgeister. "Ach komm... man sollte die Zeit, die einem bleibt, aber auch nicht mit Jammern vergeuden, oder?", sagte er und stand lächelnd wieder auf, was auch Bonrath zum Lachen brachte.

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  • Arztpraxis - 16:00 Uhr



    Ben und Semir kamen gerade rechtzeitig bevor der letzte Patient bei Dr. Bittner die Praxis verließ. Ein kurzer Anruf bei Frau Plotz und sie bekamen die Adresse des Allgemeinmediziners. Ben murrte mit einem Blick auf die Sprechstundenzeiten: "In meinem nächsten Leben werde ich Arzt. Blutdruckmessen und Hustensaft verschreiben bekomme ich auch noch hin." Semir schmunzelte und sie wiesen sich bei der charmant lächelnden Dame am Empfang kurz aus. "Doktor Bittner ist gleich fertig, warten sie doch bitte kurz im Wartezimmer." Erleichtert stellten die beiden Männer fest, dass sie alleine waren und somit wohl nicht mehr lange warten mussten, bis sie an der Reihe waren. Natürlich wollten sie nicht in eine Untersuchung platzen, sie hatten es ja nicht eilig.
    "Wenn ich hier so sitze fällt mir ein... Lilly muss noch zum Impfen nächste Woche.", sagte Semir, während sein bester Freund sich das nächste Automagazin griff und darin blätterte. "Hast du gehört, was ich gesagt hab?" "Ja, Lilly muss zum Impfen. Was soll ich jetzt machen, soll ich Impfstoffe klauen?", fragte Ben mit hochgezogenen Augenbrauen. "Du sollst mich nächste Woche dran erinnern, dass ich es nicht vergesse. Du weißt doch, ich bin alt." Seit Ben Semir immer öfter damit ärgerte, dass er in den nächsten Monaten 50 wurde, teilte er ihm immer öfter die Aufgabe mit, ihn an alle möglichen und unmöglichen Sachen zu erinnern, obwohl Semir meist weniger vergaß als Ben selbst.



    Es dauerte nur ein paar Minuten, da wurden sie von der netten Arzthelferin ins Arztzimmer geführt. Vorher hatte sie die beiden Kommissare angekündigt. Der Arzt, ein drahtiger Mann mit Brille, schütterem grauen Haar und Lachfältchen um den Mund, begrüßte die beiden Beamten mit einem festen Händedruck. An der Wand hingen mehrere Bilder, die ihn bei verschiedenen Marathonläufen zeigte. "Was fehlt ihnen denn?", fragte er lächelnd obwohl er natürlich wusste, dass die beiden Beamten nicht zu Behandlung gekommen waren. Semir lächelte auch: "Wir kommen wegen des Todesfall von Erwin Plotz." Der Arzt wusste noch nicht Bescheid und ließ sich die Informationen und Umstände von Plotz' Ableben berichten. Er machte eine betroffene Miene: "Das ist ja schlimm. Hmm..."
    "Herr Bittner... wir wissen um ihre Schweigepflicht, aber es geht darum, ein Verbrechen auszuschließen. Wir haben erfahren, dass Erwin Plotz alle Voruntersuchungen gewissenhaft absolviert hat und es keine Auffälligkeiten gegeben hat... so zumindest seine Frau und seine Kollegen. Können sie das bestätigen." Dr. Bittner strich sich mit den Fingern über die Lippen, stand auf und ging zu einem Schrank mit Hängeregistern. Er traute der modernen Technik nicht und heftete sich alle Krankenakten seiner Patienten nochmal analog ab.



    "Wenn er das seinen Kollegen und seiner Frau so gesagt hat, dann wollte er vermutlich nicht, dass sie sich Sorgen machen.", sagte er, als er zu seinem Schreibtisch zurückkam und die Akte von Erwin Plotz aufschlug. Ben und Semir lauschten gespannt. "Erwin Plotz litt an zu hohem Blutdruck, und bekam dagegen Medikamente. Hoher Blutdruck ist an sich erstmal nichts gefährliches, kann aber, wenn man die Medikamente nicht nimmt, zu einem Herzinfarkt führen. 80% aller Herzinfarktpatienten leiden an zu hohem Blutdruck." Ben nickte, er hatte davon auch schon mal gehört. Und Plotz' Übergewicht könnte zu dem hohen Blutdruck geführt haben. Diesen Gedanken äusserte er und bekam ihn von dem Arzt bestätigt.
    "Erwin wusste um seine Krankheit, aber mit den Medikamenten dürfte eigentlich nichts passieren. Eigentlich. In dem Alter mit der Vorgeschichte kann es aber nun mal passieren." Dabei zuckte er mit den Schultern. "Deswegen sind die Vorsorgeuntersuchungen sehr wichtig, ab einem gewissen Alter. Ihnen darf ich das auch nahelegen, junger Mann.", sagte er dann noch in Semirs Richtung, dessen Lächeln ein wenig gefror. "Mir? Ich... also.", grummelte er missmutig, und natürlich spielte der Arzt auf sein Alter an. "Keine Sorge, Doc. Bei den ü50igern schaut unser Amtsarzt regelmäßig vorbei.", lachte Ben, bevor sich die beiden Polizisten verabschiedeten und bestätigt bekamen, dass es sonst keine Erkrankungen bei Erwin Plotz gab.



    Auf dem Weg nach draussen klingelte Semirs Telefon. "Meisner... hast du noch was rausgefunden?" "Ja, passt auf. Ich hab mir das Blutbild nochmal angesehen. Ich konnte da nichts von dem finden, was du mir gesagt hast. Normales Blutbild für einen Herzinfarkt. Erhöhter Blutdruck, was aber normal ist bei einem Infarkt.", schnarrte aus Semirs Hörer. "Ja, wir haben gerade gehört, dass Plotz scheinbar Bluthochdruck-Patient war." "Achso?" Plötzlich lag eine fragende Stille in der Leitung. "Was ist los, Meisner?", fragte Semir und blieb auf der Treppe vor der Tür des Arztes stehen. Er hörte im Hintergrund ein Klicken und Klappern von Fingern auf einer Tastatur. Scheinbar suchte Roland Meisner eine Stelle in seinem Bericht.
    "Das ist komisch... ich habe in seinem Blut nämlich eine beträchtliche Menge Cafedrin und Theodrenalin gefunden. Beide Wirkstoffe werden eigentlich, meines Wissens, bei zu niedrigem Blutdruck verabreicht." Semir zog die Stirn in Falten. "Aber Plotz wird doch gewusst haben, was er da einnimmt." "Vor allem sind beide Wirkstoffe verschreibungspflichtig. Die bekommt er nur, wenn er vom Arzt ein Rezept hat, also wenn ein Arzt bei ihm zu niedrigen Blutdruck festgestellt hat." "Alles klar, danke Meisner.", sagte Semir schnell, legte auf und drehte sich auf dem Absatz um.



    "Was ist denn jetzt los?", fragte Ben erstaunt und folgte seinem besten Freund zurück in die Praxis. "Warte, erkläre ich dir gleich... Dr. Bittner?" Der Arzt saß mittlerweile vorne am Anfang und ordnete noch einige Akten, während sich die Arzthelferin in den Feierabend verabschiedete. "Wenn ein Patient mit zu hohem Blutdruck ein Medikament einnimmt, gegen zu niedrigen Blutdruck... was passiert dann?" "Dann bringt man natürlich den ohnehin zu hohen Blutdruck noch weiter nach oben. Herzrasen, Herzstolpern bis hin zum Flimmern und zum Infarkt könnten die Folge sein.", sagte der Allgemeinmediziner und legte für einen Moment seine Brille ab. "Unsere Mediziner haben im Blut von Erwin Plotz Cafedrin und Theodrenalin gefunden."
    Der Arzt bestätigte Meisner: "Das ist gegen zu niedrigen Blutdruck... mein Gott, wieso hat er das genommen?" "Haben sie das verschrieben? Vielleicht seiner Frau?" "Warten sie..." Mit ein paar schnellen Klicks hatte er die Krankenakte von Frau Plotz auf dem Monitor. "Nein, Frau Plotz habe ich kein Medikament mit diesen Wirkstoffen verschrieben. Und Erwin selbstverständlich schon gar nicht." Ben biss sich auf die Lippe. "Dann liegt eventuell doch ein Verbrechen vor. Danke, Herr Bittner."

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  • Boxclub - 18:00 Uhr



    Boxen war ein Sport, der mehr erforderte als Kraft und Skrupellosigkeit, zu zu schlagen. Er brauchte Ausdauer, er brauchte Technik. Boxen war wie Tanzen, eine Choreographie der Bewegung. Nur mit dem Unterschied, dass man sich vor einem Kampf nicht auf eine Choreographie festlegen konnte, wie bei einem Tanzauftritt. Man musste auf jeden Schritt seines Gegners reagieren, und wenn man Pech hatte brachte der Gegner die eigene Choreographie zum Einsturz. Jerry hatte zu Kevin immer gesagt, dass es nicht auf Kraft ankomme, denn davon hatte Kevin im Vergleich zu manchen Bodybuilding-Boxer eh zu wenig. Der junge Polizist besiegte seine Gegner früher mit Ausdauer, Technik... und Herz. Mit Willen. Wenn er noch stand, obwohl ihm das Blut aus Nase, Mund und Cut floß, und es so etwas wie Ringrichter bei den Straßenkämpfen nicht gab.
    Und so brachte er auch seinen Sparringspartner an diesem frühen Abend dazu, irgendwann die muskulöseren Arme zu heben. "Er reicht. Genug für heute." Alex hatte genug gegen den Helm bekommen, pumpte erschöpft und stieg aus dem Ring. Er war fast jeden Tag im Club, lief, hüpfte und schlug. Seine Oberarme wuchsen an, er musste das Krafttraining regulieren. Was nützte einem ein Donnerschlag, wenn er nur Luft für 3 oder 4 Runden hatte. Schickte er seinen Gegner nicht in dieser Zeit auf die Bretter, hatte er keine Chance. Er und Kevin trainierten jetzt, zeitlich gesehen, schon in Runde 9.



    "War okay heute.", schnaufte Kevin, zog sich den Helm ab und legte ihn mit den Boxhandschuhen zur Seite. Er pumpte ebenfalls, spürte aber im Gegensatz zu Alex kein Brennen in den Beinen und in der Lunge. Sein Griff ging zu einer Plastikflasche Wasser, aus der er einen tiefen Schluck nahm. Dabei regestrierte er nicht den Mann mit dem Pferdeschwanz, der in der Trainingshalle hinter seinem Rücken auftauchte. Er hatte einige Minuten aus der Entfernung zu gesehen, und den Polizisten trotz seiner plattgedrückten Haare sofort erkannt. "Hätte ja nicht gedacht, dass du den Sturz überlebt hast.", war Juans erster Satz an Kevin gerichtet, nachdem Alex sich von der Szenarie etwas entfernt hatte. Kevin drehte sich nach den Worten um und sah den braungebrannten Juan, in ärmellosen Tanktop und Sonnenbrille auf den zurückgebundenen Haaren. "Helden sind unsterblich.", meinte er mit einem neckischen Schulterzucken.
    Es war surreal dem Kolumbianer gegenüber zu stehen, mit dem er in Südamerika versuchte, Annie zu befreien... was ihm letztendlich auch gelang. Dabei zahlte Kevin aber einen hohen Preis, er wurde angeschossen und stürzte im Zweikampf mit einem Drogenbaron von einer Brücke in den Rio Cauca, einem reißenden Fluß. In Deutschland hielt man ihn für tot. Doch Kevin überlebte, verlor sein Gedächtnis und seine ganz private Nemesis, als er zurückkam, nahm seinen Lauf. An Juan erinnerte er sich sofort, Annie hatte ihm von ihm erzählt, als er bei ihr in Cornwall war.



    Der coole, oft gut gelaunte Kolumbianer, der oftmals weniger den Eindruck eines Verbrechers, mehr den Eindruck eines Sunnyboys machte, kam zu ihm. "Dafür, dass ich deiner Freundin erklären musste, dass du tot bist, schuldest du mir eigentlich etwas." Kevin hielt ihm aus Scherz die offene Wasserflasche hin, woraufhin Juan mit der Hand eine eher ablehnende Geste machte. "Ja, das war wirklich eine Frechheit von mir, nicht sofort aus dem Wasser zu klettern.", meinte er. Auf merkwürdige Art und Weise hatten er und Juan sich angefreundet, was sie wohl beide nicht zugeben wollten und würden. Doch den Kolumbianer hatte es beeindruckt und ebenso getroffen, dass Kevin sein Leben für eine Frau opferte, die ihn enttäuscht hatte. Genauso hatte es Kevin beeindruckt, dass Juan, als gut angesehener Drogenboss, seine Stellung aufs Spiel setzte und sich mit einem mächtigeren Drogenboss anlegte.
    "Wie hast du mich gefunden?" "Zack sagte mir, dass du hier trainierst." Der Polizist nickte und setzte sich auf eine der Trainingsbänke. "Und warum bist du noch in Deutschland?" "Weil ich mich, dank deiner kleinen Freundin, bis auf Weiteres nicht mehr in Bogota blicken lassen kann." Kevin hatte so etwas schon vermutet. "Das tut mir leid." "Scheiss drauf. Irgendwann wird über jede Sache Gras wachsen." Über jede Sache... wenn es so einfach wäre, dachte Kevin. Es dauerte lange, bis über sein Gedächtnisverlust Gras gewachsen war. Und über die Narben in Jennys Herz, genauso wie die offenen Fragen in Kevins Kopf über den Verräter, wird noch lange kein Gras wachsen.



    "Wie gehts deiner Freundin? Habt ihr deine Auferstehung gefeiert?", fragte Juan, natürlich ohne zu wissen was passiert war. Kevin seufzte und wog den Kopf hin und her. "Nicht so, wie ich es mir vorgestellt hätte." Der Kolumbianer zog die Augenbrauen nach oben. Er hatte gut in Erinnerung, wie Jenny zusammengebrochen war, und wie sie ihn beinahe angebettelt hatte, mit ihm nach Kolumbien zu fliegen. "Sie wollte dir nachfliegen, um dich zu suchen." "Ich weiß..." Semir und Ben hatten es ihm vor einigen Wochen mal erzählt, seitdem er wusste dass Jenny das Baby verloren hatte.
    "Und dein Kind?" Mit einem Ruck sah der Polizist zu Juan auf. Egal wieviel er ihm vertraute... er blieb ein Verbrecher. Ein undurchsichtiger noch dazu... Kevin hatte das Kind damals nie erwähnt. "Welches Kind?" Juan sah kurz missbilligend an die Decke und verzog den Mund. "Annie hat es mir gesagt, nachdem du abgestürzt bist. Sieh es ihr nach, sie war in einer Ausnahmesituation, Chico." Der Polizist sah zu Boden, warum sollte er jetzt etwas schützen, was schon lange tot war. "Es gibt kein Baby mehr. Jenny hat es verloren." Das traf Juan genauso, wie es ihn traf als er hörte, dass Kevin Vater wurde... kurz nachdem dieser, unwissend über Jennys Schwangerschaft, sagte dass er nichts zu verlieren hätte... schon gar nicht in Deutschland. "Scheisse...", murmelte er nur kurz.



    Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen den beiden Männern und Kevin zog sein Shirt aus, um gleich duschen zu gehen. Juan sah dabei das tättowierte Konterfei eines jungen Mädchens und erinnerte sich an Kevins Geschichte seiner Schwester. Himmel, muss er das Mädchen geliebt haben, und musste er unter ihrem Tod leiden. "Ich... ich wollte dich eigentlich warnen.", sagte Juan dann irgendwann, und Kevin drehte sich um. "Warnen? Vor wem?" "Ich hab vor einigen Wochen ein paar Dinge für einen, dir nicht ganz unbekannten Mann, erledigt. Und nachdem, was ich vor einigen Tagen mitbekommen habe... ist er in etwa so gut auf dich zu sprechen, wie Santos auf mich zu sprechen ist." Kevin konnte sich ein kurzes Lächeln nicht verkneifen. "Ist Anis immer noch verstimmt."
    Juan konnte nicht lachen. Er merkte zur Zeit am eigenen Leib wie es ist, auf einer Todesliste zu stehen. "Ich kann den Typ schwer einschätzen, ausser dass er ein Arschloch ist. Ob er wirklich so gefährlich ist wie Santos... keine Ahnung. Aber du solltest auf dich aufpassen. Er ist nicht fertig mit dir." Die beiden Männer sahen sich für einen Moment an und Kevin griff ein Handtuch. "Danke für die Warnung." Es klang unbeeindruckt. Bevor er die Tür zur Dusche aufdrückte, drehte er sich nochmal um: "Was machst du im Moment so." Juan zuckte kurz mit dem Schultern: "Ich schlag mich so durch. Zack und so." Der junge Polizist nickte kurz. "Wenn du mal irgendwas zu tun hast, was sich mit deinen Dienstvorschriften beißt...", rief Juan noch und machte das "Telefon"-Zeichen mit der Hand am Ohr. Kevin würde vermutlich demnächst darauf zurückkommen...

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  • Köln - 18:30 Uhr



    In Carina machte sich Urlaubsvorfreude breit, als sie den großen Reisekoffer packte. Mit diesem Koffer war ihre Mutter vor einigen Jahren, vor ihrer schweren Krankheit, noch in Urlaub gefahren und mit etwas Wehmut dachte die junge Frau an frühere Urlaube zurück, mit ihrer Mutter und ihrem Bruder. Auch da hatte der Koffer sie schon begleitet. Sie freute sich wahnsinnig auf den Urlaub mit Ben, überhaupt hatte sie das Gefühl dass sich alles in ihrem Leben seit dem Tod ihrer Mutter und den Mord an ihrem Bruder wieder zum Besseren wendet. Es war ein Absturz, ein richtiger schlimmer Cut in ihrem Leben. Doch zu ihrem Glück war da ein Mann, der Carina wie ein rettender Engel vorkam. Er fing sie nach dem Tod ihres Bruders auf, unterstützte sie für einige Tage bei der Pflege ihrer demenzkranken Mutter und fing sie wieder, als schließlich ihre Mutter erlöst wurde.
    Mit diesem Mann wohnte Carina jetzt zusammen, sie führten eine Beziehung und würden jetzt zusammen ihren ersten Urlaub in den vereinigten Staaten verbringen. Die junge Frau war noch nie ausserhalb Europas und freute sich sehr, dass Ben ihr sein Lieblingsland zeigen wollte. Sie packte also Hosen, Shirts, ein paar Pullover für Abende draussen auf der Veranda der Ferienhäuser, die sie sich zusammen im Internet ausgesucht hatten zusammen. Carina lächelte dabei, während sie im Nebenraum die Dusche hörte.



    Bei diesem Wetter konnte man sich zweimal am Tag duschen, dachte Ben, als er unter der kalten Dusche hervor kam, sich nur halbherzig abtrocknete und, nur in Boxer-Shorts bekleidet, vom Badezimmer ins Schlafzimmer getapst kam. Die Haare standen ihm dabei, fast wie bei seinem Partner Kevin, in alle Richtungen. "Ach Ben, ich freu mich so auf unseren Urlaub.", sagte Carina und lächelte ihren Freund an, der sich daraufhin zu ihr herunterbeugte, um Carina zu küssen. "Das wird toll, das verspreche ich dir.", sagte er und erinnerte sich an seine Touren durch Nordamerika. Er würde Carina die schönsten, aufregendsten und romantischsten Plätze zeigen, die er dort gefunden hatte, als er mit Freunden unterwegs war. Schade eigentlich, dass er Semir bisher nie wirklich für dieses Land begeistern konnte.
    Im Moment hatte Ben aber auch andere Gedanken im Kopf. Er freute sich auf den Urlaub, doch es schien als sei der Urlaub mit Carina noch ein Ziel, das verborgen hinter manchen Hürden lag, die er noch überwinden musste. Eine Hürde war sicher der Mord an Erwin Plotz, auch wenn klar war, dass dieser Mord seinen Urlaub nicht verhindern würde. "Diesmal nicht!", hatte die Chefin klar gesagt. Sie würde langsam Probleme bekommen, wenn die Personalabteilung mitbekam, wie oft die drei Polizisten ihre Urlaubstage aufschoben, weil wieder etwas dazwischen kam.



    Ein weiteres Hindernis war aber sicher auch die neuen Enthüllungen um Kevins Vergangenheit, die er ihnen heute geliefert hatte. Es war ungeheuerlich, unvorstellbar was der junge Mann, zu einer Zeit in der er sowieso mental am Boden lag, erleiden musste. Und wie empathielos mussten die drei Kollegen vorgegangen sein, mit dem Wissen um die, damals frische seelische Wunde von Kevin, ihn so zu demütigen und zu quälen. Er erinnerte sich an Semir, an seine seelische Folter als er von den Neo-Nazis gekidnappt wurde... und die Folgen daraus. Der erfahrene Polizist war mehrere Wochen nicht arbeitsfähig, musste zu einer Psychologin. Kevin hatte das nicht. Er suchte seine Therapie in Alkohol, Drogen und dem Verfolgen seiner Rache. Manchmal fragte Ben sich, wie der Charakter des jungen Mannes wohl wäre, wäre sein Leben anders verlaufen.
    Ben stand am Schrank und zog ein frisches Shirt heraus, das er sich über seinen muskulösen Oberkörper zog. Carina bemerkte seine plötzliche Stille, die überhaupt nicht zu dem Sunnyboy Ben passte. "Was ist denn los? War etwas auf der Arbeit?" Carina fragte selten nach Bens Beruf... nach dem Mord an ihrem Bruder wollte sie nichts wissen von Gesetzlosen, von Mord und Todschlag, von Verbrechen. Und schon gar nicht wollte sie wissen, in welche Gefahren sich Ben tagtäglich stürzte... sie würde wohl jeden Tag vor Angst wahnsinnig werden. Es war eine Art Selbstschutz.



    Der Polizist setzte sich aufs Bett und fuhr sich mit beiden Händen kurz durch die Haare. Carina unterbrach das Packen des Koffers, setzte sich zu ihrem Freund und legte ihre Hand auf seinen nackten Oberschenkel, während sie den Kopf an seine Schulter lehnte. Ein stummes Signal: Ich höre dir zu. Er erzählte, gab die Erinnerung aus Kevins Leben weiter. Sie waren alle Familie, und er war sich sicher dass Carina seinen Partner niemals darauf ansprechen würde. Aber Ben war im Inneren kein Eisklotz, auch er brauchte Menschen, denen er sich mitteilen wollte. Und wenn ihm etwas auf der Seele lag, musste und wollte er es loswerden. Dafür hatte er Carina. Sie nickte, sie hörte stumm zu und strich mit der Hand unentwegt über seine nackten Haut. Ihr Blick wurde ungläubig, als er zum grausamen Höhepunkt gelangte.
    "Aber das ist ja ungeheuerlich... wie können solche Menschen noch Polizisten sein?", fragte sie die gleiche Frage, die sich auch Semir, Jenny und Ben heute nachmittag gestellt hatten. "Tja... gegen manche Vorurteile kommt man eben nicht an. Die drei waren die Vorzeigebeamten und Kevin..." "...der dreckige Straßenköter, der Wachhund wurde... sinnbildlich gesehen.", vollendete Carina mit trauriger Stimme, und ihr Freund nickte. Die junge Frau hatte gerade unglaublich viel Mitleid mit dem Mann, der ebenfalls zumindest teilweise an der Aufklärung am Mord ihres Bruders beteiligt war. Sie hatte ihn damals kurz kennengelernt, bevor er nach Kolumbien aufgebrochen war.



    "Aber er geht damit gut um... scheint es zumindest. Bei Kevin weiß man nie, ob man gerade in eine Maske sieht, oder in sein wahres Gesicht.", sagte Ben nachdenklich und legte liebevoll seinen Arm um Carina. "Wundert dich das?", fragte sie eher rhetorisch. Nein, er wunderte sich nicht. Eher wunderte sich Ben, dass man nach sovielen Nackenschlägen immer wieder aufsteht. Ja, er hat auch schon einiges mitgemacht. War oft in Lebensgefahr, suchte das Risiko, hat einige brenzlige Situation er- und überlebt. Aber er wuchs behütet, wenn auch mit weniger Liebe als andere, in guten Verhältnissen auf. Konnte sich früh Lebensträume erfüllen. Während Träume von Kevin zerstört wurden, noch bevor er sie begann zu träumen...
    Carina gab ihm gerade, unbewussterweise, unglaublich viel Halt. Diesen Halt wünschte sich Ben auch für Kevin und er wünschte sich in diesem Moment, dass sein Partner vielleicht wieder mit Jenny zusammen kam. Denn er spürte dieses unendliche Vertrauen zwischen den beiden, dass mittlerweile soweit ging, dass Kevin sich tatsächlich vor Jenny öffnete, und Dinge erzählte, die er vor einigen Monaten noch für sich gehalten hätte. "Ich liebe dich...", flüsterte Carina nach einer kurzen Zeit des Schweigens und umklammerte Bens Körper. "Ich dich auch.", gab er leise zur Antwort, bevor die beiden sich innig küssten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Köln - 21:00 Uhr


    Es fühlte sich alles so an, als wäre er 13 oder 14 Jahre zurück in die Vergangenheit gereist. Kevin lag auf einer Matratze, die Beine überkreuz, einen Hand unter dem Kopf, die andere auf dem Bauch liegend. In dieser Hand hielt er auch, zwischen die Finger geklemmt, einen Glimmstengel der weniger wie eine Zigarette, eher wie ein gut gedrehter Joint aussah. Dafür sprach auch der süßliche Geruch des Rauches, der ihn umgab und das knisternde Geräusch des verbrennenden Grases, wenn er daran zog. Genauso, wie er jetzt in seinem Zimmer, das er seit seiner Rückkehr wieder bei Kalle bezogen hatte, lag lag er auch damals entweder auf einer Wiese im Waldgebiet oder auf der Couch in ihrer Halle. Manchmal auch in Jerrys Bude.
    Auch damals waren dies Zeitpunkte, als er seinen Gedanken hinterher hing, über Dinge nachdachte, die ihn beschäftigten. Sollte er morgen vielleicht doch mal wieder in den Unterricht gehen? Abends auf das Konzert? Da würde er Annie wieder sehen... die kleine durchgeknallte Punkerin mit den roten Haaren, die ihm so gut gefiel. Dabei grinste Kevin immer schelmisch, wenn er an etwas Gutes dachte. Das tat er früher oft, weswegen man den Eindruck hatte, er wäre unendlich glücklich mit seeligem Blick da zu liegen und seinen Joint zu rauchen.



    Würde man ihn jetzt beobachten, würde man von dieser Freude nichts mehr erkennen. Seine blauen Augen waren an die Decke gerichtet, sein Mund drückte keine Emotionen aus. Er dachte nach, er katapultierte sich weit in seine Vergangenheit. Im Kopf befand er sich an dem Abend, der sein Leben verändern sollte. Er war betrunken, er hatte Drogen genommen, aber er konnte sich an alles erinnern. Naja... zumindest grob. Er wusste, dass er Janine nach Hause bringen wollte. Er ging zu Jerry, um ihm zu sagen, dass er bald wieder zurück sei. Und Timmy war dabei. Der junge Polizist kniff die Augen etwas zusammen, als er den Joint zu den Lippen führte und einen weiteren Zug nahm. Es würde ihm in ein paar Stunden helfen, einigermaßen einzuschlagen und nicht wie eine wandelnde Schnapsleiche morgen auf der Arbeit aufzutauchen.
    Wenn Timmy der dritte Mann bei dem Anschlag war... brauchten sie dann überhaupt einen Tippgeber? Timmy kannte doch die verdammte Abkürzung nicht, die Kevin und Janine immer nahmen... und er hatte auch keine Details erwähnt, als er mit seiner kleinen Schwester abzog. Auch erinnerte sich Kevin daran, dass Jerry ihm im Gefängnis gesagt hatte, dass Timmy damals mit dem Verrat prahlte. Das passte alles nicht zusammen, und Kevin kam immer mehr der Verdacht, dass Harry, der Besitzer des Matrix-Clubs ihn angelogen hat. Das Küchenmesser hinterm Ohr war scheinbar nicht Drohung genug... oder Anis Drohung war davor noch eindrücklicher.



    Die Türklingel ließ ihn aus den Gedanken hochfahren. Eigentlich hatte er jetzt überhaupt keine Lust auf Besuch, doch das wiederholte Klingeln unterstrich eine gewisse Eiligkeit und war wohl kaum der Postbote, schon gar nicht um diese Uhrzeit. "Ja, ich komm ja schon.", rief Kevin und legte den Joint auf den Aschenbecher am Fensterbrett, wedelte mit der Hand den Rauch ein wenig zum Fenster heraus und verschloß die Tür zu seinem Schlafzimmer, bevor er in Shirt und Sportshorts bekleidet zur Tür ging. Seine Haare waren nach dem Duschen etwas platter als sonst, aber trotzdem zerzaust. Als er die Tür öffnete, zog er die Augenbrauen nach oben, denn mit diesem Besuch hatte er nicht gerechnet. Er und Saskia schauten sich für eine Sekunde an, ohne ein Wort zu sagen, dann schloß Kevin die Tür wieder.
    Verdammt, war das unverfroren... für einen Moment wusste der junge Polizist nicht, ob er sich ärgern sollte oder nicht. Das Klingeln wiederholte sich, die Öffnung der Tür ebenfalls. "Was willst du hier?", giftete Kevin in Richtung der blonden Frau. "Darf ich vielleicht reinkommen?", fragte Saskia auffällig locker und einen Hauch schnippisch. "Nein, darfst du nicht." Kevins Stimme war kalt und abweisend, genau wie seine hellblauen Augen, oder seine Gestik heute morgen auf der Polizeidienststelle an der Autobahn.



    Saskia seufzte und verdrehte die Augen. "Ich weiß nicht, ob das ganze Haus Anteil haben will an unserem Gespräch." "Wir haben kein Gespräch. Du hast dich offensichtlich in der Tür verirrt." Als Kevin die Tür zum zweiten Mal schließen wollte, hielt Saskia die Hand gegen das Türblatt. "Ich will über euren Fall reden." Die kalten Augen fixierten die damalige Kollegin von Kevin, als er langsam die Tür öffnete und der blonden Frau tatsächlich Eintritt gewährte. Um ihr die Kürze des Besuches klar zu machen, blieb er allerdings direkt an der geschlossenen Tür stehen, um sie bald wieder zu verabschieden.
    "Habt ihr irgendwas rausgefunden?", fragte sie und blieb unschlüssig im Wohnzimmer der eng geschnittenen Wohnung stehen. Kevin hatte die Hände vor der Brust verschränkt. "Das hättest du auch morgen früh ganz offiziell bei meiner Chefin anfragen können." Saskia lachte kurz schnippisch auf. "Genau, um dann irgendeinen offiziellen, nichtssagenden Käse zu hören." Dem Polizisten kam gleich das Abendessen hoch, wenn er was gegessen hätte. Ihn ekelte die pure Anwesenheit der ehemaligen Kollegin schon an. "Wenn du mir dann versprichst, mich in Ruhe zu lassen?" Sie zuckte nur mit den Schultern: "Natürlich..."



    Kevin erzählte: "Scheinbar hat man Plotz ein Medikament gegen niedrigen Blutdruck verabreicht. Er litt allerdings unter Bluthochdruck, was dann mit der Einnahme der falschen Medikamente zum Herzinfarkt führte. Ende der Geschichte." Saskias Blick wurde sofort ernst und ihre Stirn legte sich in Falten. Das war eine Angewohnheit von ihr, schon damals, wenn sie über etwas nachdachte. "Kannst du dich erinnern, dass sowas ähnliches auch Plotz' Fall war, zu der Zeit als das Foto gemacht wurde?", sagte sie plötzlich in einem total sachlichen Ton, doch darauf ging der junge Polizist nicht ein. "Ich hab versucht die Zeit bei euch so gut es geht zu vergessen. Und wenn ich nicht ständig einen von euch irgendwo sehen müsste, würde mir das auch gelingen.", entgegnete er abwertend und verschlossen. Er erinnerte sich auch nicht mehr an alles, weil er damals schon viele und vor allem auch noch die harten Drogen genommen hatte.
    Wieder drang ein Seufzen über Saskias Lippen und sie zupfte an ihrem teuren Top, das gerade knapp bis zum Gürtel an ihrer schlanken Taille reichte: "Ich weiß gar nicht, wo dein Problem liegt, Kevin." "Wo mein Problem liegt? Vielleicht liegt mein Problem darin, dass ihr damals versucht habt, mich fertig zu machen. Mit Bildern meiner toten Schwester und einer Scheinexekution zum Beispiel.", sagte Kevin, und seine Stimme wurde lauter.



    "Eine Geschichte die dir niemand geglaubt hat. Und auch heute niemand glauben wird, nach allem was in der Zwischenzeit so passiert ist.", sagte die junge Frau und ihre Stimme hatte die wenig Sympathie verloren, mit der sie hier aufgekreuzt war um Informationen zu bekommen. "Ein Mann, dessen Bruder unter rätselhaften Umständen in einer Jugendclique gestorben war, fällt vom Dach, nach dem du ihn verfolgt hast... ein Knacki, der in der gleichen Clique war, hilft dir ganz überraschend hinter Gitter... wo du wegen Mordverdacht warst. Eine Suspendierung davor... danach verschwindest du spurlos, tauchst wieder auf und es gibt wieder einen rätselhaften Todesfall, diesmal in Hamburg." Saskia kam ein paar Schritte in Richtung Kevin. "Denkst du wirklich, dass irgendjemand bei der Polizei dir auch nur ein Wörtchen glaubt, was deinen Mund verlässt, hm?"
    Kevins Atem ging ganz ruhig, aber seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt. Mit stechendem Blick fixierte er die junge Frau, die jetzt weiter sprach: "Über die damalige Nacht kannst du erzählen, was du willst. Aber vergis nicht, dass es auch Dinge über dich gibt, die ich weiß... und sonst niemand. Und dass es nicht gut für dich wäre, wenn sie ausser mir jemand erfährt. Deine Kollegen zum Beispiel, die nette junge Frau im Büro, die du anschmachtest... oder deine Chefin." Saskia zeigte ihr dämonisches Gesicht, als sie diese Worte sagte und der junge Polizist wusste genau, dass er nur verlieren konnte, wenn er jetzt emotional reagierte. Also öffnete er die Wohnungstür und gab für Saskia den Weg frei, mit einer unmissverständlichen Aufforderung: "Verschwinde von hier, und lass dich hier nie wieder blicken." Als sie überheblich grinste und den Kopf schüttelte, ging sie an Kevin vorbei zurück auf den Hausflur. "Machs gut, Kevin.", war das Letzte, was er von ihr hörte... und er wunderte sich... nein, es war ihm geradezu verdächtig wie ruhig Saskia war, wo sie doch vor wenigen Stunden erst ein Bild mit rotem Filzstift um ihren Kopf herum gefunden hatte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Dienststelle - 8:00 Uhr



    Semir blies den heißen Kaffeedampf über den Rand der Tasse. Draussen schien bereits der helle Planet und ließ das Thermometer Stück für Stück nach oben wandern. Es würde sicherlich wieder ein warmer Spätsommertag werden, eine Hitzewelle hatte sich angekündigt für das Ende des Augustes und gerade jetzt, wo die Schule wieder begann, wurde das Wetter nochmal richtig sommerlich. Ben kam ihm kurzärmeligen karrierten Hemd ins Büro, wünschte einen guten Morgen und goss sich ebenfalls Kaffee ein. Egal ob es warm oder kalt draussen war... Kaffee war vor allem morgens das Standardgetränk. Zwischendurch gabs vor allem bei Ben auch mal eine Flasche Cola, was vor allem von Semir und Kevin kritisch beäugt wird und zu Neckereien bezüglich Bens Figur anregte. Aber der junge Polizist hatte einen beneidenswerten Bio-Rythmus... er nahm einfach nicht zu, egal was er aß. "Im Alter geht das auch vorbei.", prophezeite Semir ihm schon länger.
    Kevin und Jenny kamen zusammen, die beiden hatten mittlerweile so etwas wie eine Fahrgemeinschaft. Nicht wenige im Büro würden es den beiden gönnen, wenn es irgendwann hieß dass sie wieder zusammen wären. Andere jedoch konnten sich das, nach den schlimmen Vorfällen in Hamburg nicht mehr vorstellen. Anna Engelhardt dagegen war einfach froh, dass die Zusammenarbeit so gut funktionierte und ihr riskantes Experiment funktioniert hatte. Sie war überzeugt, dass der eigensinnige Polizist endlich seine berufliche Heimat gefunden hatte, auch wenn es immer mal noch Reibereien wegen seiner Vergangenheit gab.



    Kevin hatte bei Jenny im Auto bereits von der gestrigen Begegnung mit Saskia gesprochen. "Das ist aber sehr merkwürdig.", war Jennys Reaktion, vor allem bei der ausgesprochenen Drohung gegen Kevin zog sie die Augenbrauen nach oben. "Was könnte sie damit gemeint haben?", fragte die junge Kommissarin und sah ihren Ex-Freund von der Seite an. Innerlich hatte sie irgendwie die Befürchtung, es kämen irgendwelche Ausflüchte. Gab es wirklich noch Leichen in Kevins Keller, die sie noch nicht kannte? Drogen, kriminelle Vergangenheit, Verkaufen von Informationen. "Ich denke, dass sie damit meine Drogensucht von damals meint. Vielleicht hat sie da etwas mitbekommen, oder dass ich Razzientermine verkauft habe.", sagte er mit ruhiger Stimme, ohne vorher nachzudenken. Würde Jenny einen Zeugen befragen, würde sie die Aussage jetzt als glaubhaft einstufen. Vielleicht aber auch nur, weil sie es glauben wollte. "Wenn es etwas anderes ist, dann ist es etwas, was ich selbst vergessen habe.", setzte der Polizist noch dazu, als er den Dienstwagen an einer Ampel hielt.
    Er spürte den Blick seiner Kollegin auf sich. Es war kein Misstrauen, was Jenny ausstrahlte... aber Unsicherheit. So oft hatte Kevin ihr noch etwas verschwiegen, so oft hatte er sein Innerstes zurückgehalten. Er konnte ihr eine gewisse Grundskepsis wirklich nicht verübeln. "Ehrlich, Jenny. Ich habe soviel Scheisse früher gebaut, dass ich sicherlich nicht mehr alles weiß. Aber was schwerwiegende Dinge angeht... ich denke, da weißt du mittlerweile alles." Er hatte ihren Blick erraten, und sie fühlte sich ein wenig ertappt. Als der Wagen wieder anfuhr, setzte er hinzu: "Und wenn mir noch etwas einfällt, bist du die Erste die es erfährt." Dabei grinste er etwas schelmisch, was auch Jenny zum Lachen brachte.



    Sie begrüßten die Kollegen im Großraumbüro, Jenny stellte ihre Tasche im Büro ab und beide verschwanden dann bei Semir und Ben. "Was gibts Neues?", fragte Ben und sah aufmerksam zu Kevin, der ungewohnt schnell zum Punkt kam. "Saskia war gestern bei mir zu Hause." "Wie? Und das hast du überlebt ohne Kratzer im Gesicht?", fragte der flapsige Polizist mit der Wuschelfrisur. "Ich konnte mich gerade so zurückhalten." "Was wollte sie?", lenkte Semir den Blick aufs Wesentliche, denn er war von dem Besuch wohl genauso überrascht wie Kevin gestern. "Erst wollte sie den Stand der Ermittlungen erfragen... und dann hat sie mir gedrohl, als ich mich wenig kooperativ gezeigt habe.", erzählte er und ging mit langsamen Schritten durchs Büro, bis er an der Fensterbank stehen blieb, und sich mit seinem offenen Hemd dagegen lehnte. Drunter trug er ein Shirt.
    "Gedroht?", fragte Semir interessiert nach. "Gedroht, erpresst... nachdem ich sie auf die Scheinexekution angesprochen hatte. Sie meinte, ich solle nicht vergessen dass sie noch einiges über mich wüsste, was sonst niemand weiß... und dass mir eh niemand glauben würde." Dabei zuckte er kurz mit den Schultern und gab auf Semirs Frage: "Und was soll das sein?" die gleiche Antwort, die er Jenny bereits im Auto gegeben hatte. "Da vergisst die gute Frau aber, dass sich die Zeiten geändert haben. Es gibt Leute, die dir glauben.", sagte Ben mit festem Blick zu Kevin. Es war ein Satz, den der junge Polizist nur sehr selten gehört hatte.



    "Jedenfalls machte sie auf mich einen ganz und gar nicht ängstlichen Eindruck, bezogen auf die Drohung mit dem Bild ihr gegenüber.", sagte der junge Mann und verschränkte die Arme vor der Brust. Semir dachte über die Äusserung sofort nach, während Ben dessen Gedanken in Worte formulierte, als säße er im Kopf seines Freundes. "Du meinst also vielleicht... dass sie gar keinen Grund hat, Angst zu haben. Und das weiß?" Kevin zuckte mit den Schultern. "Das sind Vermutungen. Aber ich glaube, dass in der Abteilung der Mordkommission irgendwas nicht stimmt. Und mit Saskia auch nicht. Vielleicht hat sie das Foto selbst bemalt, um sich aus der Schusslinie zu holen. Und eine Bedrohung ist für sie Grund genug, sich ständig über den Stand der Ermittlungen zu erkundigen."
    "Aber wo ist das Motiv von Saskia?", fragte Jenny in die Runde, worauf die drei Männer erstmal keine Antwort hatten. Semir schüttelte mit dem Kopf: "Wir müssen erstmal herausfinden: Wer wusste alles von Plotz' Krankheit? Wer hatte die Möglichkeit, seine Tabletten zu vertauschen? Da kommt sowohl seine Abteilung, als auch sein gesamtes privates Umfeld in Betrachtung. Party, Freunde die bei ihm ein- und ausgehen... seine Frau." "Ich glaube, seine Frau können wir ausschließen, wenn ich mich auf mein bisschen Menschenkenntnis verlassen kann.", sagte Kevin und seine Kollegin, die bei der Überbringung der Todesnachricht dabei war, stimmte ihm nickend zu.



    "Ich glaube, wir sollten uns auf die Mordkommission konzentrieren. Mir war die Beschreibung von Frege, was seine Abteilung angeht, auch irgendwie zu glatt.", sagte Ben in Semirs Richtung, denn die beiden ermittelten federführend in diesem Fall. Kevin war befangen, wie Semir gestern richtigerweise feststellte, und es wäre nicht gut, wenn er auf seine beiden ehemaligen Kollegen treffen würde. "Jenny, du unterstützt uns, wenn nötig.", sagte Semir und trank seinen Kaffee leer. "Dann fahren wir beide nachher nochmal zur Mordkommission, und fragen mal etwas genauer nach. Schließlich wissen wir jetzt schon etwas mehr, als gestern. Vielleicht findet Frege dann nicht mehr auf jede Frage eine Antwort.", sagte er zu Ben, der zustimmend nickte.
    Bonrath kam zur Tür hinein. "Leute? Kann mir jemand von euch vielleicht einen Gefallen tun? Der Porsche müsste zur Inspektion, und ich bräuchte jemand, der mitfährt und mich danach wieder mitnimmt." "Wo ist Hotte?", fragte Semir sofort und sah durch die Glasscheibe ins Büro. Hottes Platz war leer. "Der hat angerufen, er fühlt sich nicht wohl. Scheint ne Erkältung zu haben, wie er sagte. Er schont sich heute." Jenny und Kevin sahen sich kurz an. "Wenn es dir nichts ausmacht...", sagte der junge Polizist lächelnd. "Okay, ich fahre mit dir, Dieter.", nickte die Polizistin und fing geschickt den Schlüssel des Dienstwagens, den Kevin ihr zuwarf.

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  • Mordkommission - 08:45 Uhr



    Die Sonne brach sich am Silber des BMWs, der jetzt auf dem Parkplatz vor dem Gebäude der Mordkommission parkte. Semir und Ben stiegen aus an die warme Luft und machten sich auf den gleichen Weg, den sie gestern schon bestritten hatten. Auf der Treppe kamen den beiden zwei Männer entgegen, die sie ein wenig arggewöhnisch, beinahe feindselig anblickten. Einer hatte blondes Haar, war etwas größer als Ben und unter seinem Shirt muskulös gebaut. Auf Verbrecher wirkte er sicher einschüchternd. Sein Partner hatte einen modischen Vollbart, wie er zur Zeit wieder angesagt war, dunkle Augen und schwarzes, dichtes Haar. Wortlos, ohne zu grüßen wie es auch unter fremden Kollegen üblich war, zwängten sie sich an Semir und Ben vorbei. "Der Kaffee scheint hier nicht gut zu sein.", meinte Ben sarkastisch.
    Wieder klopften sie im zweiten Stock an der Tür von Dienststellenleiter Claus Frege, der sie daraufhin hereinließ. "Ah, die Kollegen von der schnellen Truppe.", begrüßte er sie augenzwinkernd, stand auf und schüttelte Hände. Ben fühlte sofort wieder eine gewisse Antipathie, er fand diesen Humor von Claus Frege aufgesetzt und bildete sich ein, dass der Dienststellenleiter nicht besonders erfreut war, die beiden Beamten schon wieder hier zu sehen. Schließlich gingen er und Claus nicht im Guten auseinander, auch wenn Semir einen Streit nochmal verhindert hatte. Trotzdem ergriff er die Hand und die beiden setzten sich dann.



    "Wir haben Neuigkeiten.", sagte Semir. Sie mussten Claus natürlich auf dem laufenden Stand der Ermittlungen halten. Egal, wie Ben zu ihm stand, und inwiefern er etwas mit den Geschehnissen um Kevin zu tun hatte, ihn nicht unterstützt hatte oder sonst was... sie waren verpflichtet, Infos heraus zu geben. "Kollege Plotz ist scheinbar doch einem, ziemlich heimtükischen Mord zum Opfer gefallen." "Achja?", war Claus' Reaktion und er lehnte sich nach vorne, die Hände gefaltet auf den Tisch. Seine Haltung signalisierte höchste Aufmerksamkeit. "Laut Plotz' Arzt war er Bluthochdruckpatient. Er nahm dagegen Medikamente. In seinem Blut konnte die Gerichtsmedizin aber Stoffe feststellen, die in Medikamenten gegen niedrigen Blutdruck enthalten sind. Damit könnte man bei entsprechenden Bluthochdruckpatienten ein Herzrasen bis hin zum Herzinfarkt auslösen.", erklärte der erfahrene Polizist in kurzen Sätzen.
    "Bluthochdruckpatient? Er hat immer gesagt, die Checks wären ok.", wunderte sich der Dienststellenleiter und zog die Augenbrauen nach oben. "Ja, das hat er seiner Frau auch erzählt.", sagte Ben und nahm Freges Angebot, sich an der büroeigenen Kaffeemanschine zu bedienen, dankend an. "Scheinbar wollte er nicht, dass sich irgendjemand Sorgen macht." "Und die Gerichtsmedizin glaubt, man habe ihm das falsche Medikament untergeschoben?" "Davon gehen wir aus. Irgendwo muss er seine Medikamente heimlich genommen haben. Entweder zu Hause, oder hier."



    Claus dachte nach und legte die Stirn in Falten. "Ich kenne seine Frau ein wenig. Ich kann mir nicht vorstellen, dass sie beim Aufräumen die Tabletten nicht irgendwann gefunden hätte. Hier dagegen hat jeder seinen Rollcontainer und seinen abschließbaren Schrank. Und irgendwann am Tag ist jeder mal alleine.", überlegte er laut und stieß mit seinen Gedanken in die gleiche Richtung, wie Ben und Semir. Sie hatten befürchtet, dass jemand was dagegen hätten, wenn sie ohne Durchsuchungsbefehl Plotz' Büro durchsuchen würden, aber Claus Frege lag natürlich etwas daran, dass sich der Fall schnell aufklärte, an dem er selbst gerne ermittelt hätte, aber wegen Befangenheit natürlich nicht durfte.
    "Kommt mit.", sagte er und stand von seinem Stuhl auf. Zu dritt gingen sie über den Flur in Plotz' Büro, und die beiden Autobahnpolizisten erkannten das Büro sofort wieder. Gegenüber von Plotz saß damals ein Mann namens "Kühne" und war Plotz' junger Partner. Er stellte sich als Drahtzieher in einem Komplott gegen Kevin heraus, als Mörder eines Polizei-Anwärters. Inwiefern Plotz diese Erkenntnis damals getroffen hatte, konnte keiner der beiden Polizisten, die sich jetzt auf seinem Schreibtisch umsahen, sagen. Sie hatten, genau wie Kevin danach, keinen Kontakt mehr zu ihm, vor allem auch weil er nichts dagegen unternahm und schnell an Kevins Schuld glaubte. Diese Tatsache machten auch die Worte von Plotz' Ehefrau in Kevins Richtung ziemlich unglaubwürdig.



    Mit leichtem Werkzeug brach man den Rollcontainer auf und fand schnell, was man suchte. Ein Pillenpäckchen mit kompliziert auszusprechenden Namen, zur Hälfte geleert. Eine kurze Google-Suche ergab das Ergebnis, dass es sich tatsächlich um ein Medikament gegen Bluthochdruck handelte. Semir zog die Pillen aus der Packung und betrachtete das Silberpapier der Packung, in der die einzelnen Pillen verpackt waren. "Komisch. Steht hier nicht normalerweise auch immer der Name des Medikamentes?", überlegte er laut. Ben warf ebenfalls einen Blick darauf, und zuckte mit den Schultern. "Ich bin kaum krank, da nehme ich keine Medikamente.", sagte er entschuldigend, doch Claus nickte. "Doch, da hast du Recht. Aber hier steht überhaupt nichts drauf." Semir hatte die Packung mit Handschuhen angefasst und steckte alles in eine Plastiktüte. "Wir lassen das überprüfen, welche Medikamente da wirklich drinstecken. Und wenn sie der Mörder ausgetauscht hat, dann hat er vielleicht Fingerabdrücke hinterlassen."
    Ben sah sich noch ein wenig auf dem Schreibtisch um, konnte aber keine Hinweise mehr finden, die ihnen weiterhelfen würden. Als er ein Bild von Plotz und seiner Frau fand, sah er den dicken Polizisten zum ersten Mal lächeln und stellte mal wieder fest: Egal wie wenig man jemanden leiden konnte... den Tod hatte niemand verdient. Jeder hinterließ Angehörige, die jemanden vermisste.



    Gemeinsam verließen sie das Büro von Plotz wieder und blieben noch kurz im Türrahmen von Freges Büro stehen. "Da fällt mir noch etwas ein: Eure ehemalige Mitarbeiterin... Saskia Hofmann. Warum hat sie die Abteilung verlassen?", fragte Ben, bevor sie sich verabschieden wollten. Claus überlegte kurz, und seine Antwort kam zögerlich: "Saskia wollte etwas Neues ausprobieren. Zuerst war sie bei den Finanzermittlern, aber das war ihr scheinbar zu langweilig. Dann habe ich gehört, dass sie zur Sitte gewechselt ist. K12." "Ist hier irgendetwas... vorgefallen?", tastete sich der junge Polizist weiter vor, und beobachtete vor allem Freges Reaktion, der jedoch keine Anzeichen von Unsicherheit zeigte. "Nichts, von dem ich wüsste." Sein Ton veränderte sich aber. Selbstverständlich wusste Frege von dem Zwischenfall zwischen Kevin, Thorben und Sebastian. Und er erwartete, dass die nächste Frage sich auf die beiden Beamten bezog. Doch Ben war nicht dumm, und er spürte die Veränderung in Claus' Tonlage. Er nickte, bedankte sich und die beiden Polizisten verabschiedeten sich nach draussen.
    "Hast du seine Veränderung in der Stimmlage gemerkt, bei deiner letzten Frage?", sprach Semir ihn an, als sie wieder ins Warme traten. Ben war froh, dass er sich das nicht eingebildet hatte. "Na klar. Der hat nur darauf gewartet, dass ich die beiden Typen anspreche... oder Kevin." Als sie an ihrem Dienstwagen angelangt waren, sahen beide nochmal auf das Gebäude. "Ich weiß nicht... irgendetwas stimmt in dieser Abteilung nicht...", äusserte Ben sein Bauchgefühl, bevor sie einstiegen und Richtung KTU fuhren.

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  • Dienststelle - 09:15




    Kevin saß allein in seinem Büro, seine Stirn gegen zwei Finger gestützt, brütend über den Akten. Manchmal sah er auf, tippte etwas auf der Tastatur seines PCs, las den Inhalt an seinem Bildschirm ab. Krampfhaft versuchte er, die Gedanken alleine auf das zu lenken, was vor ihm lag, und sich nicht ablenken zu lassen von den Gedanken, die ihm seit Tagen im Kopf herumgingen und sich um seine Vergangenheit drehten. Er zwang sich, seinen Kopf dazu, es zu verdrängen. Die zweite Tasse Kaffee, die dritte Kippe, der er draussen vor der Tür rauchte, halfen dabei. Er hatte sich an einen Satz von Saskia erinnert, den sie ihm gestern abend entgegen geworfen hatte. "Kannst du dich erinnern, dass sowas ähnliches auch Plotz' Fall war, zu der Zeit als das Foto gemacht wurde?"
    Der junge Polizist hatte den Satz gar nicht richtig gehört, ihn wahrgenommen aber nicht gespeichert, weil er einfach nur wollte dass diese Person seine Wohnung verließ. Jetzt war der Satz auf einmal da, er war greifbar und real. Und der Satz war richtig. Kevin hatte zwar keinen Zugriff mehr auf die Akten der Mordkommission, aber er hatte von damals viele der Akten in seinem persönlichen Ordner gespeichert. Unter anderen zumindest den Abschlussbericht der Ermittlungen, die Plotz federführend geleitet hatte.



    Das Opfer war damals 72 Jahre alt. Der Mörder: Der Schwiegersohn, der es unter Geldnot auf das Erbe abgesehen hatte. Er vertauschte die Medikamente des, an Bluthochdruck erkrankten Mannes. Der Plan ging soweit auf, dass der Mann tatsächlich an einem Herzinfarkt starb und man zunächst einen natürlichen Tod vermutete, doch auch hier kam man dem eigentlichen Mord erst durch die Medikamente auf die Schliche. Per Fingerabdruck konnte der Schwiegersohn überführt werden, der sich die Medikamente auf dem Schwarzmarkt beschafft hatte. "Wäre ja zu schön, wenn das jetzt auch so leicht wäre.", murmelte Kevin für sich allein, denn Jenny war immer noch mit Bonrath unterwegs zum TÜV. Scheinbar waren sie irgendwo in den Stau gekommen.
    Dass zwei Männer die Dienststelle betraten, bekam der junge Polizistt gar nicht mit. Torben und Bastian, beides Ermittler der Mordkommission, standen kurz unentschlossen mitten im Großraumbüro. "Kann ich ihnen helfen?", fragte Andrea, die auf den unbekannten Besuch aufmerksam wurde. "Ja, wir würden gerne zu Frau Engelhardt.", übernahm der größere Mann mit den hellblonden Haaren die Gesprächsführung ein, während der etwas kleinere Mann, mit schwarzem Vollbart, stumm nickte. "Frau Engelhardt ist gerade ausserhalb, aber sie müsste jeden Moment zurückkommen. Wenn sie kurz warten wollen...", bot Andrea den beiden einen Platz an und kehrte dann an ihren Arbeitsplatz zurück.



    Aber die beiden Mordermittler setzten sich nicht. Torben, der den Blick durch das gesamte Büro gleiten ließ, sah durch die Glaswand ins Büro von Kevin. Mit der flachen Hand stieß er seinen Partner an. "Schau mal.", meinte er kurz grinsend und nickte in Richtung des Büros und des abgelenkten Kevin. Dann hielten die beiden auf das Büro zu und traten, ohne anzuklopfen ein. "Na, wen haben wir denn da? Wenn das nicht unser ehemaliger Kollege ist?", fragte Bastian, der zuerst ins Büro eintrat, gespielt gut gelaunt. Kevin hob den Kopf bereits, als die Tür aufschwung, und seine Augen wurden kalt. "Was wollt ihr zwei Tröten denn hier?", giftete er sofort. Erst tauchte Saskia hier und bei ihm zu Hause auf, und nun auch noch die beiden Vollidioten? Womit hatte er das verdient, dachte sich der junge Polizist.
    "Na, wer wird denn so unfreundlich sein?", fragte Bastian und Torben verschloss die Bürotür hinter sich... es musste ja nicht die gesamte Dienststelle der Autobahnpolizei mitbekommen, in welchem Verhältnis die drei zueinander standen. Dreist ging Bastian ein Stück um den Schreibtisch, und sah Kevin von hinten auf den Monitor. Er konnte gerade noch die Akte von Plotz erkennen, bevor Kevin das Fenster schloß. "Oh Shit. Du bearbeitest den Mordfall von Erwin?" Kevin verdrehte die Augen. "Was dagegen?" "Allerdings. Du dürftest kaum ein ehrliches Interesse daran haben, seinen Mörder zu finden. Im Gegensatz zu uns.", unterstellte der Vollbartträger.



    Kevin schüttelte den Kopf, sperrte seinen PC und stand von seinem Platz auf. Im ersten Affekt überlegte er, den beiden nicht nur auf verbale Art klar zu machen, dass sie von hier verschwinden sollten... sondern sie beide eigenhändig rauswerfen. Aber was würde es bringen? Er hatte sich gestern schon bei Saskia zurückgehalten, und um jedem Ärger mit der Chefin aus dem Weg zu gehen, brach er sein Vorhaben ab. Er wunderte sich einen Moment selbst darüber, das war eigentlich nicht seine Art. "Passt mal auf...", sagte er mit seiner gewohnt, gelangweilten Stimme. "Ich weiß zwar nicht, was ihr beide hier verloren habt... aber egal was es ist, sucht es ausserhalb meines Büros." Dabei stieß er beim Vorbeigehen dem größeren und breiteren Torben gegen die Schulter, öffnete die Tür des Büros um dann, wieder betont rempelnd, zurück an seinen Platz zu gehen. Dort blieb er aber zunächst erst am Stuhl stehen.
    Bastian und Torben grinsten überlegen, während sie keine Anstalten machten, den Ausgang in ihrem Rücken zu benutzen. "Ernsthaft? Ist das alles, was du uns zu sagen hast?", fragte Bastian gespielt empört und stieß Torben an: "Scheint doch nicht der harte Kerl zu sein, von dem man sich immer erzählt." Der lachte kurz auf und sagte dann boshaft: "Vielleicht sollten wir doch mal den ganzen Gerüchten nachgehen, die damals bei uns so im Umlauf waren, was meinst du?" Bastian sah direkt zu Kevin, der nun den Blick wieder zu den beiden Kollegen richtete. "Ja, das sollten wir vielleicht wirklich."



    Es war nur eine Finte, und Kevin wusste das. Aber sie war so boshaft, dass er sich nicht vorstellen konnte, was der kleinere Mann mit Vollbart jetzt sagte. Er hatte nicht gefragt, er wollte nur dass die Typen abhauen. Doch der Satz, der fiel, brachte seine Deeskalationsmethode zum Einsturz. "Zum Beispiel, warum bei dem Mord an der 15jährigen Janine Peters die Spermaspuren nicht richtig untersucht wurden. Vielleicht stammen sie ja von ihrem Bruder... ihrem Mörder." "Wäre ja nicht das erste Mal, dass jemand im Drogen- und Alkoholrausch durchdreht und die eigene Schwester nicht von einer Straßennutte unterscheiden kann.", setzte Torben noch hinzu.
    Weder die Chefin, die gerade in diesem Moment im Türrahmen auftauchte und von Kevin nicht gesehen wurde, noch Torben waren schnell genug, um eingreifen zu können. Kevin brauchte nur zwei Schritte. Bis Bastian die Bewegung regestrierte, war der Kickboxer schon da, und auch das Zucken mit dem Arm war für den Polizisten unwirklich schnell. Erst den stechenden Schmerz im Magen, die Wucht des Schlages und das Zurücktaumeln konnte er spüren. Dem Mann blieb die Luft weg. Bevor es durch das Eingreifen von Torben zu einer richtigen Prügelei kam, donnerte die Stimme der Chefin durch das kleine Büro. "Dürfte ich erfahren, was hier vor sich geht?" Torben sah sich um, Bastian, leicht nach vorne gekrümmt und keuchend ebenso. Kevin blickte nur fassungslos erst auf Bastian, dann auf die Chefin, die die Erregung ihres Mitarbeiters deutlich spürte. "Ihr... ihr Polizist hat meinen Partner einfach angegriffen. Wir wollten uns nur über den Stand der Ermittlungen beim Mordfall Erwin Plotz erkundigen.", sagte der blonde Mann schnell, und die Chefin sah zu Kevin, der sich kopfschüttelnd wieder hin setzte.



    "Ach so? Dann sollten sie sich bei den richtigen Kollegen erkundigen. Kommen sie in mein Büro, Herr Peters hat mit dem Fall nichts zu tun." Ohne ein Widerwort zu dulden gab sie den Weg frei nach draussen, durch das Großraumbüro in ihr eigenes. Kevin sah ihr einen Moment nach, bekam noch einen kurzen, tadelnden Blick der Chefin ab und beobachtete, wie sie mit den beiden Kommissaren in ihren Büro verschwand. Er fasste sich wieder mit den Fingern an die Stirn und pustete durch. Er zitterte innerlich vor Wut. "Was war das denn gerade?", holte ihn die Stimme von Andrea in die Wirklichkeit zurück, und er blickte auf. Sie hatte die laute Stimme der Chefin gehört, und sah wie der kleinere der beiden Polizisten sich nicht mehr ganz aufrecht fortbewegte. Kevin biss sich auf die Lippe, bevor er sprach: "Wie würdest du reagieren, wenn man dir vorwerfen würde, dass du Semir eigenhändig in die Gaskammer gesperrt hättest und ihm das Hakenkreuz in den Hals geritzt hättest? Oder wenn man dir den Vorwurf macht, du hättest selbst dein Kind ins Koma gespritzt?" Andrea blieb für einen Moment die Luft weg und sie bekam eine Gänsehaut. Sie musste sich sogar kurz am Türrahmen festhalten. "Tut mir leid...", entschuldigte Kevin sich für den brutalen Vergleich und erklärte kurz, was Bastian und Torben gesagt hatten. Plötzlich hatte die Sekretärin, die Gewalt eigentlich ablehnte, sehr viel Verständnis für Kevins Reaktion.



    Es dauerte vielleicht 20 Minuten, bis die beiden Männer wieder aus Anna Engelhardts Büro rauskamen. Sie verabschiedeten sich nicht mit Händedruck, aber die Gesichter drückten gegen die Chefin keine Feindseligkeit aus. Der Blick, den Bastian in Richtung Kevin warf, als sie zum Ausgang gingen, sprach dagegen Bände. Hinter ihnen folgte sofort die Chefin und nahm Kurs auf Kevins Büro, wo sie im Türrahmen stehen blieb, sich gegen den Türpfosten lehnte und die Arme verschränkte. "Sie scheinen ja bleibende Eindrücke bei der Mordkommission hinterlassen zu haben, wenn man sie dort noch so gut leiden kann, Peters.", sagte sie mit einem sarkastischen Unterton, ohne dem jungen Polizisten direkt einen Vorwurf zu machen. "Was haben die beiden ihnen erzählt?", fragte er sofort und befürchtete, vor allem der intrigante Bastian könnte Lügen erzählt haben. "Unwichtig... und zwar deshalb, weil ich nichts davon glaube.", wiegelte sie sofort ab. Die Antwort war für den jungen Mann nur schwer zu ertragen, aber er musste sich damit zufrieden geben. "Davon abgesehen, dass ich zwar den Grund für ihren Ausraster gehört habe... den Ausraster aber dummerweise nicht gesehen, finde ich es dennoch besser für uns alle, wenn sie sich aus den Ermittlungen im Falle Erwin Plotz raushalten. Haben wir uns verstanden?" Sie wartete die Antwort gar nicht ab, weil es für sie eh nur eine Antwort gab und drehte sich wieder um, um das Büro zu verlassen. Dieser Teil des Satzes war aber nicht wichtig für Kevin. Er war plötzlich froh, Anna Engelhardt zur Chefin zu haben... sie hatte die ungeheuerlichen Vorwürfe gehört... und natürlich auch den Schlag gesehen. Aber sie schien Verständnis zu haben, genau wie Andrea.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • KTU - 09:30 Uhr



    Hartmut Freund hatte die beiden Autobahnpolizisten wie üblich per Handschlag begrüßt. Seit Jahren waren das rothaarige Genie der Kriminal-Technischen Untersuchung und die Männer von Cobra 11 eng befreundet. Hartmut, der eigentlich nach Toms ersten Abgang zu Semirs Partner auserkoren wurde, fand seine wirkliche Stärke erst in allerlei Wissen über Physik und Chemie. Jetzt nahm er das Tablettenblister, was Ben und Semir in Plotz' Büro gefunden hatte, genau unter die Lupe. Erst überprüfte er das kleine Plastikteil auf Fingerabdrücke, aber die sehr vage Hoffnung der beiden Polizisten wurden schnell zerstört. "Wäre auch zu schön gewesen.", murmelte Ben enttäuscht. "Für die genaue Untersuchung der Tabletten muss ich gleich ins Zentrallabor fahren, das kann ich hier nicht machen. Ich sag euch Bescheid.", sagte Hartmut und verwahrte das Blister wieder in einem Plastikbeutel.
    "Da fällt mir ein... eigentlich müsstet ihr ein weiteres falsches Blister bei ihm in der Wohnung finden.", gab der rothaarige KTU-Mitarbeiter zu bedenken. "Wieso das?", fragte Ben ein wenig verwirrt und legte die Stirn in Falten, während die beiden Polizisten hinter Hartmut standen, der gedankenverloren auf seinen Monitor starrte. Jetzt drehte er sich mit seinem Drehstuhl um. "Die Tabletten wirken normalerweise innerhalb einer Stunde. Plotz hatte den Unfall doch am Morgen." "Ja, aber er war vorher bereits auf der Dienststelle, laut Einlog-Daten der Terminals. Wir wissen nicht genau, wo er hin wollte, aber scheinbar hat er die morgendliche Einnahme vom Büro aus gemacht.", gab Semir ein wichtiges Detail an Hartmut weiter, der nickte.



    Kurz bevor sie mit ihrer Unterhaltung fertig waren, klingelte Semirs Telefon. Er erkannte die Stimme von Roland Meisner. "Semir, hier ist Roland." "Roland, gut dich zu hören. Gibts was Neues?" Er konnte das kurze Schweigen im Hörer beinahe spüren, und in Semirs Magen breitete sich eine kurze Unruhe aus. "Das gibt es durchaus... aber nicht in dem Maße, den du dir jetzt erhoffst." Der erfahrene Polizist legte die Stirn kurz in Falten. Das Meisner ausserdem von seinem Handy aus anrief, war ungewöhnlich. "Lass hören, was ist los?" "Sagen wir mal so: Leichenfund in der Kronauer Straße in Köln." Auf dem Weg zum Dienstwagen auf dem, in voller Sonne stehenden Parkplatz der KTU, blieb Semir kurz stehen, als könne er sich dann besser konzentrieren.
    "Wir sind nicht die Mordkommission... oder stehst du gerade an einer Raststätte?" Doch das konnte er eigentlich ausschließen, nachdem Meisner ihm die Adresse nannte. Ausserdem hörte er im Hintergrund keinerlei Autogeräusche. "Das nicht. Aber es handelt sich bei dem Opfer wieder um eine Polizistin. Deshalb dachte ich, könnte euch das interessieren." "Um eine Polizistin?" Jetzt stellte Semir den Hörer auf laut, damit Ben mithören konnte, nachdem sie beiden ins Auto gestiegen waren. "Saskia Hofmann. Es wäre gut, wenn ihr euch das mal anschaut." Ben und Semir sahen sich geschockt an und ließen sich nicht zweimal bitten.




    Wohnung von Saskia Hofmann - 9:50 Uhr



    Von der KTU bis zur Wohnung im Altbauviertel von Kölns Innenstadt war es nicht alzu weit. Semir hatte ausserdem Kevin informiert, der sich sofort auf den Weg machte. Vor dem Haus standen Rettungswagen, einige Polizeiautos und mittlerweile auch ein schwarzer Mercedes eines Bestattungsunternehmens. "Verstehst du das?", fragte Ben nun schon das dritte Mal, seit sie von der KTU losgefahren waren. "Noch nicht. Aber es lenkt die Spur wieder auf das Foto.", sagte Semir. In ihm drin arbeitete es bereits auf der ganzen Fahrt. Gestern schwankte er zwischen einem Rachefeldzug an allen Polizisten der Mordkommission hin zu einem Ablenkungsmanöver von Saskia selbst, zumindest was das Foto anging. Doch in diese Theorie passte ihr tot ganz und gar nicht.
    Sie nahmen die Treppen bis ins 2.OG, wo die Wohnungstür von Saskia Hofmann weit offen stand. In der modern eingerichteten Wohnung herrschte reges Treiben. Einige uniformierte hielten die Nachbarn vor der Wohnung in Zaum und ließen Semir und Ben sofort durch. Drin liefen mehrere Männer und Frauen in weißen Schutzanzügen und sammelten Spuren, während Meisner gerade die letzten Worte über die gefundene Leiche in sein Diktiergerät sprach. Die beiden Polizisten kamen näher und Ben murmelte leise ein: "Schöne Scheisse..."



    Saskia Hofmann lag auf den sauberen Holzdielen in ihrem Wohnzimmer, zwischen Treppenaufgang und hinter der Couch. Ihre Augen starrten an die Decke, die Lippen waren blau angelaufen. Um ihren Hals herum waren dünne, scharf eingeschnittene Würgemerkmale. Ihr Körper lag auf dem Rücken, die Arme über dem Kopf, die Beine leicht gespreizt. Sie trug nur einen Bademantel, der ihre Intimzonen verdeckte, ein Slip hatte man ihr bis zu den Fußgelenken heruntergezogen. "Hey Meisner. War gut, dass du uns angerufen hast." "Hab ich mir nach gestern schon fast gedacht. Hier, die haben wir in ihrer Geldbörse gefunden.", sagte Meisner und gab Ben Saskias Dienstausweis. "Die Dame war gestern noch bei uns auf dem Revier.", seufzte Ben.
    Beide Polizisten starrten betroffen auf die junge Frauenleiche. Jeder Mordfall schlug auf die Psyche. Dies hier war eine Kollegin, mit der man gestern nachmittag noch gesprochen hatte... das machte es komisch. Egal welche abartige Rolle sie in Kevins Leben spielte. "Stranguliert mit etwas Dünnem, wie einem Faden, Draht, vielleicht auch ein Kabelbinder.", zählte Meisner auf. "Todeszeitpunkt?", fragte der erfahrenere Polizist, der sich neben die Leiche hockte und sich die Würgemale genauer ansah. "Höchstens 2 oder 3 Stunden. Muss also heute morgen passiert sein. Geld ist noch da, kein Raubmord und auch kein Einbruch, den es gab keine Spuren. Sie hat ihren Mörder hineingelassen."



    Es dauerte nur einige Minuten bis Kevin mit schnellen Schritten in das Haus kam. Sein Blick war ebenfalls betroffen, als er die ungeliebte Kollegin tot am Boden liegen sah. "Scheisse...", murmelte er für einen kurzen Moment und Semir stellte erleichtert fest, dass Kevin ein wenig Empathie übrig hatte für die Frau... wenn auch nur im Angesicht des Todes. Ben unterrichtete ihn kurz in den Infos, die sie von Meisner bezüglich Saskia Hofmann hatten, sowie von den Infos aus der KTU. "Dann war das Bild doch kein makabarer Scherz.", seufzte Kevin und verzichtete darauf, Handschuhe anzuziehen, da er hier nichts anfassen würde. "Und wenn, dann gehörte sie nicht zu denjenigen, die über diesen Scherz etwas zu lachen hatten.", stellte Ben mit einem Hauch von Sarkasmus fest.
    "Wer hat die Leiche eigentlich gefunden?", wandte sich Semir an den fast gleichaltrigen Meisner. "Der Hausmeister. Die Tür war nur angelehnt, und er wollte nach dem Rechten schauen. Dann hat er die Streife angerufen." "Ich werde mal mit dem Mann reden.", sagte Ben und ging in einen Nebenraum, wo der Hausmeister wartete. Semir trat dicht neben Kevin, der nachdenklich auf die Leiche sah. "Was grübelst du?", fragte der kleinere Polizist und sah ein kaum merkbares Nicken: "Es ist genau das gleiche Muster. Unglaublich..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Köln - 10:45 Uhr



    Semir blickte mit einem Stirnrunzeln herüber zu Kevin, als dieser gerade einen sehr kryptischen Satz von sich gelassen hatte. "Es ist genau das gleiche Muster. Unglaublich...", hatte der junge Kommissar nachdenklich gemurmelt, während er auf die Leiche von Saskia Hofmann starrte. "Gleiches Muster? Wovon redest du?" Kevin biss sich kurz auf die Lippe, fasste sich mit zwei Fingern kurz an die Nase und bewegte sich einige Schritte hin und her, als könne er so besser nachdenken. "Saskia hatte gestern etwas erwähnt, woran ich erst vorhin gedacht habe. Und zwar hatte sie bemerkt, dass Plotz einen ähnlichen Fall auf dem Tisch hatte, ungefähr in der Zeit als das Foto gemacht wurde, in dem es auch um einen Mord mit einem falschen Medikament ging.", erklärte er und fügte hinzu: "Ich habe das heute Morgen überprüft." Die Begegnung mit Torben und Bastian erwähnte er indes nicht.
    "Und Saskia hatte so einen Fall zu dieser Zeit?", schlussfolgerte der erfahrene Autobahnpolizist. Sein junger Partner wog den Kopf ein wenig hin und her. "Nicht zum gleichen Zeitpunkt, vielleicht 1 oder 2 Monate früher. Ich erinnere mich auch nicht mehr an jedes Detail. Aber eine junge Frau, die in ihrer Wohnung stranguliert wurde." Die beiden Polizisten sahen sich für einen Moment schweigend an. "Das könnte auch nur Zufall sein.", beschlichen Zweifel Kevins eigene Gedanken, was Semir weder bestärken noch abschwächen wollte. "Könnte sein... muss aber auch nicht."



    Ben kam nach einigen Minuten zurück zu Semir und Kevin. "Der Hausmeister kann mir leider nicht viel sagen. Kam heute ins Haus, um etwas an den Wasserrohren im Keller zu richten. Dafür hat er das Wasser abstellen müssen, und wollte in jeder Wohnung Bescheid sagen. Saskias Wohnungstür stand offen, er sah rein, und hat sie gefunden. Und sofort die Polizei gerufen. Er hat nichts gesehen, gehört, gerochen.", gab er eine kurze Zusammenfassung des wenig ertragreichen Interviews. Sein junger Partner wiederholte die Info, die er gestern abend von Saskia bekam, und seinen Verdacht. Auch Bens Blick war zunächst skeptisch. "Das würde ja bedeuten, dass der Mörder einer aus unseren Reihen ist." "Nicht zwingend...", widersprach Semir. "Über Mord und Todschlag wird mittlerweile so detailliert berichtet, das kann auch ein Trittbrettfahrer sein." Ben entgegnete: "Aber in der Zeitung steht nicht, welcher Ermittler welchen Fall bearbeitet." Da musste der Deutsch-Türke seinem besten Freund allerdings Recht geben.
    "Auf jeden Fall brauchen wir Zugriff auf die alten Akten der Mordkommission. Wenn der Mörder wirklich dieses Muster verfolgt, dann können wir ihm Schritte voraus sein.", meinte Kevin und fuhr sich mit einer Hand durch die abstehenden Haare. "Bis wir dort die Berechtigung vergehen, das dauert Tage." "Für Hartmut dauert es nur ein paar Sekunden, da bin ich mir sicher.", meinte Ben augenzwinkernd, und zückte bereits sein Handy. Er wusste, mit einer kleinen Bestechung mit kalorienhaltigen Mahlzeiten war ihr rothaariger Freund zu jeder Schandtat zu kaufen.



    Als die drei Polizisten im Revier ankamen, hatten alle bereits Zugriff auf die Akten der Mordkommission. Ben, der mit Tastatur und Maus am schnellsten und geschicktesten umgehen konnte, hatte die Kontrolle über den Rechner übernommen. Semir saß in einem zweiten Stuhl neben ihm, Kevin halb auf der Tischplatte, um den Monitor zu sehen, Jenny stand hinter Semir und Ben. Sie wurde ebenfalls kurz von Kevin eingeweiht. Der Kommissar mit der Wuschelfrisur navigierte sich in den Ordner von Saskia Hofmann. "Das Foto war im Spätherbst. Ein paar Wochen später hatten wir in dem Mord von Timo ermittelt.", erklärte Kevin und riet Ben, ungefähr im Sommer davor nach dem Fall zu suchen, den Saskia bearbeitet hat. Es dauerte einige Minuten und einige falsch geöffnete virtuelle Ordner, bis man fündig wurde.
    Ben öffnete Ermittlungsakten, druckte Protokolle auf, Tatortfotos, Beweissicherung. Eine junge Frau, 19 Jahre alt, wurde erdrosselt in ihrer eigenen Wohnung aufgefunden. Kein Raubmord, keine Vergewaltigung. Der Täter allerdings, wurde nie gefasst. Als Semir die Tatortfotos aus dem Drucker nahm und an die Pinnwand heftete, hielten zumindest die drei Männer, die am Tatort waren, für einen Moment die Luft an. "Da war jemand verdammt gründlich.", nickte Kevin beinahe anerkennend, während Ben bemerkte: "Das ist doch völlig krank..."



    Der Mörder hatte alles versucht, die Szene exakt so nachzustellen, wie sie im damaligen Fall war. Die Leiche lag in exakter gleicher Pose, die Arme, die Beine, die Drehung des Kopfes. Das Outfit war das Gleiche, sogar das einzige Kleidungsstück der Leiche, der Slip, hatte annährend die gleiche Farbe. "Das kann kein Zufall sein, dass sie das Gleiche an hatte.", murmelte Ben und er sah dabei seinen besten Freund an. "Du meinst, er hat ihr postmortem noch den Slip getauscht? Vielleicht auch den Bademantel angezogen?" Der junge Kommissar zuckte mit den Schultern. "Kann doch sein... ich meine, wie groß wäre der Zufall, wenn sie zufällig etwas ähnliches an gehabt hätte? Wenn der Mörder wirklich die alten Fälle nachstellen will."
    Kevin nickte langsam und Jenny sah ein wenig blass um die Nasenspitze aus. "Will er definitiv. Die Ähnlichkeit ist frappierend. Schaut mal... sogar den Abknickwinkel ihres linken Fußgelenkes hat er nachgestellt. Ich würde mal behaupten, dass keine Leiche nach einer Strangulation exakt so liegen bleibt, wie eine andere." Während er das sagte, drehte er sich eine Zigarette und steckte sich das fertige Produkt hinters Ohr. Die junge Frau hinter Semir und Ben meinte dann: "Das würde aber bedeuten, dass er oder sie bei uns arbeitet... und vor allem Zugriff auf die Polizeifotos hat."



    Für einen Moment herrschte Stille im Büro, und alle vier Polizisten sahen beinahe ehrfürchtig auf die Gemeinsamkeiten der beiden Leichenfunde. Semir hatte beide Bilder nebeneinander geklebt. "Wir müssen rausfinden, worum es dem Täter geht. Warum tut er sowas?", begann Semir dann irgendwann aufzuzählen. "Weil er nicht mehr alle Tassen im Schrank hat.", sorgte Ben für einen kleinen Zwischenruf. "Wir müssen herausfinden, ob zu dieser Zeit irgendetwas bei der Mordkommission vorgefallen ist, was Saskia Hofmann und Erwin Plotz betraf. Momentan sind sie die einzigen Opfer. Und wir müssen unbedingt die Fälle in einem Zeitraum von 3-4 Monaten vor und hinter der Entstehung des Fotos uns genau ansehen. Welcher Mord wäre die beste Wahl, um ihn möglichst perfekt nach zu stellen." Dabei sah er Kevin an: "Da du ja eh nicht extern ermitteln darfst, wäre das ein super Job für dich." Ein wenig schnippisch zog der junge Polizist eine Schnute. "Ja... super wäre das."
    Ben lehnte sich in seinem Drehstuhl zurück und streckte die langen Beine aus. "Interessant wäre jetzt nur zu wissen... wer hat das nächste Foto bekommen?" Sein erfahrener Partner nickte sofort: "Richtig. Jenny, du rufst bei Claus Frege an. Der sooll seine Mitarbeiter instruieren, dass sie uns sofort kontaktieren sollen, wenn sie solch ein Foto bekommen. Wer weiß, ob es da nicht ein paar Idioten gibt, die das auf die leichte Schulter nehmen. Und wir beide fahren heute nachmittag zur Sitte. Vielleicht können die uns etwas über Saskia erzählen, was uns weiterhilft." "Aye aye, Sir.", sagte Ben und zwinkerte Semir zu.



    Kevin und Jenny verließen das Büro der beiden Polizisten. Eigentlich wollte Kevin seine selbstgedrehte Zigarette gleich konsumieren, doch er ging mit seiner jungen Kollegin noch kurz ins Büro, da sein Feuerzeug leer war und er sein Ersatz brauchte. Gerade als er sich herunterbeugte, um den Rollcontainer zu öffnen, fragte Jenny: "Was war eigentlich dein Fall, in der Zeit um das Foto herum?" Der junge Polizist verharrte kurz in der gebeugten Stellung am Rollcontainer und schien nachzudenken... zumindest wirkte es so. "Hmm... kurz danach gab es den Fall mit dem Mord auf dem Rastplatz, als ich Semir und Ben zum ersten Mal unterstützt hatte.", sagte er und richtete sich wieder auf. "Und davor?" Sein Lächeln erstarb ein wenig, und wurde von einem, etwas gequält wirkenden Blick verdrängt. "Ist es okay, wenn ich darüber nicht reden mag?" Auch Jennys Lächeln verschwand. Plötzlich spürte sie wieder etwas... Misstrauen? Eine unsichtbare Wand? Das Verschließen seiner Gefühle? Aber er hätte ja sagen können: "Ach, nichts besonderes." Oder einfach lügen. In gewisser Weise war Kevin ehrlich... dass er nicht drüber reden möchte. Jenny akzeptierte dies mit einem verständnisvollen Nicken. "Aber Kevin...", hielt sie ihn mit ihrer Stimme zurück, als er gerade den Raum verlassen wollte. "Auf eins bestehe ich. Bitte, sei du keiner der Idioten, die Semir angesprochen hat. Wenn du ein Bild bekommst, mit einem Pfeil über deinem Kopf... bitte sag es uns." Die junge Frau war ihrem Ex-Freund gegenüber getreten und fasste ihn an seinen Unterarmen. "Ich hab Angst um dich...", sagte sie leise. "Brauchst du nicht. Ich verspreche es dir, dass ich euch sofort Bescheid sage, und mich dann ganz viel von dir bewachen lasse." Er schaffte es, Jenny wieder etwas lächeln zu lassen... zwar mit ihren Sorgenfältchen um den Mund, aber ein Lächeln.

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  • Sitte - 14:00 Uhr



    Semir und Ben kannten den Weg zum Zentralrevier mittlerweile auswendig. Nicht nur, weil sie sich in der Stadt sowieso auskannten, sondern auch weil sie in den letzten Tagen jetzt schon mehrmals da waren. Die Sitte lag nämlich im gleichen großen Gebäude, wie zum Beispiel auch die Drogenfahndung um den Kollegen Thomas Bienert, als auch die Mordkommission. Um zur Abteilung der Sitte zu gelangen blieb immerhin Ben der Fahrstuhl erspart, sie lag im Erdgeschoss, wie alle Abteilungen hinter einer gesicherten Tür. Semir rief über ein Bedienfeld das Geschäftszimmer an, eine Beamten kam um ihnen die Tür zu öffnen, was sonst nur mit einem Transponder möglich gewesen wäre.
    Die Chefin der Sitte erwartete sie bereits in ihrem Büro. Erika Himbert war Anfang 60, vor 23 Jahren als eine der jüngsten Frauen, die jemals ein Dezernat geleitet hatten, noch kritisch beäugt. Doch sie hatte alle Kritiker Lügen gestraft. Die Abteilung der Sitte hatte in Kölner Polizeikreisen nicht nur eine hervorragende Aufklärungsquote sondern auch noch den Ruf, ein sehr gutes Arbeitsklima zu bieten. Und ein solches stand und fiel mit den jeweiligen Vorgesetzten. Erika suchte die Bewerber noch selbst aus und weigerte sich, sie von den Präsidien der Personalabteilung vorgesetzt zu bekommen, sie war gerecht, einfühlsam und gleichermaßen auch streng. Ausserdem versprühte sie durch ihre Art den gleichen Enthusiasmus wie ein Polizist, der frisch von der Polizeischule kam. Davon, dass sie in zwei Jahren in Rente ging und eine ruhige Kugel schieben würde, merkte man nichts.



    Mit festem Händedruck schüttelte sie den beiden Polizisten die Hand. Selbstverständlich wurde sie bereits vorher von dem Mord an ihrer Mitarbeiterin informiert. "Setzen sie sich. Das ist schrecklich, einfach nur schrecklich.", sagte sie betroffen und nahm selbst hinter ihrem Schreibtisch Platz. "Frau Himbert, wir müssen uns erst ein wenig ein Bild über Saskia Hofmann machen. Was können sie mir über sie sagen?", fragte Ben, der das Schnick-Schnack-Schnuck im Auto gegen Semir gewonnen hatte. Er fragte, Semir schrieb. "Saskia war eine Frau, die wusste was sie will. Manchmal sehr resolut, ich würde sogar sagen... fast dominant. Führungspersönlichkeit. Für diese Abteilung hier braucht man eine gesunde Psyche, sonst steht man das nicht lange durch."
    Ben und Semir konnten sich vorstellen, was Erika Himbert damit meinte... Kinderpornografie, Vergewaltigung, Misshandlung... das war hier an der Tagesordnung. Den psychischen Dampfhammer, den man bei der Autobahnpolizei mit schlimmen Unfalltoden hin und wieder bekam, kam plötzlich und gewaltig. Wenn man Glück hatte, vergaß man ihn einige Tage später wieder bis zum nächsten Unfall. Hier sah man das Grauen tagtäglich, im Extremfall wenn man sich mit der Internetkriminalität beschäftigte, 8 Stunden am Tag. Das war kein einmaliger Dampfhammer, das war wie das ständige Bearbeiten mit 1000 kleinen Hämmerchen.



    "Hatte sie mal erwähnt, warum sie von der Mordkommission zu ihnen wollte." "Der Wechsel ging nicht von ihr aus.", antwortete die ältere Frau und goss sich eine Tasse Tee aus ihrer Thermoskanne. Danach bot sie an, die beiden Polizisten lehnten dankend ab. "Wir arbeiteten vor einiger Zeit mit der Mordkommission zusammen. Dabei lernte ich sie und ihre Arbeitsweise kennen. Danach machte ich ihr ein Angebot für einen Wechsel zu uns, was sie auch recht schnell annahm." "Hatten sie dabei den Eindruck, dass sie sich bei der Mordkommission unwohl fühlte?", hakte Semir weiter nach und legte den Stift für einen kurzen Moment auf den Block, der auf seinem Knie ruhte. "Saskia hat ihre Gefühle nicht so sehr gezeigt. Deswegen kann ich Ihnen die Frage nicht beantworten. Aber sie hat... ich sage mal... sehr schnell zugesagt." Semir nickte nachdenklich, nahm wieder den Stift und schrieb.
    "Hier gab es dann keine Probleme?" Erika Himbert schüttelte entschieden den Kopf. "Nein. Darauf achte ich hier sehr dass es unter den Mitarbeitern keine Spannungen gibt. Nur in einem guten Klima kann man gut arbeiten." "Spannungen lassen sich aber manchmal nicht vermeiden, da spreche ich aus Erfahrung.", sagte Semir, der schon einige Erfahrung und viele Kollegen neben sich hatte. "Da haben sie wohl Recht, Herr Gerkhan. Hier soll auch niemand den anderen heiraten. Aber ich kann ihnen mit Sicherheit sagen, dass alle Mitarbeiter hier im Rahmen eines Reviers gut auskamen. Das können sie alle fragen."



    Ben dachte kurz nach, ob die Frage nach Drohungen sinnvoll war... er schätzte Erika Himbert als Polizistin ein, dass sie einen solchen Vorfall schon längst den beiden Polizisten gesagt hätte. "Wer hat denn am meisten in ihrer Abteilung zusammen gearbeitet?", fragte er dann stattdessen. "In der Zeit, in der sie bei uns war, hat sie vor allem mitt Mark Zavel zusammengearbeitet. Er hat sein Büro direkt zwei Türen weiter und ist im Dienst. Natürlich etwas mitgenommen, wen wundert es. Aber unsere Arbeit muss leider weitergehen." Die beiden Polizisten bedankten sich bei Erika Himbert, auch wenn sie bereits ahnten, dass die Befragung von Herrn Zavel ähnlich wenig hilfreich sein würde, wie diese hier.




    Dienststelle - gleiche Zeit



    So kannte sie den jungen Polizisten gar nicht. Jenny hob immer mal wieder den Kopf um über ihren Monitor zu Kevin zu schauen. Er blickte mit seinen blauen Augen konzentriert auf den Monitor und hatte seit über einer Stunde nichts geredet. Dass er schweigsam sein konnte, wusste sie. Aber ganz ohne Action, dass er mal raus musste, den Platz oder Einsatzort wechseln... das kannte sie von ihm nicht. Dabei wusste sie nicht, dass er zu Hause manchmal stundenlang am Fenster saß, und herausblickte oder hin und wieder sogar noch das Dach der alten Lagerhalle aufsuchte, wo er als Jugendlicher oft war. Jetzt aber war er damit beschäftigt, die Fälle aller Mordermittler zu der damaligen Zeit in eine übersichtliche Tabelle zu packen.
    Als er seinen eigenen Namen schrieb und dahinter die Fälle auflistete, wurde ihm unwohl. Er sah den Namen des letzten Falles, das Mordopfer, die angehängten Akten. Tatortfotos, Befragungen. Jetzt war der Moment, an dem sich die Stimmen im Kopf zurückmeldeten, die nach der Sucht schrien. Eine Zigarette würde sie immerhin abschwächen. Sie wurden auch leiser, als er so schnell wie möglich zu dem nächsten Ermittler, den nächsten Fällen und Verurteilungen kam, die er auflistete.



    Jenny hatte ihren Kopf über den Akten des damaligen Falles von Erwin Plotz, der aufgeklärte Mord an dem alten Mann mit Tabletten. "Bei diesem Fall hat unser Mörder sich aber wenig Mühe gegeben.", sagte sie nachdenklich, und ließ Kevin vom Monitor aufblicken. "Das Opfer wurde damals zu Hause gefunden. Nicht im Auto. Es gab keinen Unfall, nichts." "Ich denke mal, es lag daran, dass die Wirkung der Tabletten nicht überall gleich ist. Der Mörder konnte nicht wissen, wo Plotz sich befand, als die Tabletten wirklich wirkten.", gab der junge Polizist zur Antwort, ohne das Tippen zu unterbrechen. "Aber warum hat er sich dann nicht für einen anderen Mordfall entschieden? Einen, den man besser nachstellen konnte?" Darauf wusste Kevin keine Antwort.
    Für einen Moment blieb es stumm. Kevin tippte weiter, es blieben noch eine ganze Menge Fälle in die Excel-Tabelle einzutragen. Jenny las konzentriert, bis das Vibrieren ihres Handys und der Benachrichtigungston ihre Aufmerksamkeit verlangte. Es war eine Nachricht von einer unbekannten Nummer und die junge Polizistin zog die Stirn ein wenig in Falten. Ihre Augen wurden größer, sie sah auf ihr Handy, danach auf Kevin, dann wieder auf ihr Handy. Die Nachricht schnürte ihr kurz die Kehle zu und rief furchtbare Bilder zurück in ihren Kopf. "Du arbeitest mit einem Mörder!" stand auf dem Display.


    Mit zusammengepressten Lippen sah sie auf Kevin. Den Mann, dem es in letzter Zeit wieder so gut ging, und der sich wieder so sehr ins Team integriert hatte. Er hatte Vertrauen zu allen, er hatte nicht mehr von seinen alten Dämonen gesprochen. Sollte sie diese Wunden wieder aufreißen? Sollte sie alte Bilder wieder fördern? Oder wäre das Schweigen schon wieder ein Vertrauensbruch. Ihr Handy fühlte sich heiß an in ihrer Hand, als sie die Nachricht mit zwei Klicks löschte, den Bildschirm deaktivierte und das Handy wieder zur Seite legte... und schwieg.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Gerichtsmedizin Köln - spätabends



    Er fühlte sich hundeelend, er wollte einfach hier weg. Doch der kalte, tote Körper auf dieser schrecklich metallisch-glatten Unterlage hielt ihn hier gefangen. Jenny sah aus, als würde sie schlafen... so wie sie immer aussah, als Kevin noch neben ihr eingeschlafen war, nachdem er sie eine Zeitlang wie ein Insekt beobachtet hatte. Kein Lächeln um ihren Mund, aber ein friedlicher, zufriedener Ausdruck. Ja, zufrieden sah sie aus. Als würde es ihr gut gehen. Aber sie war tot. Kevin hörte die Stimme von Roland Meisner ganz weit weg. "Zwei der drei Kugeln haben die Lunge getroffen. Der Abstand war ungefähr 2-3 Meter." Sie klang verzerrt, wie ein Echo und Kevin nahm sie nicht wahr. Seine Augen waren gerötet, er hatte nichts zurückgehalten, keine Gefühle versteckt.
    Sie standen in der Tankstelle. Kevin musste den Dienstwagen noch betanken auf dem Heimweg, er hatte Jenny mitgenommen. Sie waren gut gelaunt, sie arbeiteten zusammen, sie verstanden sich wieder... und Kevin war endlich im Team wieder angekommen. Sie schaffte es, seine düsteren Gedanken zu verdrängen, seine Gedanken an Verräter, seine Gedanken an die Vergangenheit. Jenny hatte ihm das Lachen zurückgeschenkt, und jetzt würde er ihr Lachen niemals wiedersehen. Das letzte, was sich in seinen Kopf einbrannte, war ihr nackter Körper auf einem Metalltisch, verunziert von drei Schusswunden.



    Kevin stand an der Kasse und wartete, bis Jenny sich eine Sorte Chips ausgesucht hatte. Sie hatte die Idee, einen gemütlichen DVD-Abend zu machen, und Kevin hatte zugestimmt. Der Mann, der in die Tankstelle kam, hatte er gar nicht wirklich bemerkt. Wie mechanisch bog er zu Jenny ab und hob seinen Arm. Der junge Polizist war wie gelähmt, als wären seine Füße am Boden festgewachsen, als Jenny sich umdrehte und mit drei knallenden Schüssen niedergeschossen wurde. Er wollte nachlaufen, er wollte zu Jenny laufen, er wollte Hilfe holen... er konnte nicht. Kevin konnte sich nicht bewegen und wie in Trance und einem stechenden Schmerz im Rücken nur zusehen. So war das Gefühl also... er kannte es doch. Warum hatte er nicht mehr getan?
    Sie sah so friedlich aus, auf diesem metallenen Tisch. Kevin war ganz dicht an sie heran getreten und streichelte Jenny zärtlich durch ihre braunen Haare, die um ihren Kopf aufgefächert waren. Dabei bemerkte er nicht, wie zwei, drei Tränen auf ihr Gesicht fielen. Die Stimmen im Hintergrund, er nahm sie nicht wahr. Die beiden Ermittler der Mordkommission, sie waren ihm egal. Er wollte am liebsten alleine sein, mit Jenny, ein letztes Mal. Sich verabschieden, obwohl es ihm das Herz brach. Er wollte nie mehr alleine sein. Warum hatte er nicht mehr getan?



    Erst als der jüngere der beiden Polizisten Kevin ansprach, drehte er sich um. Nur schemenhaft, undeutlich und verschleiert konnte er den Mann erkennen, der äusserlich nur entfernt wie ein Polizist aussah, mit seiner abgewetzten Jeans, dem silbernen Ohrring und den abstehenden Haaren. Seine Stimme klang monoton und gefühllos, als er mit ihm sprach. "Herr Peters, es tut mir wirklich sehr leid. Aber das Verfahren um den Mord an ihrer Kollegin wurde eingestellt." Es klang so herzlos, so gefühllos, als rede er über ein technisches Gerät, das einfach nicht mehr zu reparieren war. "Entschuldigen sie, Herr Peters. Aber an dem Fernseher ist nichts mehr zu machen." Seine hellblauen Augen wirkten kalt, während sein dicker Kollege im Hintergrund sich überhaupt nicht für ihn zu interessieren schien.
    "Wie kann das sein? Es gibt doch Hinweise, Indizien. Es gibt doch sogar ein Phantombild.", sagte Kevin mit verzweifelter Stimme. Ein schreckliches Gefühl, wenn diese Tat ungesühnt bliebe. "Wir haben in jede Richtung ermittelt, aber das einzig verwertbare Phantombild hat seit Monaten in der Fahndung keinen Erfolg. Alle anderen Ansätze sind Sackgassen und im Sande verlaufen. Es tut mir wirklich leid. Wir können keinen Menschen anklagen, wenn wir nicht genügend Beweise haben."



    Kevin drehte sich von diesem Mann weg. "Ich habe das verloren wofür es sich lohnte, zu leben.", sagte er mit zitternder Stimme bevor sich erneut zu dem jungen Mann umdrehte und ihn am Kragen packte. "Und sie sagen mir jetzt einfach so, dass sie den Mörder nicht finden? Wozu sind sie bei der Mordkommission?? Was sind sie nur für ein Polizist??", schrie er laut, drückte den überraschten Mann an die Wand und konnte von dem dicken Polizisten nicht gebändigt werden, bis er dem Beamten mit der stacheligen Frisur einen Fausthieb ins Gesicht versetzte, so dass dieser zu Boden ging. Schwer atmend blieb er vor ihm stehen, und sah herunter. In die blauen Augen, auf die abstehenden Haare, auf die abgewetzte Jeans. Er sah in sein Spiegelbild...
    Mit einem Mal war er wach. Er war nicht aufgeschreckt, seine Decke war nicht völlig durcheinander und er war auch nicht schweißüberströmt wie sonst, wenn er träumte. Kevin lag auf dem Rücken, zugedeckt war er bei der Hitze sowieso nicht... und er schlug mit einem Mal plötzlich die Augen auf. Dann atmete er tief durch, drehte den Kopf ein wenig, um auf die Uhr zu sehen. Sie zeigte 2:30 Uhr, im Zimmer war es dunkel und ein leises Donnergrollen war von draussen zu hören. Nur sein Herz spürte er... es schlug wild.



    Der junge Polizist schlug die Decke zurück und stieg aus dem Bett. Leise, um Kalle nicht zu wecken, tapste er nur in Boxer-Shorts bekleidet in die Küche, wo er sich aus dem Kühlschrank eine Flasche Wasser holte und einige kräftige Schlucke trank. Für einen Moment blieb er neben dem offenen Kühlschrank stehen, bevor er die Tür schloß, etwas aus dem Schrank nahm und mit der Flasche zum Küchentisch ging, um sich zu setzen. Was er in der Hand hatte, fühlte sich nach Plastik an, rund und länglich. Es klackerte, wenn er es schüttelte und die pinken Pillen fielen übereinander her. Er hatte lange keine Alpträume mehr, aber die ganzen Ermittlungen, die Erinnerungen an seine alten Fälle, hatten es wieder ausgelöst. Alpträume, dieser Druck.
    Seit der Sache mit Patrick hatte Kevin keine Drogen mehr genommen... abends mal einen Joint zu rauchen zählte er nicht dazu. Jetzt beobachtete er am dunklen Küchentisch die Ampulle mit den Pillen, als wolle er sie hypnotisieren. Statt eine herauszunehmen, nahm er noch einen Schluck aus der Flasche und drehte die Ampulle auf der runden Seite über den Tisch. Nach einer Viertelstunde, in der er sich nicht entscheiden konnte, ob ihm die Drogen jetzt wirklich helfen würden, oder alles nur noch schlimmer machten, stand er auf. Er warf die Ampulle wieder in den Küchenschrank, zog sich seine Sporthose, ein T-Shirt und Laufschuhe an, bevor er nach draussen ging, und loslief. Er lief einfach, bog hin und wieder mal ab, und vergaß vollkommen die Zeit. Zwei Stunden später kam er zurück zu Kalles Wohnung, triefend nass von dem Gewitter, durch das er gelaufen war und er hätte niemandem den Weg beschreiben können, den er gerade gelaufen war.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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