Dinner mit Baal

  • Dienststelle - 7:45 Uhr



    Semir hatte bereits Kaffee aufgesetzt, als seine beiden jungen Kollegen ins Großraumbüro traten. Jenny sah aus wie ein junger frischer Morgen, doch Kevin machte einen ziemlich übernächtigten Eindruck. Ging die Nummer in Anis Bar so lange gestern abend, dass er zu so wenig Schlaf gekommen war? Der erfahrene Polizist war gespannt wie ein Flitzebogen, ob sich etwas Entscheidendes gestern Abend ereignet hatte. Die drei begrüßten sich bei Andrea's Tisch, auch Hotte und Bonrath, die in kurzärmeligen Hemden am Schreibtisch saßen, wurden begrüßt. Der dicke Polizist litt am meisten unter dem warmen Wetter und hätte die Uniform gerne gegen Shorts und Shirt getauscht. Doch jetzt mussten die beiden los - ein Unfall mit mehreren Fahrzeugen im Berufsverkehr. Jenny sah den beiden nach und war froh, den Streifendienst hinter sich gelassen zu haben.
    Ben ließ, wie immer auf sich warten. Seit er mit Carina zusammen war, die scheinbar einen überaus pünktlichen Charakter zu haben schien, war er öfters mal vor 8 Uhr im Büro. Doch wehe, Carina hatte frei... dann konnte der ewige Junggeselle sich nicht von ihr, oder dem Bett... Semir vermutete beides... befreien. Wäre seine Arbeit nicht so überaus wichtig für die Cobra 11 - Dienststelle - die Chefin hätte ihm wohl schon mehr Druck gemacht, als ständiges Ermahnen. So hoffte der Zu-Spät-Kommer immer wieder, gerade ins Büro zu schlüpfen, wenn die Chefin gerade in einem wichtigen Telefonat war, oder unterwegs.



    Um viertel nach 8 war es dann soweit, und der Polizist mit der Wuschelfrisur traf lächelnd, grüßend im Büro ein. Ein kurzer Blick ins leere Büro ihrer Vorgesetztin... Glück gehabt. Man versammelte sich im Büro von Semir und Ben. "Na, dann erzähl mal, wie ist es gestern gelaufen?", fragte Semir voll Neugier, nachdem er viermal Kaffee eingeschenkt hatte und sich an seinen Schreibtisch gesetzt hatte. Kevin lehnte an der Glaswand, die das Büro abtrennte. "Eigentlich wie erwartet. Der Kommissar, der das Charmin bisher beobachtett hat, war scheinbar geschmiert. Zufälligerweise gingen Bienert mehrere bekannte und unbekannte Gesichter ins Netz, die die Hinterräume der Bar betreten hatten. Es ist also ziemlich wahrscheinlich, dass eben jener Polizist Schlappner wusste, dass ich bei meinem Vater in der Bar bin, zu einem Gespräch ging und er in dem Moment die Bilder machen konnte. Dafür hatte er extra mit einem Kollegen getauscht.", erzählte der, sonst so wortkarge Polizist. "Anis hat also versucht, mich reinzulegen. Er wollte mir sicher nichts anhängen, weil er dann sein Ziel nicht erreichen kann... aber er wollte wohl Stärke demonstrieren. Zu was er fähig ist." Semir nahm einen heißen Schluck Kaffee und nickte stumm. Ben sagte: "Aber er kennt dich doch von früher. Er muss doch wissen, dass sowas bei dir nicht fruchtet." Sein Partner mit der Stachelfrisur zuckte mit den Schultern: "Menschen ändern sich. Er hat ja auch gedacht, dass er über meinen Vater an mich herankommt."



    Ein kurzes Schweigen füllte das Büro, bis Jenny sich zu Wort meldete: "Egal wie er es als Nächstes versucht... er wird es weiter probieren, denke ich. Oder aber, der Einbruch hat sich für ihn gelohnt." Kevins Blick haftete bereits nach den ersten Silben auf Jennys Blick, und er hätte die Frau stundenlang anschauen können. "Das glaube ich nicht.", meinte er ohne den Blick von Jenny abzuwenden. "Er hat mich gestern abend noch einmal angesprochen. Hat klar auf die Durchsuchung bei mir hingewiesen. Er klang ganz und gar nicht so, als würde er mich nicht mehr brauchen." In ihm drin arbeitete es. Er wollte ehrlich sein, nichts verschweigen. Oder zumindest nicht vorsätzlich lügen. Er wollte nicht sagen, dass er Anis provozierte. "Und was hast du gesagt?", fragte Ben neugierig und sah den jungen Beamten mit festem Blick an.
    Die Blicke begegneten sich. "Ich hab ihm gesagt, dass er die Sache besser vergessen soll. Ansonsten drehe ich den Spieß um." Seine Stimme klang kalt und Semirs Stirn legte sich in Falten. "Wie meinst du das?" "Er wird heute keinen ruhigen Morgen verleben, wenn Bienert erste Zivilbeamte zu den Verdächtigen schickt, so wie bei mich. Wenn er merkt, dass ich mich wehre, wird er Fehler machen." Drei Augenpaare waren auf den jungen Beamten gerichtet. "Das ist aber ein ziemliches Spiel mit dem Feuer, Kevin."



    Als hätte Semir einen wunden Punkt getroffen, blickte der junge Polizist zu Boden. "Ich weiß.", sagte er beinahe schuldbewusst. Und er kam zu einem Punkt, an dem er nicht lügen konnte, an dem er nicht mal verheimlichen konnte. Er würde es nicht überleben, wenn Jenny etwas passierte, weil er seinen Kollegen nichts gesagt hat. Er konnte ja nicht 24 Stunden am Tag auf sie aufpassen. "Er... er hat mir indirekt gedroht." Dabei sah er zu Jenny, die etwas blass um die Nase wurde, was nur Kevin bemerkte. Ansonsten ließ sich die sonst taffe Polizistin nichts anmerken. "Wie indirekt?", hakte Semir nach und Kevin wiederholte die, ihm gut bekannte Liedzeile. "Wenn du dich mir nicht ergibst, dann töte ich das was du liebst."
    Nun richteten sich auf die Augen von Semir und Ben auf Jenny, der die Blicke etwas unangenehm waren. "Damit... muss ja nicht unbedingt ich gemeint sein.", meinte sie etwas unsicher, wusste sie doch nicht wieviel Anis über Kevins Privatleben wusste, vor allem nicht von deren letzten Entwicklungen. "Damit kann ja auch Kalle gemeint sein. Oder ihr beide... "Liebe" im übertragenen Sinne auf alle Menschen, die Kevin wichtig sind. Oder Annie...", versuchte sie sich selbst aus der Schusslinie zu reden. Dann blieb ihr Blick auf Kevin haften: "Du warst nicht rein zufällig heute Morgen vor meiner Tür, oder? Wie lange standest du schon da?", fragte sie und sie wusste, dass Kevin sie nicht anlügen würde. "Ich bin direkt, nachdem ich aus dem Charmin gegangen bin zu dir gefahren. Das war so gegen halb zwei."



    Ben schluckte und beobachtete, wie sich Kevin und Jenny ansah. Er konnte den Kampf in Jenny, zwischen Rührung und Empörung beinahe spüren. Rührung darüber, dass Kevin sich sorgte und auf sie aufpasste... und dass er sofort an sie dachte, als Anis von deren Menschen sprach, die Kevin liebte. Empörung, dass er heute morgen zumindest nicht ganz ehrlich war... oder vielleicht auch, dass er sie nicht Nachts um halb zwei aus dem Bett geklingelt hat. Er wollte nicht abwarten, bis Jenny ihr zweites Gefühl nach außen trug, denn das hatte der junge Polizist nicht verdient. "Du weißt schon, dass das nicht so clever war... die Drohung, meine ich.", sagte er zu Kevin. "Vielleicht. Auf der anderen Seite zeigt es mir, dass Anis unter Druck steht. Und wer unter Druck steht, der macht Fehler."
    Das Telefon klingelte. Semirs Apparat zeigte auf dem Bildschirm die Nummer der KTU an... Hartmut war mit Ergebnissen dran. Er schaltete den Lautsprecher ein. "Einstein, was gibts?", begrüßte Semir den rothaarigen Super-Techniker. "Ich hab die Chemikalien mal zusammen getragen. Ziemlich heißes Zeug.", begann Hartmut nach der Begrüßung und wollte einen Vortrag beginnen über Chemikalien, deren Namen die vier Polizisten wahrscheinlich nicht mal unfallfrei schreiben konnten. "Hartmut, auf Deutsch wenns geht.", schnarrte Ben in das Mikrofon.



    "Also, man kann aus dem Zeug schon so etwas wie eine Droge herstellen... allerdings ist das nicht leicht. Daraus kann ein ziemlich betörender, abhängig machender Stoff entstehen, der die Wirkung von Heroin bei weitem übersteigt. Macht man bei der Herstellung aber Fehler, kann man genauso gut ein absolutes Teufelszeug brauen, was nichts mehr mit einem Trip zu tun hat. Ich hab da mal von einer Drogenlegende gehört, die...", doch weiter kam er nicht. Kevin fiel ihm ins Wort. "Valkyr." "Ja genau... hast du davon gehört?", fragte Hartmut erstaunt. Diesmal war es der junge Polizist, der Hartmut ins Staunen versetzte. Die Droge gab es wirklich, getestet an Obdachlosen und hilflos dahinvegetierenden Drogenjunkies. Im Ragnarök, das vor ein paar Tagen ausgehoben wurde. "Mittlerweile ist die Droge also tatsächlich mehr eine Legende.", schloß er die Erzählung ab, auch wenn es bestimmt noch eine gewisse Dunkelziffer von dem Teufelszeug gab. "Für mich sieht das eventuell nach einer Weiterentwicklung dieses Valkyrs aus. Es ist weitaus günstiger herzustellen als Heroin, aber deutlich härter in der Wirkung. Wer den Schlüssel gefunden hat, dieses Valkyr richtig herzustellen, hat im Drogengeschäft die Lizenz zum Gelddrucken.", ertönte Hartmuts Stimme aus dem Hörer.
    "Diejenigen, die das schlechte Zeug genommen hatten im Ragnarök... die haben uns ohne Vorwarnung angegriffen. Ohne Rücksicht auf Verluste. Vielleicht ist das auch das Ziel.", sagte Ben plötzlich und wurde von allen dreien, die um das Telefon herum saßen oder standen, angesehen. "Wie meinst du das?", fragte Kevin. "Keine Droge... ein Kampfstoff, um jegliche Empathie, menschliches Gefühl und Moral auszuschalten. Wenn das unkontrolliert bei der ersten Variante des Valkyrs möglich war, könnte es doch bei der zweiten Variante ansatzweise kontrolliert werden. Manche Diktatoren oder Kartellbosse würden für so etwas ein Vermögen bezahlen, um Armeen in der Hinsicht zu... verstärken.", wobei er das letzte Wort mit einer Geste in Anführungszeichen setzte. "Ist das nicht ein bisschen weit hergeholt?", meinte Semir und wackelte mit dem Kopf. "Nicht so weit, wie ihr denkt. Zumindest einige der Stoffe in hoher Dosis bewirken genau das, was Ben beschreibt... und was ihr scheinbar in diesem Ragnarök erlebt habt.", erklang wieder Hartmuts Stimme. "Ihr müsst an die Aufzeichnungen ran, die aus dem Haus entwendet wurden... dann kann ich sicher sagen, ob man hier einfach eine neue, brutale Droge herstellen wil, oder sogar mehr dahinter steckt..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Anis Villa - 10:00 Uhr



    Das Wachmachen seiner Kinder war heute vermutlich das Positivste, was Anis' Laune widerfahren sollte. Denn ab 10 Uhr stand sein Handy nicht mehr still, und er tigerte bei jedem Anruf zwischen Küche, Arbeitszimmer und Wohnzimmer hin und her. "Nein, Ari. Ich hab' keine Ahnung wie das passieren konnte." "Alter, du hast mir immer versichert, dass nix passiert, wenn ich zu dir im Laden die Scheisse abhole!!", polterte es aus dem Mobiltelefon in Anis' Ohr. "Und was war heute Morgen? Da stehen Zivilbullen vor meinem Haus und wollen meine Wohnung filzen! Zum Glück hatte ich die Scheisse nicht im Haus behalten, sonst säße ich jetzt wohl auf dem Revier. Ich glaube nicht, dass alle deine Kunden so vorsichtig waren wie ich."
    Anis fuhr sich durch die schwarzen Haare und ihm fiel es schwer, die Ruhe zu bewahren. "Normalerweise passiert da auch nichts. Der Bulle, der meinen Laden beobachtet, ist geschmiert und weiß Bescheid. Ich weiß auch nicht, was da gestern passiert war." Bei diesem Telefonat wusste er es allerdings... glaubte er. Er dachte an den jungen Mann, der sich gestern mit ihm unterhalten hat. Der sein Angebot, seine Bitte... ja, sein Verlangen erneut abgelehnt hatte und obendrein ihm noch eine Drohung ausgesprochen hatte.



    Offenbar hatte er seine Drohung bereits wahrgemacht. Als aber ein weiterer Kunde von ihm anrief und sich beschwerte, stutzte Anis. Kevin war zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht im Laden. Das konnte ihm sein Türsteher, der Kevin kannte, bestätigen. Trotzdem nahm die Wut auf den jungen Polizisten nicht ab. Das konnte einfach kein Zufall sein, dass der Typ in seinem Laden auftauchte, und ausgerechnet einen Tag danach bekamen mehrere seiner Kunden, die gestern Geschäfte bei Anis abgewickelt hatten, Besuch. Schlimmer noch... mehrere schrien ins Telefon, dass es das letzte Geschäft mit Anis gewesen sei. Der Deutsch-Tunesier warf irgendwann das Handy gegen die Wand, so dass es zersplitterte.
    Wenig später kam Kamil zu ihm in die Villa, und berichtete dass sich auch der ein oder andere bei ihm gemeldet hatte. "Das ist eine Katastrophe, Anis. Wie konnte das nur passieren?" Der Verbrecher sah für einen Moment stumm aus dem Fenster. Die Autos auf der Straße unter ihm, die durch das Wohngebiet fuhren, verfolgte er mit den Augen ohne sie wirklich zu regestrieren. "Was machen wir denn jetzt?", hörte er Kamil, als stünde er Meter weit weg.



    Dann drehte er sich um. "Was machen wir jetzt? Nichts machen wir.", sagte er mit gereizter Stimme, ging vom Fenster zur Küche um sich noch einen Kaffee auszuschenken. Würde der Deal mit den Russen klappen, den er vorhatte, müsste er sich eh keine finanziellen Sorgen mehr machen. Er würde das Drogengeschäft sowieso aufgeben und sich nur noch um seinen Club kümmern. Auch wenn jede Menge krimineller Energie in Anis steckte, die Familie stand an erster Stelle. Und seit der Geburt seiner beiden Töchter suchte er nach einer Möglichkeit, zumindest seine kriminelle Laufbahn in Rente zu schicken. Bennys Forschung nach einer Weiterentwicklung des mysteriösen Valkyr-Stoffes schien die Lösung zu sein. Ein günstig herzustellender Stoff, der mehr knallte als Heroin.
    Ein russischer Drogenring, aus dem Anis einen der Zwischenhändler kannte, hatte Interesse. Sie hatten von V gehört, von den Vorkommnissen bei der ersten Version dieser Droge, die für viele aufgrund ihrer Grausamkeit nur eine Legende war. Sie boten Anis einen Millionenbetrag, wenn sie das Rezept ausgehändigt bekommen würden... allerdings wollte das Kartell auf Nummer sicher gehen. Benny sollte, exakt nach dem Rezept, die Droge herstellen unter den Augen einiger Mitglieder des Kartells. Dann sollte der Deal über die Bühne gehen. Dafür brauchte Anis Benny... und der hatte das Rezept.



    Der Stick war nicht zu knacken. Anis hatte es versucht, zwei "Experten", die Anis kannte, hatten sich daran die Zähne ausgebissen. "Ausgeschlossen.", sagte einer von ihnen dann, erzählte etwas von 256bit-Verschlüsselung und komplizierten Algorithmen. Worte, die für Anis Fantasieland waren. Der Deal musste klappen, das war das Wichtigste. Müsste er den Russen absagen, wäre das ziemlich unangenehm. Vielleicht würden sie mit sich reden lassen... aber nur mit Preisminderung. Die wollte sich der ehrgeizige Verbrecher aber nicht zugestehen. "Es ist jetzt völlig egal, Alter. Sollen sie sich einen anderen Dummen suchen.", sagte er missmutig zu seinem besten Freund und trank einen Schluck Kaffee.
    Kamil nickte, er wusste ja von Anis' Plan, wenn der Deal klappte. Misslang er aber, wäre Anis noch weiter auf die Kunden angewiesen, die er gerade verloren hatte. Auch deshalb richtete sich seine Wut gegen Kevin. Aber Kamil war weitaus weniger positiv gestimmt, dass sein Boss den sturen Polizisten noch umstimmen könnte. Insgeheim sah er sich selbst schon bei einem Plan, Benny aus dem Knast oder einem Gefangenentransport zu befreien.



    "Dieser Drecksbulle hat dir damit richtig eine reingewürgt.", sagte er vorsichtig zu Anis, der wütend aus seinen südländisch braunen Augen guckte. Ja, das hatte er. Es war ein Zug in einem Spiel, das die beiden spielten, der Anis richtig weh tun konnte, sollte der Deal mit den Russen nicht funktionieren. Und genau diesen Trumpf, nämlich Benny, hielt Kevin immer noch in der Hand und es schien, als wedelte er damit grinsend vor Anis' Nase. Der Deutsch-Tunesier nickte. "Das glaubt er vielleicht. Aber das Spiel ist noch nicht zu Ende.", sagte er und klaubte auf dem Boden die Stückchen seines Handys zusammen. Er würde sich wohl nachher ein Neues besorgen müssen.
    "Es wird Zeit, dass wir mit seinem Trumpf gleichziehen. Und uns einen eigenen Trumpf besorgen. Und dann werden wir mal sehen, welcher Trumpf stärker ist.", sagte Anis fast schon philosophisch. "Und wer soll unser Trumpf sein?", fragte Kamil verwirrt... und noch mehr war er verwirrt, als Anis selbstsicher grinste.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Charmin - gleiche Zeit



    Semir tippelte mit den Fingern nervös aufs Lenkrad, Ben sah aus dem Seitenfenster auf das Gebäude, vor und hinter dem sich gegen späten Abends Autos sammeln, leicht bekleidete Mädels rumhüpften und allerlei zwielichtige Gestalten umherliefen. "Das ist ne Schnapsidee.", wiederholte der erfahrene Kommissar nun zum gefühlt fünfundsechzigsten Mal, so dass sein bester Freund die Augen verdrehte. "Hast du eine Bessere?", war die Standardantwort, die Semir dann jedesmal verneinen musste... innerlich zumindest. "Wenn da was schiefgeht, und wir auffliegen, dann machen wir drei demnächst Streifendienst in Hettelleidelheim.", knurrte er angesichts der drohenden Konsequenzen. "Das ist eine typisch kopflose Ben-Jäger-Idee."
    Sie mussten an die Aufzeichnungen ran, hatte Hartmut gesagt. Also reifte in Bens tollkühnem Kopf sofort eine Idee. Bei Benny fand man sie nicht, also muss man woanders danach suchen. Etwas, was die beiden Kommissare nun wirklich nicht das erste Mal taten, aber diesmal war für Semir irgendwie der "Druck" nicht da. Es war niemand ernsthaft in Gefahr, es stand nichts auf der Kippe. Waren ihre Vermutungen richtig, dann war der Einzige, der wirklich Druck hatte, Anis.



    "Wenn die den Deal doch irgendwie anders durchziehen, vielleicht doch jemand die Sticks auslesen kann... dann ist es zu spät. Das müssen wir verhindern." "Wir wissen ja nicht mal, ob der Einbrecher bei Benny überhaupt was geklaut hat. Wir wissen lediglich, dass der Einbruch kein Erfolg war." "Ja, dann werden wir das jetzt rausfinden." Ben blieb stur, Semir seufzte. "Wie oft haben uns meine Kopflos-Ideen schon geholfen, hmm?", fragte der grinsende Polizist mit der Wuschelfrisur. "Und wir oft haben sie uns schon in Schwierigkeiten gebracht? Das dürfte sich ungefähr die Waage halten.", erwiderte der etwas vernünftigere Kommissar und machte dabei eine Waage-Geste mit der Hand.
    "Bei Benny wären wir auch eingebrochen, wenn nicht jemand vor uns da gewesen wäre. Da wars okay?" "Ben, Benny saß zu dem Zeitpunkt schon im Knast. Und wir konnten uns ganz sicher sein, dass niemand da ist. Was ist, wenn da drin 5 Gorillas auf uns warten." "Dann kriegen wir Anis dran wegen nicht artgerechter Haltung von Zootieren.", witzelte Ben, was Semir mit einem kurzen "Hä?", quittierte, weil er den Witz nicht direkt verstand. Danach winkte er ab und merkte, dass Ben mal wieder nicht ernst bleiben konnte und damit die Diskussion abbrechen zu versuchte.



    Kevin kam im Laufschritt zurück zum silbernen BMW und stieg auf der Rückseite wieder ein. "Und?" "Aufs Klingeln reagiert niemand, Tür ist verriegelt und verammelt... aber ich hab ne Kellertür gefunden, dort könnten wir es versuchen." sagte der Auskundschafter, der am ehesten ein Auge dafür hatte, wo man in ein Haus einsteigen konnte. Erfahrung aus seiner jugendlichen Vergangenheit. Kevin hatte weniger Skrupel als Semir und stimmte Bens Idee sofort zu. Zu dritt mussten sie Jenny dann mit Engelszungen überreden, auf dem Revier zu bleiben weil sie befürchteten, dass es mit vier Leuten zu auffällig war. Insgeheim betrachtete Kevin es auch als zu gefährlich, wobei er sich immer wieder selbst ermahnte... schließlich war Jenny eine Polizistin, und noch dazu eine sehr gute.
    "Wer ist dafür dass der Älteste Schmiere steht?", fragte Ben dann mit einer etwas kindlichen Tonlage und einem Augenzwinkern in Richtung Kevin. Sofort gingen zwei Arme in die Höhe. "Vergiss es. Ich lass euch Grünschnäbel nicht alleine da rein." "Komm schon, du hattest doch sowieso Bedenken.", meinte Ben und dessen junger Partner ergänzte: "Es wäre schon gut, wenn uns jemand warnt, falls doch jemand kommt. Da drin ist garantiert niemand mehr."



    Semir seufzte, als er aus dem Auto seinen beiden jungen Freunden hinterhersah, wie sie in einer Gasse neben dem Gebäude des Charmins verschwanden. "Kaum kratzt man an der 50, schon ist man abgemeldet.", knurrte er und schüttelte den Kopf. Dann parkte er das Auto um, um einen besseren Überblick auf das Gebäude des Charmins zu haben. Kevin und Ben waren inzwischen die Treppe neben dem Haus heruntergegangen und an der alten Kellertür angekommen, die von innen mit einem massiven Riegel versperrt war. Als der junge Polizist nach wenigen Minuten mühsamer Fummelarbeit das Schloß endlich geknackt hatte, stellte er enttäuscht fest, dass die Tür trotzdem keinen Centimeter nachgab.
    "Scheisse...", murmelte er und steckte den Dietrich wieder weg. "Von vorne?" "Keine Chance... da würde uns sofort jemand sehen. Die Gegend hier ist ja nicht komplett tot um die Zeit." Ben seufzte. Würde ihr Plan schon bei der ersten Hürde scheitern? Er besah dass kleine Fenster neben der Kellertür, das von Spinnenweben verhangen war. "Würdest du hier durchpassen?", fragte er seinen Kollegen, der kurz spöttisch an Ben heruntersah. "Soll das ein Witz sein. Wenn du durchpasst, passe ich aufrecht durch." "Nicht frech werden!" Ben war weit entfernt davon, dick zu sein. Aber er war muskulöser und dadurch durchaus etwas breiter als der schmale Kevin, der aufgrund seiner Statur im Zweikampf öfters unterschätzt wurde.



    Das Gitter vor dem Fenster war ein wenig aus der Wand gebröckelt, so dass es wackelte als Ben es erfasste und Kraft daraus ausübte. "Das wird dann aber auffallen, wenn wir das Gitter aus der Wand reißen.", meinte Kevin. "Na und? Es wird auch auffallen, wenn die Sticks plötzlich verschwunden sind." "Stimmt..." Kevin ging an die andere Seite des Fenster und beide ergriffen jeweils die äusserste Stange des Gitters. Beide zogen, rissen und stemmten sich mit einem Fuß gegen die Wand, doch es wollte sich nicht mehr aus der Wand rühren, als es eh schon war, ob wohl Putz aus dem Loch, wo das Gitter in der Wand steckte, bröckelte. "Wir bräuchten was zum Aufstemmen.", keuchte Ben und ging die Treppen wieder hoch. In der Gasse lag allerlei Unrat, und so fand er recht schnell eine Holzlatte, die stabil genug aussah, als dass sie als Hebel zu gebrauchen wäre.
    Der Polizist setzte das Holzstück zwischen zwei Stangen des Gitters und mit vereinter Kraft versuchten sie die Barriere aus der Wand zu hebeln. Erst durch konstante, dann durch ruckartige Krafteinwirkung. Als das Holz schon ächzte und begann zu splittern, gab das Gitter endlich nach und rutschte aus der Wand. Mit einem schnellen Griff konnte Ben verhindern, dass krachend zu Boden fiel. Der morsche Holzrahmen des Fensters war für Kevin dann kein Hindernis mehr, und gemeinsam stiegen sie ins Dunkel des Gebäudes...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Charmin - 10:15 Uhr



    Die schwache Neonröhre flackerte und spendete nur wenig Licht im ersten Kellerraum, in den Kevin und Ben eingestiegen waren. Zusätzlich hatten sie Taschenlampen dabei, da sie in den oberen Stockwerken kein Licht anmachen wollten. Auch wenn draussen herrlicher Sonnenschein war, waren die Rolläden des Clubs meistens zu. Durch den ein oder anderen Spalt der Rolläden aber hätte man vielleicht von aussen brennendes Licht sehen können. Kevin zog das aufgebrochene Fenster hinter sich nur provisorisch zu. Der Einbruch würde dem Besitzer der Bar, Anis, auf jeden Fall auffallen, aber das war den beiden Polizisten egal. Sie machten sich durch zwei weitere Kellerräume, in denen Unmengen Getränkekisten lagerten, auf den Weg zum Erdgeschoss.
    Der Kellereingang lag in einem Vorratsraum hinter der Bar. Hier war es nun dunkel, und Ben knipste die Lampe an. "Was machen wir, wenn jetzt doch einer von Anis' Gorillas da ist?", fragte Ben auf einmal, als würde ihn plötzlich der Mut verlieren. "Was sollen wir dann groß machen? Entweder wir bringen ihn um, oder wir hauen ab." Der Polizist mit der Wuschelfrisur leuchtete seinem Kollegen ins Gesicht, und sah dessen Grinsen. Natürlich hatte er die Antwort nicht ernst gemeint.



    "Hier ist niemand. Warum soll sich vormittags hier jemand aufhalten? Die ersten Mitarbeiter kommen erst am Nachmittag, um den Abend vorzubereiten. Also hör jetzt auf, dir ins Hemd zu machen.", fügte er dann noch ein wenig ernsthafter an und ging voraus. Durch den Vorratsraum gelangte man in den großen Raum direkt hinter die Bar. Dort war bereits alles soweit aufgeräumt, nur die Kühlschränke schienen leer und abgeschaltet. Es war ein wenig unheimlich, die Stille in dem Raum, in dem sonst laute Musik und Lichtgewitter herrschte wirkte nun, so dunkel, schon beeindruckend auf die beiden Polizisten. Das einzige Geräusch, was sie vernehmen konnten, war ihr leises Atmen. Ben folgte seinem Partner, leuchtete auf dessen Rücken, der zielstrebig die Tür ansteuerte, die zu Anis Büro führte.
    Sie gingen durch einen kurzen Flur, wo Kevin dann rechts abbog. In Bens Bauch zwickte es, als er plötzlich wieder dieses Unbehagen fühlte. Er stellte sich vor, wie oft sein Partner diesen Weg ins Büro schon gegangen ist, mit der Absicht Drogen gegen Polizeiwissen einzutauschen. Immer wenn er an sowas dachte, sah er den Menschen Kevin plötzlich anders. Er konnte dieses Gefühl, dieses Unbehagen in diesen Momenten noch nicht einfach abstellen, wie er es mochte. Es fiel ihm schwer...



    Doch die Tür ins Büro wurde nochmal zum kurzen Hindernis. Sie war abgeschlossen. Kevin kniete sich vor das Schloß, während Ben direkt auf das Schlüsselloch leuchtete, in das der Dietrich fix verschwand. Ein paar Drehungen, wackeln und hantieren... das Schloß gab knackend nach. "Hoffentlich hat der hier keine Kameras hängen.", meinte Ben leise, als sie ins Büro traten. Was wie im Reflex schauten beide Polizisten an die Decke und in die Ecken, doch sie konnten kein verräterisches, blinkendes rotes Licht oder eine sichtbare Kameralinse entdecken. "Wir nehmen am besten alle Datenträger mit, die wir finden können.", sagte Kevin leise und die beiden Männer begannen mit ihrer Durchsuchung. Sie blätterten auch in Ordnern und besahen sich Unterlagen... vielleicht hatte Anis auch etwas Schriftliches versteckt, was ihnen weiterhalf.
    Ben fand einen USB-Stick, und steckte ihn ein. "Hier ist auch ein Laptop. Was ist damit?", sagte er plötzlich und Kevin dachte einen Moment nach. Dabei fiel sein Blick auf einen großen Wandkalender und plötzlich war Bens Stimme ganz weit weg. Der 16.07. war schwarz umkringelt und ein Kreuz daneben gezeichnet. Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb. "Kevin... was ist mit dem Laptop?" "Was??" Kevin schreckte auf und kehrte aus seiner Gedankenwelt zurück. "Der Laptop! Was ist mit dem Laptop?", wiederholte Ben nochmal und bemerkte jetzt erst, dass Kevin scheinbar kurz in Gedanken versunken war. "Ja... nehmen wir mit.", sagte er kurz angebunden.



    Kevin fand noch eine tragbare Festplatte und steckte sie ein. Mehr konnten sie in dem Büro nicht ausfindig machen, in den Ordnern war nichts, was auf die Drogen, ein Rezept oder irgendeinen Deal hindeutete. Den versteckten Tresor fanden sie nicht, sie suchten auch nicht danach. Hier würde Kevins Talent mit einem normalen Dietrich eh nicht ausreichen. "Ben, Kevin! Hier hat grad ein Auto Halt gemacht! Der Kerl steuert auf den Eingang zu!!", knarrte es plötzlich aus dem Funkgerät. "Scheisse, wir müssen hier raus.", sagte Ben hastig und klemmte den Laptop unter den Arm. Im Laufschritt, die Taschenlampe nach vorne gerichtet, liefen die beiden Männer aus dem Büro in den großen Raum, wo auch die Eingangstür war. Gerade als sie hinter den Tresen liefen, hörten sie bereits das Stochern eines Schlüssels im Schloß der Tür.
    "Fuck, schnell!", flüsterte Kevin, der Ben beinahe durch die Tür in die Vorratskammer schob. Er zog gerade die Tür zu, als das Schloß des Haupteingangs sich öffnete. Leise, aber flink liefen die beiden Männer durch den Vorratsraum nach unten in den Keller. Semirs bester Freund klemmte sich zuerst durch das Fenster, dann folgte ihm Kevin. Der zog den morschen Fensterrahmen zu, der aber natürlich nicht mehr richtig geschlossen war. Das Gitter drückte er einfach provisorisch zurück in die Hauswand. Würde man nur ein wenig daran hängen bleiben, würde es abfallen.



    Von der Gasse aus sahen sie Semir im BMW sitzen. Der winkte hektisch. "Kommt schon!", sagte er dabei ins Funkgerät. Also war die Luft rein, der Kerl war im Haus und konnte nicht sehen, dass die beiden Polizisten aus der Gasse über die Straße liefen. Semir trommelte immer noch ungeduldig aufs Lenkrad, als die beiden Männer an der Beifahrerseite vorne und hinten einstiegen. "Freunde, das war ganz schön knapp. Hoffentlich hat sich das gelohnt.", sagte er beim Blick auf den Laptop, den Ben unterm Arm hatte. "Das werden wir ja gleich sehen. Auf zu Hartmut!", sagte Ben und war froh, dass er sich durchgesetzt hatte. Er war überzeugt, dass das sie weiterbringen würde. Nur Kevin war auf der Fahrt bis Hartmut seltsam still...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 11:45 Uhr


    Hartmut wurde schon von unterwegs benachrichtigt, und entsprechend geködert. Als die drei Männer auf der Dienststelle eintrafen stand sein Notebook schon bereit, die Pizza war bestellt und Jenny voller Ungeduld. Erleichtert seufzte sie, als sie sah dass alle drei ihrer Kollegen und Freunde unversehrt wieder eintrafen und sogar "Beute" mitbrachten. Der Chefin würde Semir später in Ruhe alles erklären und in die Berichte etwas von "anonym zugesendeten Beweismitteln" schreiben. Auch wenn das bei der Autobahnpolizei erstaunlich oft vorkam. Bei großen Verbrechen fragte sie Staatsanwaltschaft aber dann nicht mehr genau nach, nur die Verteidigung.
    "Na, seid ihr fündig geworden?", fragte Hartmut neugierig und besah sich der Beute. Ein Notebook, zwei USB-Sticks und eine externe Festplatte. Er startete sofort seine Hardware am Tisch von Ben und machte sich an die Arbeit. Eine Zeitlang war im Büro nur das Klicken der Maus und der Tastatur zu hören, leises "Hmm... hmm...", von Hartmut und das Ticken der Uhr. Ben und Semir standen direkt hinter dem rothaarigen Genie, und konnten den Arbeiten ein wenig folgen.



    Hartmut ließ über jeden Datenträger ein selbst geschriebenes Suchprogramm laufen. In diesem Programm konnte er einstellen, nach welcher Art Datei gesucht werden sollte. Jetzt forschte er nach allerlei Art Dokument, die irgendwelche Aufzeichnungen enthalten konnte. Ausserdem nach verschlüsselten Containern und Archiven. Immer wieder lief ein blauer Balken von links nach rechts, Prozentzahlen wurden angezeigt, Ergebnisse, die Hartmut öffnete. Meist waren es aber Unterlagen aus dem Charmin, private Sachen von Anis, Geburtsurkunden... nichts, was den Männern weiterhalf. Der erste USB-Stick kam und ging, der zweite ebenso. Die Hoffnung in Semir sank ein wenig.
    Kevin stand nicht direkt bei seinen beiden Kollegen. Er lehnte am Fensterbrett, sein Blick auf den Monitor gerichtet, doch er nahm nicht wahr, was dort passierte. Er sah nur das Kalenderblatt, den 16.07 schwarz umkringelt mit einem Kreuz. Sein Geburtstag. Und gleichzeitig Janines Todestag. Was hatte das zu bedeuten? War das nur ein riesengroßer Zufall? Ein makabarer Scherz? Er wusste, dass Anis seine kleine Schwester kannte, über Kevin, über die verschiedenen Gangs, über die Schule. Und er wusste auch, dass Anis ein ganz besonderes Verständnis zur "Familie" hatte. Eines, das Kevin nicht ganz unähnlich war.



    Jenny kannte Kevin. Und sie sah an seinem Blick, dass nur seine Augen, nicht seine Konzentration zum Bildschirm hingewandt waren. In seinen Gedanken, das konnte sie spüren, war er an einem anderen Ort. Sie ging von einer Seite des Büros hinter ihren beiden Kollegen zu Kevin und lehnte sich dicht neben ihn an die Fensterbank. "Alles klar?", sagte sie leise und berührte mit ihrer Hand kurz seinen Oberschenkel. Die Berührung ließ ihn innerlich kurz aufzucken. "Hmm?" "Ob alles okay ist." Sie sprach leise, aber natürlich würde Ben und Semir sie hören. Doch sie schauten so gebannt und konzentriert auf den Bildschirm, dass die murmelnden Stimmen im Hintergrund untergingen.
    "Hmm, ja. Alles in Ordnung. Bin müde.", meinte Kevin kurz angebunden und ärgerte sich schon wieder. "Kann ich verstehen, wenn du die ganze Nacht im Auto gesessen hast." Die Worte aus Jennys Mund klangen verständnisvoll, ihr Blick aber verriet dem müden Polizisten, dass sie ihm nicht glaubte, dass alles okay war. Er zog sein Handy, öffnete ein Notizprogramm und schrieb, für Jenny gut sichtbar "später" hin... denn auch ein Flüstern würde Ben und Semir mitbekommen. Er wollte Jenny nichts verheimlichen, er wollte es jetzt aber auch nicht vor allen sagen.



    "Verdammt..." auch die Festplatte ließ keinen Hinweis zu. Nichts war verschlüsselt, die Platte voll mit Musik. "Könnten wir ihn wenigstens wegen Raubkopien dranbekommen.", witzelte Ben. "Tolle Idee." "Jetzt bleibt nur noch der Laptop.", seufzte Hartmut. Es wäre zu ärgerlich, wenn der risikoreiche Bruch ergebnislos blieb. Das rothaarige Technikgenie startete den fremden Laptop. Allerdings nicht auf normalem Wege, sondern über seinen eigenen Stick und ein eigenes emuliertes Betriebssystem. Somit umging er schon mal etwagige Passwortabfragen im normalen Windows. Jetzt hatte er Zugriff auf alle Dateien. "Hier ist zumindest schonmal ein Verschlüsselungsprogramm installiert.", sagte er verheißungsvoll. "Aber für Laien."
    "Für Laien?", fragte Ben. "Ja... eine Freeware. Zwar vom Algorithmus her sehr gut, aber..." "Hartmut, auf Deutsch. Für Beamte. Bitte.", unterbrach Semir ihn. "Du bekommst es kostenlos, jeder kann damit umgehen, aber zu knacken ist es sehr schwer und aufwändig.", kürzte Hartmut ab. Es wurde wieder still im Büro, Hartmut klickte, schaute, räusperte sich und aß, wie die vier anderen, immer wieder ein Stück Pizza. Da Kevin wenig Hunger hatte überließ er dreiviertel seiner Pizza Ben und Hartmut, die dankend zulangten.



    "Nichts... gar nichts. Keine Dokumente, die uns helfen. Keine verschlüsselten Dateien. Aber laut History des Programms hat er vor einigen Tagen etwas verschlüsselt, aber auf einen externen Datenträger. Und das scheint keiner zu sein, den wir haben. Jungs... das war nix.", sagte Hartmut irgendwann und schlug die Hände überm Kopf zusammen. "Scheisse...", presste Kevin hervor, das erste Wort dass er deutlich und laut sagte, seit sie wieder im Büro waren. "Dann hat er das Zeug doch in seiner Privatwohnung.", murrte Semir ebenfalls enttäuscht. Und Ben ärgerte sich... wäre ja zu schön gewesen, wenn mal eine Idee geklappt hätte. "Aber Moment mal... vielleicht... hmm...", sagte Hartmut plötzlich und begann wieder zu tippen.
    Es dauerte nur wenige Minuten, und plötzlich tauchten Aufzeichnungen des gesuchten Dokumentes auf. "Nennt mich Gott.", grinste er triumphierend. "Wie hast du das jetzt hingekriegt?", fragte Ben verwundert, der doch ein wenig von PCs verstand. "Die Dateien waren zwar nicht abgespeichert... aber natürlich musste Benny sie irgendwo bearbeiten. Schreiben. Und dabei werden, falls es zu einem Absturz kommt, Sicherheitskopien automatisch gefertigt und in temporären Ordnern gespeichert. Soviel Wissen hatte er scheinbar nicht, sonst hätte er die gelöscht, bevor er die originalen Dateien verschlüsselt.", erklärte Hartmut, für Laien halbwegs verständlich.



    Dann studierte er die Aufzeichnungen. Durch sein Vorwissen, seine Ermittlungen bezüglich der Chemikalien, blickte er recht schnell durch. "Wenn ich mich nicht vollends täusche...", sagte er dann irgendwann, "dann lag ich mit meinem Verdacht heute morgen richtig. Die Aufzeichnungen sind, von den Mengen her, auf jeden Fall darauf ausgelegt, Drogen herzustellen. Und zwar die Rauschdroge, nicht den Kampfstoff.", schloß Hartmut. "Das garantiert aber nicht dafür, dass der Käufer die Rezepte dafür missbrauchen will. Wer weiß, welcher Teil dem Käufer fehlt, und was er schon weiß, um sowohl das Eine, als auch das Andere herzustellen.", sagte Semir und sein bester Freund nickte. "Es ist vielleicht eine Chance, wenn wir Benny damit konfrontieren, was er mit dem Verkauf des Stoffes anrichten kann. Vielleicht weiß er davon selbst nichts..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Verhörraum - 13:00 Uhr



    Die Fertigessen, die Gefangene in der Dienststelle jeden Tag vorgesetzt bekamen, waren wenig abwechslungsreich und konnten einem nach einigen Tagen bereits zum Hals raushängen. So auch Benny, der diesmal im Verhörraum sein Mittagessen einnahm, während Semir und Ben ihm stumm dabei zusahen. Sie hatten ihn herbringen lassen, er bekam sein Mittagessen während Kevin und Jenny im Nebenraum standen und die ganze Szene beobachteten. "Warum bin ich jetzt nochmal hier?", fragte Benny mit vollem Mund, kurz bevor er mit seiner Mahlzeit fertig war. "Weil wir noch ein paar Fragen an dich haben.", antwortete Semir mit Bierruhe und hatte die Arme vor der Brust verschränkt.
    Benny sah, als er den Teller von sich schob, beide Polizisten an. "Ich werd' euch nicht mehr erzählen, als bei meiner Verhaftung. Egal, ob ihr mich nett fragt, oder wie Kevin auf den Boden drückt. Okay?" Ben und Semir sahen sich kurz irritiert an, als Benny Kevin erwähnte, vor allem die Tatsache dass er scheinbar von Kevin tätlich angegriffen wurde. Der ältere Polizist warf noch einen vorwurfsvollen Blick in die Spiegelscheibe und der Blick traf Kevin.



    "Vielleicht haben wir dir ja etwas zu erzählen.", sagte Ben mit einem leichten sarkastischen Unterton, was nun Benny die Augenbrauen heben ließ. "Zum Beispiel, dass in deine Bude eingebrochen wurde." "Wie bitte?" Kevin beobachtete durch die Spiegelscheibe die Reaktion von Benny ganz genau. Die Überraschung war nicht gespielt. "Warum? Was ist geklaut worden?" "Keine Angst, nichts wertvolles. Glauben wir.", sagte Ben und hörte sich dabei wie ein unerfahrener, ahnungsloser Streifenpolizist an. "Was heißt, glauben wir? Ihr wisst doch gar nicht, was fehlen könnte ohne mich. Wir müssen sofort dorthin!" "Wir haben den Einbrecher erwischt, und er hatte nichts großes dabei. Alzu viel kann er also nicht mitgenommen haben. Höchstens etwas, was in die Hosentasche passt.", erklärte Semir.
    "Ja und? Was wollt ihr damit jetzt von mir?" "Hast du USB-Sticks im Haus? Also in deinem Büro irgendwo herumfliegen gehabt?" Unsicher sah Benny von einem zu dem anderen Polizisten. Eigentlich hatte er sich mit diesem Zögern bereits verraten, egal wie er jetzt antworten würde. Er entschied sich, dummerweise fürs Lügen. "Nein, hab ich nicht." Semir grinste und Ben lachte kurz auf, bevor er sagte: "Dann hast du Glück... dann wurde tatsächlich nichts entwendet. Wenn du aber welche hattest... die sind futsch."



    Benny wollte gerade etwas erwähnen, als Semir dazwischen fuhr: "So, Schluss jetzt mit dem Kasperletheater. Wir wissen, warum Anis dich unbedingt aus dem Knast haben will." Erneut schaute Benny überrascht auf... eigentlich hatte er geglaubt, Kevin würde die Sache für sich behalten. Er rechnete nicht damit, dass der schweigsame Polizist bei seinen Kollegen über die Sache auspacken würde. Doch da täuschte er sich. Semir und Ben waren eingeweiht, und Jenny fühlte in diesem Moment ein wenig Stolz in sich, dass sie die treibende Kraft dafür war, dass ihr Ex-Freund die Barriere des Misstrauens überwunden hatte. Er selbst, der dicht neben ihr stand, und immer wieder dem inneren Zwang widerstand, einfach mal ihre Hand zu nehmen wie früher, war froh dass er die beiden Freunde eingeweiht hatte.
    "Du kochst Drogen für Anis. Du hast die Rezeptur von Valkyr geändert um aus der Horror-Droge endlich das zu machen, für was sie gedacht war. Und für Anis ist das eine Lizenz zum Gelddrucken." "Woher wollt ihr das wissen?" Der junge Polizist verdrehte die Augen und warf einen Ordner, den er auf dem Schoß liegen hatte, auf den Tisch. Darin waren einige der ausgedruckten Seiten aus dem Notebook, den sie aus Anis Büro mitgehen lassen hatten... an dem Benny gearbeitet hatte.



    "Wie... wie seid ihr da ran gekommen.", fragte Benny nachdem er die erste Seite sofort wieder erkannt hatte. Semir grinste, den er hatte in diesem Moment eine Idee. Er rechnete nicht damit, dass man alleine mit der Appellierung an Bennys Gewissen ihn auf ihre Seite ziehen würde. Eine kleine Lüge bedurfte es zusätzlich noch. "Die wurden uns anonym auf einem Stick zugeschickt. Mit dem Hinweis, dass du diese Dokumente angefertigt hast und die Sachen in deiner kleinen Hexenküche hergestellt hast." Prüfend sah er Benny an. "Stimmt das?" "Ohne meinen Anwalt sage ich dazu nichts.", brummte Benny und verschränkte nun die Arme vor der Brust. Kevin nickte hinter der Fensterscheibe. "Also ja...", meinte Semir und notierte sich etwas auf seinem Notizblock... es war nur Gekritzel, sah für Benny aber so aus, als mache er sich belastende Hinweise.
    "Scheinbar hat dein Boss etwas gegen dich... für wen du auch immer die Sachen kochst. Denn bei Anis arbeitest du ja nur als Türsteher, sagtest du.", meinte Semir zweideutig und packte die Akten wieder weg. "Also entweder du kannst jetzt auspacken über denjenigen, für den du die Drogen kochst und kommst sowohl in der Sache, als auch in der Waffen-Nummer mit einem blauen Auge davon... oder du fährst ein bei diesem Beweisen."



    Ben hatte das Spiel natürlich längst begriffen. "Die Dokumente auf dem Laptop haben Signaturen. An welchem Rechner sie geschrieben wurden. Es ist ein Leichtes zu beweisen, dass das an dem Laptop war, den wir in deiner Bude sichergestellt haben. Oder vielleicht an Anis Laptop, wenn wir bei ihm eine Durchsuchung machen.", sagte er und beide spürten, dass Benny nervös wurde. Deswegen zog Semir jetzt den letzten Joker, den sie noch im Ärmel hatten. "Unser Experte hat rausgefunden, dass man bei ganz leichter Abänderung dieser Drogen-Rezeptur nicht das berauschende Mittelchen herausbekommt, sondern ein Kampfstoff mit dem Menschen zu beinahe willenlosen Aggressionsmonstern macht. Also quasi das, was bei dem ersten gescheiterten Versuch mit V passiert ist.", stellte Semir nun wieder mit allem Ernst in der Stimme klar. "Ist dir das bewusst? Wem wollt ihr den Stoff verkaufen?"
    Benny nickte. "Ja, das ist mir bewusst. Aber die Käufer wollen das fürs Ausland, um den Drogenmarkt in Moskau umzukrempeln. Ich glaube nicht, dass die das für andere Zwecke missbrauchen." "Glaubst du, oder weißt du?" "Warum sollte ich das sonst für die einmal produzieren, damit sie sicher sind, dass die Rezeptur echt ist, wenn sie es dann doch anders machen. Die Russen bieten Anis soviel Geld, dass wir uns alle zur Ruhe setzen könnten. Wenn nur dieser bescheuerte Waffen-Deal nicht gewesen wäre..." Er gab den beiden Polizisten das Geständnis, das sie gebraucht hatten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Charmin - 14:30 Uhr



    Ganz ruhig bleiben, dachte sich Anis. Nicht die Nerven verlieren. Cholerisches Rumschreien, seine besten Freunde und Mitarbeiter anpflaumen und anschreien würde jetzt nichts bringen. Und trotzdem hatte er das Bedürfniss irgendjemanden für das zu bestrafen, was er gerade hier vorgefunden hatte. Das Kellerfenster aufgebrochen, die Bürotür geöffnet und mehrere USB-Sticks sowie der Laptop waren weg. Der Unterweltboss schaute aus dem Fenster auf die Straße, wo die Hitze flimmerte, er hatte sich auf die Fensterbank gestützt und schaubte wütend. Kamil und zwei weitere Männer standen hinter ihm. "Das kann ja kein Zufall sein, Anis.", sagte er immer wieder, bis dem Tunesier der Geduldsfaden riss.
    "Ich weiß, Alter! Ich weiß, dass das kein Zufall sein kann, und ich weiß auch, wer für die Schweinerei verantwortlich ist. Verdammt!", sagte er laut und wandte sich vom Fenster ab. Mit einem Schwung fegte er die Blätter vom Tisch, die lose aus einem Ordner genommen wurden, der scheinbar ebenfalls durchsucht wurde. Kamil wich einen Schritt zurück, denn er wusste dass mit seinem Freund nicht gut Kirschen essen war, wenn er wütend war.



    "Aber ist doch eigentlich nicht schlimm... ich meine... die haben doch nichts. Auf dem Laptop war doch nichts gespeichert und der verschlüsselte Stick ist in deiner Bude.", sagte er dann doch vorsichtig. "Ist doch scheissegal. Der Typ ist bei mir eingebrochen! Bei mir!!" Es kratzte Anis gewaltig an seinem Stolz. In der Szene in Köln war er eine große Nummer und viele andere fürchteten sich vor ihm, ob seiner Kompromisslosigkeit und seiner Brutalität gegenüber Mitbewerber auf dem Drogen- oder Schutzgeldmarkt. Und so ein kleiner Bulle, ganz gleich wie tief er selbst mal in dem Sumpf drinsteckte, wagte es in seinen Club einzubrechen und ihn zu bestehlen. Das war eine persönliche Kampfansage.
    Anis hatte den Polizisten vielleicht doch unterschätzt. Seine Hemmschwelle zum Vorgehen ausserhalb der Polizeinorm zu hoch eingeschätzt. Er hatte wirklich gedacht, Kevin hätte allen illegalen Aktionen endgültig abgesagt, nachdem er so überzeugend Anis Angebot abgelehnt hatte... trotz des möglichen Gegenwertes, weitere Drogen zu bekommen oder seinem Vater zu helfen. Egal ob Kevin nun etwas auf dem Notebook finden würde oder nicht... er hatte wieder einen Punkt gemacht. Bereits die Aktion in seinem Club gestern Abend war ein Sieg für den Polizisten. Aber den Krieg würde er nicht gewinnen...



    Anis griff zum Telefon. "Du willst das wirklich machen?", fragte Kamil. "Hast du eine bessere Idee?", war der direkte Konter. "Naja... ich meine... ich hätte ja immer noch vorgeschlagen Kevin anders unter Druck zu setzen. Seine Freundin... oder Kalle..." "Nein! Und warum hab ich dir schon mal gesagt.", schmetterte Anis sofort ab und wählte eine Nummer. Er hatte Yusef ins Matrix, eine Szenekneipe, geschickt um Informationen einzuholen, mit denen er Kevin unter Druck setzen konnte. Und er hoffte, sein Freund war erfolgreich.
    "Hier ist Anis, hey. Hast du etwas rausgefunden?" Er hörte lange zu. Yusef war ein Mann fürs Grobe, ein Fitness- und Muckibuden-Freak der die nötige Statur hat, Informationen aus Leuten zu erzwingen... sei es durch körperliche Gewalt und auch nur der Androhung dieser. Die Inhaber des Matrixs haben sich von der damaligen Drogenszene abgewandt und versuchen ihren Laden Drogen- und Streßfrei zu halten. Harry, der jetzige und damalige Chef hatte wertvolle Hinweise gegeben. Kevin hatte er sie nicht verraten, nachdem dieser dort aufgeschlagen war... alte Feindschaft. Die Punks hatten den Hippieladen immer verachtet, manchmal auch angegriffen und verwüstet. Patrick hatte sich damals geschickt zwischen den Lagern bewegt. Anis nickte zufrieden und legte auf, bevor er Kevins Nummer wählte.



    Kevins Handy klingelte einige Male, bevor die monotone Stimme sich meldete. Im Hintergrund hörte man ein beständiges leises Rauschen. Es klang nach Autogeräuschen. "Kevin... du mieser kleiner Bastard.", quetschte Anis hervor und für den jungen Polizisten hörte es sich fast so an, als wäre es eine typische lustiggemeinte Begrüßung von Anis. Dahinter schwang aber eine Portion ehrlich gemeinte Wut mit. "Was willst du?", fragte Kevin gelangweilt und beinahe angriffslustig. Anis meinte zu hören, dass er gestresst klang. "Pass auf, mein Freund. Das alles ist ziemlich scheisse gelaufen zwischen uns. Eigentlich wollte ich nicht, dass sich das so aufschaukelt."
    Der Tunesier hörte den Polizisten kurz auflachen. "Ja klar. Das wolltest du natürlich nicht.", wiederholte er und konnte Anis wütenden Blick nicht sehen. "Ich hatte ja nicht erwartet, dass du dich so stur stellst." Dann lachte er, und der junge Polizist konnte durchs Telefon nicht feststellen, wie ehrlich das Lachen war... war Anis gerade gut drauf, oder kochte er vor Wut. Scheinbar hatte er den Einbruch schon bemerkt und konnte den Täter leicht erraten.



    "Was ist denn? Hast du mir was zu sagen, oder willst du nur meine Stimme hören?", keifte Kevin ins Telefon und war ungeduldig. "Ich wollte mich entschuldigen. Und zum Zeichen der Wiedergutmachung, wollte ich dich heute Abend zum Essen einladen." Für einen kurzen Moment war es still in der Leitung. "Zum Essen?" "Ja, nur wir beide." "Wie romantisch.", stichelte der Polizist und erntete sofort ein: "Halt die Klappe. Ich will einfach nochmal mit dir reden. Ich hab da vielleicht etwas, das dich interessieren könnte." Er konnte Kevin aufstöhnen hören. "Es gibt nichts, was du mir sagen könntest, was ich nicht schon weiß. Und schon gar nichts, wofür ich dir Benny liefere. Das Essen kannst du dir sparen."
    Anis lächelte überlegen und warf einen Blick auf seinen Kalender... auf die schwarze Umrandung und das Kreuz daneben... auf den 16. Juli. "Auch nicht wenn das, was ich dir zu sagen habe, mit dem 16.07.2002 zu tun hat?" Plötzlich war es mucksmäuschenstill. Anis konnte Kevin nicht mehr atmen hören, sogar das Rauschen im Hintergrund schien plötzlich leiser zu sein. Es dauerte einige Sekunden bis Kevin wieder das Wort ergriff und seine Stimme war seltsam mechanisch. "Wann und wo?" "Heute Abend um 8, in Ari's Restaurant. Abendgarderobe ist erwünscht. Bis dann..." Dann trennte Anis die Verbindung und war plötzlich zuversichtlich, Benny doch noch zu bekommen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle - gleiche Zeit



    Sie hatten jetzt erst Zeit für sich gefunden. Draußen war es mittlerweile richtig heiß, der Sommer lief auf Hochtouren, der Himmel noch wolkenlos. Vielleicht würde es heute Abend ein Gewitter geben, doch bisher gab es keine Anzeichen. Kevin setzte sich auf die Blumenkübel vor der Dienststelle, nahm sich seine Zigarette vom Ohr und ließ sein Feuerzeug aufschnippen. Jenny setzte sich neben ihn und sah ihn erwartungsvoll an. Was war schon wieder los? Warum sagte er nicht vor Ben und Semir, was ihn bedrückte. Warum wieder diese Heimlichtuerei? Jenny hatte wirklich heute vormittag und gestern das Gefühl, dass er diese endlich abgelegt hatte... oder es zumindest versuchte.
    Aber scheinbar war es jetzt etwas, was privat war. Was vielleicht nicht mit dem Fall zu tun hatte. In ihr machte sich ein erleichterndes Gefühl breit, dass er sich zumindest nicht auch von ihr abkapselte. Die einfühlsamen Worte, die er an sie gerichtet hatte, ihr nichts zu verheimlichen und dass sie die Einzige sei, der er jedes Geheimnis anvertrauen würde, kamen ihr in diesem Moment in den Sinn, und verursachten eine positive Gänsehaut auf ihren nackten Armen.



    "Also... was war im Charmin los?", fragte sie dann nochmal und sah, wie ihr Ex-Freund an seinem Glimmstengel zog, dabei den Rauch aber natürlich von Jenny weg ausbließ. "Auf Anis' Kalender war mein Geburtstag... und damit auch Janines Todestag markiert. Mit einer schwarzen Umrandung und einem schwarzen Kreuz.", sagte er ohne Zögern und bewies der jungen Polizistin erneut ein großes Vertrauen, das sie ehrte. Denn sie wusste, dass der stille Polizist das nicht bei jedem tat... eigentlich nur bei ihr. "Bist du dir sicher? Also, dass es dich oder Janine betraf? Stand ein Name dabei?" Kevin schüttelte den Kopf. "Nein. Es könnte natürlich auch ein Zufall sein. Aber es geht mir nicht aus dem Kopf."
    Während Kevin sprach, sah er einen Moment in die Ferne. Er konnte sich den Zusammenhang selbst nicht erklären. Anis war zu dieser Zeit ebenfalls in einer Gang, hatte aber nicht viel mit der Gruppe von Kevin zu tun. Die Schlägereien in der Schule lagen bereits Jahre zurück, Anis entwickelte sich vom Dealer zum Geschäftsmann, für den das Geld im Vordergrund stand, während Kevin und seine Freunde einfach Spaß haben wollten. Erst während seiner harten Drogenphase nach Janines Tod kreuzten sich die Wege wieder.



    "Meinst du, er wäre dabei gewesen damals? Aber warum hat er den Todestag dann auf dem Kalender?", fragte Jenny leise und wusste, dass diese Erinnerung für Kevin ein sehr sensibles Thema war. "Das glaube ich nicht. Er hatte mit Patrick und Peter nichts zu tun.", sagte er nachdenklich und zog erneut an der Zigarette. "Ich kann es mir nicht erklären.", setzte er noch hinzu und schüttelte bei dem Satz mit dem Kopf, wobei Rauch ihn umgab. Auch Jenny konnte sich auf die Schnelle keinen Reim machen. "Wie alt ist Anis eigentlich? Also, im Verhältnis zu dir." "Er ist ein Jahr älter als ich, wieso?" "Naja... deine Schwester war 15, dann war er 19 als es passierte.", sagte Jenny vorsichtig und zuckte mit den Schultern.
    "Das hätte sie mir erzählt.", schloß Kevin diese Möglichkeit sofort aus, die Jenny versuchte anzusprechen, dass sich zwischen Anis und Janine etwas anbahnte. "Ausserdem war Anis nicht ihr Typ." "Ganz sicher?" "Todsicher... ich hab die zwei Typen, mit denen mal etwas gelaufen ist, kennengelernt. Das waren andere Kaliber." Jenny musste lächeln, als sie sich den jungen Kevin vorstellte, der sich die Freunde ihrer Schwester vornahm, damit sie keinen Unsinn machten. "Und sie dich vermutlich auch." Kevin konnte über diese Erinnerung nicht lachen.



    Als das Telefon klingelte stand Kevin vom Blumenkübel auf und bewegte sich mit einigen Schritten über den Vorplatz der Dienststelle. Jenny konnte ein paar Gesprächsfetzen wie "Was willst du?" und "Wie romantisch" verstehen. Es klang aber nicht positiv wie er mit der Person am anderen Ende der Leitung sprach. Plötzlich sah sie, wie Kevin sie anblickte... mit festem, aber merkwürdig fokussiertem Blick, der nicht ihr galt sondern der Stimme im Apparat. Plötzlich war seine Stimme anders. Vorher ablehnend, jetzt auf einmal entschlossen. "Wann und wo?" konnte sie genau verstehen, und dann sehen wie Kevin ohne Verabschiedung die Verbindung trennte und für einen Moment den Apparat ansah.
    "Was ist los?", fragte Jenny irgendwann und hatte immer noch die Angewohnheit, gleich eine ablehnende Antwort zu erhalten. "Das war Anis... er hat mich zum Essen eingeladen.", sagte der junge Polizist, als sei es das normalste von der Welt. "Zum Essen?", fragte Jenny ungläubig und ihr Ex-Freund nickte, wobei er immer noch nachdenklich auf sein Handy blickte und dabei leise murmelte. "Ein Dinner mit dem Teufel." Seine junge Kollegin biss sich auf die Lippen.



    "Das ist eine Falle." Kevin schüttelte mit dem Kopf. "Nein. Er will mir nochmal ein Angebot machen, auch wenn er das so nicht gesagt hat. Aber es geht um Janines Todestag." Seine Stimme war plötzlich leise und nachdenklich. Er hatte bis jetzt ohne Probleme widerstanden, Anis nachzugeben. Dazu waren seine Angebote einfach zu schwach. Weder sein Vater noch die persönliche Bedrohung hatte gezogen, und wenn er Jenny tatsächlich bedroht hätte, hätte Kevin ihm eher den Club abgefackelt, als sich klein kriegen zu lassen. "Was hat er dir angeboten, Kevin?", fragte Jenny und spürte eine Panik in sich aufsteigen. Denn sie konnte sich sehr gut vorstellen, mit was Anis ihn tatsächlich ködern konnte. "Das hat er nicht gesagt. Er hat nur das Datum erwähnt, und das er mir etwas erzählen will."
    "Wir müssen es Ben und Semir erzählen.", sagte sie sofort und blickte Kevin fest an. Der schwieg einen Moment und biss sich auf die Lippen. "Kevin..." "Ich weiß doch noch gar nicht, was er will. Vielleicht will er wirklich nur reden. Und wenn er mir noch ein Angebot machen will, dann soll er doch. Das lehne ich ab wie die anderen auch, und fertig. Er wird mich nicht rumkriegen. Aber ich muss doch jetzt nicht alles, was in meinem Leben passiert, Ben und Semir erzählen." Er glaubte seinen eigenen Worten nicht. "Wenn es mit dem Hauptverdächtigen unseres Falles zu tun hat, selbstverständlich.", beharrte Jenny.



    Kevins Schweigen deutete sich als Ablehnung. Und sie spürte, dass er wohl genau wisse, auf was Anis anspielte... warum sonst sollte er das Datum erwähnen. Welche Infos könnten Kevin schon interessieren, als Gegenzug um Bennys Auslieferung. In Jenny stieg Verzweiflung auf, als hätte sie das Gefühl, sie würde das gerade eben erlangte Vertrauen von Kevin gerade wieder verlieren, als würde es ihr aus den Händen gleiten. Und um genau dieses Gefühl nicht zu haben, griff sie zu. Sie packte Kevins Handgelenk und zog seine Hand nach vorne, um auf seinen Unterarm zu schauen wo die beiden Striche prankten. "Du weißt genau, was er dir anbieten will.", sagte sie und strich mit dem Zeigefinger über Kevins Haut, als würde sie höchstpersönlich den dritten Strich aufzeichnen. "Tu es nicht...", sagte sie eindringlich.
    "Wenn er mir das anbietet... dann werde ich es ablehnen, wie die anderen Sachen auch.", sagte Kevin und Jenny würde es so gerne glauben. Sie spürte, dass er nicht vorsätzlich log... vielleicht glaubte er seine Worte in diesem Moment selbst. Nur konnte sie sich nicht vorstellen, dass ihr Ex-Freund dann wirklich standhaft blieb. "Und dann werde ich es morgen erzählen. Dir, Semir und Ben. Aber lass mich heute abend dort einfach hingehen... ok?" Jenny schluckte, und ihr Herz pochte laut. Ihr Griff um Kevins Handgelenk schmerzte und fühlte sich doch so gut, so vertraut an. "Vertrau mir bitte.", sagte Kevin... Jenny wollte es so gerne tun.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Köln - 18:00 Uhr



    Jenny hatte Kevin genau beobachtet, als Semir und Ben von ihrer Streife zurückkamen, auf der sie waren während der junge Polizist das Gespräch mit Anis hatte. Sie grüßten ins Zimmer, Kevin grüßte lächelnd zurück. Obwohl sie die Wahrheit wusste und sich irgendeine Veränderung hätte einbilden können... sie konnte nichts erkennen. Keine Nervosität, kein kühleres Lächeln, kein Ausweichen des Blickes. Aber er log ja in diesem Moment nicht... er schwieg nur. War das schon Skrupellosigkeit? Oder einfach nur gutes Schauspiel. Sie hatte Bauchschmerzen bei dem Gedanken, dass ihr Ex-Freund das Treffen zwischen ihm und Anis heute Abend vor den beiden Kollegen verschwieg. "Ich finde das nicht gut.", sagte sie noch zwei weitere Male an diesem Nachmittag.
    Semir und Ben ahnten in der Tat nichts. Ihnen fiel an Kevin keine Veränderung auf, und beide waren immer noch froh, dass er sich an dem heutigen Tag durch sein Geständniss und seine Offenheit scheinbar wieder ein Stück angenährt hatte. Kurze Zeit, nachdem sie in die Dienststelle zurückkehrten, hatten sie eine kurze Unterredung mit der Chefin. Sie berichteteten über das Ergebnis der Vernehmung von Benny, und über die Hinweise dass das Syndikat vielleicht noch einen größeren Deal am Laufen hatte. Dass Anis Benny dafür brauchen würde, erwähnten sie ebenfalls... Kevins Rolle in diesem Spiel allerdings nicht.



    "Gute Arbeit, meine Herren.", schloß die Chefin mit einem gewohnten Satz ab und lächelte. "Sie können morgen dann Benny in die JVA überführen." Semir nickte und sah zu Ben und Jenny, während Kevin aufblickte. Als die vier aus dem Büro kamen, meinte der kleine Kommissar: "Da können wir uns ja morgen kurz drüber unterhalten, wer von uns vier die Tour macht." und er sah dabei auf die Uhr. Er freute sich auf den Feierabend. Andrea und er würden zusammen ins Kino gehen, die Kinder bei den Großeltern übernachten. Deswegen wollte Semir ausnahmsweise mal pünktlich Feierabend machen, weswegen er sich frühzeitig bei Kevin und Jenny verabschiedete.
    Wenig später tauchte Ben im Büro von Kevin und Jenny auf. "Jenny, ich fahr nach Hause. Soll ich dich mitnehmen? Liegt ja eher auf dem Weg, als für dich.", wobei er bei dem Satz zu Kevin sah. Der hatte Jenny ja heute morgen mitgenommen, hatte aber noch einige Berichte zu bearbeiten. "Oh, das wäre lieb.", sagte sie lächelnd, auch wenn sie kein Problem gehabt hätte, auf ihren Kollegen noch zu warten. Aber so konnte sie noch einige Sachen zu Hause erledigen, ohne dass es mal wieder so spät wurde. Sie blickte mit einem merkwürdigen, sorgenvollen Blick zu Kevin und wollte ihn auf der Heimfahrt eigentlich nochmal ins Gebet nehmen. Aber in dem Moment, als sie ihm in die hellblauen Augen sah, wurde ihr klar, dass es eh sinnlos war. "Wir sehen uns morgen.", sagte sie mit festem, fordernden Blick zu ihm, als wäre es eine Aufforderung, eine Bitte, morgen doch bitte zu erscheinen. Es war der Wunsch, dass er auf sich aufpassen sollte. Der Polizist erwiederte ihren Blick und nickte. Es war dieser Ausdruck in seinem Gesicht, der Fels in der Brandung, der sie beruhigte.



    Trotzdem war der jungen Polizistin übel, als Ben den Mercedes auf die Autobahn lenkte. Sie hatte ein schlechtes Gewissen... Ben gegenüber, Semir gegenüber. Und auch Kevin gegenüber, weil sie darüber nachdachte, Ben die Wahrheit zu sagen. Sie hatten ein enges, sehr spezielles Verhältnis und genauso wie Kevin würde sie Ben alles anvertrauen. Jetzt saß sie aber zwischen den Stühlen, zwischen ihren Kollegen. Sie wollte Ben nicht belügen, sie wollte Kevin nicht hintergehen. Und sie wusste, wer von beiden extremer reagieren würde...
    Aber sie hatte auch ein schlechtes Gewissen deshalb, weil sie das Gefühl hatte, Kevin alleine zu lassen. Jenny würde sich nie verzeihen, wenn ihm heute abend etwas zustoßen würde, und sie geschwiegen hätte. Wenn nicht Semir und Ben draussen saßen, sie vielleicht drinnen und man eingreifen könnte. Mit einem Biss auf die Lippe verwarf sie den Gedanken wieder und sah nach draussen auf die vorbeiziehende Landschaft. Nein, das konnte sie nicht tun. Wenn sie jetzt etwas verraten würde, wäre das der endgültige Vertrauensbruch für Kevin... gerade jetzt, wo er sich wieder etwas annährte. Wo er viel den beiden Kommissaren erzählte. Wo er Jenny alles erzählte... und gerade jetzt, wo sich die beiden wieder annährten. Jenny erschrak innerlich... taten sie das wirklich?



    "Du bist so still.", bemerkte Ben nach einer Weile und warf einen Blick zum Beifahrersitz, wo Jenny aus dem Fenster sah. "Hmm... ja. Ich denke nach." "Und worüber?" Ben grinste. Er machte sich nicht lustig, aber er war einfach guter Laune, nachdem das Verhör eben so gut lief, man im Team wieder gut zusammenarbeitete und scheinbar die größten Hürden seit den Schreckenserlebnissen vor einigen Wochen gut überstanden hatte. Das machte ihn froh und stolz. "Was denkst du, würde Kevin... in seiner jetzigen Verfassung... tun, wenn er den dritten Namen herausfinden würde, der bei dem Überfall auf ihn und Janine dabei war.", sagte sie dann und stellte das ganze als fiktiven Gedanken hin. Bens Grinsen erstarb sofort.
    "Wieso? Sucht er immer noch?" Natürlich war ihm die Tättowierung nicht entgangen, aber in den letzten Wochen war das Thema nicht mehr akut gewesen, so hatte er zumindest den Eindruck. Kevin war in den Mittagspausen immer da, meldete sich nicht früher ab oder kam später zur Schicht. Er musste, wenn überhaupt, seine privaten Nachforschungen auf die Abendstunden verlegt haben. "Nein... also, ich weiß nicht. Nein, ich meine das ganz theoretisch.", stellte Jenny klar und hätte sich ohrfeigen können. Jetzt log sie mehr, als wenn sie einfach geschwiegen hätte.



    Ben schwieg einen Moment, bevor er sagte: "Ich traue es mich fast nicht zu sagen. Aber ich habe ihn erlebt, als er Becker gegenüber stand, ich habe erlebt wie er Patrick gegenüberstand und ich habe erlebt, wie er mir gegenüberstand, als er dachte, ich sei Janines Mörder." Seine Stimme klang plötzlich schwer, und es war als sei alle gute Laune aus Ben herausgeflogen. Es fiel ihm schwer, diese eindeutige Antwort heraus zu bringen: "Er wird ihn umbringen. Egal, ob er dafür in den Knast geht. Er wird nicht damit leben können, wenn er den Namen kennt, dass dieser Mensch frei rumläuft. Und ich glaube, selbst wenn er es schaffen sollte den Typ hinter Gitter zu bringen... das wird ihm nicht reichen. Ich hab seine Augen gesehen. Und du auch."
    Jenny bekam bei Bens Worten eine Gänsehaut. "Er ist immer noch voller Hass, aber er zeigt es nicht mehr in einer selbstzerstörerischen Wut, wie zu Beginn als wir zusammengearbeitet haben." Die junge Frau nickte, aber der Zusatz von Ben erschreckte sie dann doch: "Oder er zeigt es einfach nicht mehr so... Was er zu Hause tut, seit ihr nicht mehr zusammenwohnt... wissen wir ja nicht."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Restaurant - 20:00 Uhr



    Ganz Abendgaderobe ist es nicht geworden... dazu fehlte Kevin die nötige Ausstattung im Kleiderschrank. Aber zumindest schaffte er es, ein modernes kurzärmeliges weißes Hemd über seine, am wenigsten zerschundene Jeans zu ziehen, und darauf eine Art schwarzen Blazer, der allerdings weitaus moderner und lockerer war, als eine feine Anzugjacke. Am Hemd ließ er den obersten Knopf offen. Er sah anders aus als sonst, und trotzdem merkte man ihm an, dass er nicht in jene Nobel-Elite gehörte, die ansonsten in Aris Restaurant in einer der besten Gegenden Kölns Ein- und ausging. So war es auch der Oberkellner am Anfang, im feinen Nadelstreifenanzug, der ihn etwas geringschätzig ansah. Keine Krawatte, der oberste Hemdsknopf offen, die Haare in alle Richtungen stehend und die schwarz-weißen Converse-Schuhe zur dunklen Jeans, die heutzutage zwar in vielen aber noch nicht in allen Schichten akzeptiert waren.
    Erst als Kevin seinen Namen nannte und der Oberkellner diesen Namen quasi in Rotschrift und dreimal unterstrichen im Buch vorfand, nickte er und bat Kevin, ihm zu folgen. Einige der Gäste, die in der großen und vornehmen Räumlichkeit bereits mitten dabei waren, ihr Abendessen zu sich zu nehmen, blickten zu ihm auf, und wunderten sich über den unangepassten Gast in diesem Hause. Der junge Polizist bedachte sie mit seiner inneren Abwehrmauer, einer übertrieben gespielten Ignoranz aus seinen hellblauen, diesmal eiskalten Augen, während er dem Ober in ein Nebenzimmer folgte.



    Anis saß dort bereits am Tisch, der ebenfalls gedeckt war und nur darauf wartete, mit Speisen aller Art beladen zu werden. Er lächelte in Kevins Richtung, als der Ober die Tür schloß und der junge Polizist, innerlich zu jeder Reaktion bereit, sah sich nach aussen gelassen aber angespannt um. Er versuchte, eine Falle zu wittern... aber das wäre eigentlich ganz und gar nicht Anis Stil. "Guten Abend. Schön, dass du gekommen bist. Setz dich.", sagte Anis beinahe vornehm und bot Kevin einen Stuhl an. Der Ober stand bewegungslos an der Tür, während Kevin sich Anis gegenüber setzte. "Das Zimmer wird ziemlich selten benutzt. Für besondere Paare... oder Geschäftsessen.", meinte der Deutsch-Tunesier und wies den Ober an, das Apperetif und die Vorspeise zu bringen.
    "Und was von beidem sind wir heute Abend?", fragte Kevin halb aus Spaß und halb aus Sarkasmus... natürlich wurde das kein romantisches Päärchenessen und Anis grinste. Als der feine Oberkellner den Wein einschenkte prosteten sich die beiden Männer zu. Ohne den Tunesier aus dem Auge zu lassen, trank Kevin nur einen kleinen Schluck. Nicht aus Misstrauen, aber er wollte klaren Kopf behalten. Und Anis prostete tatsächlich nur und stellte das Glas dann neben den Teller. Er trank keinen Alkohol, wegen seines Glaubens.



    Sie redeten beim Essen. Das passte nicht in das Restaurant, aber weder Anis noch Kevin passten wirklich hierher. Es ergab sich nur, dass der Eigentümer dieses Nobel-Restaurants ein enger Bekannter von Anis war, und er ihm deswegen für Geschäftsessen diesen Raum zur Verfügung stellte. "Also, wozu diese feudale Einladung?", fragte der Polizist, gerade als zwei Männer in Anzügen die Vorspeise brachten. "Wie lange kennen wir uns jetzt schon, Kevin?", war die Gegenfrage seines Gegenübers und für einen Moment war nur das Geräusch zu hören, wenn ein Besteck den Teller berührt. "Keine Ahnung. 15 Jahre, 20 Jahre?" Der junge Polizist schüttelte den Kopf "Ich rechne nicht mehr in Jahren." "Ich finde, dass wir beide uns ziemlich ähnlich sind. Vom Charakter her, weißt du?"
    Nun blickte Kevin vom Teller auf in Anis Richtung und legte das Essbesteck beiseite, obwohl die Vorspeise noch nicht ganz aufgegessen war. "Ähnlich?" "Na klar. Wenn du dir etwas in den Kopf gesetzt hast, wirst du alles versuchen, es zu erreichen. Wenn du deine Werte durchdrücken willst, deine Familie beschützen willst oder generell Menschen, die du liebst. Dann ist dir jedes Mittel recht, ob legal oder nicht. Habe ich Recht?" Natürlich spielte er darauf an, dass er früher selbst illegale Dinger drehte. Dass er selbst als Polizist nicht immer legale Wege ging. Und Anis wusste von früher, wie sehr Kevin auf seine Schwester aufgepasst hatte.



    "Vielleicht hatten wir bezüglich der Werte so manchen Unterschied.", meinte Kevin dann mit einem sarkastischem Grinsen. Während es dem damaligen Punk vor allem um Spaß, Rebellion und Drogen ging, stand bei Anis irgendwann eins im Vordergrund. Geld! Geschäfte, legal oder illegal, um einen möglichst großen Reichtum zu bekommen und seiner späteren, jetzt existierenden Familie ein gutes Leben zu ermöglichen. "Aber für meine Familie hätte ich alles getan. Und wenn ich eine Schwester gehabt hätte, hätte ich genauso gut auf sie aufgepasst wie du." Das Lächeln verschwand wieder aus Kevins Gesicht und seine Stimme hörte sich fremd an. "Dann wäre deine Schwester jetzt auch tot."
    Das kurze, eisige Schweigen wurde von dem Kellner unterbrochen, der das Hauptgericht brachte und die Teller der Vorspeise abräumte. Es gab, gemäß Anis' Glauben natürlich kein Schweinefleisch, sondern feinstes Entrecote vom besten amerikanischen Rinderfleisch, das man bekommen konnte. Sie sprachen erst weiter, als die Kellner wieder den Raum verlassen hatten, und Anis ging auf Kevins Selbstvorwurf gar nicht ein. "Unsere Cliquen kannten sich einander ja ein wenig zur Schulzeit.", sagte er dann, während Kevin ein Stück seines Fleisches abschnitt. Es war saftig und innen drin herrlich rosa, doch der Polizist schmeckte es nicht wirklich. "Und ich war sehr betroffen, als ich von dem Anschlag damals gehört habe. Egal, was vorher zwischen uns beiden war, und ich hab dir das auch nie gesagt. Wir fanden euch Punks ja auch immer ein wenig wie die Ratten in den Straßen während wir..." "...die Katzen sind.", vollendete Kevin und sah wieder zu Anis auf, der nickte. "Genau. Aber deine Schwester war anders. Sie kleidete sich anders, sie gab sich anders und sie war intelligent. Für uns war sie unter euch so etwas wie eine Heilige, und deswegen tat es mir besonders leid, was passiert war. Gerade weil ich auch wusste, was sie dir bedeutete." Bei den letzten Sätzen sah Kevin sein Gegenüber fest an... und er glaubte ihm. Er glaubte zu wissen, warum der Tag im Kalender markiert war.



    Aber er antwortete nichts darauf, den obwohl er ahnen konnte, auf was Anis hinauswollte, hatte er ihm noch keinen Hinweis gegeben, wohin die Rede führen sollte. "Ich kann auch verstehen, was du mit den Typen angestellt hast, die daran beteiligt waren... aber ich weiß auch, dass noch nicht alle ihre Strafe bekommen haben. Ich würde es genauso tun." Es war Verständnis, das Anis Kevin entgegenbrachte. Und irgendetwas in Kevin sagte ihm, dass dieses Verständnis keine Heuchelei war, und auch kein billiger Bauerntrick. Er wusste, wie Anis tickte und er wusste, dass Anis keinen Stein auf dem anderen lassen würde, wann man seiner Familie, seinen Kindern oder seiner Frau etwas antat. "Dieser Familiengedanke galt aber nicht, als du meinen Vater bedroht hast.", meinte der Polizist schnippisch. "Ein Vater sollte in der Lage sein, seinen Sohn zu verteidigen. Aber das ist dein Vater nicht. Er ist schwach." Auch da gab Kevin Anis Recht. Und das Gefühl, Verständnis für seine Rachegedanken, die ihn quälten, zu erhalten, tat ihm gut... auf schreckliche Art und Weise.
    Und Anis Worte, die er dann an Kevin richtete, ließen ihn ein tiefes Loch aus Zweifel und innerem Zerreißen stürzen... Zereissen zwischen Semir, Ben und vor allem Jenny... und seiner toten Schwester Janine und der Rache in ihm drin: "Ich kann dir helfen. Ich kann dir helfen herauszufinden, wer der fehlende dritte Strich auf deinem Arm ist. Wer der dritte Mann ist, der bei dem Überfall dabei war. Dir erzählt man im Matrix nämlich nicht alles, weil du dort nicht gern gesehen bist. Mir schon. Aber ich muss auch an mein Geschäft denken, und du wirst sicher herausgefunden haben, worum es mir mit Benny geht." Der junge Polizist war nicht mehr in der Lage, weiterzuessen... wie gebannt sah er in die braunen Augen des Deutsch-Tunesiers. "Wenn du mir hilfst, Benny bis morgen mittag, 12 Uhr aus der Zelle zu holen, werde ich dir den Namen sagen. Und ich schwöre dir, dass ich die Wahrheit sage... auf das Leben meiner Töchter." Dieser Schwur war kein leeres Versprechen... auch das wusste der Polizist und er hatte das Gefühl, sein Stuhl unter ihm brannte.



    Er saß genauso auf glühenden Kohlen, wie die junge Frau im 1er BMW in Sichtweite des Restaurants. Sie sah Kevin um kurz vor 8 hineingehen, und sie setzte sich eine innere Zeit, vielleicht halb 11, 11... bis sie reinging, oder Semir und Ben anrief... oder irgendwas unternahm. Jenny hielt es nicht zu Hause... sie passte auf Kevin auf, so wie dieser letzte Nacht auf Jenny aufgepasst hatte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Restaurant - 20:45 Uhr



    Das Weinglas, von dem Kevin eigentlich nicht viel trinken wollte, war leer. Der Polizist hielt sich nicht mit Förmlichkeiten auf, dass er auf den Kellner warten würde bis dieser das Glas auffüllte, sondern nahm die Weinflasche in die Hand und übernahm das Auffüllen selbst. Sein Blick war kalt geworden hinsichtlich der Aussicht darauf, von Anis zu erfahren, wer als dritter Mann bei dem Anschlag auf Janine dabei war. Sein Hass kam an die Oberfläche, sein Ausdruck wurde erfüllt von der grenzenlosen Rache, die in ihm brodelte und die bereits zweimal an die Oberfläche kam. Sie hätte ihn zu zwei Morden verführt, wenn Peter Becker nicht den Weg des Selbstmordes gewählt hätte und Ben nicht in Lebensgefahr geschwebt hätte. Patrick gegenüber gab es keine Gelegenheit, dem Racheengel zu entfliehen.
    Anis unterdrückte ein selbstsicheres Lächeln, es wäre unpassend gewesen. Seine Worte entsprachen der Wahrheit... ja, der Tod von Janine war damals ein Schock. Und ja, er wäre exakt der Gleiche Rachemensch wie Kevin, wenn man seiner Familie, seiner Frau oder noch schlimmer, seinen Kindern etwas antun würde. Er war, was das anging, ein Bruder im Geiste zu Kevin. Aber im Vordergrund stand jetzt sein eigener Vorteil... Bennys Befreiung, der Deal mit den Russen um damit seinem alten Leben einen vergoldeten Abschluss zu setzen. Und er spürte, dass er Kevin jetzt soweit hatte, wie er ihn wollte.



    Der Nachtisch kam mitten ins Schweigen hinein, und Anis fand seine Stimme, als der Kellner den Raum verlassen hatte. "Ich weiß ja, dass in dir vielleicht noch so etwas wie ein Gewissen funktioniert.", sagte er zwischen den einzelnen Bissen des Nachtisches. "Deshalb lass dir sagen: Der Deal, um den es mir geht, ist rein finanzieller Natur. Die bekommen das Rezept und die Vorführung einer neuen, wegweisenden Droge. Natürlich können auch an dieser Droge Menschen zu Grunde gehen, aber das hat dich ja früher auch nie interessiert." Kevin blickte wieder auf, und der Nachtisch verschwand in seinem Mund, ohne dass seine Geschmacksknospen eine Regung empfanden. "Ich will dir nur sagen, dass es dabei nicht um Mord oder irgendetwas geht. Wenn der Deal klappt, hat jeder meiner Leute ausgesorgt. Und ich werde ein stinknormaler Nachtclubbesitzer sein, der sich um seine Familie kümmert." Anis lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinterm Kopf: "Wenn du so willst, hast du damit trotzdem einen Kriminellen aus dem Verkehr gezogen.", lachte er nun.
    Kevin stimmte in das Lachen nicht mit ein, sondern blickte sein Gegenüber weiter mit ausdrucksloser Miene und kalten Augen an. Er war so nah am Ziel... endlich diesen unseligen bösen Geist aus seinem Kopf zu vertreiben, den er schon jahrelang mit Drogen, Alkohol und Ablenkung bekämpfte. Den er immer nur verstummen ließ, aber nie abtöten konnte. Wie einen Bazillus, der sich schwächen aber nicht vernichten ließ. Ein Schritt... ein Schritt, der für den Kevin von früher, als er Internas für Drogen verriet ohne Gewissensbisse, kein schwieriger war.



    Aber würde er jemals seinen Kollegen wieder in die Augen blicken können? Sie wussten doch alle drei, dass Anis ihm nun mehrere Angebote gemacht hatte. Es wäre doch mehr als auffällig, doch das musste er riskieren. Er erinnerte sich an Jennys Blick heute nachmittag, als sie fragte: "Du weißt genau, was er dir anbieten will. Tu es nicht...", und der junge Polizist ihr mit fester Stimme versprach, auch dieses Angebot abzulehnen. Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass Anis die entscheidenden Informationen besaß. Ein Leben mit einem Dämon im Kopf und Freunden, oder endlich diesen bösen Geist loswerden... und dafür seine besten Freunde verraten. Engelchen und Teufelchen auf seinen Schultern diskutierten wieder einmal... und Kevin spürte, wie die dunkle Seite immer stärker wurde.
    "Morgen früh überbringen wir Benny in die JVA. Wenn ich es schaffe, die Fahrt allein machen zu können... wäre das eine Gelegenheit." Der Polizist sagte den Satz, ohne vorher dem Vorschlag direkt zu zustimmen. Aber für Anis war es eine Bestätigung. "Auf einem Rastplatz würde ich das Auto kurz alleine lassen. Dann schlagt ihr zu." "Und wie willst du das erklären? Ich meine, deine Leute wissen doch, dass du so blöd niemals wärst, wenn das irgendein beliebiger Kunde wäre." Das wusste auch Kevin... natürlich würde ihm das niemand glauben. Schon gar nicht, wo die beiden besten Freunde von ihm wussten, dass Anis versuchte ihn zu ködern. "Das lass mal meine Sorge sein...", wiegelte er ab. Vielleicht brauchte er das nicht zu erklären... Arbeiten könne er mit Semir und Ben dann sowieso nicht mehr. Es wäre eh vorbei... ein hoher Preis für den Sieg über seinen Dämon.



    Die beiden Männer schüttelten sich die Hand... Anis machte es fast feierlich, während Kevins Miene immer noch verkniffen war. "Dann sind wir endgültig quitt, das verspreche ich dir.", sagte der Unterweltboss. "Wirst du dabei sein?" Für den Deutsch-Tunesier kam die Frage unvermittelt. "Warum?" "Weil du der einzige deiner Bande bist dem ich ein minimales Maß an Vertrauen entgegenbringe." Das Lächeln war aus Anis' Gesicht gewichen, und er schaute Kevin an. Doch seine Stimme lenkte ein. "Klar... klar, Alter. Ich werde höchstpersönlich dabei sein." Anis war niemand, der nur im Büro saß und seine Leute für sich arbeiten ließ... oft nahm er die Sachen selbst in die Hand. Er sah sich als Mann der Tat. Der Polizist nickte, leerte das Rotweinglas und verließ den Raum wortlos.
    Das Restaurant hatte sich geleert, draussen war es mittlerweile dunkel, aber noch sehr mild. Kevin sah sich kurz um, er spürte eine innere Unruhe seiner Gedanken. Und er wusste, dass er diese Nacht kein Auge zumachen würde. Heute wäre so ein Tag, an dem er vermutlich an den verbotenen Schrank musste. Doch bevor er diesen Gedanken hinterherhing, ließ ihn einige Schritte entfernt vom Eingang des Restaurants eine Stimme herumfahren.



    "Hey... du bist doch der Bulle von dem Amoklauf." Der junge Mann, dem die Stimme gehörte, war breit gebaut und hatte sich hinter Kevin positioniert, der ihm nun direkt in die Augen sah. Zwei weitere Jungs standen hinter ihm, alle glichen ein wenig dem, bei dem Amoklauf getöteten Achmed. Als es hinter Kevin polterte, weil eine gefüllte Mülltonne zu Boden fiel und sich der Inhalt über dem Gehweg verteilte, blickte er nochmal herum, und konnte auch dort mindestens 3 oder 4 Personen erkennen. Alle hatten sich Kapuzen oder Mützen angezogen, aber man konnte die Gesichter erkennen. Sie legten keinen Wert darauf, sich zu maskieren. "Du hast unsern Bruder Achmed nicht beschützt. Du hast ihn verrecken lassen.", sagte der Wortführer mit leichtem Akzent. Der Junge schräg hinter ihm ließ einen Schlagstock ausfahren, der zweite streifte sich einen Schlagring über. "Das wirst du bezahlen.", sagte er in das Aufschnappen eines Butterfly-Messers hinein.
    Eine Flucht zur anderen Seite war unmöglich... Kevin musste sich für den Angriff entscheiden. Doch vier starke Hände packten ihn plötzlich von hinten, noch bevor er aktiv werden konnte. Sein Atem wurde heftiger und er sah in die Augen der Jungs... Jungs von der Straße, Jungs die keine Skrupel hatten, Leuten Angst zu machen, und sie zumindest zu verletzen. Ein Stich, das Gesicht zerschneiden, erheblich verletzen... das war ihre Sprache. Kevin kannte es nicht anders. Aus manchen würden später vielleicht Polizisten werden, aus anderen schlimmere Kriminelle. Aus manchen wurden Kevins, aus anderen Anis.



    Doch festhalten konnten sie Kevin nur an den Armen, und die Jungs waren es gewöhnt, dass ihr Opfer jetzt bereits starr vor Angst war im Angesicht der drohenden Gefahr. Kevins Beine waren frei, und er besaß genug Kraft und Geschick, um seinem Gegner trotz der Fixierung mit deinem Tritt unter die Handkante das Messer wegzutreten. Doch der Angreifer reagierte schnell, ging zur Seite und der Teleskopschlagstock fand den schmerzhaften Weg gegen Kevins Rippenbogen, ein weiterer Schlag mit dem Schlagring des dritten ließ Lippe und Wange aufreißen. Kevins Widerstand erstarb, er stöhnte auf und spuckte Blut.
    Die nächste Stimme, die er durch den Schmerzschleier vernahm, hörte sich besser an. "Aufhören! Polizei!!", rief sie laut von der Seite. Einer der Jungs rief etwas, was Kevin nicht verstand, er zeigte auf die herbeieilende Jenny und wandte sich mit Drohgebärden an die harmlos erscheinende junge Frau. Als diese jedoch die Waffe zog, verließ die Jungs der Mut. Jenny war allein, und es war risikoreich, auch wenn sie eine Schusswaffe besaß. Ihr vorrangiges Ziel war es auch, den Angriff abzubrechen, statt jemanden festzunehmen... was ihr gelang. Kevin wurde losgelassen, er sackte auf dem Gehweg zusammen und die Jungs traten die Flucht an ohne dass die junge Polizistin einen Warnschuss abgeben musste und die Besucher des Restaurants in Angst und Schrecken versetzen musste.



    Sie rannte stattdessen sofort zu Kevin, der hustend und stöhnend versuchte, sich hochzudrücken. "Alles in Ordnung?", fragte sie sorgenvoll und sah, wie Blut aus seiner Lippe lief und einige Flecken am Boden zu sehen waren. Er nickte stöhnend und erkannte seine Ex-Freundin und Kollegin. "Wo... wo kommst du denn her?" Die junge Frau lächelte erleichtert und steckte die Waffe weg, bevor sie Kevin auf die Beine half. "Ich... ich kam rein zufällig hier vorbei." Dass ihr Ex-Freund das nicht glauben würde, war ihr sowieso klar.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 21:30 Uhr



    Es war surreal, und für Jenny beinahe wie ein Deja-Vue. Als sie Kevin in ihrem Auto mit in ihre Wohnung nahm, um dort die blutende aufgerissene Wange wenigstens ein bisschen zu verarzten, erinnerte sie sich zurück. Damals, nachdem sie sich angenährt hatten, Kevin für sie da war nach der Vergewaltigung, und sie dann fatalerweise mit Ben in der Kiste landetete, während Kevin im Gefängnis war. Danach pendelten die beiden jungen Polizisten zwischen Flirt, Unsicherheit und Distanz. Jenny war sich nicht sicher, ob sie das Wagnis mit dem geheimnisvollen Polizisten eingehen sollte, Kevin war verunsichert ob dem plötzlichen Abstand, den die junge Frau aufgebaut hatte. Sie tanzten wie zwei Motten im Licht, ohne sich wirklich zu nähern.
    Bis zu Kevins Flucht vor einem Streit mit seinem Vater, der mit seinem Motorrad im Straßengraben endete. Jenny erfuhr über Funk von dem Unfall, raste zur Unfallstelle und nahm den, nur leicht verletzten Kevin, genauso wie jetzt, mit nach Hause, wo sie ihn verarzten wollte. Und genau da hatte es endgültig zwischen ihnen gefunkt, sie verbrachten die Nacht miteinander und waren endgültig ein Paar... bis zu der unheilvollen Reise nach Kolumbien, was dieses fragile Bündnis letzendlich wieder zerriss.



    Jetzt war es ähnlich. Kevin setzte sich, ein Taschentuch auf die Wange drückend auf das Sofa und achtete darauf, nirgends etwas mit Blut zu versauen. Einzig die Wohnung war eine andere, Jenny war ja nach ihrem Aufenthalt in Hamburg umgezogen. Jetzt kam sie mit der gleichen Salbe zurück und behandelte den Riss im Gesicht des Polizisten mit der gleichen liebevollen Sorgfalt wie damals, und genauso ließ er sich diese sanften Berührungen gefallen, auch wenn das Zeug, was Jenny benutzte, höllisch brannte. Aber ganz Eisblock, der er manchmal war, verzog er keine Miene. "Das könnte man auch nähen lassen." Ihre Stimme klang wie eine Mischung aus Sorge und Vorwurf, weil sie die Antwort vermutlich schon kannte: "Hat sich Semir oder Ben mal irgendetwas nähen lassen?", fragte der verletzte Polizist und grinste.
    "Nicht grinsen, sonst hält das Pflaster nicht.", lachte Jenny und Kevin setzte sofort eine übertrieben traurige Miene auf. Seine gute Laune war nur vordergründig... in Wirklichkeit war er aufgewühlt. Die Worte von Anis steckten tief in seinem Kopf, und die Versuchung, sein Angebot tatsächlich anzunehmen und umzusetzen, riesig groß. Deswegen betete er innerlich, dass Jenny damit zufrieden war, als er antwortete: "Ich erzähls allen morgen früh. Aber nichts besonders überraschendes.", als sie fragte, was nun der Sinn des Essens war. "Also wirklich wegen deiner Schwester?", hakte die junge Beamtin nach, als sie für Kevin etwas zu Trinken ausschenkte, und er nickte. Er log nicht... er sagte nur nicht alles. Und er hasste sich dafür.



    "Und die Schlägerei?" "Hatte damit nichts zu tun. Ein Junge hat etwas davon gesagt, dass ich seinen Bruder Achmed bei dem Amoklauf nicht schützen konnte. Die Presse hat mein Gesicht ja extra groß abgedruckt, als untätiger Bulle." Die junge Polizistin ließ sich neben Kevin aufs Sofa fallen. "Ja, das hatte ich gesehen. Und auch die Kommentare gelesen... das war sehr widerlich.", sagte sie leise. "Das hab ich mir gar nicht angetan." Als die junge Frau zu Kevin sah, sah sie auf einmal wieder den starken Polizisten, den unerschütterlichen Fels in der Brandung, an den man sich anlehnen konnte, festhalten konnte, egal welcher Sturm auch aufkam. Der, der er war nach der Vergewaltigung, als sie weinend, schluchzend und völlig fertig in seinen Armen lag, und er sie einfach festhielt und beschützte, vor allem Bösen dieser Welt.
    Jetzt fühlte es sich so gut an, genau das zu spüren, nach Wochen der Zerissenheit. Einerseits den Kevin von früher, den sie immer noch liebte, andererseits der eiskalte Mörder aus dem Keller von Patricks Haus. Aber genau der zweite Gedanke war immer schwächer geworden in den letzten Stunden, vor allem nach seinen ehrlichen Worten an sie, wie sehr er ihr vertraute. Und wie tief sie wirklich noch in Kevins Seele steckte, die er sonst mit Mauer und Stacheldraht schützen wollte.



    Und weil er gerade dieser Fels war, und sie beide kurz stumm auf dem Sofa saßen, lehnte sie ihren Kopf vertraut an seine Schulter. "Genauso war es damals auch, als ich dich verarztet habe nach deinem Motorradunfall.", sagte Jenny leise und wünschte sich, die Zeit zurückdrehen zu können. Sovieles hätte sie anders gemacht. Kevin nickte stumm und legte seinen Arm schützend um Jennys Schulter. Ihm ging es genauso. Denn genau das, was er jetzt gerade tat, wäre damals seine Aufgabe gewesen. Als Jenny das gemeinsame Kind verloren hatte und er bewusstlos im Koma irgendwo im Urwald von Kolumbien lag. Getrieben von seinem Dämon, nach seiner Schwester nicht den zweiten Menschen aufzugeben, der ihm etwas bedeutete. Dass er dabei den Menschen, der ihm am meisten am Herzen lag, zu Tode enttäuschte, übersah er damals. Und sein Dämon lachte sich ins Fäustchen.
    "Ich... ich wollte dich mal fragen, ob... also ob du mir nochmal das Ultraschallbild... mein Handy ist ja damals in Kolumbien kaputtgegangen.", sagte er langsam, weil er Angst hatte, alte Wunden aufzureißen. Aber es war ihm wichtig. Es war auch sein Kind, und er würde das Bild mit sich herumtragen, ob im Geldbeutel oder sonstwo. Jenny lächelte und nickte, bevor sie aufstand und eine Mappe aus dem Schrank holte, wo sie einige Unterlagen aufbewahrte. Natürlich hatte sie von dem damaligen Termin mehrere Bilder. Eines nahm sie heraus und setzte sich zurück zu Kevin.



    "Hier. Hier kann man schon ein bisschen was erkennen.", sagte sie und zeigte ihrem Ex-Freund, wo man mit viel Fantasie Händchen und Füßchen erkennen konnte. Für Kevin waren es erstmal nur dunkle Schemen, aber je mehr Jenny zeigte, desto mehr konnte er sich vorstellen. "Juan hat mir damals gesagt, du wärst so verändert gewesen nach der Nacht... und du wolltest die ganze Sache abbrechen.", sagte sie irgendwann sehr nachdenklich. Der junge Polizist nickte: "Ja... das Bild hatte alles verändert. Aber da war es schon zu spät." Beide betrachteten wie fantasiert das schwarz-weiße Bild in Jennys Händen, während sie dicht aneinander auf der Couch saßen und Kevin Jenny die Nähe durch seinen Arm immer noch deutlich spüren ließ. "Du hattest Recht im Auto. Ich hätte dich damals sehr gebraucht, als ich das Kind verloren hatte. So sehr sich Andrea, Semir und Ben um mich bemüht hatten... es war nicht das Gleiche." "Ich weiß...", sagte Kevin und seine Stimme war plötzlich unendlich traurig. "Wenn ich damals da gewesen wäre... wäre alles anders gewesen. Nichts würde zwischen uns stehen, nicht dieses Erlebnis im Keller... und wir wären bald eine kleine Familie. Eine Familie, die ich mir immer gewünscht habe, mir aber nie vorstellen konnte." Jenny spürte einerseits bei Kevins Worte Stiche im Herz, unendliche Traurigkeit aber auch eine Wärme in sich aufsteigen, die ihr guttat. Kevin war ihr nah, und sie spürte ganz tief in ihm noch die starke Liebe, die sie aneinander gefesselt hatten. Ihre Tränen, die jetzt auf ihre Jeans dicht neben das Foto tropften waren deshalb nicht nur Trauer über die Vergangenheit. Jetzt konnte sie traurig sein, denn jetzt war Kevin da. Er hielt sie fest, er war ihr Fels. Jenny legte das Foto zur Seite und schluchzte, als sie beide Arme um Kevins Hals schlang und die beiden sich auf der Couch umarmten. Während Jenny ihren Gefühlen jetzt mit bebenden Schultern freien Lauf ließ, lief Kevin stumm eine Träne über die Wange...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Wie sie.


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  • Dienststelle - 8:00 Uhr



    Semir pustete den sanften Rauch, der aus seiner Kaffeetasse emporstieg, weg und versuchte dadurch das koffeinhaltige Heißgetränk trinkbar zu machen. Ihm gegenüber raschelte sein bester Freund mit der Bäckerstüte um das zweite Schoko-Croissant heraus zu angeln. Ein Klopfen an der Glastür kündigte Besuch an. "Morgen.", kam es monoton über Kevins Lippen, und der junge Polizist, der an der Tür stand, machte nicht den ausgeschlafensten Eindruck. Seine Haare wirkten platter als sonst, fast schon gezüchtigt. Sein Gesicht war blass. "Morgen... warste auf Tour gestern?", fragte Ben, der seinem Partner direkt ins Gesicht sah, während Semir sich umdrehen musste. "Was? Ne... einfach nicht gut geschlafen.", fiel die Antwort mal wieder mehrdeutiger aus, als Kevin wollte.
    Mit verkniffenem Gesicht ging er in sein eigenes Büro und strich Jenny, die bereits an ihrem Schreibtisch saß, beinahe flüchtig mit der Hand über die Schulter. Sie hatten gestern bis tief in die Nacht zusammen gesessen, getrauert, geweint und sich dann wieder Mut zugesprochen. Es war weder zu Zärtlichkeiten zwischen den beiden gekommen, noch hatten sie sich Versprechen für die Zukunft gegeben. Sie waren in dieser Nacht einfach füreinander da, bis Jenny so müde war, dass ihr die Augen zufielen.



    Kevin hatte fast gar nicht geschlafen, als er zu Hause war. Die zweite Nacht hintereinander, in der er fast keinen Schlaf fand... es schlauchte ihn. Ihm war übel, er war müde und eigentlich hätte ihm heute jeder den Buckel runterrutschen können. Aber er musste sich entscheiden... für Janine und gegen seine Freunde? Oder umgekehrt. Egal wie er es drehte, er würde diese Nummer immer verlieren. "Wie gehts dir?", fragte er, als er sich Jenny gegenüber auf seinen Platz setzte und ihr seine Veränderung auch sofort auffiel. "Etwas müde... scheinbar genauso wie du, hmm?", meinte sie lächelnd. Auch wenn der Abend gestern überwiegend von traurigen Gedanken überschattet war, so tat ihr es gut, alles nochmal rauszulassen. Alles nochmal zu fühlen, und diesmal endlich mit dem Mann zusammen, der daran beteiligt war. Nicht alleine mit dem Gedanken, dass Kevin tot war. Nicht alleine mit dem Gedanken, dass Kevin zwar noch lebte, aber gerade kurz davor war, Jenny zu töten. Sondern mit ihm zusammen, ihn als Schulter die sie brauchte, auch wenn Kevin selbst gestern nur äusserlich ein Fels war.
    "Die Chefin war eben da. Benny soll heute vormittag noch dem Haftrichter vorgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft macht Druck und zieht die Sache jetzt wegen des Waffendeals auf Indizienbasis durch. Die wollen etwas vorzuweisen haben.", erzählte die junge Beamtin und Kevin nickte. "Dann wird Anis wegen der Drogensache völlig unbefleckt bleiben... ausser, dass ihm der Deal durch die Lappen geht.", schlussfolgerte er.



    "Sollen wir noch rübergehen vor der ersten Streife, damit du die Sache von gestern noch erzählen kannst?" Kevin blickte zu Jenny auf und sein Herz schlug schneller. Dass seine Hände leicht zitterten konnte die junge Frau nicht sehen... überhaupt kam es Kevin entgegen, dass er es oft schaffte, nach aussen völlig anders zu wirken, als ihm zu Mute war. "Eigentlich... eigentlich gibts da nicht viel zu erzählen. Wir haben gegessen... er hat sich für die Sache mit meinem Vater entschuldigt... und hat mir eigentlich das erzählt, was Benny mir erzählt hat. Er dachte wohl, wenn ich die Hintergründe kenne und weiß, dass es nicht um Mord und Totschlag geht, wäre ich eher bereit zu helfen." Seine Tonlage machte klar, dass das nicht der Fall war.
    Er log jetzt, und er hätte sich übergeben können. Und er bildete sich ein, nicht überzeugend zu wirken. Jenny blickte dem Mann in die hellblauen Augen und konnte keine Unsicherheit in seiner Stimme oder seiner Geste feststellen. Der Eindruck vom Abend davor wog schwer, dass sie sich im Leben nicht vorstellen konnte, nach den letzten Tagen, dass Kevin sie täuschen könnte. "Hmm... neue Erkenntnisse sind das ja wirklich nicht. Und er hat weiterhin einfach akzeptiert, dass du Nein sagst." Kevins Antwort war nur ein leichtes, zustimmendes Schulterzucken.



    "Und der eingekreiste Todestag?", bohrte Jenny noch weiter, obwohl sie dem jungen Polizisten eigentlich nicht auf die Pelle rücken wollte... aber natürlich war sie auch neugierig. Hier konnte Kevin zumindest die Wahrheit sagen und erzählte von dem damaligen Verhältnis der beiden Jugendgangs, Anis' Verhältnis zur Familie und der Schutzbedürftigkeit. Auch die junge Polizistin erkannte sofort so manche Paralelle zwischen dem Unterweltboss und dem ehemaligen Straßenjungen Kevin. Und für einen Moment fragte sie sich, ob er vielleicht den Todestag im Kalender angekreuzt hätte, wenn ein Geschwisterteil von Anis zu der damaligen Zeit ums Leben gekommen wäre. Sie sah den Mann kurz stumm an, und konnte es sich beinahe vorstellen.
    "Ich komm gleich wieder.", sagte Kevin und stand von seinem Platz auf. Ihm war heiß und kalt gleichzeitig, er spürte Hunger und Übelkeit. Draussen auf dem Parkplatz zündete er sich eine Zigarette an, der Sinn stand ihm eher nach einem Joint oder Tabletten. Er war heute Nacht so kurz davor wie schon lange nicht, nach dem verbotenen Döschen zu greifen, was er zur Beruhigung immer noch hatte. Die Gedanken ließen ihn nicht schlafen und jetzt ließen sie ihn nicht los. Am Handy sendete er Anis eine kurze Nachricht über Whatsapp, denn er wusste dass er in der nächsten Stunde mit Sicherheit aufbrechen musste. Er nannte ihm einen Rastplatz auf dem Weg. Auf der Herrentoilette warf er sich mehrere Handladungen Wasser ins Gesicht und betrachtete seine eiskalten Augen im Spiegel. Verdammter Lügner, wollten sie ihm sagen.



    Als er zurück ins Großraumbüro fuhr, kam gerade Semir aus der Bürotür und Hotte wedelte mit einem Stück Papier. "Wer fährt denn unseren Gast jetzt ins große Hotel?" Gemeint war die JVA in Ossendorf, wo man Benny erwartete. Kevin blickte kurz zu seinem älteren Kollegen und nickte. "Ich fahr die Tour. Ich muss sowieso noch jemanden im Gefängnis besuchen." Ein Vorwand, damit Semir nicht auf die Idee kam, die Tour selbst zu machen. Trotzdem sah der Polizist seinen jungen Kollegen kurz an. Ja, er vertraute ihm... und nein, er vertraute ihm nicht. Wie eine Waage, die genau das gleiche Gewicht auf beiden Hälften hatte und unentschlossen hin und her wog, so fühlte er sich gerade. Ja, Kevin war offen gewesen die Tage... aber was, wenn Anis ihm doch nochmal das Blaue vom Himmel versprochen hatte. "Na gut. Aber nicht allein. Nimm Jenny mit.", ordnete er an und zeigte kurz auf Kevins Büro.
    Kevins Blick folgte ebenfalls und veränderte sich. Vom coolen, unscheinbaren zu einer Mischung aus Schock und Traurigkeit. Semir war verdammt clever, wusste er doch genau, dass der junge Polizist Jenny niemals in Gefahr bringen würde. Sie an seiner Seite würde ihm jeden dummen Gedanken sofort verscheuchen. "Jenny? Fährst du bitte mit Kevin unseren Gast in die JVA?", rief Semir durch die offene Tür. "Ja klar. Ich hol nur grad meine Waffe aus dem Spind.", sagte die junge Frau und verließ das Großraumbüro, während Semir zu Ben ins Büro zurückkehrte. Kevin sah die beiden Männer durch die Glasscheibe an. Es tat ihm dabei unendlich weh, das zu tun was er jetzt gleich tun müsste, als Jenny ihn an die Hand griff und leise "Komm.", sagte...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 9:00 Uhr



    Das Kribbeln ging von Kevins Handflächen durch seine Oberarme, durch die Schultern bis in den Kopf. Es war nicht die Nervosität vor der Aktion selbst, sondern vor allem die Unsicherheit, ob er die richtige Entscheidung getroffen hatte. Seine Hände waren feucht und sie krampften sich ums Lenkrad. Neben ihm saß seine Kollegin, seine Ex-Freundin... die wichtigste Frau in seinem Leben im Moment. Er hatte ihr alles anvertraut, er war aufrichtig und ehrlich zu ihr und jetzt zog er sie in diese persönliche Sache hinein. Aber war es wirklich noch persönlich? Jenny warf ihrem Partner immer wieder mal einen schnellen Seitenblick zu, während Benny hinter Jenny saß, damit Kevin ihn durch den Rückspiegel immer mal im Auge hatte. Die Handschellen hatte er an dem Haltegriff über dem Fenster befestigt, und der Gangster schaute gelangweilt aus dem Fenster. Scheinbar hatte er sich abgefunden, dass aus dem großen Deal nichts werden würde.
    Der junge Polizist sah aber auch immer wieder an Benny vorbei aus dem Heckfenster. Folgte ihnen der schwarze Audi da? Der dunkelblaue Benz? Warum war er so nervös? Eigentlich konnte doch überhaupt nichts schiefgehen in der Sache an sich. Sein Herz schlug fest gegen seinen Brustkorb und mit gemächlichem Tempo fuhr er über die Autobahn. Der Treffpunkt kündigte sich durch die großen blauen Schilder mit Kilometeranzeige und dem Wort "Rasthof" deutlich an. Je kleiner die Zahl auf den Schildern wurde, desto trockener wurde Kevins Mund.



    "Ich... ich muss mal kurz raus.", sagte er beinahe peinlich berührt, wie ein kleiner Junge. Jenny sah kurz rüber und nickte, als Kevin den Blinker setzte und sich dabei auf die Lippen biss. Ein kurzer Blick auf das Display zur Uhrzeit verriet, dass er beinahe pünktlich war. Der Rasthof war wenig frequentiert, weil er anders als viele andere in der Gegend nicht gerade auf dem neuesten Stand von Hygiene und Technik war. Ausserdem waren um diese Uhrzeit die meisten LKW-Fernfahrer schon unterwegs. "Was ist denn los?", fragte Benny im hinteren Teil des Fahrzeugs. "Ich muss mal pinkeln, hast du doch gehört.", raunte Kevin nach hinten und sah seine Ex-Freundin an. Konnte er Anis wirklich vertrauen? Würde er ihr nichts tun, wenn sie im Fahrzeug blieb? Nein... das Risiko war ihm zu groß... Eigensicherung hin oder her.
    "Komm doch gerade mit und hol uns zwei Becher Kaffee für unterwegs.", sagte Kevin als er schon einen Fuß an die Morgensonne gesetzt hatte. Die junge Frau sah ihn verwundert an. "Und... ihn?", fragte sie und zeigte mit dem Daumen auf Benny, der etwas treudoof zwischen den beiden Polizisten hin und her sah. "Wir legen die Kelle ins Fenster und sperren sicher ab. Selbst wenn er den Griff abreißt und das Fenster einschlägt, sind wir durch die Alarmanlage sofort informiert. Da passiert schon nichts." Jennys Blick verriet eine Unsicherheit, doch sie ließ sich von Kevins sicherer Stimme überzeugen. "Na gut... aber ich beeil mich.", sagte sie und stieg ebenfalls aus. Unerkannt von ihr ließ Kevin den kleinen Schlüssel der Handschellen auf den Fahrersitz fallen, bevor er die Tür zuwarf... wie abgesprochen.



    Der Gefangene sah dem Päärchen hinterher, wie sie Richtung Raststätte gingen. Er war von Kevin nicht eingeweiht worden, dazu hatte der junge Polizist keine Gelegenheit. Der hatte das Fahrzeug sofort nachdem die Tür ins Schloß gefallen war, abgesperrt. In dem Moment, als Jenny in das Raststättengebäude hineinging und Kevin zu den Toiletten abbiegen wollte, drückte er nochmal unerkannt auf den Schlüssel. Klackend entsperrten sich die Türen wieder, und Benny blickte schlagartig auf. Ein mulmiges Gefühl stieg in ihm auf.
    Noch mulmiger wurde ihm, als aus einem großen Jeep plötzlich drei Männer ausstiegen. Sie hatten Baseballkappen tief ins Gesicht gezogen, eine Sonnenbrille auf und Tücher bis unter die Nase gezogen. Im Laufschritt nahmen sie Kurs auf den abgestellten BMW von Kevin, einer riss die Tür auf. "Was zum Teu...?", rief Benny erschrocken, weil er zunächst einen Überfall befürchtete. "Sssscht, halt die Schnauze. Wir holen dich hier raus.", zischte einer der Männer mit Akzent, und Benny konnte sofort die Stimme identifizieren. Es war Kamil. Er nahm den Schlüssel vom Fahrersitz und begann, am Schloß der Handschellen zu hantieren. War es die Nervosität oder Ungeschicktheit, die verhinderte dass er Benny sofort befreien konnte? "Mach schon, bevor die zurückkommen!", sagte Benny zischend. "Das... das geht nicht...", japste Anis engster Vertrauter.



    Das Schauspiel dauerte nicht mal zwei Minuten. Semir und Ben hatten sich unter der Plane eines der wenigen LKWs versteckt und beobachteten die Befreiungsaktion. Hotte und Dieter standen mit dem Streifenwagen hinter dem Gebäude, genauso wie die beiden Beamten Egon und Thorsten. Als das erlösende "Zugriff!" über Funk bei beiden Päärchen ankam, konnten sie eine völlig veränderte Stimme von Kevin hören. Semir beschrieb sie später als die Stimme eines Mannes, der wusste dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte, egal wie sehr sie ihn persönlich schmerzte. Und dass er Stolz in der Stimme hörte... Stolz darüber, sich für seine Freunde entschieden zu haben und gegen den dritten Strich auf seinem Unterarm. Stolz darüber, dass er in dem Moment, als er mit Jenny zusammen die Dienststelle verließ, die junge Frau am Arm griff und sagte: "Warte... wir müssen noch kurz über etwas reden."
    Sie waren zusammen zu Ben und Semir ins Büro gegangen und Kevin hatte über den Verlauf des gestrigen Abends geredet. Dass Anis wüsste, wer der dritte Täter war und dass er ihm diesen Namen in Aussicht stellte. Und dass Kevin einwilligte mit der festen Absicht die Sache durchzuziehen. Wo Ben für einen Moment eine Übelkeit verspürte aufgrund der Tatsache, dass Kevin ihnen von vorneherein das Abendessen verschwiegen hatte, so besänftigte ihn einerseits, dass Jenny Bescheid wusste... und vor allem andererseits, dass Kevin eine Ehrlichkeit zeigte, die er hätte gar nicht zeigen brauchen. Er hätte genauso gut behaupten können, dass er den Deal von vorneherein eingegangen war, um Anis eine Falle zu stellen. Doch der junge Polizist war ehrlich und sagte, dass er fest vor hatte, Benny zu befreien und bis gestern Abend keinen Zweifel daran hatte. Die Zweifel kamen mit den Stunden, die er mit Jenny zusammen verbrachte und wurden über Nacht immer stärker. Als die junge Polizistin Kevin dann sanft am Arm griff und zärtlich "Komm" sagte, als ginge man gerade zum ersten Mal zu Zärtlichkeiten zusammen ins Schlafzimmer statt einen Gefangenen zur JVA zu verbringen, wusste Kevin dass er niemals mehr allein sein wollte. Und er wäre allein, wenn er seine Freunde jetzt hinterging.



    Kamil und seine beiden Begleiter schauten erschrocken auf, als zwei Streifenwagen von beiden Seiten auf die Szenarie zugerast kamen. Sie schnitten sowohl dem SUV, als auch dem BMW von Kevin jeden Fluchtweg ab. Semir und Ben schlüpften aus dem LKW und rannten mit gezückten Waffen von der Autobahnseite aus auf das Zielobjekt zu und zielten bereits, als einer der drei Männer Anstalten machte, die Flucht zu Fuß zu ergreifen. "Keine Bewegung!!", rief Semir noch, als Kamil, der derjenige war, der flüchten wollte, es schaffte, Hotte zur Seite zu stoßen, als dieser gerade ausstieg und über die Motorhaube des Streifenwagens zu hechten. Kevin und Jenny kamen ebenfalls dazu von der anderen Seite, der Seite des Raststättengebäudes und zielten ebenfalls in die Szenarie. "Na los! Du bist jünger!", rief Semir und stieß Ben gegen die Schulter, der murrend in einen Sprint verfiel um Kamil zu verfolgen.
    Semir ließ den beiden weiteren Männern keine Gelegenheit mehr, auch nur über eine Flucht nachzudenken. Er ergriff den Arm eines Mannes und drehte ihm die Hand auf den Rücken, um ihn mit dem Gesicht vorran auf die Motorhaube zu drücken. Ein lautes Aufstöhnen war die Folge. Kevin war auf der anderen Seite des Wagens beim zweiten Mann, stieß ihn gegen das Fahrzeug und drückte ihm die Waffe ins Genick. "An deiner Stelle würde ich nicht mal atmen!" Er zog sowohl das Tuch als auch die Kappe vom Gesicht des Täters und erkannte einen von Anis Handlangern. Semir tat es ihm gleich und enttarnte ebenfalls einen der Männer des Kartells. "Scheisse... du hast doch gesagt, Anis wäre auch dabei.", rief Semir über das Autodach in Kevins Richtung. Dessen Herz schlug schneller... Anis hatte sein Wort gebrochen. Oder Ben verfolgte gerade Anis... dann musste er seinem Freund zu Hilfe kommen. "Los, komm schnell!", rief Kevin in Semirs Richtung und übergab den Verbrecher Jenny und Egon, während Dieter und der wieder auf die Beine gekommene Hotte sich um den zweiten Mann kümmerten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Wald - 9:20 Uhr



    Kamil verfluchte jeden und alles. Er verfluchte Anis, weil der so verdammt nochmal von sich selbst überzeugt war, als er sagte: "Kevin stellt uns keine Falle. Die Rache für seine Schwester steht über alles, da bin ich sicher. Damit haben wir ihn." Es war gestern Abend, nachdem Kevin das Restaurant verlassen hatte und der etwas kleinere Tunesiert bei seinem Boss Zweifel angemeldet hatte. Zweifel, die dieser gleich mit eben jenem Satz verstreute. Diesen Satz wollte Kamil ihm am liebsten jetzt ins Gesicht brüllen, als er keuchend durch den Wald lief, nachdem der junge Polizist ihnen eben jene Falle gestellt hatte, in die sie gerade reingetappt sind. Er konnte das Knirschen der Schritte auf dem Waldboden hören, genauso wie die seines Verfolgers, zu dem er sich immer mal umdrehte, allerdings nur kurz um nicht vor einen Baum zu laufen.
    Der Flüchtende hatte jede Richtung verloren, er wusste nicht ob er zur Autobahn zurück lief oder weiter davon weg. Ben hatte sowieso immer nur im Blick, wo Kamil zwischen den Bäumen auftauchte und blieb an der Verfolgung dran. "Bleib stehen! Verdammt nochmal!", schrie er immer dann, wenn er in Rufweite war. Aber selbst zwei Warnschüsse in die Luft hielten Kamil nicht davon ab, weiter zu rennen. Ben schnaufte. Er sollte doch mal wieder öfters Sport treiben und die Energie, die er sonst fürs Ausrede-suchen aufwendete, wenn Kevin ihn fragte, lieber ins Training investieren.



    Die Flucht endete an einem Maschendrahtzaun, der ein Industriegelände, das am Wald angrenzte, umzäunte. "Scheisse, Alter.", fluchte Kamil und schlug mit der flachen Hand gegen den Zaun. Drüberklettern war nicht möglich, da er oberhalb gesichert war gegen Einbrüche. Er sah sich gehetzt um und lief wieder vom Zaun weg. Ben allerdings hatte den Richtungswechsel des Flüchtenden bemerkt und versuchte ihm den Weg abzuschneiden. Der Polizist biss die Zähne zusammen und beschleunigte mit letzter Kraft in den Beinen, sprang über einen Baumstumpf und streckte dabei die Schulter zur Seite, mit der er Kamil am Oberkörper traf. Durch die Wucht des Zusammenpralls stürzten beide auf den, vom Gewitter der letzten Tage noch leicht aufgeweichten Waldboden. Ben durchzuckte ein stechender Schmerz in der Schulter, als er sich aufrappelte und Kamil ihm bereits gegenüberstand.
    "Was willst du machen, Alter, hmm? Scheiss Bulle." "Was ich machen werde? Verhaften werde ich dich!", quetschte Ben hervor und wollte gerade zur Waffe greifen, doch der Kerl, der vielleicht gerade mal so groß war wie Semir, überraschte ihn. Mit einem wendigen Tritt, der Kevins Kampfkunst alle Ehre machte, hatte Kamil dem Polizisten erst die Waffe aus der Hand getreten, um dann in der zweiten Bewegung, die Ben zu spät wahrnahm, die Beine weggezogen, so dass er sofort wieder Bekanntschaft mit dem Waldboden machte. "Scheisse...", fluchte er in den Dreck hinein.



    Aber auch Kamil unterschätzte den Polizisten mit der Wuschelfrisur, denn er ließ ihn wieder auf die Beine kommen. Und der revanchierte sich auf seine Art. Natürlich war auch Ben kampferprobt, jeder Polizist absolvierte in der Grundausbildung mehrere Selbstverteidigungslehrgänge. Ausserdem trainierten er und Kevin öfters zusammen, so dass er in dieser Disziplin sicherlich auch einigen Kollegen überlegen war. Aber Kamil war gewandt und schnell, wich den ersten Hieben aus und kassierte erst im dritten Versuch von Ben einen Leberhaken, der ihm den Atem nahm. Der Polizist setzte sofort verpasste dem Tunesier den Turnschuh im Gesicht. Diesmal war es der Verbrecher, der im Dreck landete und sofort aus einer Platzwunde an der Stirn begann zu bluten.
    Ben wollte sich schon mit einem kurzen Blick auf dem Boden nach seiner Waffe umsehen, als er bemerkte dass Kamil längst wieder zum Angriff übergegangen ist. Der kleine Tunesier beherrschte Karate und Boxen, eine ähnliche Kombination wie Kevin, so dass Ben sich ein wenig darauf einstellen konnte. Doch wo sein Partner vor allem Geschicklichkeit in Kombination mit Kraft hatte und einsetzte, war der kleine Kamil unglaublich schnell und gewandt. Es schein übertrieben, als würde er zwischen Bens Beine durchlaufen, und sofort einen Gegenangriff setzen. Nachdem er einen Schlag des Polizisten abblockte, griff er das Handgelenk und brachte Ben ins Stolpern. Gleichzeitig rammte er ihm zweimal kurz nacheinander das Knie in den Magen, um ihn dann mit einem Faustschlag ins Gesicht zu Boden zu befördern.



    Kevin und Semir eilten im gleichen Tempo durch den Wald, wie Ben hinter Kamil her war. Doch sie blieben öfters stehen und lauschten angestrengt, um Fußgetrapel, Gekeuche oder ähnliches vom Autobahnlärm zu unterscheiden. Die beiden Warnschüsse von Ben ließen sie dann zweimal merken, dass sie in die falsche Richtung unterwegs sind, und noch einmal neu orientieren. "Scheisse, was machen dir da?", keuchte Semir nach den ersten Minuten Sprint. Doch die beiden Polizisten waren näher dran, als vermutet, denn sie konnten jetzt das Geräusch von Schlägen hören, das Keuchen und Stöhnen von zwei Männern, die sich gerade im Kampf gegenüber standen, und von einem Körper, der auf den Waldboden plumpste. Semir ortete das Geräusch als Erstes und zog Kevin am Ärmel. "Los, schnell weiter!"
    Ben spuckte aus der aufgeplatzten Lippe Blut auf den Waldboden als Kamil dem Spiel langsam ein Ende setzen wollte. Auch er war schwer angeschlagen, blutet aus der Augenbraue und wankte ein wenig. Das Geklapper des Butterfly-Messers, das er aus der Jackentasche gezogen hatte ließ Ben aufblicken, doch das was er sah war ein Schuh, der ihm gegen den Kopf stieß, so dass er sich stöhnend vor Schmerzen auf den Rücken wandt. "Jetzt mach ich dich tot, dreckiger Bastard.", zische Kamil und hielt den Griff des Butterflys fest umklammert, um die Klinge in Bens Brust zu stoßen.



    Das Geraschel neben ihm nahm er nicht wahr, und er wusste erst was mit ihm geschah, als alles zu spät war. Ein stahlharter Griff um die Hand, die das Messer hielt und gerade ausgeholt hatte, um zu zu stechen, der ihm das Handgelenk auf den Rücken drehte. Kevin war aus dem Gebüsch gebrochen und hatte instinktiv zugegriffen. Durch die Geschwindigkeit seines Laufes riss er Kamil von den Füßen, das Messer fiel auf den Waldboden und der Polizist ließ den Arm erst los, als er selbst drohte zu fallen. Kamil rollte über den Boden und wollte gerade wieder, schwerfälliger als vorher, auf die Beine kommen. Doch Kevin erwartete ihn bereits. Mit einer schnellen Trittkombination gegen Unterleib, Kniekehle und einem finalen Ellbogenschlag ins Gesicht setzte der Polizist den Verbrecher endgültig ausser Gefecht. Das Ganze ging so schnell, dass Semir gar nicht mehr mit der Waffe eingreifen musste, die er gezogen hatte und auf das Geschehen richtete.
    Ben rappelte sich stöhnend aus dem Dreck auf, während Semir seine Handschellen Richtung Kevin warf, der diese dem stöhnenden Kamil anlegte. "Bist du okay?" Ben nickte und hustete etwas. "Keine Eile. Ich hatte die Situation voll im Griff." Sein bester Freund nickte grinsend: "Ja, das hat man gesehen." Kevin zog Kamil auf die zitternden Beine und sah Ben gespielt vorwurfsvoll an. "Was hast du denn so lange gebraucht, der ist einen Kopf kleiner als du." Der Kommissar mit der Wuschelfrisur wischte sich das Blut von der Lippe und knurrte gutmütig: "Ohne meine Vorarbeit, hättest du hier gar nichts... ach", und winkte lachend ab.



    Zu viert stapften sie an der Raststätte wieder aus dem Wald heraus und Jenny sah erleichtert aus. Kamil war übel zugerichtet, Kevin hatte ihm mit dem letzten Ellbogenschlag sicherlich die Nase gebrochen. Auch Ben sah ramponiert aus, blutete aus einem Cut überm Auge und die Kleider waren zerrissen. Der Verbrecher wurde von Semir persönlich nach draussen geführt und in einem der Streifenwagen verfrachtet, so wie dessen beiden Komplizen. Benny wurde ebenfalls wie geplant in die JVA gebracht... jedoch nicht von Kevin, sondern von einigen uniformierten Kollegen, die zur Verstärkung gerufen wurden. Als er aus Kevins Auto in den Transporter geführt wurde, sah er den Polizisten mit durchdringendem Blick an. "Das wird ihm nicht gefallen.", sagte er den gleichen Satz in Kevins Richtung, wie er bereits vor einigen Tagen nach seiner Festnahme im Verhörraum sagte. Diesmal quitterte dieser den Satz mit einem überheblichen Lächeln, während Semir und Ben etwas im Hintergrund ihres Partners standen. Sie erfüllte eine unheimliche Mischung aus Freude und Stolz ihrem Kollegen gegenüber.

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    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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  • Dienstelle - 11:30 Uhr



    Sie saßen allesamt zusammen im Großraumbüro und hielten ausnahmsweise dort ihre Besprechung ab, statt im Büro der Chefin. Eben jene war nicht sonderlich begeistert, als sie von dem, spontan geplanten Zugriff erfuhr. "Die Gelegenheit war günstig. Kevin hat das geschickt eingefädelt.", begründete Semir die Entscheidung und hob damit hervor, dass alles von dem jungen Kollegen von Anfang an geplant war... was ja absolut nicht der Fall war. Und dass Semir und Ben eben jenen Umstand wussten, war ein großer Vertrauensbeweis ihnen gegenüber. Sie missbrauchten ihn nicht und verschwiegen dieses kleine Detail ihrer Chefin. "Und sie hatten fest damit gerechnet, dass Anis an dem Treffpunkt auch erscheint?", fragte sie nochmal in die Richtung des jungen Polizisten, der nickte. "Normalerweise hält Anis sein Wort. Aber scheinbar hat er etwas gemerkt... oder vermutet."
    Sah man es rein vom Ermittlungsergebnis, hätte die Laune eigentlich schlechter sein müssen. Benny konnten sie zwar nun schon für Waffenhehlerei und zusätzlich Herstellung von Drogen anzeigen und hinter Gittern bringen, Anis blieb aber nach wie vor unbehelligt. "Kamil und Benny würden sich eher die Zunge abschneiden, als gegen Anis auszusagen.", meinte Kevin mit seiner monontonen Stimmlage. "Die haben Angst vor ihm. Benny zumindest. Kamil ist ein enger Freund. Die werden für ihn in den Knast gehen. Kamil kriegen wir nur wegen dem Befreiungsversuch dran."



    Die Chefin saß mit verschränkten Armen halb auf einem Tisch und nickte. "Es ist nicht das erste Mal, dass er ungeschoren davon kommt, obwohl er involviert ist. Das zeichnet ihn aus.", sagte sie, nachdem sie die Akte von Anis genau studiert hat. Ben wog den Kopf hin und her. "Und wenn wir Benny nochmal richtig in die Mangel nehmen? Wir brauchen nur ein paar Hinweise zu bereits getätigten Geschäften." Aber auch Semir schüttelte den Kopf. "Ich glaube auch nicht, dass Benny sein Schweigen bricht. Der weiß, was ihm blüht, wenn er singt. Und da der Deal nicht stattgefunden hat, können wir dafür niemanden belangen. Dass Benny in Anis Auftrag die Drogen herstellen wollte, oder hergestellt hat, wird er vor Gericht sowieso abstreiten." Die Chancen, Anis in irgendeiner Form dran zu kriegen, standen nicht gut.
    "Sehen wir es doch mal so...", gab auch Jenny ihr Statement ab, über die die Chefin voll des Lobes war, dass sie sich so gut mit Kevin arrangiert hatte. "... wenn Anis den Deal wirklich durchgezogen hätte können, hätte er sich zur Ruhe gesetzt. Er hätte uns oder den Kollegen von OK nie mehr die Chance gegeben, ihn zu fassen. Da wir den Deal verhindert haben, wird er weitermachen müssen. Das ist ja auch ein Erfolg... irgendwann wird er einen Fehler machen." Kevin wollte Jenny auf den Fehler bezogen nicht widersprechen, aber er wusste, was Anis für ein Profi war. Und dass der Fehler, Kevin zu vertrauen, einer von wenigen war. Aber in dem Fall konnte Kevin selbst kaum von sich glauben, dass er so handelte, wie er gehandelt hatte. Eigentlich war Anis Vertrauen ein todsicheres Ding... eigentlich.



    Die Chefin verließ die kleine Truppe, die sich nun aufmachte um gemeinsam, zur Feier des Tages, an ihre Lieblings-Currywurst-Bude zu fahren um dort zu Mittag zu essen. "Komm, lass uns zusammen fahren.", sagte Semir zu Kevin und lächelte. Ben nickte und stieg bei Jenny ein, die er gestern ja auch nach Hause gefahren hatte. Sie lachten über ihr gestriges Gespräch, jetzt wo Kevin sie so positiv überrascht hat. Semir ließ sich in seinen BMW gleiten, während sein junger Partner auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Er konnte sich schon denken, dass der erfahrene Polizist mit ihm alleine fahren wollte, weil er noch ein paar Worte mit ihm wechseln würde. Und es war ein schönes Gefühl, nicht verkrampft da zu sitzen, keinen arroganten Schutzwall aufbauen zu müssen weil Semir ihm wegen irgendeinem Alleingang wieder ins Gewissen reden wollte.
    "Denkst du, Anis hat geblufft damit, dass er den Namen des dritten Beteiligten weiß?", fragte Semir nach einer kurzen Weile des Schweigens unvermittelt. Kevin war über die Frage etwas überrascht und musste nachdenken. Er schätzte Anis eigentlich als ehrlich ein, vor allem weil er ja zwingend etwas von Kevin wollte. Dass er aber sein Versprechen gebrochen hatte und nicht zum Treffpunkt erschienen war, hatte ihn überrascht und ließ ihn jetzt erst nach einer kurzen Denkpause antworten. "Ich glaube nicht. Ich denke schon, dass er den Namen rausbekommen hat. Anis hat in der Szene immer noch einen Ruf, und wenn er Antworten will, kriegt er sie auch."



    Semir ließ die Worte kurz auf sich wirken und formulierte die nächste, sensiblere Frage genau im Kopf vor, bevor er sie stellte. "Und wie gehts dir jetzt damit, dass du dieses Angebot abgelehnt hast?" Was wollte er wohl hören? Dass Kevin sich darüber ärgerte? Warum er die Freundschaft und das Vertrauen über seine Rache stellte? Der junge Polizist sah aus dem Fenster, und dann in den Rückspiegel. Dort konnte er im Auto hinter ihnen Jennys lachendes Gesicht sehen. Ein fröhliches, befreites, unbeschwertes Lachen, in das er sich vor über einem Jahr Hals über Kopf verliebt hatte. "Es geht mir gut damit, denke ich. Es war richtig.", war seine kurze Antwort, als wäre Jennys Eindruck in diesem Moment erst die benötigte Bestätigung. Semir hatte seinen Blick bemerkt. Er nahm es Kevin nicht übel, dass vielleicht nicht er oder Ben den Ausschlag in Kevins Denken gebracht hatte. Sie konnten nicht jede verlorene Seele reden, dachte er. Und wenn es diesmal eben Jenny war, die bei Kevin für den Klick im Kopf gesorgt hatte... egal. Es wäre für den ältesten Kommissar der Vier schwer zu ertragen gewesen, wenn Kevin sie durch diesen Alleingang verraten hätte.
    "Es hört sich blöd an... als würde ich mit meiner Tochter sprechen.", lachte Semir dann auf und sah lächelnd zu Kevin rüber, wobei er mit dem Kopf und geschlossenen Augen kurz zur Seite nickte, bevor er sagte: "Aber ich bin stolz auf dich. Dass du dich so entschieden hast, wie du dich entschieden hast." Kevin spürte Semirs Ehrlichkeit in den Aussagen. Er sagte es nicht nur, weil er ihn loben wollte, sondern weil er wirklich froh und glücklich war, dass der schwererziehbare Fall der Autobahnpolizei einen Schritt nach vorne gemacht hat. Und er lächelte... ebenfalls befreit und ehrlich.



    Als Semir auf dem Parkplatz ausstieg, waren Jenny und Ben schon auf dem Weg zur Bude, da Ben sie spaßeshalber auf der Autobahn noch überholt hatte. Der erfahrene Polizist hörte Kevins Handyton und meinte, so etwas wie Falten in der Stirn bei seinem Partner zu sehen. "Geh ruhig schon mal vor.", meinte Kevin kurz bevor er abhob und Semir nickte. Da war sie für einen kurzen Moment wieder... die Kälte, die Mauer, das Abweisen. Er wollte das Telefonat alleine führen, das spürte Semir... und fast konnte er sich vorstellen, wer gerade an der anderen Leitung war.
    "Was willst du?", begrüßte Kevin den Anrufer, und die freundliche Stimme am anderen Ende war brandgefährlich. "Kevin, Kevin... ts ts. Alter, gibt es nicht mal unter euch Polizisten so etwas wie Ehrlichkeit? Wo kommen wir denn da hin." Der junge Polizist legte den nackten Arm auf das heiße Autodach, um sich daran abzustützen. "Ich hab dir gesagt, dass unsere Geschäftsbeziehung beendet ist. Du wolltest es mir nicht glauben, also musste ich es dir beweisen. Sei froh, dass du noch keine gesiebte Luft atmen musst." Er hörte Anis Lachen, er hörte aber auch das wütende Zittern und Zischen in der Stimme des Deutsch-Tunesiers. "Du hast mir den Deal meines Lebens versaut." "Das hast du selbst zu verantworten. Was willst du von mir, ich hab keine Zeit."



    Kevins gespielte Arroganz wirkte bei Anis. Er war gestreßt und wütend, nachdem er aus sicherer Entfernung mitbekam, was auf dem Rastplatz passiert war. Wütend darüber, dass er diesem Bastard vertraut hatte, dass sein Deal geplatzt war, und dass sein bester Freund hinter Gittern saß. Statt ausgesorgt zu haben, musste er sein Geschäft, das noch dazu aufgrund von Kevins Aktion mit Bienert im Charmin, empfindlich gelitten hatte. Er war der Verlierer. Und das hasste er. "Du hast vielleicht die Schlacht gewonnen, aber nicht den Krieg. Ich hätte dir geholfen, Alter. Ich hätte dir den Namen des dritten Mannes gesagt, und du wärst verdammt überrascht gewesen." Kevins Gesichtszüge erhärteten sich. "Aber jetzt nehme ich den Namen lieber mit ins Grab. Und ich verspreche dir, du wirst ihn niemals herausfinden, das schwöre ich dir."
    Äusserlich war Kevin ruhig, doch natürlich nagte es an ihm, die Chance verpasst zu haben. Dass er damit gut klar käme, war gegenüber Semir maximal eine Flunkerei. In Wahrheit würde es ihn wohl in den nächsten Nächten einige Joints kosten, um darüber weg zu kommen. "Schön für dich." Doch Anis war noch nicht fertig: "Pass gut auf deine Freunde auf... nicht dass ihnen etwas zustößt... morgen, nächste Woche, nächstes Jahr... oder so. Du hast dich mit dem Falschen angelegt." Der junge Polizist umklammerte das Handy fester und blickte auf die Wurstbude, an der drei lachende Menschen standen und Essen bestellten. "Hast du mir nicht gestern etwas von Ehre und Unantastbarkeit der Familie erzählt? Du weißt, wo das endet.", sendete Kevin die Warnung zurück. "Das gilt für Familie, mein Freund. Deiner Schwester hätte ich kein Haar gekrümmt. Aber ich meine nicht deine Familie, sondern deine Freunde, deine Kollegen." Der Polizist hätte es in diesem Moment lieber zu Ben, Semir oder Jenny gesagt, doch es war der letzte Satz, den er mit drohendem Unterton an Anis sendete, bevor er das Gespräch beendete: "Du irrst dich. Meine Freunde sind meine Familie." Und das wusste er heute endgültig.

    Wenn Engel hassen

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    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • Epilog:



    Einige Tage später - Club Matrix - 16:00 Uhr



    Harry schnaufte, als er die Getränkekisten aus dem Untergeschoss, wo er einen großen Kühlraum hatte, Kasten für Kasten nach oben schleppte. Er wischte sich mit dem Handrücken über die Stirn und pustete durch, bevor er, halb gebückt, halb kniend, die Flaschen in die Kühlschränke hinter der Theke einräumte. Eine Routinearbeit für den, etwas pummeligen mittelgroßen Mann, dessen hohe Stirn ihm mehr Kummer bereitete als die Tatsache, dass er sein Optimalgewicht mittlerweile um 15 bis 20 kg überschritten hatte. Die guten Zeiten waren einfach vorbei... und seit er sich das eingestand, lebte es sich leichter mit dem Blick in der Spiegel. Nur seine Frisur, auf die er in seiner wilden Zeit immer wert gelegt hatte, die war nicht mehr möglich.
    Harald "Harry" Fretta führte diese Kneipe schon über 20 Jahre lang. Er war jetzt Mitte 40, und hatte als junger Mann keine gute Nacht ausgelassen. Als Jugendlicher in der ersten Punkbewegung Mitte der 80er mitgegangen, Anfang der 90er hatte ihn die Szene angeödet. Er fand neue Freunde in der Techno und Elektroszene, die Trips gefielen ihm besser als das Kiffen, und die Mädels waren hübscher. Ansichtssache, sagten andere. Punks und Techno vertrug sich nicht, als er die Kneipe aufmachte hatte er seinen Ruf in deren Szene schnell weg. Schlägereien, Überfälle, Gegenaktionen... es artete in einen Krieg aus.



    Als er seine jetzige Frau kennenlernte, fand in seinem Kopf ein Umdenken statt. Er blieb zwar ein Szenetreff der 90er-Jahre-Bewegung, doch er hielt seinen Laden drogenfrei. Aus der damaligen Disko wurde langsam eine eher ruhige Kneipe, in denen sich die alte Garde der damaligen Zeit traf. Patrick hatte gerade noch das wilde Ende mitbekommen, und auch hier machte die Geschichte um Janines Mord die Runde. Harry räusperte sich... er hatte damals mitbekommen, dass dieser durchgeknallte Freak Peter Becker der Rädelsführer war, und dass Patrick und eine weitere Person an der Sache beteiligt waren. Und einen Tippgeber gab es, der Peter den Weg verriet, den Kevin immer nahm, wenn er auf kürzestem Weg nach Hause ging oder seine Schwester nach Hause brachte. Den Namen des Tippgebers kannte Harry aber nicht
    Warum sich ein Handlanger von Anis, der in der Stadt von verschiedenen Kneipen Schutzgeld erpresste, diesen Geschichte und die Hintergründe wissen wollte, wusste Harry nicht. Es interessierte ihn auch nicht... ein Jahr lang Schutz ohne einen müden Euro zu bezahlen für ein paar Informationen sah er als gutes Geschäft an. Auch wenn der Typ, der die Information erfragte, klar und deutlich gemacht hatte, dass er die Sache am besten schnell vergessen sollte... und vor allem niemandem sonst die Namen verraten sollte. Harry war die Härte und die Kompromisslosigkeit der wilden Zeiten abhanden gekommen. Er wollte seine Ruhe für sich und seine Frau, ein paar Scheine in der Kasse durch seine gutgehende Kneipe... und keinen Ärger.



    Der Mann, der plötzlich in seiner Kneipe stand als Harry wieder hinter der Theke auftauchte und sich in die Senkrechte bewegte, musste beinahe lautlos durch die nicht abgeschlossene Eingangstür gekommen sein. Er stand mitten im Raum, vielleicht noch drei oder vier Schritte von der Theke weg, und in seinem Mundwinkel hing eine klimmende Zigarette. Durch die einfallende Sonne konnte er das Gesicht zunächst nicht erkennen. "Wir haben noch geschlossen.", brummte Harry und wollte sich schon wieder dem Kühlschrank widmen. "Ausserdem herrscht hier Rauchverbot." "Ach wirklich?", war die Antwort einer monoton klingenden Stimme des Mannes, der nun die letzten drei Schritte bis zur Theke überwand. Sein Gesicht und seine abstehenden Haare kamen in den Schatten, und der Barbesitzer erkannte ihn sofort.
    "Es ist geschlossen hier. Verpiss dich.", zischte Harry erneut, doch er wusste dass sich dieser Kerl von Androhungen, oder einem drohenden Unterton nicht einschüchtern ließ. Und er wusste, dass er vor einigen Wochen schon einmal hier war, und die gleichen Fragen wie Anis Handlanger gestellt hatte. Aber im Gegensatz zu diesem konnte ihm der Kerl nichts bieten... und leiden konnte Harry ihn auch nicht. Zu oft war er an Überfällen der Punks beteiligt, und das Mitleid für ihn, dass es seine Schwester war, die bei der damaligen Sache ihr Leben gelassen hatte, hielt sich in Grenzen.



    Doch jetzt hatte Harry einen Knoten im Hals... und er hasste es, einen Knoten im Hals zu haben. Konnte es Zufall sein, dass der Kerl hier auftauchte nur wenige Tage nachdem er die Infos an Anis Mitarbeiter verkaufte? Die Augen des Mannes, der den Rauch ausblies, waren kalt und herzlos. Er blickte den Kneipier unentwegt an. "Weißt du Harry...", sagte er herablassend. "Ich will dich was fragen. Was würdest du denken, wenn du einem Mann eine Frage stellst, und dieser Mann antwortet dir, dass er darüber nichts weiß." Harry atmete hörbar durch die Nase aus. Auch wenn er hier keinen Ärger duldete... vorbereitet war er auf alles. "Ein paar Wochen später aber erfährst du, dass genau dieser Mann die Frage doch beantworten konnte, als ein anderer Mann ihm diese Frage gestellt hat." Er schnippte die Zigarette über dem Tresen, so dass die heiße Asche auf den frisch gewischte Oberfläche fiel. "Würdest du das nicht unhöflich finden?", schloß er diese eigenartige Erzählung mit seiner monotonen Stimme.
    Harrys Hand hatte sich fest um den Trommelrevolvergriff unter der Theke geklammert. Er stand so dicht an der Kante, dass der Mann auf der anderen Seite davon nichts sehen konnte. "Ich habe keine Ahnung, welchen schlechten Stoff du genommen hast. Oder wer dir irgendeine Scheisse erzählt hat. Aber ich weiß nichts davon, wer deine Schwester auf dem Gewissen hat." Die Antwort hatte der Mann Harry damals geglaubt. Heute wusste er es besser. "Ich hatte gehofft, dass du das sagst.", war die drohende Antwort des Mannes, die Harry jetzt überzeugte, zuerst aktiv zu werden.



    Seine Hand schnellte nach oben, und die Mündung zeigte für nicht mal eine Sekunde in Richtung Gesicht des Mannes. Viel schneller als Harry den Arm gehoben hatte, wurde er ihm aber mit Kraft wieder auf den Tresen gedrückt. Mit der linken Hand hatte der Mann Harry am Handgelenk des Schussarms gepackt, mit der Rechten schlug er blitzschnell zu. Der Schmerz in Harrys Gesicht war so plötzlich, so stechend, dass er die Waffe losließ und hinter dem Tresen zu Boden ging, um dort wimmernd mit blutiger Nase liegen zu bleiben. Der Mann packte den Revolver und warf ihn in den Raum, bevor er mit bedachten Schritten hinter den Tresen schritt. Auf dem Weg packte er eins der scharfen Messer aus einem Messerblock, der auf einem Schrank hinter dem Tresen stand. Dann beugte er sich zu Harry und packte ihn am Kragen. Sein Atem roch nach Zigaretten und seine Stimme war nicht mehr herablassend und arrogant... sondern bedrohlich.
    "Egal, wieviel Angst du vor Anis hast, dass du ihm die Wahrheit gesagt hast... Glaub mir, ich kann dir das Leben zur Hölle machen.", sagte er Harry leise ins Ohr und das Messer vor seinen Augen blitze in den Sonnenstrahlen, die durch die Fenster in den Raum fielen. "Ich schwöre dir, ich weiß nichts. Keine Ahnung, wo Anis die Information her hat... aber... warum fragst du ihn nicht selbst." "Willst du mich verarschen?", zischte der Mann wütend und packte fester zu. Er könne nicht bis zum Äussersten gehn, das wusste er... er musst gut bluffen. Die Messerspitze berührte Harry hinterm Ohr. "Ich weiß, dass Patrick hier ein- und ausging. Er war dabei und Peter Becker. Ich brauche den dritten Namen! Wenn du nicht als einohriger Kneipenwirt berühmt werden willst, würde ich an deiner Stelle reden." Der Wirt biss auf die Zähne und stöhnte. In seinem Kopf arbeitete es fieberhaft.



    "Versprich mir, dass du Anis nichts erzählst! Egal was du hier mit mir machst, er wird mir den Laden anzünden. Lieber verliere ich ein Ohr, als alles, was ich mir hier aufgebaut habe!", rief der Kneipenwirt und hoffte ein wenig, ein Passant oder, noch besser, ein Polizist draussen würde etwas mitbekommen. Doch er hoffte umsonst. "Ich habe mit Anis nichts mehr zu schaffen. Ich will nur den letzten Beteiligten an dem Überfall wissen. Also spucks aus." Innerlich wollte Harry drei Vaterunser beten, dass er aufwachte, und der Spuk war vorbei. "Timmy. Von eurer verlausten Clique! Er war der dritte Mann." Als er erwartete, endlich losgelassen zu werden, bekam er einen festen Schlag an den Hinterkopf, und stöhne wieder auf. "Timmy hatte Becker meinen Weg verraten, aber er war nicht dabei! Versuch nicht mich zu verarschen!", knurrte der Mann, und der Druck des Messers am Ohrknorpel nahm zu... wenn es auch die stumpfe Seite der Klinge war. Doch Angst machte Harry auch alleine das kalte Metall auf der Haut. "Was? Nein!! Ich schwörs dir! Peter, Timmy und Patrick. Wirklich... verdammt, wenn es nicht so wahr, dann hat auch Anis die falsche Information! Das ist alles was ich weiß." Die Angst war echt, das spürte Kevin endgültig, als er sich vor Harry erhob. "Wer hat ihnen den Tip gegeben.", fragte er nun, und seine Stimme klang weit weniger scharf, während Harry in sich zusammenfiel. "Ich habe keine Ahnung. Ehrlich!" Wenn er es wüsste, würde es jetzt keinen Grund mehr geben, es zu verheimlichen. Er wusste es nicht, und den jungen Mann befiel ein Ohnmachtsgefühl. Die drei Männer, die Janine vergewaltigt hatten, waren alle drei tot...



    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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