Nicht länger menschlich

  • “Humans all behave the same way, like idiots. They all forget that someday, they're gonna die, so the moment they come face to face with death, they cling to life.”
    – Ginti. Death Parade



    Prolog


    Ben war in einem Tunnel. In der Dunkelheit zog er einen Atemzug. Die Luft abgestanden, modrig, auf dem Fußboden klebte der Dreck. Er setzte seinen Weg vorsichtig fort. Der Tunnel war klein und er musste Acht geben, dass er sich nicht den Kopf stieß. An seiner linken Seite spürte er warmes Blut, dass seine Brust herunterlief. Die Wunde blutete immer noch.
    Ben biss sich auf die Lippe. Er brauchte etwas, um die Blutung endlich zu stoppen.
    Er war müde. Ihm war kalt. Er musste seinen Körper regelrecht dazu zwingen nicht abzuschalten. Einen Fuß vor den anderen. Er konnte es schaffen. Nein, er würde es schaffen genug Meter zwischen sich und dem Verfolger herauszuholen.
    Und so lief er einfach weiter. Seine rechte Hand glitt an der kalten und rauen Wand entlang. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde sein Körper müder. Er bog nach rechts ab, stolperte in einen kleinen Abwasserkanal. Für einige Sekunden hielt er inne. Es waren keine weiteren Schritte zu vernehmen, er schien endlich entkommen zu sein. Dennoch blieb er nicht stehen, sondern setzte sich wieder in Bewegung. Vielleicht hatte er Glück und würde den Weg nach draußen finden. Er hoffe es, denn der Blutverlust war hoch. Viel zu hoch, um in diesen Wirrwarr aus Gängen festzusitzen.
    Seine Stimme sagte ihm, er solle aufgeben, doch sein Körper trug ihn hartnäckig weiter. Es war egal, wie mühsam alles war. Er hatte ein Ziel vor Augen und dieses Ziel galt es so schnell wie nur möglich zu erreichen. Es war, als würde ein Countdown vor seinem Auge aufleuchten und langsam herunterzählen. Er hörte ein Geräusch und verharrte. Mit einem lauten Quieken sprang eine Ratte aus einem Kanalrohr hervor und lief über seinen Schuh. Ben atmete erleichtert auf. „Verfluchtes Vieh!“, schimpfte er leise und kämpfte sich dann weiter vor. Das stehende Wasser hatte längst seine Schuhe durchnässt und mit jedem Schritt wuchs in ihm die Verzweiflung. Er hatte überhaupt keine Ahnung, wo er war. Er war der Situation ausgeliefert und konnte nur hoffen, dass der Weg, den er genommen hatte, richtig gewesen war. Alles andere würde das Ende bedeuten.


    Seine Beine wurden immer schwerer. Jeder Schritt kostete ihn all seine Energie. Ben wusste nicht, wie lange er schon lief und er traute sich nicht innezuhalten und auf die Uhr zu sehen. Es kam ihm wie eine halbe Ewigkeit vor, doch es konnten auch nur wenige Minuten sein. Als er an der nächsten Abzweigung ankam, zögerte er. Welche Richtung sollte er einschlagen. Welcher Weg würde die Rettung bedeuten?
    Links.
    Schließlich entschied er sich für die Richtung, die ihm als erstes in den Sinn gekommen war und er setzte seinen Weg schwer atmend fort mit der Hoffnung, dass es bald ein Ende haben würde …

  • Einige Tage zuvor ...




    Thore Berg saß erschöpft in seinem Büro. Er war gerade erst von einem internationalen Fall in Stockholm zurück und musste bis zum morgen noch seinen Bericht fertig bekommen. Doch bisher hatte er keinen Satz zu Papier gebracht, denn etwas hielt ihn von der Arbeit ab.
    Er starrte auf die fünf Briefe, die vor ihm lagen. Schon wieder ein anonymer Brief. Das ging nun schon seit Wochen so. Die Buchstaben wurden auf ein großes DIN-A4-Blatt gedruckt. Die Adresse stammte ebenfalls aus dem Laserdrucker. Die Briefe wurden über verschiedene Postämter verschickt, die Marken waren Massenware und Fingerabdrücke gab es auch nicht. Er las sich die Briefe noch einmal durch:


    31. August
    Demnächst wirst du das Scheitern kennenlernen. Auf bald!


    03. September
    This world is rotten, and those who are making it rot deserve to die.


    12. September
    The real evil is the power to kill people. Someone who finds himself with that power is cursed.


    19. September
    Hear this: I'm not only Kira, but I'm also God of the new world!


    26. September
    If you can't win the game, if you can't solve the puzzle, then you're nothing but a loser.


    Er wusste woher die Zitate stammten, die ihm der Unbekannte schickte. Aus Death Note, einem der bekanntesten Anime. War er deshalb ausgewählt worden? Er war mit Manga und Anime aufgewachsen, ging zu Conventions. Aber niemand wusste, dass er Polizist war. Oder doch? Hatte er mal mit jemanden darüber geredet? Es war im Grunde nichts, was man geheim hielt. Wozu auch? Für ihn war es ein Job wie jeder andere.
    „Ach, verdammt!“ Er raufte sich durch die Haare und breitete die Briefe vor sich aus. Wieso wollte das Alles keinen Sinn ergeben?
    „Versuchst du immer noch was darin zu finden?” Ben kam herein und sah ihm über die Schulter.
    „Was will er mit diesen Briefen sagen?“, murmelte Thore und legte sie vor sich hin. „Der Letzte … er will etwas von mir. Ein Spiel … ich werde das Gefühl nicht los, das er ein Spiel spielen will.“
    „Eventuell ist es aber auch nur ein übler Spaß.“ Ben griff nach den Briefen und ging zu seinem Schreibtisch, wo er sich in seinen Stuhl fallen ließ. „Jeder weiß, wie sehr du auf dieses ganze Anime-Zeug stehst.“
    „Das glaubst du doch nicht wirklich.“ Thore legte die Arme auf den Tisch und bettete den Kopf darauf.
    „Was ist mit diesem Janne aus deiner alten Abteilung. Mir gefällt nicht, wie er dich ansieht, wenn wir ihn treffen …“
    Thore zog die rechte Augenbraue hoch. „Wie er mich ansieht?“
    „Abwertend.“
    „Trotzdem, so etwas würde er nicht tun. Das ist ein Niveau, auf das selbst er sich nicht herablassen würde.“
    Ben legte die Briefe vor sich hin. „Worum geht es in diesem Anime genau, was du erwähnt hattest?“
    Thore sah ihn fragend an. „Meinst du das ernst?“, hakte er unsicher nach. Normalerweise war zumindest dieses Anime eines derjenigen, die er fast nie erklären müsste.
    Er bekam ein Lachen als Antwort. „Sonst hätte ich nicht gefragt, du Held.“
    „Ich meine nur … es ist eines der wenigen Anime, die sogar Leute kennen, die sich damit nicht wirklich ausein …“
    „Sag schon, worum geht es“, unterbrach Ben ihn ungeduldig.
    Thore seufzte. „Die Geschichte handelt von dem hochbegabten High-School-Schüler Light Yagami. Dieser findet eines Tages auf dem Schulhof ein kleines Notizbuch mit der Aufschrift „Death Note“. Die Anleitung darin sagt aus, dass derjenige stirbt, den man in das Buch hineinschreibt. So beginnt Light damit Verbrecher auf der ganzen Welt zu töten.“
    Ben kratzte sich am Hinterkopf. „Mhm … es könnte also eine Botschaft auf ein bevorstehendes Verbrechen sein.“
    „Das sage ich doch die ganze Zeit!“ Thore war aufgesprungen und ging zum Fenster. Die Sonne schien. Es gab wirklich bessere Orte, wo er gerade sein wollte, als in diesem sticken Büro.
    „Jaja, ich habe es begriffen.“ Ben nahm den ersten Brief wieder in die Hand und las ihn laut vor. „Es sind alles Zitate aus dieser Serie?“
    „Ja, also bis auf den ersten Brief natürlich.“
    „Krimi?“
    „Wie?“
    „Na, ob die Serie ein Krimi ist.“
    „Ja, einfach ausgedrückt schon.“
    Ben nickte. „Vielleicht deutete es auf eine Tötungsweise in der Serie hin. Was gibt es da?“
    Thore drehte sich herum und lehnte sich an die Wand. „Alles mögliche, vor allem aber Herzinfakt.“
    „Aha, ist das Anime in deiner Sammlung?“
    „Ja … sicher.“
    Ein Lächeln schmückte Bens Gesicht. „Wie viele Folgen hat sie?“
    „37.“
    „Wie lange wird es dauern, bis ich sie alle gesehen habe?“
    „Du willst es ansehen?“, kam es unsicher zurück. Thore war sich nicht wirklich sicher, ob das so eine gute Idee war. Ben und er waren nicht gerade auf einer Wellenlänge, was die Trickfilmkultur betraf. Sein älterer Kollege hielt es für Nerdkram, während er darauf bestand, dass es sich um eine Kunstform handle.
    „Würde ich sonst fragen? Also, wie lange?“
    Thore überlegte einige Sekunden und rechnete die Gesamtzeit in seinem Kopf aus. „Ungefähr zwölf Stunden …“
    „Gut, damit kann ich leben.“ Ben schob seinen Stuhl zurück und stand dann auf. „Lass uns nach Hause fahren, dann fange ich direkt an.“
    „Aber … ich meine, wieso?“
    „Wieso?“ Ben lachte. „Du kannst ja Fragen stellen. Weil dir ein Wahnsinniger Briefe schickt und ich die auch verstehen möchte.“
    „Das hat dich doch beim letzten Brief auch nicht interessiert und außerdem mein Bericht.“ Thore nickte in Richtung Schreibtisch, wo seine Notizen aus Stockholm noch immer wild zerstreut herumlagen.
    „Ach was, den kannst du auch noch morgen schreiben. Nun komm, noch einmal mache ich dir das Angebot nicht!“
    Thore gab schließlich nach. Vielleicht würde es helfen, wenn jemand von Außen einen zweiten Blinkwinkel auf die Sache gab. „Aber beschwer dich nachher nicht, dass es nicht dein Ding ist!“
    „Würde ich nie, würde ich nie“, winkte Ben ab und griff nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln.


    Drei Stunden später hatte Ben das Gefühl, als könnten ihm jeden Moment die Augen zu fallen. „Ich glaub Anime ist nichts für mich“, schnaufte er und versuchte auf dem alten, duchlegenen Sofa irgendwie eine bequemere Haltung einzunehmen. Als der Abspann der sechsten Folge lief, sah er durch das Fenster und beobachtete Thore dabei, wie im Garten seinen Baseballschläger schwang.
    Thore spielte in einer kleinen Baseballmannschaft und obwohl es um wenig ging, hatte der Ehrgeiz ihn fest im Griff und Ben konnte sich nur an wenige Tage erinnern, an denen er nicht irgendein Training absolvierte. Seine Freundin und Thores Schwester hatte ihm mal erzählt, dass er in Japan mit seinem Team bei Nationalen Meisterschaften auf Highschool-Ebene teilgenommen hatte. In dem kleinen Land eine große Sache. Nach der Rückkehr in Finnland hatte Thore weitergespielt, dann aber nach dem Selbstmord der Mutter viele Jahre aufgehört. Vielleicht, weil es der Traum war, bei dem ihm seine Mutter immer unterstürzt hatte?
    Bens Blick ging wieder in Richtung Fernseher und er lehnte sich zurück, während das Intro der nächsten Folge lief. Vermutlich hatte Mikael Thore genau deshalb ausgesucht um den Jüngsten des Teams, Niilo, wieder in richtige Bahnen zu lenken. Der hatte ebenfalls eine Profikarriere im Sport angestrebt, diese aber wegen mehrerer Verletzungen nie erreicht. Anders als Niilo schien Thore mit der verpassten Chance zumindest kein Problem zu haben. Ihm reichte es, den Sport den er liebte als Hobby auszuführen.


    Es vergingen zwei weitere Stunden, ehe Thore wieder im Wohnzimmer auftauchte. Der Schwarzhaarige lächelte und stellte ein Tablett auf den Tisch. „Hier, ich habe etwas zu essen gemacht.“
    Thore reichte ihm eine der zwei Schüsseln.
    „Japanisch?“, murmelte Ben enttäuscht, als er den Inhalt sah. „Willst du mich quälen?“
    Thore setzte sich neben ihn und reichte ihm einen Löffel, während er für sich selbst die Stäbchen behielt. „Du weißt, dass ich fast nur japanische Gerichte kann?“
    „Was ist das?“ Ben beäugte die Suppe vor sich. „Und wie willst du die bitte mit deinen Stäbchen essen?“
    „Ramen … oder für dich einfach eine Nudelsuppe.“
    Ben nahm einen Löffel und führte ihn in den Mund. „So schlecht schmeckt es gar nicht“, stellte er mit vollem Mund fest, „durchaus essbar das Ganze.“
    „Vielen Dank für das Lob.“ Thore lächelte und begann dann ebenfalls zu essen. „Und, schon eine Idee, was es mit den Briefen auf sich hat?“
    „Vielleicht will er so sein wieder dieser Light? In seinem Sinn handeln … Verbrecher bestrafen und so? Oder er tut sich einfach nur wichtig, indem er es der Polizei schickt?“
    „Also sind wir nicht viel weiter, als vorher?“
    Ben seufzte. „Wohl nicht. Ich werde aus den Briefen irgendwie nicht schlau.” Er lachte. „Gut, dass kann auch daran liegen, dass ich von Anime auch überhaupt keine Ahnung habe.“

  • Das Klingeln eines Handys riss Ben aus seinen Träumen. Blind tastete er nach dem Geräusch, um dann festzustellen, dass es sich überhaupt nicht um seinen Klingelton handelte und dieser auch kurz darauf verstummte. Er blinzelte und sah, wie Thore sein Smartphone ans Ohr hielt. „Berg.“
    „Wie bitte?“ Die Stimme des jüngeren Kollegen wurde laut und hektisch. „Wie soll das denn? … Ich verstehe, wir kommen sofort.“
    Ben richtete sich auf und massierte sich den Nacken. „Wer war das?“, murmelte er verschlafen.
    „Der Chef.“
    „Höchstpersönlich?“ Ben zog die Augenbraue hoch. „Der ruft doch sonst nicht an.“
    „Wir müssen zum Gefängnis fahren“, erklärte Thore. „Wir sollen dort einen Mordfall übernehmen.“
    „Einen Mordfall?“ Ben gähnte. “Muss ja dicker Fisch sein, wenn das unsere Einheit hinmuss … was macht die Mordkommission, Urlaub? Verdammt, ich dachte, dass wir Wochenende haben.”
    „Mehrere Inhaftierte sind beim Essen kollabiert.“
    „Wie bitte?“ Mit einem Mal war Ben hellwach. „Wie soll ich das verstehen?“
    „So wie ich es sage“, gab sein Gegenüber monoton zurück.
    Bens Blick ging auf den Fernseher, dann wieder zu Thore. „Du denkst, dass er es war?“
    „Keine Ahnung. Ich denke, wir sollten das nicht überinterpretieren ohne überhaupt am Tatort gewesen zu sein.“ Thore zappelte ungeduldig mit den Füßen. „Würdest du dich jetzt beeilen?“, wollte er wissen.
    „Ja, doch … ich komme.“ Ben stand auf und streckte die Arme von sich. „Darf ich vorher wenigstens noch kurz ins Bad?“
    „Aber beeil dich.“
    „Ja, doch … ist ja gut“, grummelte der Braunhaarige und stiefelte dann aus dem Wohnzimmer.


    Eine halbe Stunde später standen sie in der Kantine des Gefängnisses und versuchten sich einen Überblick zu verschaffen. Irgendwo in dem Wirrwarr aus Beamten der Haftanstalt und der Polizei ging eine Hand nach oben.
    „Ben, Thore!“ Niilo kam auf sie zu. „Noch kann der Rechtsmediziner nichts Genaueres sagen … vielleicht war auch irgendwas Schlechtes im Essen.“
    „Etwas verdächtig, oder nicht?“, fragte Ben. Nach diesen Drohungen wollte er nicht an Zufälle glauben. Nicht, wenn es ein Gefängnis traf.
    „Woher bekommen die ihr Essen?“, wollte Thore wissen.
    „Sie bereiten es selbst in der Gefängnisküche zu. Na ja, natürlich gibt es größere Lieferungen von Fertigzeugs und so, aber ihr wisst, was ich meine.“
    Thore nickte. „Ist das Küchenpersonal hier?“
    Der blonde Kommissar zeigte nach links. „Dort ist der Küchenchef. Die anderen Mitarbeiter sind in einen separaten Raum zur Befragung gebracht worden.“
    „Ich verstehe … ich rede mal mit ihm, ja?“
    Ohne auf eine Antwort zu warten, hatte sich Thore bereits in Bewegung gesetzt.
    Niilo lachte. „Das wäre der Augenblick gewesen, um einzugreifen, Herr Teamleiter. So nach dem Motto: Lass mich die wichtigen Aufgaben übernehmen!“
    Ben kräuselte dir Stirn. Er wusste genau, worauf Niilo hinauswollte. Alle sechs Monate mussten sie eine Übung absolvieren und die letzte vor einigen Wochen hatten sie nur mit einer Durchschnittsnote bestanden. Und Niilo liebte es, ihn damit aufzuziehen.
    Eine lächerliche Fase war das gewesen, denn im Grunde hatten sie alles erfüllt, worauf es angekommen war. Ihre Teamarbeit war perfekt abgestimmt und dennoch hatte man ihnen eine mittelmäßige Beurteilung gegeben, weil er nicht als Teamleiter gehandelt hatte, sondern es jeweils Thore war, der die Initiative ergriffen hatte. Pah, eine solche Begründung hatte er noch nie erlebt. Was war daran falsch, dass sie in ihrem Team keine wirkliche Hierarchie besaßen?
    „Hahaha“, nuschelte er mit zusammengepressten Zähnen heraus.
    Niilo grinste. „Nun sei doch nicht so angefressen. So eine Benotung ist doch egal.“
    „Ist sie das wirklich?“, grummelte er. „Wir wissen alle, dass unsere Abteilung geschlossen werden könnte, wenn man darin keinen Sinn mehr sieht.“
    Der jüngere Kollege schlug gegen seine Schulter. „Wieso sollte sie das? Wir haben gerade erst einen neuen Chef und wichtige neue Aufgaben obendrauf bekommen!“
    „Yey, ich könnte vor Glück aus allen Wolken fallen.“ Ben löste sich von Niilo. „Ich schau mich mal um, vielleicht gibt es ja was, dass wir bisher nicht gesehen haben.“
    „Okay, ich schaue dann, was ich aus den Angestellten der Kantine herausbekomme.“


    Ben schlenderte durch die Kantine. Die Fotografen und die Spurensicherung waren noch mitten bei der Arbeit. Sein Blick schweifte durch den Raum. Wie viele Tote waren es? 15 würde er schätzen. Eine ordentliche Menge. Er fragte sich, wie lange sie das wohl unter Verschluss halten konnten. Vermutlich nur einige Stunden. Die Presse hatte ihre Wege an Informationen zu kommen, wenn sie nicht schon lange Wind von der Sache bekommen hatte.
    Er blieb abrupt stehen, als etwas seine Aufmerksamkeit erhaschte. Neben einem der Toten, der über dem Tisch lehnte, stand mit roter Farbe etwas geschrieben. Er machte einen Schritt nach rechts und beugte sich über den Tisch.
    „See You Space Cowboy!“, las er sich selbst vor. Wieso zur Hölle hatte sie darüber noch niemand informiert? Die Spuren von Puder verrieten, dass die Spurensicherung hier schon gewesen war.
    Ben schluckte und sah nach rechts, wo Thore gerade intensiv mit dem Küchenchef sprach.
    See You Space Cowboy. Er kannte diese vier Worte nur zu gut. Thore hatte ein Tattoo auf dem Arm. Ein kleines Raumschiff, welches Kondensstreifen hinter sich herzog, unter dem genau diese Worte standen. Ein Spruch aus einem Anime hatte Thore ihm mal erzählt, als er gefragt hatte, was es bedeutete. Eine Serie, der er als Jugendlicher gesehen hatte. Irgend so ein wirrer Mix aus Western, Comedy, SciFi und Action.


    „Oi, Thore. Ich glaube, da ist etwas, dass du sehen solltest!“, rief er laut.
    „Ich bin gerade im Gespräch …“
    „See You Space Cowboy, klingelt es da bei dir?“
    Sein jüngerer Kollege sah zu ihm herüber, hob seinen Arm und zog den Ärmel seines Pullovers hinunter. „Ja sicher, aber Ich weiß trotzdem nicht, worauf du hinaus willst?“
    „Komm halt her, dann zeig ich’s dir! Hopp!“
    „Ja doch, ist ja gut!“
    Ben verfolgte, wie Thore sich bei dem Zeugen entschuldigte und sich dann in seine Richtung begab.
    „Da auf dem Tisch“, erklärte Ben und zeigte auf den Satz.
    Thore starrte auf die Worte. „Seit wann sind die da?“, fragte er.
    „Ich würde sagen, dass es frisch ist.“ Ben fuhr mit den Fingerkuppen über die rote Farbe und hielt sie in Thores Richtung. „Schau.“
    „Mhm …“
    „Mhm mich nicht.“ Ben verschränkte die Arme vor der Brust. „Was ist das für ein Spruch. Hat der eine tiefe Bedeutung?“
    „Kennst du Cowboy Bebop?“
    „Was ist das?“
    „Ein Anime … der Klassiker unter den Klassikern“, Thore winkte ab, „sei es drum. Dort stand am Ende von vielen Episoden dieser Satz, im Sinne von: Bis bald …“
    „Und den tätowiert man sich?“ Ben zog die Augenbraue hoch. „Hängt der Anime mit diesem Fall zusammen?“
    „Das Anime, es heißt das Anime.“
    Ein Stöhnen entfuhr Bens Mund. „Das ist mir Wumpe. Also gibt es einen Zusammenhang?“
    „Nein, ehrlich gesagt, kann ich mir keinen direkten Zusammenhang vorstellen.“
    „Außer, dass du der Space Cowboy bist, mein Freund“, erwiderte Ben. Das war die einzige Erklärung die noch blieb, dass der Täter direkt Thore ansprach.
    „Ich?“ Sein Kollege sah ihn überrascht an. „Wieso ich?“
    „Es steht auf deinem Arm, oder nicht?“
    „Ja sicher ...“
    „Exakt.“ Ben gab seinem Freund einen Klaps auf den Kopf. „Du bist heute aber schwer von Begriff. Kennt man so gar nicht von dir.“
    „Und es ist mein Benutzername.“ Thore beugte sich über den Tisch und begutachtete die Worte. „Spacecowboy98.“
    „Dein Benutzername?“
    „Sagte ich doch gerade“, kam es leise zurück.
    Ben stöhnte. Kurzerhand packte er Thore an seinen Pullover und zog ihn einige Meter mit sich. „Benutzername, wovon? Wo genau?“
    „Na in verschiedenen Foren und so.“ Thores Augen weiteten sich und Ben atmete erleichtert auf. Endlich schien er zu begreifen, was Ben die ganze Zeit schon ahnte. „Ich muss ihn kennen …“ Der Schwarzhaarige drehte sich um die eigene Achse. „Ich kenne den Kerl, der das hier angerichtet hat.“
    Thore wurde blass im Gesicht. „Mir ist schlecht“, brachte er gerade noch heraus und rannte dann fluchtartig aus dem Raum.
    Ben sah erstaunt auf die offene Tür der Kantine, verfolgte wie Thore nach rechts abbog, um kurz darauf nach links zu rennen.
    Er wartete einige Sekunden, dann trat er ebenfalls aus der Kantine. „Wo ist mein Kollege hin?“, fragte er einen der Wachmänner, auch wenn es ihm klar war, wohin Thore so schnell gerannt war.
    „Zu den Toiletten. In den Besucherräumen haben wir eine. Den Gang hinauf.“
    Ben nickte. „Sind die Zwischentüren auf?“
    „Ja. Für den Moment noch … alle Gefangenen sind in ihren Zellen, die Sicherheit durch zusätzliches Personal verstärkt.“
    Er bedankte sich und machte sich dann auf in Richtung der Besucherräume. Als er durch die Tür trat, konnte er Thore husten und würgen hören. Verübeln konnte er es dem jungen Kollegen nicht. Die Leichen selbst waren kein wirklich schlimmer Anblick, aber das Wissen, dass der Täter ihn direkt in diese Sache einbezog, war etwas vollkommen anderes.
    Ben lehnte sich geduldig an die Tür und wartete ab. Es vergingen einige Minuten, ehe sich die Tür zu den Toiletten öffnete und Thore hinauskam – noch immer blass im Gesicht.
    „Geht’s wieder?“, fragte er.
    „Geht schon“, kam es leise zurück. „Lass uns ins Büro fahren, die Technik soll sich die Benutzer der Foren vornehmen. Ich will hier nicht länger bleiben …“
    Ben nickte. „Natürlich, ich sag nur kurz Niilo bescheid. Wartest du am Auto?“
    „Ja sicher.“
    Ben sah Thore hinterher. Er atmete tief durch. „Was für ein Scheißfall“, murmelte er leise.

  • Ein stechender Schmerz bohrte sich wie eine Pfeilspitze durch sein Knie. Niilo biss auf die Zähne und versuchte das Gewicht auf sein anderes Bein zu verlagern. „Das heißt, alle Aufnahmen sind weg?“, fragte er in Richtung eines rundlichen Wärters.
    Würde die Presse davon mitbekommen, würde man über die Sicherheit in finnischen Gefängnissen lachen. Erst werden Insassen vergiftet, nun wurden auch noch alle Aufnahmen der Überwachungskameras gelöscht und einer der diensthabenden Gefängniswärter fehlte.
    Jackpot!
    „Es tut mir leid … ich kann einfach nicht mehr darauf zugreifen.“
    Niilos Finger glitten über seinen Nasenflügel. Er atmete hörbar auf. Wie sehr hatte er sich auf sein freies Wochenende gefreut. Konnten Verbrecher nicht nur unter der Woche ihre Taten verüben? Dann wäre das Leben viel leichter.
    „Ich werde einem Kollegen sagen, dass er den Rechner mitnimmt. Vielleicht lässt sich ja was herstellen. Haben Sie die Akte von dem fehlenden Kollegen?“
    Sein Gegenüber nickte und Niilo verfolgte, wie er zu einem Schrank ging und dann eine Akte hervorzog und sie ihm reichte. „Er ist gerade erst zwei Monate bei uns.“
    Der blonde Kommissar öffnete den Deckel der Akte. Zwei Monate. Das war genug Zeit, um so eine Sache zu planen. Erstaunt sah er wieder nach oben. „Gibt es kein Foto?“
    Der Wärter kam näher und beugte sich über die Mappe. „Dort müsste eigentlich eines sein …“
    Niilo griff nach dem Ordnerrücken und schüttelte ihn aus. Doch statt eines Fotos, flog ein dünnes, schwarzes Heftchen zu Boden. Als er sich danach bückte, bereute er seine Bewegung sofort. Der Schmerz in seinem Knie flammte wieder auf und zuckte durch seine Nervenbahnen. Schnell fischte er nach dem Heft und lehnte sich dann an den Schreibtisch. Die Worte „Death Note“ sprangen ihm ins Auge.
    „Das gehört da eigentlich nicht rein. Ich weiß nicht, was das ist“, hörte er den Wärter sagen, doch er ignorierte ihn. Da war er auch selbst drauf gekommen, dass das nicht zum Inventar gehörte.
    Ein Kribbeln breitete sich in seinem Körper aus. Er schlug das Heft auf und blätterte durch die ersten Seiten. Ihm begegneten leere Seiten. Erst kurz nach der Hälfte stand etwas.
    目には目を、歯には歯を、悪には悪を
    Zur Hölle! Natürlich musste es auf Japanisch sein. Niilo löste sich vom Schreibtisch, legte das Heft darauf und zog dann sein Smartphone hervor, um ein Foto zu machen, welches er kurz darauf versendete. Danach suchte er eine Nummer in den Kontakten und wählte sie an.
    „Thore, ich hab dir ein Foto geschickt. Was steht da?“
    „Me ni wa me wo, ha ni wa ha wo, aku ni wa aku wo“, kam es von der anderen Seite.
    „Ich meine übersetzt, du Genie.“
    „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Böses für Böses … woher kommt das?“
    „Ich hab hier was gefunden.“ Niilo wandte sich zu dem Wachmann. „Sie bleiben hier, bis ein Kollege den Rechner holt, ja? Und versuchen, vielleicht doch noch ein Foto von dem Mitarbeiter zu finden, der verschwunden ist.“
    Ohne auf die Antwort zu warten, hatte Niilo sich das Notizbuch unter den Arm geklemmt und den Raum verlassen. „Ich komme ins Präsidium, ich denke dort lässt es sich besser erklären.“




    *


    Ben drehte das Notizbuch auf dem Tisch mit den Fingern im Kreis. „Mit anderen Worten, wir haben nichts?“, schimpfte er. „Nichts, außer dieses Heft und diesen japanischen Satz. Zahn um Zahn, ist das nicht aus der Bibel?“
    „Leben für Leben, Auge für Auge, Zahn für Zahn, Hand für Hand, Fuß für Fuß, Brandmahl für Brandmahl, Wunde für Wunde, Strieme für Strieme“, sagte Niilo auf. „Zweites Buch Moses.“
    „Ich wusste nicht, dass du Bibelfest bist.“
    „Ich musste es in der Schule mal auswendig lernen, seitdem geht es mir nicht mehr aus dem Schädel. Aber Böses für Böses kommt da sicher nicht drin vor.“
    Ihre Köpfe wandten sich zu Thore, der vor seinem Laptop saß und eifrig tippte.
    „Hast du da nichts hinzuzufügen?“, fragte Ben.
    Seit sie im Präsidium waren, saß Thore nun schon da und schien zu versuchen aus seinen Onlinekontakten eine Liste mit mutmaßlichen Tätern zusammenzustellen.
    „Das bringt doch nichts.“ Ben stöhnte. „Wir haben doch schon den Betreiber angerufen. Er schickt uns eine Liste mit allen Benutzern.“
    „Niemand ist dort gezwungen seinen Klarnamen zu benutzen“, kam es zurück.
    „Deshalb arbeitet der Chef ja auch schon an einem Gerichtsbeschluss, damit wir auch die Daten vom Provider bekommen.“
    Thore sah sie an. „Ich denke, es ist nicht die Bibelstelle gemeint – oder nicht nur.“
    „Sondern? Klär uns auf.“
    Code:Breaker, ein weiteres Anime. Der Hauptcharakter sagt diesen Satz, wenn er Leute oder sagen wir Verbrecher umbringt.“
    „Schon wieder diese Rächernummer? Scheint wohl beliebt zu sein, was?“
    „So viele gibt es da auch nicht“, murmelte Thore hervor.
    „Wie genau bringt er sie um? Ist das ein Hinweis auf eine vielleicht folgende Tat? See you Space Cowboy, das weist ja darauf hin, dass da noch mehr kommt.“
    „Die Schülerin Sakura beobachtet, wie ihr Mitschüler Rei Ogami im Park Menschen in blaue Flammen aufgehen lässt. Als sie Rei zur Rede stellt, erfährt sie, dass dieser Teil einer geheimen Organisation der Regierung ist und ein sogenannter Code:Breaker, ein Auftragsmörder mit übernatürlichen Fähigkeiten.“ Zu Bens Überraschung, war es nicht Thore gewesen, der ihm geantwortet hatte, sondern Niilo.
    „Sag nur, du bist auch Anime-Fan?“
    Der Blonde lachte und hielt sein Smartphone hoch. „Nein, aber ich kann das Ding bedienen, was Internet heißt. Ein Ort prallgefüllt mit Wissen.“
    „Feuer.“ Ben drehte das Notizbuch einmal mehr im Kreis, ehe er dann die Hand flach darauf legte. „Es geht um Feuer.“
    „Das sagt aber nichts darüber aus, wo es passiert und wann“, schaltete sich Thore ein. „Nur wie.“
    „Vielleicht im Park?“, fragte Niilo. „Wäre eine Möglichkeit.“
    „Das sollten wir auf jeden Fall in Erwägung ziehen“, stimmte Ben zu. „Ich werde dafür sorgen, dass wir in den Parks verstärkt Streifen haben.“
    „Gibt es noch was über dieses Code:Breaker, was man wissen muss?“
    „Ich weiß nicht, nein, ich denke, Niilo hat das Wichtigste bereits erwähnt.“ Thore richtete seinen Blick wieder auf den Computer.
    „Bist du denn schon weiter mit deiner Liste? Wie ich bereits sagte, das bringt doch nichts. Wir sollten auf die Daten warten und dann alle durch die Systeme jagen.“ Ben stand auf, lief um den Tisch und stellte sich hinter Thore.
    „Ich weiß nicht mal, nach welchen Kriterien ich eine Liste zusammenstellen soll.“ Thore lachte laut auf. „Alle die Death Note in ihrer Watchlist haben? Das hat ja fast jeder!“
    „Na ja du könntest dieses Code-Dings und das Cowboy irgendwas noch hinzufügen“, merkte Ben vorsichtig an.
    „Das habe ich schon, bringt nicht viel. Außerdem, wer sagt uns, dass diese Listen der Wahrheit entsprechen, ich muss ja nicht hinzufügen, was ich gesehen habe.“
    Ben nickte und beugte sich herüber. „Ist das deine Liste? Himmel, du hast über tausend Einträge.“
    „Und?“
    Niilo kicherte von der anderen Seite des Büros. „Wie viele hättest du denn Ben?“
    „Nicht so viele, denke ich. Nur das, wozu mich Thore zwingt, wenn er mit seiner Schwester diese gemeinsamen TV-Abende hat. Und du, hm, was hast du?“
    Der Blonde grinste. „Nils Holgersson, Pokemon, oh und das Ding, was jetzt als Real-Kinofilm kommt. Ghost in the Shell!“
    „Nils Holgersson?“ Ben zog die Augenbraue hoch. „Willst du mich veralbern? Soll ich nun Heidi sagen, oder was?“
    „Tatsächlich sind viele der deutschen Kinderserien in den öffentlichen Kanälen zu deiner Kindheit Anime gewesen“, meldete sich Thore zu Wort. „Wie zum Beispiel deine Heidi.“
    „Da bin ich aber gespannt, Mr. Wikipedia.“ Ben zog einen Stuhl nach hinten und hockte sich hin. „Sag mir mal ein paar.“
    „Calimero, Kimba, der weiße Löwe, Pinocchio, Captain Future, der Wikinger Wickie ...“
    „Es heißt Wickie und die starken Männer“, unterbrach Ben.
    „Also das kenne ich überhaupt nicht“, ließ Niilo verlauten. „Den Rest ja, aber das … nie gehört.“
    „Das wurde in den nordischen Ländern nie gezeigt und der Kinderbuchautor ist auch nicht wirklich bekannt.“ Thore stützte den Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf darauf. „Habe es auch nie gesehen, nur gelesen, dass es in Mitteleuropa wohl der Renner war und zumindest unser Herr Jäger hat es ja jetzt bestätigt.“
    „Jaja, ich gebe ja zu, dass dieses Anime-Zeug auch an mir nicht ganz vorbeiging. Wenn es dann auch eher eine unbewusste Sache war.“
    Niilo schwang sein rechtes Bein auf den Tisch und massierte sich das Knie. „Scheiße, warum musste eigentlich der Invalide die Laufarbeit machen, hm?“
    „Du hättest ja was sagen können“, wehrte sich Ben. „Ich habe gefragt, ob es okay für dich ist.“
    „Jaja ist ja gut!“ Niilo winkte ab. „Hab es ja selbst vergessen, dass sich auf dem Bein noch nicht sog gut stehen und laufen lässt.“
    Thores Kopf ging wieder in Richtung des Laptops. „Me ni wa me wo, ha ni wa ha wo, aku ni wa aku wo“, murmelte er leise immer wieder vor sich hin und Ben verfolgte, wie die rechte Hand die Maus immer wieder bewegte und er etwas anklickte.
    „Du glaubst wirklich, dass du da noch einen Hinweis findest? Ich meine, da kommt sicherlich haufenweise drin vor – auch neben unserem Park meine ich. Wie lang ist die Serie?“
    „Nur 13 Folgen, aber das Manga ist viel länger …“
    „Das Manga?“
    „Manga ist gleich Comic, Anime gleich Film. Es ist von dem Manga adaptiert. Sowie man aus Asterix-Comics einen Zeichentrickfilm macht.“
    „Eh? Himmel, ist das kompliziert.“ Ben stöhnte. „Also gut, sollen wir dieses Manga-Dings gemeinsam durchgehen. Vielleicht ist ja irgendwo ein Fixpunkt, oder so.“
    „Na ja, dir fehlt sicher der Zusammenhang, wenn du mittendrin anfängst“, meldete Thore Zweifel an.
    „Es geht ja nur um mögliche Verbrechen, da brauch ich keinen Zusammenhang“, widersprach Ben.
    „Wir können es ja zumindest versuchen“, fügte Niilo hinzu. „Es ist nicht so, als wäre mein Samstag ohnehin schon im Eimer.“
    Ben grinste schief. „Hattest du nicht ein Date mit dieser kleinen, hübschen vom Mord?“
    „Wir wollten gemeinsam ein Eishockey-Spiel schauen, das war kein Date!“
    „Sicher, sicher …“ Ben verschränkte die Arme vor der Brust. „Nur eine Verabredung unter Freunden.“
    „Was ist nun Thore, schickst du mir diese Manga-Seiten?“, lenkte Niilo schnell vom Thema ab.
    „Jaja, ist ja gut, ist ja gut …“

  • „Das glaube ich jetzt nicht!“
    Semir schnaufte und steckte sein Handy wieder in seine Jackentasche. Er versuchte bereits zum dritten Mal Ben zu erreichen, doch der schien sein Handy nicht zu hören.
    Sein Blick ging durch die Ankunftshalle des Flughafens, doch auch jetzt konnte er nirgendwo seinen ehemaligen Partner ausmachen. So viel dazu. Nun hatte Ben ihn endlich zu sich eingeladen und dann wurde er so empfangen! Das hatte er sich wahrlich ganz anders vorgestellt. Wieder griff er nach seinem Handy und wählte Bens Nummer, doch auch jetzt hatte er keinen Erfolg. Nach einigen Freizeichen ging nur die Mailbox ran. Er verzichtete aber darauf eine Nachricht zu hinterlassen. Dass hatte er bereits beim ersten Mal getan. Ohne Erfolg, wie sich jetzt zeigte.
    „Dann bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als selbst irgendwie von hier wegzukommen“, sagte er zu sich selbst. Semir griff nach seinem Koffer und begab sich zu einer der Anzeigetafeln, auf der auf Englisch einige Busverbindungen verzeichnet waren.
    „Mhm, gut … also der Bus scheint vor dem Flughafen abzufahren und fährt bis …“ Er atmete laut aus. Er hatte keine Ahnung, wo er eigentlich hinmusste Ben hatte ihm gesagt, dass es nicht von Bedeutung sei. Er würde es ja sehen, wenn er ihn abholen würde. So viel dazu. Na ja, immerhin könnte er schon einmal in die Stadt reinfahren. Andererseits, was sollte er machen, wenn Ben überhaupt nicht in der Innenstadt wohnte, sondern weiter außerhalb. Es war doch zum Mäuse melken! Zum letzten Mal machte er den hoffnungslosen Versuch seinen ehemaligen Partner zu erreichen, doch wieder erreichte er nur die Mailbox.
    „Es wäre wirklich nett, wenn du einfach mal rangehen würdest“, schimpfte er. „Weißt du, ich warte nun schon eine halbe Ewigkeit auf diesem verfluchten Flughafen!“
    Semir legte wieder auf und verstaute das Handy in der Jackentasche. Sein Blick fixierte den Busplan vor sich und er versuchte herauszufinden, was die beste Option war. Er könnte natürlich auch hier auf Ben warten. Aber wer wusste schon, wie lange es am Ende dauern würde, bis der hier aufkreuzte.
    „Gestrandet, Herr Gerkhan?“
    In Semirs Gesicht breitete sich ein Grinsen aus. Er kannte diese monoton, gelangweilte Tonlage. Er drehte sich herum und blickte in ein hellblaues Augenpaar. „Mikael, dich schickt der Himmel“, schrie er erleichtert auf. „Oder war es Ben?“
    „Ben?“
    „Er sollte mich hier eigentlich abholen, aber nun warte ich schon eine gewühlte Ewigkeit und erreichen kann ich ihn auch nicht.“ Er stöhnte. „Es ist doch immer das Gleiche!“
    „Soll ich dich mitnehmen? Ich bin mit dem Auto hier.“ Ein Lächeln schmückte die Lippen von Bens Jugendfreund, den Semir inzwischen ebenfalls recht gut kannte. „Wer weiß, ob der jemals hier aufkreuzt und ich will am Ende nicht dafür verantwortlich sein, dass du in Helsinki verloren gehst.“
    Semir überlegte für einige Sekunden, dann nickte er. Was hatte er auch für eine andere Option? Er hatte Zweifel, dass Ben in den nächsten Minuten hier auftauchen würde.
    „Wenn du so fragst, nehme ich dein Angebot dankend an.“
    „Mein Auto steht in der Tiefgarage, folge mir einfach unauffällig.“


    Knapp fünf Minuten später ließ sich Semir dankbar im Auto von Mikael fallen. So was bezeichnete man wohl Rettung in letzter Sekunde. Denn am Ende hätte er sich mit seinen Sprachkenntnissen wohl hoffnungslos verfahren und das obwohl er schon ein paar Mal in Helsinki gewesen war.
    Er drehte sich in Richtung seines Fahrers. „Warum bist du am Flughafen gewesen?“
    „Ein Seminar in Kopenhagen“, erklärte Mikael. „Nicht besonders spannend, aber was will man machen. Irgendwie muss man die Weiterbildungsstunden ja zusammenbekommen.“
    „Es ist ewig her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben“, stellte Semir fest.
    Er erhielt ein leises Lachen als Antwort. „Damals war Ben noch in Köln, oder?“
    „Nun ist er in Helsinki.“ Semir lehnte den Ellenbogen auf die Seitenablage. „Ich habe gehört, er hat ein Angebot aus Düsseldorf ausgeschlagen.“
    „Hat er das?“ Mikaels Blick ging nach rechts, als sie an der nächsten Ampel hielten. „Er hat mir nie von einem Angebot erzählt.“
    „Es war vor drei Monaten.“
    Der Schwarzhaarige schüttelte den Kopf. „Nein, davon weiß ich nichts.“
    „Hättest du ihn denn umgestimmt?“, hakte Semir nach.
    „Vielleicht.“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Ich meine, wenn es diese Sonderkommission aus irgendeinem Grund nicht mehr geben sollte, dann wird es für Ben schwer sein bei der Polizei einen anderen Job zu bekommen. Immerhin hat er keine Prüfung in Finnland abgelegt.“
    Semir grinste schief. „Aber hast du ihm den Job nicht erst verschafft?“
    „Nicht ganz uneigennützig, nicht ganz uneigennützig“, kam es zurück. „Ich dachte, dass Ben eine gute Ergänzung für Niilo wäre.“ Mikael sah ihn an. „Du kennst doch Niilo, oder?“
    „Ja, wir hatten vor einigen Monaten einen gemeinsamen Fall. Gut, großartig zusammengearbeitet haben wir dort nicht“, erklärte Semir. In Wahrheit war es vielleicht gerade einmal ein Tag gewesen, in dem er überhaupt mit Niilo Ylianto zu tun hatte. Danach war der junge Kommissar schwer verletzt worden und verbrachte die nächsten Wochen im Krankenhaus.
    Semir hörte Mikael lachen. „Wenn Ben wüsste, dass ich ihn nur für meine Zwecke benutzt habe … ich weiß nicht, als Ben eines Abend vor der Tür stand und nicht wusste, was er jetzt mit sich anfangen sollte, da habe ich sofort daran gedacht ihn als meinen letztes Rettungsanker für Niilo zu verwenden.“
    „Inwiefern?“
    „Ich war mir nicht mehr sicher, ob meine Entscheidung richtig war, die ich getroffen hatte bezüglich Niilo. Ich dachte, es wäre meine letzte Möglichkeit das herauszufinden.“
    „Wie meinst du das?“, hakte Semir nach.
    „Es gab da einen Zwischenfall auf der Polizeiakademie. Niilo wäre fast geflogen …“ Mikael wechselte den Gang und bog auf die Autobahn ab. „Ich hatte mich für ihn eingesetzt, ihn zu Totenwinter gebracht und dann, dann hatte er dort nur Probleme. Er kam nicht mit Kollegen aus, wirkte gelangweilt, hat sich nicht an Vorschriften gehalten, war kein Teamplayer …“
    „Also so wie du?“ Semir konnte sich das Grinsen nicht verkneifen. Denn diese Beschreibung klang wirklich nach Mikael. Der war in seiner aktiven Polizeikarriere ebenfalls für Alleingänge bekannt gewesen.
    „Mhm?“ Mikael sah ihn verwirrt an, lächelte dann aber. „Vielleicht ein bisschen, ja.“
    „Und du dachtest, dass Ben das ändern könnte?“
    „Immerhin hatten sie mit Basketball eine gemeinsame Leidenschaft“, antwortete Mikael.
    „Na, so verkehrt war ja dein Vorgehen nicht, was? Hat ja geklappt.“
    „Nicht wirklich“, kam es zurück.
    „Wie meinst du das? Sag bloß, die Beiden kommen nicht gut miteinander aus … eigentlich hatten sie wie ein gutes Team gewirkt.“
    „In den ersten Wochen hat Ben mich dafür verflucht, dass ich ihn zu dem Job überredet hatte. Er hatte keine Ahnung, was er mit Niilo machen sollte. Ich meine, was macht man mit jemanden, der so wirkt, als wäre er im vollkommen falschen Beruf?“
    „Scheint aber ja dann doch geklappt zu haben.“
    Mikael seufzte. „Ich glaube, dass ist eher Bergs Verdienst, als Bens.“
    „Thore? Ach stimmt, Ben sagte so was, dass er eigentlich das jüngste Mitglied des Teams ist. Der hat übrigens noch mehr von dir. Diese dunkle Aura …“
    „Dunkle Aura? Berg?“, fragte Mikael überrascht zurück.
    „Na wegen der Sache mit seinem Vater und der Mutter.“
    „Sicher weiß ich von der Sache mit seinem Vater, aber er hat mir deshalb nicht depressiv gewirkt.“
    „Nicht? Gut, wer weiß … vielleicht lag es an den speziellen Umständen. Es gab im Laufe der Ermittlungen ein Strangulationsopfer.“
    „Gut, dass kann natürlich sein“, gab Mikael zu bedenken. „Ich kenne ihn dafür nicht wirklich gut, um das Einschätzen zu können.“
    „Und trotzdem warst du es, der ihn dort untergebracht hast? Wählst du dafür Beamte nach Zufallsprinzip, oder wie?“
    „Wie?“ Mikael sah in überrascht an. „Ich? Es war mein Schwiegervater. Der hat mir seine Akte gegeben und mich um eine Einschätzung gebeten. Ich habe mir ganz einfach Berg aus der Ferne etwas näher angeschaut. Mochte seine Führungsqualitäten und sein Teambewusstsein. Er ist Catcher, weißt du.“
    „Basketballer, Baseballspieler. Man könnte meinen, du hättest eine Sportmannschaft zusammengestellt.“
    Mikael lachte. „Du wirst mir nicht glauben, aber den Ausschlag hat tatsächlich ein Baseball-Spiel gegeben. Ich fand sein strategisches Denken interessant, außerdem konnte er das ganze Team mitziehen.“
    „Strategisches Denken? Das kann ich mir bei dir wirklich vorstellen …“
    Bei der nächsten Ausfahrt lenkte Mikael den Wagen von der Autobahn und bog auf die Hauptstraße ab. „Ben wohnt hier gleich um die Ecke, eine kleine Wohnsiedlung mit viel Platz.“

  • „Psst, Thore“, flüsterte Ben leise, doch sein Freund schien ihn nicht zu hören oder wollte ihn nicht hören. Dabei brauchte er jetzt dringend das Handy, mit dem Thore die ganze Zeit rumspielte und Videos zu sehen schien. Wieso hatte er auch nicht daran gedacht, dass die Uhr in ihrem Büro nachlief. Er hatte geglaubt, dass er es trotz der plötzlich angeordneten Pressekonferenz durch den Polizeichef noch zum Flughafen schaffen würde, aber da hatte er nicht bedacht, dass er ohnehin schon zu spät dran gewesen war, weil die Uhr schon seit Wochen nicht die korrekte Zeit anzeigte und niemand sich darum gekümmert hatte. Wie lange wartete Semir nun schon? 45 Minuten? Noch dazu hatte er sein eigenes Handy im Büro gelassen. Wieso war er nun so dumm gewesen?
    Als die Pressekonferenz endlich zu Ende war, sprang er hektisch auf. „Thore, ich bauch dein Handy!“
    Ohne dass sich der jüngere Kollege etwas erwidern konnte, griff er danach, beendete das Video, welches gerade lief und wählte schnell die Nummer von Semir.
    „Ey, was soll denn das? Ich habe gerade für den Fall recherchiert!“
    Ben hob die Hand und brachte Thore so zum Schweigen. „Nun geh schon ran“, murmelte er leise. „Komm schon …“
    Endlich nahm sein Gesprächspartner ab. „Semir, es tut mir leid. Du wirst nicht glauben, was hier lost ist. Ich hole dich sofort ab. Warte noch zwanzig Minuten, ja? Das schaffe … wie du stehst vor unserem Haus?“
    Ben nahm das Handy vom Ohr. „Ist Nora da, Thore?“
    „Sie ist bei der Probe, denke ich.“
    Ben nickte. „Du Semir, es ist gerade niemand da. Aber ich komm sofort vorbei, ja?“ Er rollte mit den Augen. „Ja sich, deine Standpauke höre ich mir dann auch an. Aber ich kann wirklich überhaupt nichts dafür … jaja, bis gleich dann.“
    Er legte auf und reichte Thore sein Handy zurück. „Ich werde nach Hause fahren, ich hatte Semir vollkommen vergessen.“
    „Vergessen?“ Thore zog die Augenbraue hoch. „Wer dich als Freund hat, hat wirklich Glück, was?“
    „Nicht direkt vergessen. Die dumme Uhr ist schuld! Ich habe dir schon zig Mal gesagt, dass du sie richtigstellen sollst.“
    „Wieso tust du es nicht selbst?“ Thore lachte. „Du würdest auch viel besser rankommen als ich.“
    „Ich bin dein Vorgesetzter“, erwiderte er. „Du solltest tun, was ich dir auftrage.“
    „Das werde ich mir merken, Bigboss!“ Thore steckte sein Handy ein und sie verließen gemeinsam den Raum und traten in das große Foyer.
    „Ich werde diese Seiten dann zu Hause lesen, ja?“, erklärte Ben.
    „Ich kann die auch übernehmen. Ich habe sonst ja nichts zu tun“, bot Thore an. „Vielleicht geht es ohnehin schneller.“
    „Du musst das nicht machen, es ist kein Problem.“
    „Es ist okay“, winkte Thore schnell ab und ging dann in Richtung Fahrstühle. „Genieß deinen freien Nachmittag.“
    „Ruf mich an, wenn ihr was habt. Keine Alleingänge ja!?“
    Thore sah über die Schulter. „Der Typ mit den Alleingängen bist du, Ben Jäger, nicht ich“, kam es spöttisch zurück.
    „Haha.“ Er kratzte sich am Kopf. „Jaja, ist ja gut. Bis später dann.“
    „Bis dann!“


    Ben war der Meinung, dass er es noch nie in seinem Leben so schnell vom Präsidium nach Hause geschafft hatte. Als in die Einfahrt einbog saß Semir auf der Treppe zum Hauseingang, Mikael lehnte an dem Balken von dem Dachüberstand.
    „Es tut mir wirklich leid. Da war diese Pressekonferenz und ich hatte mein Handy …“ Er fuhr sich über das Gesicht. „Verdammt, es liegt immer noch im Büro!“
    Mikael und Semir tauschen vielsagende Blicke aus. Dann lächelte der Ältere und zog ihn in eine Umarmung. „Du bist unverbesserlich, hat dir das schon mal jemand gesagt.“
    Ben nickte in Richtung Mikael. „Der hier macht es eigentlich ganz häufig“, erwiderte er.
    Als sie sich voneinander lösten, öffnete Ben die Haustür und griff nach den Taschen. „Kommt erst einmal rein. Ich mache uns einen Kaffee und dann reden wir über die guten, alten Zeiten.“
    „Sorry, ich muss passen“, meldete sich Mikael zu Wort. „Ich muss erst noch nach Hause und dann ins Eden.“
    „Eden?“, fragte Semir.
    „Das Jugendzentrum“, erklärte Mikael. „Ein Bewährungshelfer wollte mit mir reden. Nichts Wildes, hoffe ich.“
    „Vielleicht hast du ja später noch Zeit, was?“ Ben hielt die Haustür mit dem Fuß auf. „Eventuell könntest du dich auch etwas um Semir kümmern die nächsten Tage. Ich habe da dummerweise ausgerechnet jetzt so einen dicken Fall.“
    „Oh, du besorgst mir gleich einen Babysitter. Wie nett von dir, Ben“, kam es schnippisch von der Seite.
    „Haha … äh ja, so meinte ich das ja überhaupt nicht.“
    „Ich schaue, was ich machen kann“, erwiderte Mikael und hob dann die Hand zum Abschied. „Also dann, man sieht sich.“


    „Ähm ja, dann komm mal rein, Partner.“
    Semir trat hinter Ben in das Haus. Eigentlich wollte er seinem ehemaligen Partner einen Vortrag über Pünktlichkeit halten, doch nun überwog die Freude sich endlich einmal wiederzusehen. „Was ist das für ein Fall?“
    „Einige Tote im Gefängnis. Nicht gerade eine tolle Sache. Komischer, creepiger Fall.“
    „Aha.“
    „Ich werde dir bei Gelegenheit mehr darüber erzählen.“ Ben bog nach rechts ab und zog eine Holztür auf. „Ich habe mir gedacht, dass du bei Thore schläfst. Er hat anders als wir ein Gästezimmer mit Bett und ich glaube, dass ist bequemer als so ein olles Schlafsofa.“
    Semir lachte. Ja, da hatte Ben recht. Er würde ein Bett einem Sofa wirklich vorziehen. Semir staunte nicht schlecht, als sein Partner ihn durch die Wohnung führte. Die meisten Möbelstücke waren alt und alles schien wild zusammengewürfelt zu sein. Im Wohnzimmer standen hohe Regelwände, die bis oben mit Büchern und DVD’s gefüllt waren. In einer Ecke standen zwei Baseballschläger und ein großer Baseballhandschuh. Darüber hing ein Bild mit Jugendlichen. Es wurde sicher in Japan aufgenommen, zumindest sah der Großteil der Jugendlichen darauf nicht wirklich Europäisch aus.
    „Lass dich von dem ganzen Krempel nicht stören“, merkte Ben von vorne an. „Ich glaube, das meiste hat er von Flohmärkten oder so.“ Der Jüngere sah auf das Regal. „Kein Wunder vielleicht, das meiste Geld gibt er sicher für diesen Anime-Kram aus.“
    Semir schritt an dem Regal entlang. So ganz Recht schien sein Freund nicht zu haben, immerhin gab es auch haufenweise Bücher. Der Großteil auf Englisch, aber auch auf Finnisch und Japanisch. Sein Blick blieb auf einem Bild hängen, was ebenfalls schon etwas Älter zu schein schien, wenn auch nicht viele Jahre. Es zeigte zwei junge Menschen – ein Mann und eine Frau. Den Mann konnte Semir klar als Thore ausmachen, auch wenn es ihm neu war, dass der eine Brille trug. Die Frau daneben kannte er nicht. Sie war etwas Kleiner als Thore, hatte rötlich, blondes Haar und Sommersprossen.
    „Ist das Thores Freundin?“, hakte er nach und hielt das Bild hoch.
    Er vernahm ein Lachen hinter sich. „Das ist Nora.“
    „Oh, sie sah auf den Bildern, die du mir gezeigt hast, ganz anders aus.“
    Wie lachte Ben. „Ja. Irgendwie ist sie in einer Phase, in der sie die roten Haare gestört haben. Sie hat sie übergefärbt.“
    „Wie alt sind die Beiden auf dem Foto?“
    „Mhm. Ich glaube, Thore ist 25 und Nora 30.“
    Semir stellte das Bild wieder in das Regal zurück und schlenderte weiter. „Und Thore hat kein Problem damit, dass wir hier seine Wohnung unsicher machen, wo er nicht da ist?“
    „Um ihn zu zitieren: Da gibt es nichts, was ein Staatsgeheimnis wäre.“
    Der Ältere nickte und machte vor einem weiteren Bild Halt. Es schien nicht viel jünger zu sein als das vorherige, denn auch dort hatte Thore eine Brille auf. „Seit wann hat Thore keine Brille mehr?“
    „Mhm, ich habe ihn schon ohne Brille kennengelernt und nie nachgefragt. Abends, wenn er Filme schaut oder mitten in der Nacht seine Anime, da trägt er sie noch.“
    „Wer sind die Leute auf dem Bild? Sieht aus wie eine Polizeiabteilung.“
    Ben stellte sich neben ihn. „Ja, es ist seine alte Abteilung. Sind durch Dick und Dünn gegangen die Typen da.“
    „Und trotzdem ist Thore zu euch?“
    „Nun ja, nach dem Ausrutscher, den er sich geleistet hatte, hätte er nur noch hinter dem Schreibtisch gesessen. Ich glaube deshalb ist er gewechselt.“
    „Was war das noch für eine Abteilung?“
    Ben musste lachen. „Ist das ein Kreuzverhör?“
    „Ich muss ja sicher gehen, mit wem ich in den nächsten Tagen in einem Haus verbringe.“
    „Spezialeinheit für Gewaltdelikte. Ziemlich alles über Geiselnahme, Amok, Drogenszene und so.“
    Semir löste seinen Blick von dem Foto und sah sich weiter um. „Und du lässt ihn heute für dich mitarbeiten, oder was?“
    „Na hör mal. Ich stehe in der Hierarchie über ihm.“ Ben grinste. „Nun ja, aber am Ende hätte ich ihm wohl eh kaum helfen können. Dieser Fall, ich glaube, der ist wirklich nichts für mich und mein Schubladendenken.“
    „Du machst mich immer neugieriger!“
    „Alles zu seiner Zeit.“ Ben schlug seinem ehemaligen Partner auf die Schulter. „Alles zu seiner Zeit.“

  • Niilo legte die Hand in den Nacken und ließ seine Wirbel knacken. „Und spannend gewesen die PK?“
    „So wie immer“, gab Thore zurück. „Sorry hat länger gedauert, war danach noch in der Kantine.“
    „Und Ben konnte sich nicht von dem ganzen Essen lösen?“
    „Mhm? Ach so … nein, der ist nach Hause. Sein Kollege kommt ja heute, hatte er wohl irgendwie verpennt.“ Thore ließ sich hinter seinen Schreibtisch sinken. „Wie weit sind wir mit den Informationen vom Seitenbetreiber?“
    „Ziemlich lange Liste. Wie du sagtest, viele haben nicht ihren Klarnamen angegeben und diejenigen, die es haben, sind noch nie auffällig geworden.“
    „Dreck!“ Thore seufzte und lehnte sich zurück. Es wäre auch zu einfach gewesen, würden sie sofort einen brauchbaren Hinweis haben.
    „Ich habe meine Seiten von diesem Manga durch und ein paar Orte aufgeschrieben, die in Frage kommen würde. Soll ich bin Bens Sachen weitermachen?“
    „Zeig mal deine Liste.“
    Niilo reichte ihm ein Blatt Papier und er studierte die Orte, die sein Kollege aufgeschrieben hatte. „Hm, ja.“
    „Das heißt?“
    „Ich werde die Orte weitergeben an die Streifen.“ Thore zwirbelte eine Haarsträhne zwischen den Fingern. „Wie heißt es so schön: Vorsicht ist die Mutter der Porzellankiste.“
    „Aber?“
    „Wie?“
    „Das mit deinen Haaren machst du nur, wenn du über etwas nachdenkst. Was ist es?“
    „Ich weiß nicht, es scheint mir verwirrend, dass es gleich mehrere Ziele gibt. Sollte es nicht vielmehr auf eines hinauslaufen?“
    Niilo zuckte mit den Schultern. „Sollte es das? Wenn er mit uns oder mit dir spielen will, wäre es da nicht praktischer mehr Ziele zu haben?“
    „Ja … gut, vielleicht.“ Thore legte den Zettel wieder hin und zog die ausgedruckten Manga-Seiten zu sich. „Na dann. Weiter geht es mit der Suche im Heuhaufen.“


    Vier Stunden später stand Thore am Fenster und seufzte laut auf. „Wieso kommt kein zündender Einfall?“
    „Na, an deinem Gehirn kann es nicht liegen. Das ist normalerweise in Topform.“
    „Sehr witzig.“ Thore legte die Stirn gegen die kalte Fensterscheibe. „Ich kann nicht mehr …“
    „Vielleicht sollten wir Schluss für heute machen. Mit dem Manga kommen wir nicht weiter und bis die Informationen vom Serverbetreiber vergehen auch noch Stunden, was?“ Niilo wartete nicht auf Thores Antwort und war bereits aufgesprungen. „Also ich habe keine Lust mehr noch länger Überstunden zu schieben.“
    „Da draußen ist ein Serienmörder …“
    „Ist der korrekte Ausdruck nicht Serientäter?“ Niilo grinste. „Über deine Mangeseiten nachdenken kannst du auch zu Hause.“ Der Blonde packte Thore am Ärmel. „Also komm, auf geht’s!“


    Anderes als geplant, führte Thores Weg nicht direkt nach Hause, sondern er machte einen Umweg in sein vertrautes Fitnessstudio, in dem es auch eine Abteilung für Kampfsport gab.
    Als er durch die Tür trat, wurde er von einem vertrauten Gesicht empfangen. Kantig, blaue Augen, blass. „Na, Thore. Du auch hier?“
    „Jussi.“ Er grinste breit. „Na, Einsatz beendet? Wie lange ist es her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben?“
    Sein Gegenüber lachte. „Zu lange“, antwortete er knapp. „Wie sieht es aus? Lust auf ein kleines Training?“
    „Hast du keine Angst, dass du eingerostet bist?“ Thore kicherte. „Ich könnte dir etwas Zeit zum aufwärmen geben.“
    „Glaub mir, bei meinem Undercovereinsatz habe ich meine Fäuste genug benutzt.“ Jussi umgriff mit seiner kräftigen Hand seinen Nacken und zerrte ihn mit. „Aber vielleicht hast du ja Angst.“
    „Vor dir doch nicht!“
    Als sie sich umgezogen hatten, stellten sie sich gegenüber und zeigten mit einem Kopfnicken an, dass sie bereit waren. Jussi griff sofort an und schon sauste seine Faust in Thores Richtung. Doch damit hatte er gerechnet. Geschickt wich er der herannahenden Faust aus. Kurz darauf folgte der nächste Fausthieb, doch auch jetzt war Thore schneller. Er war zwar nicht so muskelbepackt wie Jussi, doch dafür schnell und wendig.
    Jussi versuchte es immer wieder, doch kein Schlag traf sein Ziel. Der Größere verausgabte sich völlig.
    „Verdammt“, keuchte er schwer atmend, „wie ich es hasse, dass du dich nicht für einen Kampfstil entscheiden kannst.“
    „Sei das Wasser“, sagte Thore und trat blitzschnell hinter ihn. „Pass dich deinem Gegner an.“
    Einer Schlange gleich, die unvermittelt nach ihrer Beute schnappt, ließ er seinen Arm nach vorne schnellen, umgriff Jussis Brust und nahm ihn in den Schwitzkasten. „Du bist langsamer geworden“, flüsterte er in das Ohr seines ehemaligen Kollegen und löste seinen Griff dann wieder.
    „Scheint, als hätte ich meine Fäuste doch nicht oft genug benutzt“, erklärte Jussi mit einem breiten Lächeln. „Du hast mich haushoch geschlagen.“
    „Weil du nicht intelligent kämpfst“, antwortete Thore. „Das ist der feine Unterschied zwischen Sieg und Niederlage.“
    „Du bist ein verdammter Klugscheißer, hat dir das schon mal jemand gesagt?“
    „Du meinst abgesehen von dir?“ Thore gluckste. „Ich glaube nicht.“
    „Nun lügst du aber!“




    „Das dicke Ding im Gefängnis, bearbeitet ihr das?“
    Thore lehnte den Kopf gegen die Wand und sah an die Decke. „Vor einigen Wochen habe ich Briefe bekommen, in der jemand eine Tat ankündigt … es hängt damit zusammen.“
    „Wie soll ich das verstehen?“
    „Er glaubt, dass er das Böse aus der Welt beseitigt, indem er diese Menschen umbringt. Er schickt mir verschlüsselte Botschaften aus Anime.“
    Jussi lachte. „Aus Anime? Es gibt also noch mehr verrückte, die diesen Scheiß schauen.“
    „Das ist nicht witzig“, nuschelte Thore. „Wir haben keinen Hinweis auf den Täter. Ich zerbreche mit schon den ganzen Morgen den Kopf, aber ich weiß nicht, wem aus dem Communities ich so was zutrauen würde.“
    „Und er denkt, dass er Verbrechen rächt?“
    „Davon ist auszugehen, es würde zu den bisherigen Botschaften passen.“
    Jussi nahm einen Schluck aus der Flasche. „Dann trifft es zumindest nicht die Falschen.“
    Thore löste den Blick von der Decke und sah seinem Freund in die Augen. „Ist das dein Ernst?“
    „Denkst du nicht manchmal, dass es viel zu viel Abschaum gibt, der zu leicht davonkommt?“
    „Aber selbst dann ist Mord doch nicht die Lösung.“
    „Du würdest also den Kerl, der Lenna damals erschossen hat nicht gerne ausradieren?“ Jussi beugte sich zu ihm hinunter. „Ich würde das schon ganz gerne tun. Sie war unsere Kollegin und er hat sie kaltblütig abgeknallt, obwohl sie unbewaffnet war.“
    „Das würde aber an ihrem Tod nichts ändern.“ Thore seufzte. „Es tut mir leid, vielleicht bist du nicht der richtige Gesprächspartner für so was.“
    Er stand auf und griff nach seiner Tasche. „Lass uns bald wieder ein kleinen Kampf machen.“
    „Wieso bin ich nicht der richtige Gesprächspartner. Weil ich nicht deine Meinung vertrete?“
    Thore war nicht darauf vorbereitet, als Jussi ihn packte und gegen die Wand schleuderte. „Oi, ich rede mit dir!“
    „Nein, weil du Lenna geliebt hast.“ Thore umgriff die Hand seines Freundes und löste sie von seiner Schulter. „Deshalb.“
    „Vielleicht kannst du es auch gerade deshalb nicht verstehen? Du hast nie jemanden verloren, der dir wichtig war.“
    Thores Augen zogen sich zusammen. „Du weißt, dass das nicht stimmt!“
    „Sie wurde nicht ermordet! Das kannst du nicht vergleichen!“
    Thores Faust preschte in Jussi‘s Gesicht. Ein schmerzhaftes Aufheulen ertönte Jussi taumelte zurück, hielt jedoch seine Balance. „Bist du noch ganz dicht?!“
    „Es ist scheißegal, wie sie gestorben sind! Nie wieder sprichst du so über meine Mutter!“
    „Ja?!“ Jussi wischte sich mit dem Handrücken das Blut aus dem Gesicht. „Sie wollte sich vor deinen Augen umbringen! Ist das eine liebende Mutter?“ Jussi packte Thore am T-Shirt und zog ihn an sich heran, bis ihre Gesichter nur noch wenige Zentimeter trennten. „Sie wollte sich überfahren lassen und hat in Kauf genommen, dass du es siehst!“
    „Das stimmt nicht!“ Thore wollte sich losreißen, doch Jussis Griff war stärker. „Lass mich los verdammt. Du solltest nicht den Lügen glauben, die mein Vater erzählt!“
    „Den Lügen?“ Jussi lachte. „Es ist Fakt! Du solltest aufhören die Augen davor zu verschließen. Ein halbes Jahr vor ihrem Suizid rennt deine Mutter bei roten Ampeln einfach so auf die Straße? Das klingt für mich wenig glaubhaft!“
    „Die Ampeln waren nicht rot …“
    „Wirklich? Dein Mutter-Trauma in allen Ehren, Thore, aber es haben alle Zeugen so bestätigt und die wird dein Vater wohl kaum bestochen haben.“
    Thore umgriff das Handgelenk seines ehemaligen Kollegen. „Lass mich los, verdammt!“
    „Es ist ihre Schuld, dass du damals auf die Straße gerannt bist und sie weggestoßen hast. Du hättest wegen ihr sterben können und trotzdem nimmst du sie in Schutz!“
    Jussi lockerte seinen Griff und er sank an der Wand zu Boden.
    „Deine Mutter ist keine Heilige.“
    „Woher willst du das wissen?! Du warst nicht dabei!“
    „Nein, vielleicht nicht.“ Jussi setzte sich neben ihn. „Aber ich habe auf den Klassenfahrten deine Albträume anhören müssen, du Idiot.“
    Thore zog eine Packung Taschentücher aus seiner Tasche. „Hier.“
    „Idiot“, nuschelte Jussi hervor und nahm die Packung dann entgegen. Er zog einige Taschentücher heraus und drückte sie sich gegen die Nase. „Vielleicht solltest du die Akte über den Unfall lesen? Es könnte dir helfen.“
    „Wobei?“
    „Zumindest dabei deine Mutter mal in einem anderen Licht zu betrachten. Mein Vater sagt, dass sie auch schon als Jugendliche Depressionen hatte.“
    Thore lachte. „Ja, ich vergaß, sie waren ja so gute "Freunde"!“
    „Hör auf immer sarkastisch zu werden, wenn es ernst wird“, presste Jussi hervor. „An deinem Aggressionspotential solltest du auch arbeiten.“
    „Meinem was?“
    „Ach komm, hättest du deinen Vater damals bei der Rede nicht vor versammelter Mannschaft angegriffen, dann wärst du heute noch bei uns.“
    „Hast du mich nicht gerade zuerst angegriffen?“
    „Du hast mir die Fresse eingeschlagen, Vollidiot.“ Jussi lachte. „Mal im ernst. Denkst du nicht, dass du dich bei deinem alten Herrn entschuldigen könntest. Vielleicht kann er ein paar Knöpfe drücken und dich zurück lassen zu uns?“
    „Mhm …“ Thore zog die Beine an seinen Körper. „Nein, ich denke nicht, dass ich mit ihm reden kann.“
    „Du bist nicht mehr der kleine Junge, der Angst haben muss, geschlagen zu werden.“ Jussi grinste. „Vielmehr ist es doch andersherum.“
    „Der war ich auch damals nicht. Geändert hat es trotzdem nichts.“
    Jussi wuschelte durch Thores Haare. „Dann werde ich wohl weiter auf meinen besten Partner verzichten müssen, was?“
    „So ist es wohl.“ Thore zog Jussis Hand aus seinen Haaren. „Danke ey, die ist ja voller Blut!“
    „Das ist die Strafe für deinen Fausthieb. Von wegen sei das Wasser. Das war wohl ehr der Stein.“ Jussi lachte und Thore konnte sich nicht mehr zurückhalten.

  • Ben stellte zwei Bierflaschen auf den Tisch und setzte sich dann gegenüber von Semir.
    „Und nun bin ich gespannt, was das für ein Fall ist.“ Semir grinste. „Das klang kompliziert, was du bisher gesagt hast.“
    „Na ja, so kann man es auch sagen“, antwortete Ben und berichtete seinem ehemaligen Kollegen dann von den Drohungen, dem Mehrfachmord im Gefängnis und dem hinterlassenen Hinweis. Als er fertig war, stöhnte Semir. „Das hört sich in der Tat kompliziert an. Und ihr habt noch keine Vermutung, was der Kerl als Nächstes vorhat?“
    „Nein.“ Ben schüttelte den Kopf und sah auf die Küchenuhr. „Wobei es danach aussieht, als würde Thore eine Nachtschicht einlegen, um das herauszufinden.“
    „Immerhin scheint er sich mit dem Thema ja am besten auszukennen.“
    „Na, ob das uns hilft? Ich weiß nicht, mir ist nicht wohl dabei, dass sich der Täter Thore ausgesucht hat.“ Ben hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. Als kurz darauf kein ihm inzwischen bekanntes japanisches Wort ertönte, hielt er sich den Finger vor die Lippen. „Kein Wort zu Nora über diese Sache. Sie muss ja nicht unbedingt wissen, dass Thore vielleicht in Gefahr ist.“
    Semir nickte. „Ehrensache, Partner.“
    Kurz darauf trat eine junge Frau mit langen, rötlichen Haaren in die Küche. Sie lächelte, als sie Semir erblickte und hielt ihm die Hand hin. „Du musst Semir sein, ich bin Nora.“
    „Freut mich, dass wir uns endlich kennenlernen.“ Semir griff zu und schüttelte die Hand.
    Danach gab Nora Ben einen Kuss auf die Lippen und setzte sich dann ebenfalls an den Tisch. „Ist Thore noch unterwegs?“, fragte sie. „Die Sache im Gefängnis?“
    Bens Augen weiteten sich überrascht. „Woher?“
    Nora lachte. „Woher wohl? Ihr habt eine Pressekonferenz gegeben, die in Radio und Fernsehen kam.“
    „Haha, natürlich.“ Verlegen kratzte sich der braunhaarige Kommissar am Kopf. „Das hatte ich nun nicht bedacht.“
    „Stimmt das mit dem Anime-Bezug?“
    „Äh ja … schon.“
    Sie griff nach seiner Bierflasche und nahm einen Schluck. „Und du wolltest es mir verheimlichen?“
    „Wie, nein … natürlich nicht.“
    „Sicher?“
    „Ach komm, Nora. Wieso sollte ich das tun?“ Ben presste ein Grinsen raus. „Dafür gibt es ja keinen Grund.“
    Nora drehte die Bierflasche in ihrer Hand. „Du benimmst dich ziemlich auffällig.“
    „Ich dachte nur, dass es dich vielleicht beunruhigen würde, wenn Thore in so einem Fall mitarbeitet, ich meine, immerhin sind Anime ja sein Hobby und so …“
    Bens Freundin nickte.
    „Sag mal, kennst du dich eigentlich gut damit aus? Ich meine, wo du immer mit Thore gemeinsam geschaut hast?“
    „Weiß nicht, ein bisschen vielleicht.“
    „Kennst du Code:Breaker?“
    Nora nickte. „Aber ich habe nur zwei Folgen gesehen, das war nichts für mich.“
    „Mhm, schade.“
    „Hat das mit dem Fall zu tun?“
    „Ja, aber wenn du nur zwei Folgen gesehen hast, hilft es mir ohnehin nicht weiter.“
    Ein Lachen ertönte. „Ich bin eher der Typ für die seichten Anime, oder Drama. Aber genug von diesem Fall.“ Nora lehnte sich nach vorne. „Ich will mehr über deinen Kollegen erfahren. Erzählt mir ein paar spannende Geschichten, die ihr gemeinsam erlebt habt.“




    ***



    „Scheiße, ich hätte in Japan bleiben sollen.“ Thore griff nach der Flasche Wodka und schenkte sich nach. „Die Highschool abschließen und Profi werden!“
    Jussi lachte und hielt Thore sein Glas hin. „Wieso hast du es nicht getan?“
    „Wegen meinem Alten vielleicht?“ Thore goss nun auch Jussi nach. „Er hat mich nicht gelassen und meine Mutter hat auch nichts gesagt. Scheiße.“
    „Scheiße sagt man nicht.“ Jussi nippte an seinem Wodka. „Anime als Vorbild, verrückt.“
    „Das gibt sicher wieder eine Mediendiskussion. Anime sind sicherlich so gefährlich wie Computerspiele, was?“
    Thore drehte sein Glas im Kreis und sah in die finnische Dunkelheit. „Wie kann ich das nächste Verbrechen verhindern, hm? Ich sitze hier und trinke Wodka, anstatt den Kerl zu suchen.“
    „Es gibt so was wie die Nachtschicht“, erwiderte Jussi.
    „Du weißt, wie ich das meine!“ Thore nahm einen kräftigen Schluck aus seinem Glas. „Ich weiß einfach nicht, was der Typ mir sagen will, verstehst du? Die Welt ist Böse, das kann doch nicht alles sein. Wozu muss er mir das sagen, hm?“ Er stellte das Glas wieder hin. „Der erste Brief, der will mir nicht aus dem Kopf gehen.“
    „Was steht darin?“
    „Du wirst Scheitern kennenlernen.“ Thore zeige auf sich. „Ich meine, er will doch nicht nur das Böse ausrotten, was hat das mit mir zu tun?“
    „Du wirst Scheitern kennenlernen“, wiederholte Jussi.
    „Ja.“
    „Ein Ablenkungsmanöver?“
    „Was von Beiden?“
    „Na, die Anime. Vielleicht geht es nur um dich, Thore?“
    „Und dafür rottet der ein ganzes Gefängnis aus? – Na ja, fast zumindest.“
    Thore griff erneut nach der Flasche, um sich nachzugießen.
    „Meinst du nicht, dass es reicht? Du verträgst keinen Alkohol“, merkte Jussi zweifelnd an.
    „Ich hatte ja nicht besonders viel“, erwiderte Thore nur und goss sich das Glas halb voll. „Ich hatte einen Scheißtag, okay. Lass mir ein bisschen Alkohol.“
    „Du solltest überlegen, ob es jemanden gibt, dem du auf die Füße getreten bist.“
    „Du meinst abgesehen von meinem Vater, oder wie?“
    Jussi grinste schief. „Es sei denn, du glaubst, dass er sich japanische Trickfilme anschaut, um dich mit Morden zu ärgern.“
    „Wohl kaum.“ Thore kicherte. „Ich will mir das überhaupt nicht vorstellen.“ Der schwarzhaarige Kommissar nahm einen großen Schluck. „Aber gut, ja, ich nehme deine Vermutung mit in den Katalog möglicher Motive auf.“


    Als Thore nach dem nächsten Glas begann laut über seinen Vater zu fluchen, wusste Jussi, dass es mehr als genug war. Er bezahlte und zog seinen Freund mit vor die Kneipe. „Komm, lass uns nach Hause gehen.“
    „Verstehst du? Ich wollte ja nur Baseball spielen … ich hatte ein Stipendium, was interessieren da die Noten? Und trotzdem hat er gedroht mich von der Schule zu nehmen, wenn sie zu schlecht sind. Er ist ein Arsch, mehr nicht.“
    „Ja, dass hast du schon öfters erzählt.“
    Thore lachte. „Und trotzdem hat er nicht bekommen, was er wollte. Ich bin Bulle geworden und kein Staatsanwalt!“
    „Ja und deine Schwester Musikerin, ich weiß.“
    „Wie meine Mutter! Das hat er nun davon, dieser Arsch. Der kann lange darauf warten, dass ich zu seinem Gebursta …“
    Jussi drehte sich um, als Thores Stimme leiser wurde, bis sie ganz verstummte und stellte fest, dass sein Freund mit geschlossenen Augen an der Hauswand lehnte.
    Er verdrehte die Augen und lief zurück. Kurzerhand packte er Thores Hände und zog ihn auf seinen Rücken. „Trink nicht so viel, wenn du es nicht verträgst“, schimpfte er, „Idiot!“
    Zum Glück war es nicht mehr weit bis zu seiner Wohnung. Mit einem Seufzen setzte er seinen Weg fort.
    „Was ist daran falsch seine Mutter zu lieben?“, kam es undeutlich und leise von seiner Schulter.
    Jussi antwortete nichts. Es würde ohnehin in einen Streit enden und er wollte nicht wieder streiten. Er kannte Thores Mutter kaum. Sie hatte sich ja bereits ein Jahr nachdem sie Freunde wurden umgebracht. Er lachte innerlich. Freunde wurden, war vielleicht die falsche Wortwahl. Sein Vater hatte ihm damals gesagt, dass er Thores Freund werden solle. Er sei der Sohn eines alten Schulfreundes und nach der Rückkehr aus Japan ganz alleine. Er hatte Thore langweilig gefunden, war mit seinen siebzehn Jahren vielmehr an der großen Schwester interessiert gewesen. Meist hatten sie gestritten und trotzdem würde er ihn heute seinen besten Freund nennen.


    Jussi fischte den Haustürschlüssel aus seiner Tasche und steckt ihn ins Schlüsselloch. Dann drückte er die Tür offen und stiefelte die Treppenstufen hoch. In seiner Wohnung angekommen, ließ er Thore auf das Sofa sinken.
    „Tadaima“, murmelte Thore leise.
    Jussi schüttelte den Kopf. „Wir sind bei mir, Vollidiot. Hier wird nicht Japanisch geredet!“
    „Hai Hai!“
    Er machte eine Handbewegung. „Wie dem auch sei, ich sage deiner Schwester Bescheid, dass du hier auf dem Sofa schläfst. Wirklich, arbeite an deiner Trinkfestigkeit.“
    Als er Schlafgeräusche vernahm, schlich er in die Küche und wählte dann Noras Nummer. Es hatte nicht lange gedauert und Thores Schwester war rangegangen.
    „Ich bin es, Jussi.“
    „Thore ist nicht da“, erklärte sie und Jussi hörte Stimmen im Hintergrund. Sie schien Besuch zu haben.
    „Darum geht es. Ich wollte dir nur sagen, dass er bei mir ist.“ Er lachte. „Ich glaube, er wird das mit dem Alkohol nie hinbekommen.“
    „Danke, dass du angerufen hast.“
    „Ja, kein Problem.“
    Jussi wollte gerade wieder auflegen, da hörte er noch einmal Noras Stimme. „Kannst du mit ihm über Papas Geburtstag reden?“
    „Er wird nicht hingehen.“
    „Vielleicht kannst du ihn umstimmen?“
    Er seufzte. „Nora, wieso sollte ich das? Wirklich, der Kerl ist selbst schuld, er hat seinen Sohn geschlagen.“
    „Ich dachte nur, dass es ihm vielleicht helfen kann. Papa gibt sich ja auch Mühe, er macht eine Therapie, weißt du.“
    „Das hilft deinen Bruder nicht mehr wirklich, meinst du nicht?“
    Von der anderen Seite hörte er ein nervöses Lachen. „Ja, sicher. Du hast natürlich recht.“
    „Du kannst deine Familie nicht mehr retten, Nora. Sorry, aber das ist leider die Wahrheit.“
    „Ja, ich weiß … danke, dass du angerufen hast.“
    Das Gespräch wurde beendet und Jussi atmete laut aus. „Zieht mich nicht immer in eure Familienprobleme rein“, stöhnte er. Sein Blick blieb auf einer Pappmappe hängen. Er griff danach und legte sie weit oben auf den Schrank und schob sie in die Ecke, wo er sicher sein konnte, dass Thore sie nicht sehen würde.

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  • Ben rieb sich den Schlaf aus den Augen. Er konnte sich schönere Dinge vorstellen, als ausgerechnet am Sonntag ins Büro zu fahren. Nun war Semir endlich hier und er kam nicht dazu mit ihm mehr als ein paar Stunden zu verbringen, dabei hatten sie so viel nachzuholen.
    Vielleicht sollte ich doch die Stelle in Düsseldorf annehmen, dachte er bei sich, als er im fünften Stock aus dem Aufzug stieg. Dann wäre er wieder in Deutschland und könnte wieder viel mehr Zeit mit seinen alten Freunden verbringen. Doch, was war mit dem Leben, was er sich hier aufgebaut hatte? Er würde keine Fernbeziehung führen können und Nora spielte hier im Orchester. Außerdem war es nicht so, als hätte er hier keine Freunde. Er konnte behaupten, dass er inzwischen angekommen war und dennoch packte ihn weiterhin fast jeden Tag das Heimweh. Eventuell war er wohl doch noch nicht zu hundert Prozent in Finnland angekommen?
    So näher er dem Büro kam, desto deutlicher hörte er Stimmen von drinnen. Es war gerade einmal halb acht und er hatte eigentlich gedacht, dass er der Erste sein würde, doch da hatte er sich wohl getäuscht. Als er die Türklinke umgriff und Japanisch aus dem Inneren hörte, war ihm auch bewusst, wer es war.


    Fuji no takane ni …


    „Wow!“
    Ben wich aus, als etwas auf ihn zugeflogen kam, nachdem er in den Raum getreten war. Dann bückte er sich und hob die Spielkarte auf, während gleichzeitig die japanische Stimme aus dem Lautsprecher verstummte.
    Thore sah zu ihm hoch. „Du bist früh.“
    „Du auch“, gab er zurück. Er reichte Thore die Karte und lächelte. „Nur um Karuta zu spielen, fährst du früher zur Arbeit?“
    Karuta ist ein japanisches Kartenspiel. Die Grundidee des Spiels ist, so schnell wie möglich aus einer Anzahl von Karten die richtige auszuwählen und diese dann schneller als der Gegner aufzunehmen. Dabei gab es zwei verschiedene Arten von Karten: Die Lesekarten und die Greifkarten. Anhand der vorgelesenen Karten, muss der Spieler entschieden, welche dazugehörige Greifkarte er aufgeben muss.
    Thore hatte es in der Highschool neben dem Baseball gespielt. Das und die Tatsache, dass er auch in Shogi nicht besonders schlecht war, ließ Ben nicht selten darüber nachdenken, ob Thores Auffassungsgabe nicht sogar besser war als Mikaels. Beim Karuta ging es darum, sich Positionen von Karten zu merken und wie Nora im erzählt hatte, spielte man bei Turnieren fünf Matches, die über Stunden dauern konnten. Das hieß man musste die Positionen immer wieder neu auswendig lernen, um sie dann wieder aus dem Gehirn zu löschen.
    Thore legte die Karte auf seinen Haufen neben sich. „Ich habe in zwei Monaten ein Turnier und hier ist es morgens ruhig. Außerdem musste ich den Kopf frei bekommen.“
    „Ach ja?“ Ben setzte sich hinter seinen Schreibtisch, ließ den Stuhl etwas nach hinten rollen und legte die Beine dann auf die Schreibtischplatte. „Und, hat es geholfen?“
    Thore sammelte seine Spielkarten ein und packte sie dann in eine Schachtel, bevor er sich ebenfalls an den Schreibtisch setzte. „Das werden wir in den nächsten Stunden sehen“, erklärte er und griff dann nach seinem Stift und einigen Notizen.
    „Gibt es schon die Daten vom Server?“
    „Es ist Wochenende, was erwartest du?“, kam es leise zurück.
    Ben seufzte. Er hasste es, wenn Thore am morgen überhaupt nicht redselig war. Dann konnte man auch mit einer Mauer sprechen.
    „Du warst betrunken und schaffst es trotzdem als Erster ins Büro, Respekt!“ Ben lachte. „Und das Erste, was du machst, ist Karuta spielen.“
    „Ich war nicht betrunken“, kam es zurück. „Jussi übertreibt mal wieder maßlos.“
    „Ach komm, ich weiß doch, wie schnell du weg bist.“
    Thore hob den Kopf und sah ihn mit seinen brauen Augen an. „Was würdest du sagen, wenn ich wieder in meine alte Abteilung wechseln würde?“
    Bens Augen weiteten sich erstaunt. Das war das erste Mal, das er von solchen Ideen hörte. „Geht das denn überhaupt?“
    „Es war eher eine theoretische Frage“, kam es zurück.
    „Dann frage ich theoretisch, was dir hier nicht gefällt.“ Ben verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und sah an die Decke. „Wieso würdest du rein theoretisch zurück wollen?“
    „Ich weiß nicht …“
    „Dann ist deine theoretische Frage nicht mehr von Nöten, wenn es denn keinen Grund gäbe.“
    „Aus welchem Grund, musst du nun überall theoretisch davorsetzen?“
    „Weil es überhaupt keine theoretische Frage war, sondern du wirklich darüber nachdenkst.“ Ben hob die Beine vom Schreibtisch. „Und nun, lass uns Arbeiten.“
    „Bist du nun beleidigt?“
    „Wieso sollte ich das sein?“
    „Was weiß ich … du darfst darüber nachdenken zurück nach Deutschland zu gehen, ich darf nicht einmal darüber nachdenken im Präsidium zwei Stockwerke nach unten zu ziehen, oder wie?“
    „Ich denke überhaupt nicht über so was nach, Thore.“ Ben senkte demonstrativ seinen Kopf auf die Akten vor sich. „Wieso sollte ich das auch. Nora ist hier.“
    „Es gibt auch in Deutschland Orchester, du könnest sie mitnehmen.“
    Bens Kopf hob sich und er blickte Thore in die Augen. „Würde dir das nichts ausmachen?“
    „Wieso sollte es das, Himmel. Dir ist auch nach all den Monaten nicht aufgefallen, wer den anderen nicht loslassen kann, was?“ Thore grinste schief. „Das bin nicht ich, sondern meine Schwester.“
    Ben wollte etwas erwidern, doch dann wurde die Tür aufgezogen und Niilo trat mit einer Tasse Kaffee und einer Tüte Brötchen in den Büroraum. Er sah sie überrascht an. „Wie kommt es, dass ich um acht Uhr trotzdem der Letzte von uns bin?“ Niilo seufzte laut und warf die Brötchentüte auf seinen Schreibtisch. „Gibt es schon was Neues?“
    „Nope“, kam es von Thore.
    Niilo nickte und griff nach seinem Telefonhörer. „Ich werde mal versuchen, beim Serverbetreiber Druck zu machen. Wir brauchen diese Daten.“
    Während er Niilo telefonieren hörte, sah Ben wieder auf Thore, der inzwischen wieder in seine Akten vertieft war. Natürlich war ihm aufgefallen, dass seine Freundin auf ihren Bruder fixiert war, aber es gab es sicher gute Gründe für.
    Als Niilo das Gespräch beendete, schüttelte er mit dem Kopf. „Sie versuchen alles, aber es wird wohl Mittag werden.“
    Ben seufzte. „Thore, erzähl, was war noch mal wichtig an diesem Anime? Was ist das Grundsätzliche? Vielleicht müssen wir nicht so kompliziert denken und die Antwort auf das Wann und Wo liegt auf der Hand.“
    „Du hast doch einige Seiten davon gelesen.“
    „Aber nicht wirklich verstanden, war alles vollkommen aus dem Zusammenhang gerissen.“
    Der Schwarzhaarige gab sich schließlich geschlagen. „Die Geschichte beginnt damit, dass die Schülerin Sakura beobachtet, wie ihr Mitschüler Rei im Park Menschen in blaue Flammen umbringt. Als sie Antworten von ihm fordert, erfährt sie, dass dieser Teil einer geheimen Organisation der Regierung ist, genannt Eden, und ein sogenannter Code:Breaker, ein Auftragsmörder mit übernatürlichen Fähigkeiten.“
    „Das ist alles? Gibt es da nicht noch mehr?“
    „Überzeugt, dass das Töten nicht richtig ist, versucht Sakura ihn zu stoppen und in sein eisiges Herz einzudringen“, spulte Thore runter. „Oder willst du, dass ich dir nun jeden Arc der Geschichte wiedergebe? Dann sitzen wir hier noch Stunden.“
    „Irgendwas wird irgendwann in Flammen aufgehen“, murmelte Ben.
    „Herzlichen Glückwunsch, so weit waren wir doch schon Gestern. Ich habe Thore ein paar Gebäude geschickt, die in Frage kommen. Hochhäuser und so …“ Niilo lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Bisher hat keine der Streifen etwas Auffälliges gemeldet. Am Besten wäre es, wenn sich der Anime-Mörder meldet und uns eine Zeit nennt.“
    „Anime-Mörder?“ Ben zog die Augenbraue hoch. „Hast du dir etwa heute Morgen die Zeitung durchgelesen?“
    Niilo lachte. „Ich habe Dinge erfahren über den Fall, von denen wusste ich selbst noch nichts.“



    ***


    Mikael reichte Semir die Brötchentüte. „Nun bist du hier, um Ben zu sehen und musst deinen ganzen Urlaub womöglich mit mir verbringen.“
    „Schon gut, schon gut … ich kann mir schlechtere Gesellschaft vorstellen.“
    „Danke für die Blumen.“ Mikael lächelte. „Komm, lass uns in Richtung Hafen gehen. Wie lange ist es her, seit du in Helsinki warst?“
    „Lange“, antwortete Semir. „Eine halbe Ewigkeit, fürchte ich.“
    „Nun übertreibst du aber.“
    Semir lachte. „Es kommt mir auf jeden Fall so vor.“
    „Wo Ben hier wohnt, da hast du ja nun wieder mehr Gründe …“ Mikael kam nicht dazu seinen Satz zu beenden, da sein Handy klingelte. Er zog es aus der Jackentasche und lächelte den Älteren entschuldigend an, als er das Gespräch entgegennahm.
    Aus der Miene des ehemaligen Kommissars konnte Semir lesen, dass es wohl keine guten Nachrichten gab.
    Das waren die Momente, in denen er es wirklich hasste, so schlecht mit Fremdsprachen zu sein. Zu gerne hätte er gewusst, worum es ging in dem Gespräch.
    Als Mikael auflegte, holte er einige Male tief Luft. „Es tut mir leid, ich muss los“, presste er mit zittriger Stimme hervor. „Weißt du, das Jugendzentrum von dem ich dir erzählt habe, dort hat es gebrannt … oder sagen wir, es brennt noch.“
    „Ich werde dich fahren“, bot Semir an. „Du siehst nicht gerade aus, als wäre es eine gute Idee dich auf den Verkehr loslassen.“
    „Ich will dir deinen Tag nicht mit so etwas verderben.“ Mikael lächelte gezwungen. „Ich schaffe das schon – irgendwie.“
    „Irgendwie klingt nicht besonders gut.“ Semir streckte seine Hand aus. „Nun komm, gib mir deinen Autoschlüssel. Ich habe eh nichts Besseres vor, oder?“
    Mikael schwieg einige Sekunden, ehe er schließlich nachgab und den Schlüssel in die Handinnenfläche des Älteren fallen ließ. „Es tut mir wirklich leid … ich wünschte, es wäre anders gelaufen.“
    Semir legte die Hand auf die Schulter seines Gesprächspartners. „Du kannst doch nichts dafür.“

  • Semir sah hoch auf den vollkommen verbrannten Dachstuhl. Er konnte sich nur vorstellen, was in diesem Augenblick in Mikael vorgehen musste. Das Jugendzentrum war das Projekt, in das Bens Freund in den letzten Jahren all seine Freizeit und all sein Herzblut gesteckt hatte. Er wollte damit die Jugendlichen aus einem der Brennpunkte Helsinkis von der Straße geben, ihnen eine zweite Chance geben. Und nun, nun, da stand alles in Flammen. Noch dazu schien eine Person bei dem Brand ums Leben gekommen zu sein. Das hatte man ihnen mitgeteilt, als sie hergekommen waren. Bisher waren sie davon ausgegangen, dass es zumindest nur ein Sachschaden war, da das Zentrum um diese Tageszeit noch geschlossen war.
    Semir blickte nach rechts, wo Mikael lautstark mit einem Feuerwehrmann diskutierte. Er bestand darauf, dass man ihn ins Haus ließ und er bestand darauf, dass man Antti Heikkinen von der Mordkommission anrief. Sein Kopf wandte sich wieder zur Hauswand und erst jetzt bemerkte er das große Graffiti, das an die Hauswand gekritzelt war. Bisher hatte er dem keine große Aufmerksamkeit geschenkt. Was war in diesen Vierteln schon besonders an Graffiti. Doch nun, als er die Worte las, die dort standen, da gefror ihm das Blut in den Adern. See you Space Cowboy …
    „Mikael, ich glaube, du solltest Ben anrufen“, rief er laut.
    Als der Gerufene nicht antwortete, wiederholte Semir den Satz.
    Dieses Mal erhielt er eine Reaktion. Mikael kam auf ihn zu. „Was hat Ben damit zu tun?“
    „Dieser Satz dort … ee you Space Cowboy“, erklärte Semir im schlechten Englisch.
    „Was ist damit?“
    „Der hat mit diesen Gefängnismorden zu tun. Die Botschaft wurde dort hinterlassen.“
    „Diese Botschaft?“
    „Ja doch“, erwiderte Semir nun ungeduldig.
    „Du meinst, das ist das Werk von einem Serientäter?“ Mikael ließ ihn wieder alleine und ging auf die zwei uniformierten Kollegen zu. Semir konnte zwar nicht verstehen, was er sagte, doch er schien nicht gut auf die beiden Beamten zu sprechen zu sein. Seine Stimme war unheimlich laut und ungehalten geworden.
    Semir zog währenddessen sein Handy aus der Tasche und wählte Bens Handynummer. Zu seinem Glück brauchte sein ehemaliger Partner nicht sehr lange, ehe er abnahm. Nachdem Semir ihm in wenigen Worten erklärt hatte, was passiert war und das er die Botschaft an der Hauswand gesehen hatte, ließ Ben ihn wissen, dass er sofort kommen würde.
    „Ich glaub es nicht, die haben immer noch nicht die Identität des Toten geprüft!“ Mikael fuhr sich durch die Haare und Semir konnte sehen, wie seine Finger zitterten.
    „Vielleicht ist es ja niemand von den Jugendlichen“, versuchte Semir ihn zu beruhigen. „Das passt kaum zum ersten Mord.“
    Er erhielt ein sarkastisches Lachen als Antwort. „Nicht wenige von denen haben so einiges auf dem Kerbholz.“ Der ehemalige Kommissar lief auf und ab. „Denen mache ich die Hölle heiß. Es kann doch wirklich nicht so lange dauern, um nachzusehen, ob der Tote Papiere bei sich hatte.“
    „Sie waren sicher mit der Absperrung und dem Fernhalten von Schaulustigen beschäftigt“, versuchte Semir die Kollegen aus Finnland in Schutz zu nehmen.
    „Himmel! Dann sollen die das eben mich übernehmen lassen …“
    „Die bist nun einmal jetzt eine Zivilper…“
    „Wag es nicht das auszusprechen.“ Mikael atmete durch die Nase aus. „Dieser Vollidiot von Einsatzleiter bei der Feuerwehr will mir deshalb auch nichts sagen!“
    Es hatte fünfzehn Minuten gebraucht und Ben war mit seinen Kollegen eingetroffen. Nur kurz darauf stand der braunhaarige Kommissar neben ihm und sah auf das Gebäude.
    „Auge um Auge, Zahn um Zahn, Böses für Böses …“, flüsterte Ben leise. „Verbrenne zu Asche.“
    Ben schien die fragenden Gesichter von Semir und Mikael zu bemerken. „Das ist genau das, worauf die Botschaft am ersten Tatort hingewiesen hat. Ein Mord mit Feuer. Ein Verbrecher, der durch Flammen umkommt.“
    „Wir wissen nicht, ob es ein Verbrecher ist“, widersprach Mikael.
    „Es ist aber sehr wahrscheinlich“, sagte Ben bestimmt.
    „Moin!“ Niilo hob die Hand zum Gruß und nickte Richtung Gebäude. „Was gibt es bisher?“
    „Frag nicht mich, sondern die Streife“, grummelte Mikael leise.
    „Autoritätsprobleme, Alter Mann.“ Niilo grinste sie schief an. „Da bist du gerade nicht der Einzige.“
    Ben zog die Stirn in Falten. „Worauf willst du hinaus?“
    „Oi, ich meine nicht dich, keine Angst.“ Niilo nickte in Richtung des Einsatzwagens der Feuerwehr. „Scheint, als hätte auch Thores Autorität seine Grenzen.“
    Semir und Ben sahen herüber. In der Tat sah Thore alles andere als selbstsicher aus und was Ben noch weniger gefiel, war, dass Thores Hand an seinen Hals gegangen war. Eine Macke in Situationen, in denen er sich unter großem Stress befand.




    Jaakko Likpi lachte laut auf und klopfte Thore auf die Schulter. „Im Ernst, ich hätte nicht geglaubt, dich wiederzusehen. Bin fest davon ausgegangen, dass du in Japan lebst.“
    „Wie wäre es, wenn wir über den Brand reden?“, wiederholte er ungeduldig. Er hatte keine Lust über alte Zeiten zu reden, noch dazu nicht über diese alten Zeiten.
    „Wir haben in zwei Wochen ein Klassentreffen. Entschuldige, dass dich niemand kontaktiert hat. Weißt du was? Du gibst mir deine Daten und ich schicke dir alle Infos, was?“
    Thore griff in seine Jackentasche und zog eine Visitenkarte raus. „Bitte.“
    Jaakko lachte wieder. „Du gibst mir deine Visitenkarte von der Polizei? Ich dachte eher an deine Private.“
    „Darunter bin ich gut zu erreichen“, erwiderte er. „Also, was ist mit dem Brand.“
    „Ich sehe schon, du bist ein Workaholic geworden, warst auch damals schon immer nur am Arbeiten.“ Jaakko kicherte leise. „Hast dich wirklich kaum verändert. Wobei, deine Brille fehlt.“
    Thore versuchte sich auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren, während Jaakkos Lachen ihn gleichzeitig in eine ferne Vergangenheit beförderte.
    So jemand wie du, hat keine Freunde.
    Oh toll, du hast den Wissenschaftspreis gewonnen.
    Wer will dich schon im Team haben?
    „Der Brand!“
    „Ist ja gut … ist ja gut.“ Jaakko stemmte die Arme vor die Brust. „Der Dachstuhl ist hin, sieht nach Mord aus. Der Tote, den wir geborgen haben, der war an einem Stützpfeiler gefesselt. War nichts mehr zu machen …“
    „Gefesselt?“
    „Ja, mit Ketten. Ohne Bolzenschneider war da nichts zu machen.“
    Der Jaakko der Gegenwart lachte nicht mehr, aber das Lachen des Jaakko aus der Vergangenheit hallte weiterhin in seinem Schädel wieder. Thores Finger kratzen über seine Halskuhle. Wie konnte was, das solange her war, ihn nur so aus der Fassung bringen.
    Haha, hat dir deine Mama nicht gesagt, dass man aufpassen soll, wohin man läuft?
    Es war, als könnte er das Wasser der Pfütze in seinen Schuhen spüren, obwohl es schon zwanzig Jahre her war.
    „Ich würde sagen, es war ein Jugendlicher, aber viel ist von dem Gesicht nicht zu erkennen“, berichtete Jaakko weiter. „Aber da musst du den Rechtsmediziner fragen. Vielleicht hat er auch Papiere bei sich gehabt, da müssten sich die Kollegen von dir …“ Der Einsatzleiter der Feuerwehr stockte. „Sag mal, geht es dir nicht gut? Du bist blass und schwitzt.“
    „Es hat gebrannt. Auch wenn du es nicht merkst, ist es trotzdem ganz schön warm.“
    Seine Hand lag auf der Türklinke. Er merkte, wie ihm die Kehle zugeschnürt wurde. Er wollte dort nicht wieder hin. Alle hassten ihn. Niemals würde er Freunde finden. Er wollte nicht da hin, er wollte nicht …
    Er hörte die Schritte seiner Mutter. „Thore, du bist ja noch hier?“, fragte sie überrascht, griff dann nach ihren Schlüsseln und öffnete die Tür. „Nun aber schnell, ich muss auch los zum Orchester.“
    Er bekam keine Luft. Ihm war übel, alles drehte sich. Und dann war alles schwarz …
    „Ich spiele jetzt Baseball“, hörte er sich sagen. „Habe es schon in Japan gespielt, war zu den Koshien … als Catcher. Das ist das wichtigste Turnier für junge Baseballspieler, ich hatte Angebote von Proficlubs.“
    Jaakko sah ihn an, sagte lange nichts. Dann nickte er langsam. „Deshalb ist dein Händedruck so fest.“
    „Vielleicht willst du ja mal zu einem Spiel kommen?“
    Nun lachte Jaakko wieder. „Ich glaube dir auch so, dass aus dem Langweiler eine Sportskanone geworden ist. Hast sicher viele Mädels gehabt, was? Die stehen ja auf Sportler.“
    Thore wollte etwas erwidern, da spürte er eine starke Hand auf seiner Schulter. „Wann können wir ins Haus“, fragte Ben.
    „In den nächsten Stunden sicherlich nicht. Sorry ihr müsst woanders anfangen“, antwortete Jaakko.
    „Werden Sie uns anrufen, wenn das Haus freigegeben ist?“
    „Natürlich, sicher.“
    „Gut, danke.“
    Ben gab Thore einen Klapps zwischen die Schulterblätter und er setzte sich wie ein Roboter in Bewegung. Erst nachdem sie einige Meter zwischen sich und Jaakko gelegt hatten, sprach Ben ihn an. „Jemand den du kennst?“
    „Nicht besonders gut. Wir waren in der Grundschule in einer Klasse.“
    „Du hast das mit deiner Hand gemacht“, war alles, was Ben darauf antwortete.
    „Sagen wir, meine Schulzeit war nicht leicht.“ Thore ließ die Hände in seine Hosentaschen sinken. „Ich war das typische Mobbingopfer.“
    Ben lachte. „Ich dachte, du wärst der Super-Baseballspieler.“
    „Irgendwann bin ich vor der Schule zusammengeklappt, wegen dem Stress. Ich glaube, dass war der Moment, in dem meine Mutter entschieden hat das Angebot in Japan anzunehmen. Vielleicht war das auch der Augenblick, wo ich entschieden habe, dort jemand anders zu sein.“ Thore seufzte. „Verrückt, dass man solche Sachen immer noch bis ins kleinste Detail im Kopf hat. Ich frage mich, ob Jaakko sich bewusst ist, was er damals getan hat.“
    Ben nickte. „Bisher haben wir nur die Botschaft an der Hauswand gefunden“, lenkte er das Thema wieder auf den Fall. „Kein Notizbuch oder so was.“
    „Wenn dann, muss er es außerhalb des Hauses platziert haben.“
    „Ach ja?“
    „Im Haus macht es mit Feuer wenig Sinn, es sei denn er platziert es in einem von Feuer geschützten Gefäß.“
    „Ich werde dafür sorgen, dass man sich darum kümmert.“

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  • „Jo!“
    Ben drehte sich herum. Ein Mann mit kantigem Gesicht und kurzen, blonden Haaren kam auf sie zu.
    „Ey! Das hier ist ein Tatort“, begann Ben, stoppte allerdings, als Thore die Hand hob.
    „Jussi, was macht ihr hier?“, hörte er seinen Kollegen sagen.
    Jussi. Das war der Freund, von dem Thore ihm immer erzählte? Er musste zugegeben, dass er sich ihn ganz anders vorgestellt hatte.
    „Man meinte, es wäre unser Fall. Man glaubt an einen Bandenkrieg.“ Jussi sah die Hauswand hoch. „Wobei, scheint wohl doch eure Baustelle zu sein.“
    „So sieht’s aus.“ Thore atmete tief ein uns aus. „Also kannst du wenigstens du dich auf einen freien Tag freuen.“
    Jussi lachte und sah zu den Kollegen, den er mitgebracht hatte. Er schien jünger zu sein als Thore und wirkte eher fehl am Platz. „Das ist übrigens dein Nachfolger, Janne Korhonen.“
    Thore streckte dem jüngeren Beamten die Hand aus. „Thore Berg“, stellte er sich vor.
    Ben verfolgte, wie Jussi einige Schritte auf Thore zumachte, als dieser sich von Korhonen gelöst hatte. Er schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern. Was genau, dass verstand Ben allerdings nicht, zumindest reichte es aber, um ein Lächeln in Thores angespanntes Gesicht zu bringen.
    „Weiß man schon, wer der Tote ist?“, fragte Jussi danach etwas lauter.
    Thore schüttelte den Kopf. „Niilo ist da dran.“
    „Ylianto?“ Jussi grinste. „Bist du sicher, dass du ihm solche wichtigen Aufgaben übernehmen lassen solltest? Er wirkte auf mich nicht sehr kompetent, als ich das letzte Mal mit ihm zu tun hatte.“
    „Nun hör mal zu“, wollte Ben dazwischen gehen, doch abermals hob Thore die Hand.
    „Glaub mir, er ist kompetent genug für diesen Job“, sagte Thore. „Er hat sich die Stelle nicht nur durch Beziehung verdient.“
    Jussi hob die Hände. „Ist ja gut, wollte ihn nicht beleidigen. Braucht ihr Hilfe? Janne und ich können euch unterstürzen, wo wir schon einmal hier sind.“ Der Blonde sah zu Semir und Mikael rüber. „Sag mal, ist das nicht Häkkinen?“
    „Ist sein Haus – oder eher das vom Schwiegervater“, erklärte Thore. „Du kennst ihn?“
    „Na ja, kennen ist vielleicht zu viel gesagt“, grummelte Jussi. „Sagen wir, wir hatten schon die ein oder andere Begegnung.“
    „Scheint wohl nicht so gut gelaufen zu sein.“ Nun war es Thore, der lachte. „So wie du ihn ansiehst. Wie heißt es so schön: Wenn Blicke töten könnten.“
    „Ach hör auf. Der Kerl hat so eine besserwisserische Art an sich, da wird mir schlecht.“
    „Und das sagst gerade du?“ Thore sah in Richtung Gebäude. „Wenn es euch nicht stört, könntet ihr helfen die Nachbarschaft abzuklappern. Wir hoffen darauf, dass jemand was gesehen hat.“
    „Laufarbeit?“ Jussi zog eine Schnute. „Dein Ernst?“
    „Mein voller“, gab Thore zurück. „Also? Steht dein Angebot trotzdem?“
    „Sicher, sicher.“ Jussi lachte. „Komm, Janne. Der Chef hat uns einen Auftrag gegeben.“
    „Du sollst mich nicht so nennen!“
    Ben musste zugegeben, dass auch wenn ihm Jussi suspekt vorkam und wohl keiner seiner engsten Freunde werden würde, der Kerl das geschafft hatte, was ihm misslungen war. Seit Jussi am Tatort aufgekreuzt war, hatte Thore seine Lockerheit zurückerlangt.
    „Was hat er zu dir gesagt?“, fragte er, als sich die beiden Kollegen weit genug entfernt hatten.
    „Nichts besonders“, kam es wortkarg zurück.
    „Dann kannst du es mir ja sagen“, versuchte Ben, doch Thore blieb eisern und ließ nichts durchblicken.



    Sie wollten gerade ebenfalls zu den Befragungen aufbrechen, da nahm Ben Niilos Hand wahr, die sie zu sich rüber winkte.
    „Wir haben einen Namen“, erklärte er, als sie angekommen waren. „Ein Kimmo Sedin. Mikael sagt, er wäre vor zwei Monaten aus dem Jugendknast gekommen. Drogenhandel.“
    „Mhm, also wieder ein Straftäter“, schloss Ben. „Oder zumindest ehemaliger.“
    „Von dem Kerl ist nicht mehr viel übrig. Die Bestätigung über DNA oder Zahnabdruck wird auf sich warten lassen. Dauert sicher ein paar Tage“, fuhr Niilo fort. Dann sah er rüber zu Mikael. „Denkt ihr, der hält die Beine still?“
    Ben zuckte mit den Schultern. Der Mikael von vor drei Jahren würde es nicht tun. Der würde einen Alleingang machen und den Kerl suchen, der das getan hatte. Aber inzwischen war Mikael in dieser Hinsicht reifer geworden und würde sich sicherlich so einfach in Gefahr bringen.
    Ben sah zu Thore.
    „Schau mich nicht an, ich kenn ihn nicht einmal. Aber du hast ja Semir hier, stell ihn halt ab, damit er ein Auge auf Häkkinen hat.“
    Ben nickte. Das würde er mit Sicherheit auch machen. Sicher war sicher.
    „Okay, lass uns schauen, ob wir irgendwas aus den Menschen hier rausbekommen.“
    Er ging noch schnell zu Semir und Mikael, die ihm erklärten, dass sie vorerst zu Mikaels Schwiegervater fahren würde, um mit ihm die Lage zu besprechen, danach folgte Ben seinen Kollegen in Richtung eines der umliegenden Häuser.



    Am Ende waren die Befragungen ein Desaster geworden. Fast niemand von den Anwohnern hatte ihnen hilfreiche Informationen gegeben und Ben war sich sicher, dass einige darunter waren, die es durchaus hätten tun können. Jemand der ein solch großes Graffiti malte, würde doch wohl kaum unentdeckt bleiben.
    Zurück am Tatort ließ er sich enttäuscht gegen die Motorhaube des Dienstwagens fallen. „Wir haben nichts“, stöhnte er. „Was ist mit deinem Freund?“
    „Auch nichts“, antwortete Thore und setzte sich im Schneidersitz direkt auf die Motorhaube.
    „Ey, du machst noch ne Beule rein?“
    Ben drehte sich um und umgriff Thores Unterarme. „Komm runter da!“
    „Du hast auch daran gelehnt!“
    „Das ist was anders, du sitzt mitten drauf!“
    „Und? Es ist ein Gebrauchsgegenstand und ich gebrauche ihn gerade.“ Thore verschränkte demonstrativ die Arme.
    „Komm jetzt runter …“ Ben stockte, als er meinte, etwas in der Mitte der Rückbank zu sehen. „Sagt mal, es hat nicht einer von euch dieses Death Note vom ersten Tatort mitgebracht?“, fragte er mit dünner Stimme.
    „Wieso sollte ich?“, raunte Thore. „Ich schleppe das nicht mit mir herum.“
    Ben sah zu Niilo, der nur stumm den Kopf schüttelte.
    „Dann haben wir ein Problem, denn da liegt eines in unserem Dienstwagen.“
    Thore wirbelte herum und Ben spürte unter seinen Fingerkuppen, wie ein Zittern durch die Arme seines Kollegen ging. „Das kann nicht sein“, murmelte Thore leise. „Der Wagen ist abgeschlossen.“
    Ben ließ Thore nun los, ging neben den Wagen und zog die Seitentür auf. Er griff nach dem Heft und nahm es heraus, um es wenig später auf die Motorhaube zu legen, von der Thore inzwischen ebenfalls heruntergerutscht war.
    Hastig blätterte er in dem Heft, ehe er eine Seite fand, die beschrieben war.
    „If there's anything you want, anything at all... come to me. I'll be your guardian angel.”, las er vor und sah Thore erwartungsvoll an. „Kannst du damit was anfangen?”
    Er konnte sehen, dass Thore damit was anfangen konnte. Der Jüngere war blass geworden und schluckte schwer.
    „Ja, sicher …“
    „Und?“
    „Das wird dir nicht gefallen.“
    „Sag schon!“
    „Ich würde sagen unser nächstes Opfer wird ein Arm und ein Bein verlieren. Oder aber er wird bei lebendigen Leib zerstückelt.“
    „Ich glaube, mir wird schlecht“, hörte Ben Niilo flüstern.
    Ben senkte den Blick und las den Satz ein weiteres Mal durch. Dann noch einmal.
    „Wie heißt die Serie?“, fragte er und holte bereits sein Handy hervor. Er wollte, so schnell es ging mehr darüber erfahren.
    Texhnolyze.“
    Er begann an zu tippen, stoppte dann aber. „Wie genau scheibt man das.“
    Thore streckte seine Hand aus. „Gib mir dein Smartphone, ich tippe es dir ein.“
    Ben tat wie befohlen und wenig später startete Thore die Suche und reichte ihm das Gerät zurück. Dann sah er sich um. „Viel wichtiger ist doch die Frage, wer bis zu unserem Dienstwagen kam, ohne aufzufallen.“
    „So fast jeder“, mutmaßte Niilo. „Immerhin waren ziemlich viele Leute hier. Einer mehr oder weniger fällt da sicher nicht auf.“
    „Das reicht mir nicht.“ Ben reichte Niilo sein Handy und ging darauf hin zu einem der uniformierten Beamten, den er bereits von einigen Fällen kannte. In wenigen Worten erklärte er ihm, was vorgefallen war und fragte, ob ihm in der Nähe des Autos jemand aufgefallen war.
    „Der Kollege von der Sondereinheit“, kam es kurz darauf zurück. „Sonst niemand. Aber ich war auch nicht die ganze Zeit hier.“
    Ben bedankte sich und als er zurückkam, nahm er sein Handy von Niilo wieder entgegen.
    „Sag mal, diesem Jussi, vertraust du ihm eigentlich?“, fragte er in Richtung Thore.
    „Wie bitte?“
    „Ob du ihm vertraust.“
    „Worauf willst du hinaus?“
    „Er war der Einzige, den Olsson in der Nähe des Wagens gesehen hat.“
    Thore lachte. Erst leise, dann immer lauter. „Das ist ein schlechter Scherz, oder, Ben?“
    „Es ist mein voller ernst“, gab er zurück. „Also vertraust du ihm?“
    „Natürlich. Ich würde ihm mein Leben anvertrauen!“ Thore drückte ihm das Notizbuch in die Hand. „Vollidiot!“, schimpfte er und Ben sah zu, wie sein Kollege von dannen stampfte.
    „Vielleicht hättest du es vorsichtiger ausdrücken können?“, setzte Niilo vorsichtig an. „Immerhin sind sie ja Freunde.“
    „Ich habe nur gefragt, ob er ihm vertraut. Das war alles“, grummelte Ben. Er legte das Heft beiseite und widmete sich den Informationen aus seinem Handy. Was würde sie als Nächstes erwarten? Was galt es zu verhindern?

  • „Jussi warte!“
    Thore hechtete hinter seinem Freund her, der gerade auf dem Weg zu seinem Dienstwagen war, den er einige hundert Meter vom Tatort geparkt hatte.
    Jussi drehte sich um und lächelte schief. „Was gibt es? Ich habe dir doch eine SMS hinterlassen, dass wir uns im Präsidium treffen.“
    „Hast du?“
    Thore zog sein Handy hervor und nickte. Ja, Jussi hatte ihm tatsächlich eine SMS geschrieben. „Ich … ja sicher. Darum geht es nicht. Hast du jemand bei unserem Dienstwagen gesehen?“
    Jussis Stirn kräuselte sich. „Wieso?“
    „Als wir zurückkamen, da war da dieses Death Note.“
    „Die Notizbücher von denen du erzählt hast? Aus diesem Anime?“
    „Ja.“
    Nun schien Jussi zu verstehen. Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich habe niemand dort gesehen. Wie kommst du überhaupt auf mich?“
    „Ein uniformierter Kollege meinte, dass er dich gesehen hat und da dachte ich, dass du vielleicht …“
    „Wir waren die ganze Zeit zusammen“, unterbrach ihn Jussis Kollege.
    „Ich sage ja auch nicht, dass Jussi damit etwas zu tun hat. Ich dachte nur, dass er vielleicht was bemerkt hat, wenn er in der Nähe des Autos war.“
    Zum ersten Mal seit sie am Tatort waren, sah Thore in die Augen von Janne Korhonen. Er war vielleicht etwas jünger als er selbst, doch da war noch etwas. Etwas, das er nicht greifen konnte. Er hatte das Gefühl, als würde er ihn irgendwoher kennen.
    „Sorry, habe ich nicht.“
    Jussis Stimme holte ihn aus seinen Gedanken.
    Thore nickte leicht. „Ja sicher … trotzdem danke, dass ihr geholfen habt.“
    Jussis Mundwinkel zogen sich nach oben. „Ist doch Ehrensache.“
    Wenig später spürte Thore die kräftige Hand seines ehemaligen Kollegen auf seiner Schulter, sein Gesicht war nicht neben seinem. „Nach der Besprechung, nimm dir ein wenig Zeit, wir müssen reden. Es ist dringend“, flüsterte Jussi ihm zu. Dann löste sich Jussi wieder von ihm und lachte. „Wie dem auch sei, Meeting um Zwölf? Bei euch auf der Etage?“
    Thore versuchte sich einen Reim aus dem Verhalten seines Freundes zu machen, kam aber einfach nicht darauf, was er so dringendes von ihm wollen könnte und was diese Geheimniskrämerei sollte. Doch ehe er die Sache ansprechen konnte, hatte Jussi seinen Kollegen einen Klaps auf den Rücken gegeben und ihn mit einigen flapsigen Worten in Richtung Auto gelotst.
    „Viel gesehen haben unsere Zeugen übrigens nicht“, war alles, was er noch hörte, ehe die beiden Kollegen in dem Wagen verschwanden und davon fuhren.
    Es ist dringend. Diese drei Worte wollten Thore auf dem Rückweg zum Tatort einfach nicht aus dem Kopf gehen. Was wollte Jussi nur mit ihm bereden?
    „Ach verflucht!“ Er raufte sich durch die Haare. Musste Jussi denn immer alles komplizierter machen, als es eigentlich war? Wieso konnte er nicht einfach hier und jetzt sagen, was er von ihm wollte? Er war ein Mann klarer Worte, so was ging ihm gehörig gegen den Strich.
    Als er wieder an ihrem Dienstwagen angekommen waren, saß Niilo bereits drin und hatte die Lehne des Beifahrersitzes weit nach hinten gestellt. Ben seinerseits stand an die Motorhaube gelehnt und nickte ihm leicht zu, als er näher kam.
    „Ich weiß, ich habe überreagiert“, sagte Thore, als er näherkam. „Aber Jussi hat damit wirklich nichts zu tun.“
    „Wenn du ihm das nicht zutraust, dann glaube ich dir“, antwortete Ben und lächelte. „Wie ist es? Fahren wir ins Präsidium und schauen wie wir den Kerl bekommen?“
    „Keine schlechte Idee“, erwiderte Thore und zog dann die Hintertür des Wagens auf, um sich hineinzusetzen.



    **

    Semir beobachtete Mikael argwöhnisch. Nachdem er mit seinem Schwiegervater gesprochen hatte, waren sie einem mehrstöckigen Haus etwas außerhalb von Helsinki gefahren. Semir hatte das ungute Gefühl, als würde Mikael selbst ermitteln wollen. Mit seinem Schwiegervater hatte er auf Finnisch geredet und so hatte Semir nicht mitbekommen, worum sich das Gespräch gedreht hatte. Die Tatsache, dass Mikael ihm aber sagte, dass er sich noch was besorgen musste und dabei Hilfe benötigte, sorgte aber dafür, dass er beunruhigt war.
    „Was genau suchen wir hier?“, fragte er, als sie im zweiten Stock angekommen waren und gerade die Treppe zum dritten Stock hinaufsteigen wollten.
    „Ich brauche die Hilfe von einer Kollegin.“
    „Einer Kollegin?“
    „Meiner Nachfolge bei der Mordkommission“, kam es knapp zurück.
    „Und sie kann dir helfen, weil?“
    Mikael sah über die Schulter und lächelte nur. „Vielleicht sollte ich das lieber nicht sagen.“
    „Es ist also illegal.“
    „Illegal ist so ein fürchterliches Wort.“
    „Es ist aber doch so“, erwiderte Semir.
    Sie waren inzwischen im dritten Stock angekommen und Mikael machte vor der dritten Tür an der rechten Seite Halt und drückte den Klingelknopf auf dem der Name Buhari stand. Wenig später vernahm Semir aus der Wohnung eine weibliche Stimme, ehe einige Schlösser verriegelt wurden und sich die Tür öffnete. Er sah in das Gesicht einer dunkelhäutigen, jungen Frau mit lockigem schwarzen Haaren und braunen Augen.
    Sie schien ihn genauso kritisch zu mustern. Ihr Blick scannte ihn von oben bis unten. Dann sagte sie auf Finnisch etwas zu Mikael, der ihr ebenfalls auf Finnisch eine Antwort gab, bei der Semir nur seinen eigenen Namen ausmachen konnte. Er schien ihn also vorzustellen.
    „Ein Freund von Heikkinen, also“, sagte sie nun auf Englisch und hielt Semir ihre Hand hin. „Candice Buhari, ich bin Mikaels Nachfolgerin sozusagen.“
    Er nahm die Hand entgegen und stellte sich ebenfalls vor, wenn mit seinem holprigen Englisch auch mehr schlecht als recht. Candice ließ sie in die Wohnung und Semir beobachtete sie dabei, wie sie den Laptop hervorkramte und sich an den Küchentisch setzte.
    „Bedient euch ruhig, du weißt ja, wo du alles findest, Mikael“, sagte sie noch, ehe sie sich vollkommen auf das Gerät zu konzentrieren schien.
    „Was genau macht sie jetzt?“, wollte wissen, nachdem einige Minuten vergangen waren.
    „Ich sagte ja, dass solltest du besser nicht wissen“, antwortete ihm Mikael nur und holte dann drei Gläser aus dem Schrank über der Spüle und füllte sie mit Wasser. Eines davon stellte er Candice hin, das andere Semir, ehe er selbst aus seinem eigenen Glas einen großen Schluck nahm.
    „Verschafft sie dir gerade Zugang auf die Akten?“, feuerte Semir die nächste Frage und konnte sehen, dass er richtig lag. Für einen winzigen Augenblick veränderten sich Mikaels Gesichtszüge.
    „Du könntest auch einfach Ben fragen, ob er sie dir gibt, oder nicht?“
    „Würde er nie tun“, wiegelte Mikael ab. „An seinem Beschützerinstinkt mir gegenüber hat sich nichts geändert. Als würde ich alleine ermitteln wollen, ich bin nicht lebensmüde.“
    „Was tust du dann gerade?“, stellte Semir die Gegenfrage. „Sieht mir ganz danach aus.“
    Mikael grinste. „Du bist doch da, oder nicht?“
    „Weil du mich mitschleifst.“
    „Candice ist auch da.“
    Die angesprochene Kollegin sah hoch, als ihr Name fiel. „Worum geht es?“, fragte sie auf Englisch.
    „Ich bilde gerade ein Ermittlerteam. Du bist dabei“, antwortete Mikael und lachte leise, ehe er sich in das Sofa fallen ließ. „Wie weit bist du?“
    Candice zwinkerte. „Dauert nicht mehr lange, ich brauchte mich nicht einmal reinhacken, Niilo hat seit Jahren seit Passwort nicht geändert.“
    „Ich dachte, es ist Pflicht, es alle paar Monate zu tun?“
    Die Kollegin kicherte. „Das tut er, er ändert aber nur die Zahl am Ende seines Wortes. Es ist nicht schwer herauszufinden, welche gerade dran ist.“
    Wenige Minuten später hörte man den Drucker arbeiten und es verstrichen ein paar weitere Minuten, ehe sich Candice mit einem Stapel Blätter zu ihnen setzte.
    „Ben hat mir gestern übrigens von dem Fall erzählt“, berichtete Semir ihnen. „Ihr hättet euch das Ganze also sparen können.“
    „Ja? Ich denke nicht, Ben hat dir nur seine Sicht auf dem Fall erzählt. Vielleicht gibt es da noch andere.“
    „Du willst wohl unbedingt mit dem Feuer spielen, was?“ Semir nickte in Richtung Candice. „Und sie ziehst du da gleich mit rein.“
    „Sie ist clever. Wir brauchen jemanden, der clever ist.“
    Semir zog die Augenbrauen zusammen. „Wie soll ich das nun verstehen?“
    „Das sie schlauer ist, als du und ich. Nicht weniger und auch nicht mehr.“ Mikael sah zu Candice. „Wie lange brauchst du zum lesen?“
    „Fünfundvierzig Minuten.“
    „Gut, dann werden wir dann über die Details reden. Achte auf irgendwas, was vielleicht auf den ersten Blick nicht offensichtlich ist.“
    Candice grinste. „Wie du meinst, Boss.“

  • „Gibt es einen Grund, weshalb wir von einem Serienmörder ausgehen?“ Candice hob den Kopf und sah sie fragend an.
    „Weil er nach einem Muster bestimmte Menschengruppen tötet, vielleicht?“, erwiderte Mikael.
    „Was ist das Muster?“
    Mikael legte die Stirn in Falten. „Hör mal und da habe ich deine Intelligenz gerade vor einem ausländischen Kollegen gelobt.“
    „Sag schon“, kam es ungeduldig zurück.
    „Na dieser Anime-Kram. Er will die Welt verbessern, tötet, um …“
    „Ich denke, dass es was anders ist“, fuhr Candice dazwischen. „Es könnte Ablenkung sein.“
    „Er tötet so viele Menschen für eine Ablenkung?“, warf Semir ein. „Das ist mir doch zu weit hergeholt.“
    „Wie kommst du darauf?“, hakte Mikael nach. „Aus der Akte spricht alles dafür.“
    „Du wirst Scheitern kennenlernen. Das ist die erste Nachricht des Täters und die ging an KHK Berg, oder nicht?“
    „Es ist gegen Berg gerichtet?“ Mikael kratzte sich am Kopf. „Aber wozu dann die ganzen Toten?“
    Candice lehnte sich zurück. „Hast du schon mal mit Berg über Anime geredet?“ Sie lachte. „Ich habe den Fehler auf der letzten Weihnachtsfeier gemacht … Niilo hatte mich mitgeschleppt … ich hatte das Thema nur angeschnitten und er begann ohne Punkt und Komma zu reden.“ Ihr Lachen wurde lauter. „Ich meine, gerade Berg, der sonst eher still ist und nur ab und an mal eines seiner zweischneidigen Kommentare bringt.“
    „Er will ihn da treffen, was er gerne macht“, stellte Semir fest. „So viele Tote nur deshalb?“
    „Und, um die Polizei abzulenken. Alles konzentriert sich nur auf die Hinweise, die er an den Tatorten gibt.“ Mikael legte die Akte auf den Tisch. „Zumindest sieht es laut der Akte so aus. Diese erste Notiz ist vollkommen in Vergessenheit geraten.“
    „Man hat im persönlichen Umfeld gesucht“, sprach Candice an.
    „Auf den Anime-Plattformen“, widersprach Mikael. „Aber wer sagt uns, dass wir den Täter dort finden?“
    „Er scheint zu wissen, welches Thores Lieblingsanime ist. Er spricht ihn ja daraus an, Space Cowboy.“ Candice griff nach ihrem Wasserglas und nahm einen Schluck. „Woher, wenn nicht darüber?“
    „Er hat es als Tattoo“, klinkte sich Semir ein. „Jemand könnte es gesehen und nachgeforscht haben.“
    Mikael nickte. „Das ist eine Möglichkeit. Nun müssen wir nur noch rausfinden, wer.“ Der Schwarzhaarige stand auf. „Ich kann nicht glauben, dass wirklich niemand etwas gesehen haben will von dem Anschlag. Vielleicht sollte ich noch einmal selbst rumfragen, die Kollegen sollten sich ja inzwischen verzogen haben.“
    „Mikael, ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, wenn du da so herumschleichst. Ich bin mir sicher, es wäre eine bessere Lösung, wenn du ganz einfach mit Ben reden würdest.“
    „Ich habe größere Chancen, was aus den Menschen dort herauszubekommen“, widersprach Mikael und drückte bereits die Klinke der Wohnungstür hinunter und öffnete sie.
    Zu Semirs Erstaunen ging er jedoch nicht hinaus, sondern blieb wie angewurzelt stehen.
    „Wo soll’s denn hingehen?“, kam es von einer hellen Stimme und wenig später trat Niilo in den Raum. „Mir hat so ein Vögelchen gezwitschert, dass du vor hast Mist zu bauen.“
    Mikael sah in Richtung Sofa und Semir begann mit dem Kopf zu schütteln. „Ich war das sicher nicht, ich hätte Antti angerufen.“
    Mikael sah zu Candice, die mit den Schultern zuckte.
    Niilo verstaute die Hände in seinen Taschen und warf sich kurz darauf auf das Sofa. „Ben meinte auf dem Rückweg zum Präsidium davon, dass wir ein Auge auf dich haben sollten.“
    „Meinte er das?“, grummelte Mikael.
    „Ja.“
    „Und wie kommt ihr auf Candice?“
    Niilo grinste schief. „Sie ist deine beste Alternative an die Akten zu kommen, wo Veikko im Urlaub ist. Sorry, aber er hat mir aufgetragen den Babysitter zu spielen.“ Der blonde Kommissar lehne sich zurück und pustete sich eine Strähne aus den Haaren. „Glaub mir, ich habe auch Besseres zu tun.“
    „Dann solltest du das machen“, warf Mikael ein. „Wir hatten gar nichts vor. Wer sagt dir, dass ich nicht zum Supermarkt nebenan wollte.“
    „Sicher das, Herr Häkkinen“, kam es sarkastisch zurück. Niilo richtete sich auf und blickte in Mikaels Augen. „Sag mal, Jussi Holmström, wie gut kennst du den eigentlich?“
    „Der Typ, der am Tatort war … von der Sondereinheit?“, hakte Mikael nach, der sich nun ebenfalls wieder gesetzt hatte. Er schien eingesehen zu haben, dass sein Fluchtversuch nicht gelingen würde.
    Niilo nickte.
    „Nicht besonders gut. Hatte eigentlich nie mit dem zu tun.“
    „Gerüchte?“
    „Du denkst also, ich höre Gerüchten zu?“
    „Dem ein oder anderen kleinen Plausch, den wirst doch auch du nicht überhören, oder?“ Niilo sah zu Candice. „Wobei, da bist ja eher du die richtige Adresse.“
    „Du hast mich beim Eishockey versetzt, wieso sollte ich dir helfen?“, kam sofort die Gegenfrage.
    Niilo kratzte sich am Hinterkopf. „Okay, Deal. Ich lade dich zu zwei Eishockey-Spielen ein. Wie wäre es?“
    „Er soll kein besonders angenehmer Zeitgenosse sein. Einige meinen, dass er nach dem Tod einer Kollegin wie ausgewechselt war, von Rache geredet hatte.“
    „Rache, gegen die Täter?“
    „Gegen wen sonst?“, kam es zurück.
    „Du hältst ihn für tatverdächtig?“, begriff Mikael langsam. „Aus welchem Grund?“
    „Es hat sich etwas ergeben.“
    „Was hat sich ergeben?“, fragte Semir.
    „Na ja, am Tatort. Als wir zurückkamen, da war da ein neuer Hinweis im Auto und laut einem Kollegen war nur Jussi in der Nähe des Wagens. Es ist ja immerhin eine Möglichkeit, oder nicht?“
    „Sicher, natürlich“, stimmte Mikael zu. „Aber was hätte er gegen Berg?“
    „Was hat Thore damit zu tun, also ich meine abgesehen davon, dass der Täter ja offensichtlich irgendwie mit ihm spielen will.“
    „Wir denken, dass es vielleicht eine Art Ablenkungsmanöver sein könnte.“
    „Ablenkung, wofür?“, fragte Niilo.
    „Das gilt es herauszufinden. Was hat der Täter wirklich vor? Wieso dieses ganze Schauspiel?“



    *


    Ben begann schon kurz nach der Ankunft im Präsidium zu bedauern, dass er Niilo auf Mikael angesetzt hatte. Nun schien ihnen die Arbeit über den Kopf zu wachsen und sie wussten überhaupt nicht, wo sie anfangen sollten.
    Inzwischen hatten sie Serverdaten von der Animeseite bekommen, auf der Thore seine Sendungen eintrug und der jüngere Kollege studierte intensiv, welche Namen ihm davon in irgendeiner Weise bekannt vorkamen. Ben seinerseits versuchte die wenigen Informationen von ihrem neusten Tatort zu sortieren.
    „War nicht mal im Gespräch die Straße wo es passiert es genauer zu überwachen?“, schimpfte er, als er feststellte, dass sie wohl wieder nichts Sinnvolles zu haben schienen. Er bekam keine Antwort von Thore, hatte aber auch keine erwartet. Wenn der Kollege konzentriert arbeitete, dann hörte er meistens überhaupt nicht zu, was im Büro gesprochen wurde.
    Ben zog den Bericht der Rechtsmedizin hervor, der aber ebenfalls noch kurz ausfiel und in dem eigentlich nur das niedergeschrieben war, was sie ohnehin schon wussten. Der Junge war gefesselt und verbrannt worden. Ein schrecklicher Tod, dachte Ben. Er hatte keine Chance gehabt zu entkommen, war elendig erstickt und hatte sicherlich lange Zeit gelitten.
    „Im Krankenhaus.“
    Ben sah hoch, als Thore etwas Flüsterte.
    „Wie bitte?“
    Thore hob seinen Kopf und sah ihn an. „Wie?“
    „Du hast was von Krankenhaus gemurmelt“, sagte Ben.
    „Ich hatte nur überlegt, woher ich Janne Korhonen kenne. Es wollte mir einfach nicht in den Sinn kommen, woher ich sein Gesicht kannte.“
    „Und woher kennst du es?“
    „Es ist schon eine Ewigkeit her und vielleicht irre ich mich auch.“
    „Sag schon. Es kann ja so unwichtig nicht sein, wenn du dir die ganze Zeit den Kopf darüber …“ Ben kam nicht zum Abschluss, da das Klingeln von Thores Handy sie unterbrach. Thore ging ran und der deutsche Kommissar konnte sofort erkennen, dass es wichtig war. „Aber ich dachte, du bist bei Mikael … ja sicher, ja … natürlich, ich komme gleich. Sicher, es ist ein guter Hinweis, trotzdem hättest du es vorher mit uns absprechen können. Ja klar.“
    Als Thore auflegte, sah ihn Ben gespannt an. „Wo treibt der sich rum, er sollte doch auf Mikael aufpassen?“
    „Er sagt, dass er die Fabrikhalle gefunden hat, den Ort, wo der Täter als nächstes zuschlägt. Er meint, da sei Blut. Ich soll kommen, damit wir uns das ansehen.“
    Ben nickte, stockte dann aber in seiner Bewegung. „Und wo ist Mikael mit Semir?“
    Er erhielt ein Schulterzucken als Antwort. „Keine Ahnung. Davon hat er nichts gesagt. Vielleicht ist er alleine gefahren und Häkkinen und Semir haben begriffen, dass der Fall nichts für sie ist.“
    Ben zog die Augen zusammen. Nein, dass konnte er sich nicht vorstellen. Weder Mikael noch Semir würden Niilo alleine irgendwo hinfahren lassen, wenn dort der Täter lauern könnte. „Ich werde mitfahren“, entschloss er kurzerhand. „Vorsicht ist besser als Nachsicht.“
    Ben wartete nicht lange auf eine Antwort und griff bereits nach seiner Jacke. Er wusste ohnehin, wie sie ausfallen würde, denn anders als Mikael, war er eigentlich kein Einzelgänger und legte großen Wert auf Teamwork.
    „Da hast du vermutlich recht“, kam sogleich die Bestätigung und Thore griff ebenfalls nach seiner Jacke und anschließend den Autoschlüsseln.

  • Ben sah auf das verlassene und heruntergekommene Fabrikgebäude vor ihnen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Irgendwas stimmte doch hier nicht. Als er sich umsah konnte er weder Niilo noch irgendein Auto erkennen. Er war wohl kaum bis hierher zu Fuß gekommen.
    Thore schien das Gleiche zu denken. Er hatte die Pistole aus seinem Halfter gezogen und Ben hatte es ihm kurz darauf gleich getan.
    „Das stinkt bis zum Himmel“, flüsterte er Thore zu, als sie in Richtung des Eingangs gingen.
    „Aber es war ganz sicher Niilos Stimme“, erwiderte Thore.
    „Meinst du, die haben ihn überrumpelt?“
    „Ich weiß nicht, Ben.“
    Sie kamen dem Eingang immer näher und als sie durch das Tor traten, stockte Ben der Atem. Vor ihnen wurde an der Betonwand ein Film abgespielt. Davor lag ein roter Teppich. Er drehte sich hektisch um die eigene Achse und dann ganz plötzlich bewegte sich das Tor hinter ihnen nach unten. Ben wollte losrennen, doch als er merkte, dass Thore sich keinen Millimeter rührte, verharrte er. Außerdem, was war mit Niilo? Er konnte ihr irgendwo sein. Da konnte er ihn ja nicht einfach so zurücklassen.
    Ben drehte sich wieder zu Thore und stand mit der Waffe im Anschlag dicht hinter ihm, während er die Umgebung in Blick behielt.
    Als das Filmchen vor beendet war, trat eine Person hinter der Wand hervor. Bens Augen weiteten sich. Das konnte nicht sein! All diese Morde wurden von einem Polizisten begangen?
    „Nehmt die Waffen runter, sonst wird jemand Wichtiges in eurem Leben sterben müssen.“
    „Was meinst du damit?“, hakte Ben nach. „Wo hast du Niilo?“
    Sein Gegenüber lächelte. „Es geht doch nicht um Niilo … der sitzt da, wo du ihn hinterlassen hast. Ich rede von deiner kleinen, süßen Freundin.“
    Als Ben begriff, kannte er kein Halten mehr. Doch eine Hand um seinen Oberarm hielt ihn zurück und kurz darauf hörte er etwas zu Boden fallen. Er sah über die Schulter. Thore schüttelte den Kopf. „Lass die Waffe fallen, Ben.“
    „Ja, lass die Waffe fallen, Ben“, kam es hämisch von seinem Gegner. „Es ist besser für deine Nora.“
    „Wenn du ihr nur ein Haar krümmst, dann werde ich dich fertig machen, ist das klar! Ich werde dich suchen und ich werde dich finden und dann wirst du dir wünschen, dass du nie geboren sein würdest.“
    „Ziemlich große Worte“, kam es gelassen zurück. „Kick sie rüber, Thore.“
    Thore kam dem Befehl sofort nach und kickte die Waffen mit den Fuß in Richtung der Betonmauer, wo sie aufgehoben wurden.
    „Du bist nicht überrascht mich hier zu sehen. Es war also wirklich so, ihr wart mir auf der Spur …“
    „Nein, mir fiel nur wieder ein, woher ich deinen Namen kannte, Janne.“
    „Es war also so unwichtig, dass du es vergessen hast?!“ Janne Korhonen lachte. „Was will man von einem Mörder auch anders erwarten.“
    Thore machte einen Schritt nach vorne. „Weiß du, Janne. Genau das ist, was ich nie begriffen habe. Du bist damals an meinem Bett gestanden, als ich nach der OP aufgewacht bin und hast mich als Mörder beschimpft. Ich hätte deine Mutter umgebracht.“
    „Vielleicht fällt es dir ja wieder ein, wenn ihr ein bisschen hier bleibt.“ Ein schiefes Lächeln breitete sich auf Jannes Gesicht aus. „Ich habe nur für dich etwas vorbereitet.“ Er nickte in Richtung Ben. „Mit ihm hatte ich eigentlich nicht gerechnet, aber damit kann ich leben. Ein kleines Restrisiko sozusagen, was?“
    „Vielleicht hören wir einfach auf mit dem Spielchen“, erwiderte Ben.
    „Bist du dir sicher, dass du das Leben deiner Freundin riskieren willst?“ Janne legte ein Smartphone auf den Boden und schleuderte es in ihre Richtung. Auf dem Video sah er das Haus von Nora. „Meine Schwester steht vor eurem Haus mit einer geladenen Waffe und sie wird sie einsetzen, wenn ihr nicht das macht, was ich von euch verlange oder auf die Idee kommt den Helden zu spielen. Wenn ich mich nicht jede halbe Stunde bei ihr melde, dann wird sie Nora umbringen und danach deinen Vater, Thore.“
    „Was soll ich tun, Janne?“
    „Ein Spiel mit mir spielen. Der Einsatz: Deine Familie.“



    *


    Niilos Augen weiteten sich erstaunt, als sich sein Anrufer als Jussi Holmström vorstellte.
    „Was gibt’s?“
    „Thore geht nicht an sein Handy“, kam es aufgeregt, „und bei der Besprechung ist auch niemand von euch aufgetaucht. „Wo treibt ihr euch herum?“
    „Eigentlich sollten die Beiden …“
    „Das heißt, du bist nicht bei ihnen?“, ließ Jussi ihn nicht aussprechen. „Sie haben sich in den letzten Minuten nicht bei dir gemeldet?“
    „Nein.“
    „Wo bist du?“
    „Was ist eigentlich los?“ Niilo wurde langsam misstrauisch. Ihm gefiel ganz und gar nicht, wie Jussi eine unangenehme Aufregung verbreitete.
    „Sag mir einfach, wo du bist und ich erkläre dann alles.“
    Niilo holte tief Luft und nannte die Adresse seiner Freundin.
    „Gut, ich komme vorbei.“
    „Wie auch immer …“ Seine Antwort kam nicht mehr durch, Jussi hatte aufgelegt und ihn mit einem erstaunten Gesicht zurückgelassen. Er steckte sein Handy nicht ein, sondern wählte die Nummer von Thore und danach von Ben. Jussi hatte recht, niemand ging ran. Die Leitung blieb stumm.
    „Ist alles in Ordnung?“, fragte Semir. „War das Ben? Hat er Neuigkeiten?“
    „Nein, im Gegenteil. Es war Jussi Holmström, er kann sie beide nicht erreichen.“

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  • „Die Arme um die Säule!“
    Ben zögerte. Er wusste, dass dann alles vorbei war und er sich nicht mehr wehren könnte. Janne hatte sie in einen Keller geführt, dann in einen kleinen Raum mit dicken Stahlwänden. Was immer der Kerl vorhatte, Ben wollte nicht einfach dabei zu sehen und doch tat er am Ende, was Janne von ihm verlange. In seinem Hinterkopf meldeten sich Zweifel. Wenn er jetzt was unternahm, dann könnte Nora sterben. Das würde er nicht ertragen. Er hatte genug Menschen sterben sehen, die ihm etwas bedeutet hatten. Mit Nora wollte er glücklich werden, er wollte sie bis in alle Ewigkeit festhalten und niemals mehr loswerden. Bei ihr hatte er das Gefühl, dass er sich nicht verstellen musste. Er liebte sie, würde für sie alles aufgeben.
    „Geht doch“, grummelte Janne und band ihm mit Kabelbinder die Handgelenke zusammen.
    Dann wandte sich Janne Thore zu, der in der Mitte des Raums stand und auf einen Käfig blickte, an dessen Ende eine Maschine stand.
    „Muss schwer gewesen sein, so was zu beschaffen“, raunte Thore.
    „Für meine Rache ist mir nichts zu teuer.“ Janne lachte und machte einige Schritte auf Thore zu. „Geh in den Käfig.“
    „Und dann?“
    „Das werde ich dir dann sagen!“
    Janne drückte den Lauf seiner Waffe in Thores Rücken. „Mach schon!“
    „Denkst du nicht, dass wir vielleicht über diese ganze Sache reden …“
    „Reden? Worüber? Das du Schuld am Tod meiner Mutter bist?“ Janne packte Thores Schulter und schupste ihn nach vorne. „Mach schon, rein mit dir!“
    Thore folgte widerwillig, trat in den Käfig und wenig später hörte Ben die Tür zufallen und ein schloss einrasten. Janne stand vor dem Käfig und sah mit einem Grinsen hinein. „Nimm den Baseballschläger.“
    Dieses Mal folgte Thore ohne Widerworte und griff nach dem Schläger, der an dem Zaun lehnte.
    „Ich nehme an, du hast nicht verlernt, wie eine Battingmaschine funktioniert?“
    „Es ist nicht besonders lange her, als ich das letzte Mal vor einer stand.“
    Janne kicherte. „Dann bin ich gespannt!“ Er umgriff die Maschen des Zaunes mit den Fingern und drückte das Gesicht daran. „Jussi hat immer erzählt, was für ein toller Baseballer du bist, jetzt kannst du es beweisen! Was glaubst du, wie lange kannst du durchhalten, hmm?“
    „Ich soll nur auf Bälle schlagen?“
    Thore schien überrascht und Ben konnte es ihm nicht verübeln. Das klang wirklich nach allem anderem als einer blutrünstigen Rache.
    „Einfach nur?“ Janne lachte. „Nein, nicht einfach nur. Für jeden verfehlten Ball wird es hier in eurem hübschen Raum ein bisschen kälter. Wie klingt das? Also was glaubst du, wie lange wirst du durchhalten? Du wirst nicht pausenlos schlagen können, oder?“
    Thore sah in Bens Augen. „Ich habe es noch nie ausprobiert.“ Ein Lächeln umspielte seine Lippen. „Aber wir werden sehen, was?“
    Janne entfernte sich wieder von dem Gitter und drehte sich herum. „Ach, und Thore. Solltest du mehr als dreißig Bälle in den nächsten drei Stunden verfehlen, dann wird dein Vater durch eine Bombe sterben.“
    „Er bedeutet mir nichts“, kam es so kalt zurück, dass Ben seinem Kollegen fast geglaubt hätte, könnte er nicht Thores Mimik sehen. Trotz allem würde Thore seinen Vater nicht sterben lassen. Egal, was zwischen ihnen gewesen war.
    „Tut er das nicht?“ Janne zuckte mit den Schultern. „Dann werde ich ihn nach zwanzig verfehlten Bällen töten. Also streng dich an. Willst du die Geschwindigkeit der Maschine wissen?“
    „Ich nehme an, es ist schneller als bei den Pitchern in der Spaßliga, in der ich sonst so schlage.“
    „Nun stellst du dich aber unter den Scheffel, ich weiß, dass du eure kleine Pitchingmaschine aufgemöbelt hast, damit sie schneller wirft.“
    „Wie schnell wirft deine?“
    „140 km/h. Ich denke, dass reicht für den Anfang, oder?“
    Thore hielt seinen Schläger ein Stück nach oben. „Was mache ich, wenn mein Schläger bricht?“
    Janne drehte sich wieder in Richtung Käfig. „Du hast einen Ersatz. Danach: Pech gehabt.“
    „Gibt es eine Zeitbegrenzung?“
    „Abgesehen von den drei Stunden, in denen du deinen Vater rettest?“ Janne grinste schief. „Nein.“
    „Ist ein bisschen unfair, oder? Wir ist es, wenn du nach vier Stunden Ben gehen lässt?“
    Ben schüttelte den Kopf. So einem Handel würde er niemals zustimmen. Er würde Thore hier nicht alleine lassen.
    „Wenn du nur dreißig in fünf Stunden verfehlst, reden wir noch einmal darüber. Und jetzt solltest du bereit machen, denn ich werde jetzt gehen und mein Maschinchen einschalten und dann? Mhm, ich weiß noch nicht, vielleicht fahre ich zurück ins Präsidium, ich habe noch einen Bericht zu schreiben?“
    Mit einem Lachen ging Janne aus dem Raum und wenig später hörte Ben, wie der Schlüssel im Schloss umgedreht wurde.
    Thore umfasste den Schläger und brachte sich in Position.
    „Dir ist klar, dass er dich solange schlagen lassen wird, bist du nicht mehr kannst und dann werden wir elendig hier erfrieren?“, fragte er und rüttelte gleichzeitig an dem Kabelbinder. Vielleicht könnte er ihn an einer scharfen Ecke des Pfeilers aufreiben?
    „Das ist mir bewusst“, kam es zurück. „Wir werden wohl darauf hoffen müssen, dass sie uns vorher finden.“
    „Denkst du er hält sein Versprechen?“
    Der erste Ball flog auf Thore zu, den er treffsicher zurückschlug.
    „Bezüglich meines Vaters?“
    „Ja und Nora … sie weiß nicht einmal, welche Gefahr vor ihrer Wohnungstür lauert.“
    Thore schlug den nächsten Ball mit Leichtigkeit weg.
    „Willst du meine ehrliche Meinung?“
    „Wenn’s möglich ist.“
    „Ich habe Angst, dass er sie ermorden lässt. Wenn er Rache will, dann auch an meinem Vater.“
    Der nächste Ball kam aus der Maschine geschossen.
    „Was ist das genau diese Krankenhausgeschichte?“
    Ben lächelte. Er hatte eine raue Stelle gefunden, an der der Beton etwas aufgeplatzt war. Perfekt für sein Vorhaben.
    Doch gerade als er beginnen wollte, ertönte eine mechanische Stimme aus dem Lautsprecher. „Das würde ich lassen! Ich werde sonst Nora töten müssen.“
    Ben schnaufte. Das hätte er sich ja denken können, dass der Kerl irgendwo saß und sie beobachtete.
    „Damals, als meine Mutter fast angefahren wurde …“
    „Nora hat mir davon erzählt, du bist auf die Straße und hast sie weggeschupst, bist aber dann selbst angefahren worden.“
    „Ja“, bestätigte Thore. „Als ich später im Krankenhaus wach wurde, dann war da dieser Junge, der sagte, dass ich seine Mutter getötet hatte. Ich dachte, es wäre wegen der Medikamente, doch dem war wohl nicht so.“
    „Wie kommt er darauf?“, hakte Ben nach. „Ich meine, dass du am Tod seiner Mutter schuld bist?“
    „Ich bin mir nicht sicher, aber ich habe damals ein Gespräch zwischen meinem Vater und einem anderen Mann gehört. Der beste Chirurg des Hauses wurde wohl zu meiner OP beordert, obwohl er eigentlich die der Frau übernehmen sollte.“
    „Aber da kannst du doch nichts für.“
    Thore hämmerte einen weiteren Ball weg. „Das sieht er wohl anders“, antwortete er.
    „Wie lange wirst du durchhalten?“
    „Ich hoffe lange genug, damit sie uns finden oder wir einen Plan haben.“

  • Jussi Holmström saß auf dem Sofa gegenüber von Semir und sah mit ernster Miene in die Runde. Seine Augen fielen auf die ausgedruckten Akten.
    „Ich nehme an, die habt ihr nicht von Thore“, sagte er nach einer Weile.
    „Ist das von Bedeutung?“, gab Mikael zurück.
    Jussi schwieg für eine Weile, sah einen nach den anderen an und schien abzuwägen, wem er vertrauen könnte und wem nicht. „Thore oder Jäger haben sich nicht gemeldet?“
    „Nein, ich kann sie auch nicht erreichen“, antwortete Niilo. „Deshalb wäre ich dankbar, wenn du einfach dein Wissen mit uns teilt. Sind sie in Gefahr?“
    „Vermutlich.“ Jussi fuhr sich durch seine Haare, senkte den Kopf zum Boden. „Ich dachte, ich hätte Janne im Blick, er würde mir nicht entkommen, ehe ich eine Bestätigung für meine Vermutung hätte.“
    „Dein Kollege, Janne Korhonen?“, hakte Mikael nach.
    „Ja.“
    „Welche Vermutung?“
    „Und hier dachte ich, du wärst immer für deinen Scharfsinn gelobt worden, Häkkinen“, grummelte Jussi. „Dass er der Mörder ist. Dass er derjenige ist, der Thore etwas antun will.“
    „Wie kommst du darauf?“, fragte Niilo und lehnte sich vor. „Und wieso kommst du erst jetzt damit um die Ecke?“
    Jussi zog eine Akte aus einer Tasche und warf sie auf den Tisch. „Das ist eine Akte, die ich von Kasper Kramus Vater habe.“ Er sah zu Mikael. „Nur für den Fall, dass ihr glaubt, ich würde Fakten manipulieren.“
    „Oh, du scheinst auch über Scharfsinn zu verfügen, Jussi“, erwiderte Mikael mit einem leichten Grinsen.
    „Ich merke, wenn mir andere Leute nicht vertrauen.“
    „Was steht in dieser Akte?“, fuhr Semir dazwischen, ehe die Meinungsverschiedenenheit ausufern konnte.
    „Es ist eine Klage gegen die Klinik, in der Thore nach einem Unfall vor einigen Jahren behandelt wurde.“
    „Was für ein Unfall genau?“
    „Die Kurzfassung:Seine Mutter lief bei Rot über die Straße, ein Auto kam, Thore sprang dazwischen, wurde schwer verletzt.“ Jussi lehnte sich zurück. „Ole Korhonen hat die Klinik verklagt, weil der Oberarzt der Chirurgie damals nicht seine Frau operiert hat, sondern Thore. Die Frau starb bei der Operation.“
    „Janne Korhonens Vater, nehme ich an“, stellte Semir fest.
    „Ja.“
    „Aber was kann Thore dafür.“
    Jussi schlug die Akte auf und zog einen Post-it heraus. „Bei den Opfern im Gefängnis war ein Olavi Lehtolainen darunter. Er hatte damals die Frau operiert. Wurde vor zwei Jahren zu einer Haftstrafe von drei Jahren verurteilt.“
    „Was ist mit Kimmo Sedin?“, fragte Semir nach. „Er ist eindeutig zu jung, um damit was zu tun zu haben.“
    „Sein Vater ist ein anerkannter Chirurg“, antwortete Mikael leise. „Sedin hat seinen Sohn geliebt, kam aber einfach nicht mehr an ihn heran. Oder wusste, nicht wie.“
    „Er war derjenige, der Thore operiert hat“, bestätigte Jussi. „Sedin ist aktuell im Ausland, eine kurzfristige Reise. Ich kann nicht sagen, ob Janne eigentlich den Vater treffen wollte oder immer schon Kimmo Sedin umbringen wollte, um damit dem Mann den gleichen Schmerz zuzufügen.“
    „Und jetzt Thore.“ Niilo sprang auf und tigerte im Wohnzimmer auf und ab. „Ich nehme an, du hast keine Ahnung, wo sich dein Kollege gerade rumtreibt?“
    „Nein, sonst wäre ich nicht hier.“ Jussi sah zu Candice. „Ich habe gehört, du bist nicht unbegabt, was Computer-Sachen angeht.“
    „Was du nicht alles gehört hast.“ Die junge Kommissarin lächelte verstohlen.
    „Kannst du die Handys von Thore oder Jäger orten? Wenn das nicht geht, das von Janne?“ Jussi zog sein Smartphone aus der Tasche und öffnete die Kontakte. „Das hier ist die Nummer.“
    Candice nickte. „Ich werde mein Bestes geben.“
    „Was ist mit Thores Vater und der Schwester?“, fragte Semir. „Nach allem, was du erzählt hast, sind sie auch in Gefahr, oder nicht?“
    Jussi nickte. „Ich habe zwei Beamte zu Nora geschickt und zwei zu seinem Vater.“


    *


    Ben sah zu, wie Thore einen Ball nach dem anderen wegschlug. Erst drei hatte er verfehlt, aber es waren auch erst 45 Minuten vergangen. Er war sich sicher, dass Thore irgendwann müde werden würde und dann die Fehler kommen würden.
    „Es ist sicher schon aufgefallen, dass wir fehlen“, sagte er.
    „Jussi wollte mit mir reden“, gab Thore zurück. „Vielleicht ja über Janne.“
    „Hätte er es mal getan, bevor wir hierhergefahren sind.“ Ben versuchte eine bequemere Haltung an der Säule zu finden, ohne Erfolg. „Hätte uns eine Menge Ärger erspart.“
    Der nächste Ball schlug gegen den Holzschläger. „Wenn das hier vorbei ist, wirst du zurück nach Deutschland gehen?“
    „Ich sagte doch, ich habe abgelehnt. Es war nur eine Überlegung, nichts weiter.“
    „Du vermisst aber doch, Deutschland.“
    „Sicher, aber das heißt nicht, dass ich unbedingt zurück muss. Du vermisst auch Japan, oder nicht? Und trotzdem bist du weiterhin in Finnland.“
    „Weil ich hier einen Job habe.“
    „Was ist mit Baseball?“
    Thore lachte. „Ist das ein schlechter Scherz? Kein Profiteam würde mich nehmen, glaub mir Ben, so realitätsverbunden bin ich dann schon.“
    „Was ist mit den anderen Sachen? Mit diesem Schach, da kann man sicher auch von Leben, oder?“
    „Man könnte meinen, du willst mich loswerden?“, keuchte Thore zurück.
    „Könnte ich auch von dir behaupten“, erwiderte Ben.
    „Wir sollten erst einmal versuchen hier rauszukommen.“ Thore schlug den nächsten Ball. „Wer weiß, vielleicht müssen wir uns über unsere Zukunft keine Sorgen mehr machen.“
    „Hör auf, so was zu sagen!“ Ben wurde lauter. „Wir werden hier raus kommen und zwar lebend.“
    Thore lachte. „Du hättest vielleicht nicht mitfahren sollen. Wenn du stirbst, dann geht das auf meine Kappe.“
    „Red keinen Unsinn, ich bin mitgekommen, weil ich es wollte.“
    „Ich hätte wissen müssen, dass mit Janne was faul ist. Jussi hat sich immer zu über den Kerl lustig gemacht. Gesagt, so was wäre ihm noch nie unterkommen.“
    Ben Alarmglocken schlugen an. Was zur Hölle hatte Thore jetzt vor? Es war alles andere, als eine clevere Idee sich über seinen Entführer lustig zu machen.
    „Oi, Thore“, flüsterte er. „Das ist keine gute Idee.“
    „Kein Wunder, dass er mich wieder zurück haben wollte. Er hat sogar überlegt zur Sonderkommission zu wechseln.“
    Thore schlug den nächsten Ball zurück. „Nur um von Janne wegzukommen.“
    Sein jüngere Kollege sah über die Schulter und nickte in Richtung des Lautsprechers in der Ecke. Ben hatte schon kurz zuvor verstanden, worauf er hinauswollte. Er hatte ihn provoziert, um abzuchecken, ob er überhaupt noch da war und dem schien nicht so zu sein.
    Eilig begann Ben damit die Kabelbinder an die Kante zu legen und aufzureiben. Das war vielleicht die einzige Chance, die sie hatten.

  • Endlich!
    Ben lächelte triumphierend, als er den Kabelbinder endlich so weit bearbeitet hatte, dass er ihn durchreißen konnte.
    Schnell stürmte er zu dem Käfig, in dem sich Thore befand.
    „Du solltest ohne mich gehen“, kam es aus dem Inneren.
    „Aus welchem Grund sollte ich das tun?“
    „Wir wissen nicht, was passiert, wenn ich das Limit an Bällen verfehle.“
    „Wie will er die zählen, hm? Er ist weit und breit nicht zu sehen.“ Ben drückte die Klinke herunter und öffnete die Tür, die sich nur vom Inneren des Käfigs nicht öffnen ließ. Immerhin hatte Janne nicht daran gedacht, dass Thore vielleicht nicht alleine kommen würde.
    Thore ließ den Baseballschläger sinken und drehte sich zu ihm herum. Das war genau der Moment, in dem die Lautsprecher knackten und ein Lied ertönte.


    London Bridge is broken down,
    Broken down, broken down.
    London Bridge is broken down,
    My fair lady.


    Build it up with wood and clay,
    Wood and clay, wood and clay,
    Build it up with wood and clay,
    My fair lady.1


    Ben konnte es in Thores Augen sehen, dass das Lied nichts Gutes verhieß.
    „Was bedeutet das Lied?“
    „Nichts Gutes", kam es leise zurück. "Nichts Gutes."
    "Es hat einen Anime-Bezug?"
    "Ja."
    "Zu welchem Anime?"
    "Ich weiß nicht ... es gibt so viele. Terror in Tokio, Guilty Crown, Black Butler und sicher einige mehr."
    "Und welches meint der Kerl?"
    „Ben, da ist ein Countdown“, kam es leise von Thore. Der Jüngere umgriff den Baseballschläger fester und zuckte zusammen, als ein Ball nicht unweit von seinem Kopf gegen den Zaun schlug.
    „Ein Countdown?“
    Ben hastete zu Thore und blickte auf einen kleinen Monitor neben der Tür, der langsam von Sechzig hinunterzählte. Er sah sich um. „Eine Bombe?“
    „Ich denke schon“, murmelte Thore. „Ich weiß nur nicht, ob hier oder woanders.“
    „Woanders?“
    „Nun tu nicht so dumm!“ Thore drückte den Baseballschläger gegen seine Brust. „Du hättest einfach diese Scheißtür zulassen müssen, aber nein! Du musst sie unüberlegt aufreißen. Er hat von einer verfluchten Bombe geredet … bei … bei …“ Der Schläger sank herunter. „Meinem Vater.“
    „Thore, ich …“
    „Verfluchte Scheiße!“ Mit voller Wucht holte Thore aus und der Schläger schlug mit solcher Kraft gegen das Gitter, dass er zersplitterte. „Wir werden niemals rechtszeitig da sein! Er wird sterben und und …“ Der Rest des Schlägers fiel aus der Hand des schwarzhaarigen Polizisten. „Es ist alles meine Schuld. Ich hätte einfach weiterschlagen müssen, ich hätte wissen müssen, dass das nicht alles sein kann.“ Thore lachte. „Auf ein paar Bälle schlagen, natürlich hat er darauf gewettet, dass ich einen Weg herausfinde.“
    „Thore, ich denke, wir sollten jetzt wirklich …“
    „Was? Du wirst es niemals in einer Minute schaffen meinen Vater zu retten, oder?“
    Ben spürte sein Herz in der Brust hämmern. Natürlich würden sie das nicht, dessen war er sich bewusst. Er hoffte, dass da draußen irgendwer Jannes Spiel durchschaut hatte, wusste, dass er Rache nahm. Vielleicht waren Nora und Thores Vater in Sicherheit? So klein die Chance war, er hofft es.
    „Thore, wir sollten jetzt versuchen, freizukommen.“
    Thores Blick ging zu dem zweiten Baseballschläger. „Ich werde hierbleiben und dem Kerl zeigen, wie stark mein Schlag wirklich ist.“
    Ben machte einen Schritt nach vorne und nahm Thores Kopf zwischen seine Hände. „Sieh mich an, du Idiot! Noch wissen wir nicht, ob dein Vater tot ist und verflucht, du bist Polizist. Wag es nicht an so was wie Rache zu denken! Sollte dein Vater wirklich ermordet worden sein, gilt es jetzt Nora zu retten.“
    „Time ist up, Space Cowboy. Boom!“
    Die Stimme von Janne durchbrach ihr Gespräch und Ben war sich im ersten Moment nicht sicher, ob der Kerl zurück war oder es sich um eine Aufzeichnung handelte, die am Ende des Countdowns programmiert wurde.
    Doch, da nichts weiter folgte, schien es sich wohl um eine Aufnahme zu handelt.
    Aus Thores Gesicht verschwand alle Farbe und Ben wusste nicht, was sich da gerade in den Augen seines Freundes abspielte. Trauer, Wut, Verzweiflung? Oder alles zusammen?
    „Hör zu, wir wissen nicht ob das wahr ist oder eine leere Drohung, ja? Nichts hat sich geändert.“
    „Du denkst wirklich von einem Mann, der so viele Menschen nur für Rache getötet hat, kommt eine leere Drohung?“
    Ben schluckte. Es war schwer vorstellbar, doch er wollte sich an diesen Strohhalm klammern. „Lass uns einen Weg raus finden, ja? Wir werden herausfinden, ob es wahr ist.“


    *


    Semir konnte es in Jussis Gesicht sehen, dass das Telefonat keine guten Nachrichten brachte. Das Gesicht des Kommissars hatte binnen weniger Sekunden an Farbe verloren und Jussi schluckte schwer.
    Er konnte nicht ausmachen, worum sich das Gespräch drehte, doch als von Niilo ein leises Fluchen ertönte, war ihm endgültig klar, dass die Sache gehörig aus den Fugen geriet.
    Als Jussi auflegte, schloss er für einige Sekunden die Augen und holte tief Luft.
    „Was ist mit dem Telfonat, worum ging es?“, fragte Semir in gebrochenen Englisch. Es ging doch wohl nicht um Ben? War er vielleicht schon …
    „Die Polizisten haben Nora Berg schwer verletzt vorgefunden.“ Es war nicht Jussi der antwortete, sondern Mikael.
    „Was heißt das genau?“
    „Jussi, was haben die Kollegen gesagt?“, leitete Mikael die Frage weiter.
    „Sie wurde angeschossen, ich …“ Jussi fuhr sich durch die Haare. „Ich hätte das alles früher mit Thore bereden sollen, ich hätte Janne einsperren sollen, auch wenn ich keine handfesten Beweise hatte, ich hätte …“
    „Hätte, hätte, hätte!“ Mikael war nach vorne geprescht, hatte Jussi an seinem Hemd gepackt und zu sich rangezogen. „Dann hätte Janne früher zugeschlagen. Er war auf alles vorbereitet.“
    „Du solltest mich loslassen, Häkkinen.“
    „Sollte ich das?“
    Jussi griff nach der Hand seines Gegenübers. „Ja, solltest du.“
    „Bist du professionell genug, die Sache zu leiten?“ Mikael ließ Jussi los.
    „Das fragt ausgerechnet jemand wie du?“
    „Jungs, können wir das bitte für später aufheben?“, ging Semir dazwischen. „Es geht jetzt um weitaus wichtigere Dinge, als eure Streitigkeiten.“
    „Ich habe lediglich versucht, ihm klar zu machen, dass er es nicht hätte verhindern können. Jetzt gilt es sich darauf zu konzentrieren, Ben und Thore zu finden.“ Mikael sah zu Candice. „Wie weit bist du?“
    „Es dauert. Irgendwas stimmt nicht. Die Handys sind weiterhin in Bewegung.“
    „Du meinst, er versucht uns auf die falsche Fährte zu locken?“
    „Könnte sein, ja. Oder aber die Beiden sind doch nicht entführt und haben ihre Telefonate nur nicht beantwortet.“
    „Das schließe ich aus“, kam es trocken von Mikael zurück. „Versuche herauszufinden, ob es einen Ort gab, wo beide Mobiltelefone für einen längeren Zeitpunkt eingeloggt waren.“
    „Wird gemacht, Boss.“
    Mikael nickte und blickte zu Jussi. „Willst du ins Krankenhaus fahren?“
    „Und jemand die Ermittlungen überlassen, der nicht einmal mehr Bulle ist?“
    „Hast du deine Nerven den beisammen? Außerdem sind zwei weitere Polizisten hier im Raum.“
    „Du meinst Niilo?“ Jussi grinste schief. „Bei allem Respekt, dann wäre Thores Schicksal besiegelt.“
    „Du solltest nicht persönlich werden, Jussi“, zischte Mikael. „Es geht hier um das Leben meines Besten Freundes und das würde ich lieber in Niilos Hände legen als in deine. Zumal du verflucht noch einmal zitterst, seit du das Telefonat entgegengenommen hast.“ Mikael zog sein Handy aus der Tasche. „Ich werde einem Kollegen sagen, dass er dich ins Krankenhaus bringen soll, so bist du nicht …“
    Mikael kam nicht dazu einen Anruf zu machen. Jussi war aufgestanden und hatte nach dessen Arm gegriffen. „Warte, Häkkinen. Ich weiß, ich bin nicht gerade teamfähig und ja, ich würde gerne bei Nora sein, aber da kann ich nicht helfen. Ich bin kein verfluchter Arzt, ich bin Bulle.“
    Mikael nickte. „Dann sind wir ja einer Meinung.“
    Jussi zog die Stirn in Falten. „Sind wir das?“
    Niilo stöhnte. „Das nennt sich Psychologie, Jussi. Solltest dich nicht auf Häkkinen einlassen, der provoziert solange, bis er das hört, was er von dir will. Ein Geständnis, dass du dich zusammenreißen musst und uns helfen. Du solltest versuchen Nora für die nächsten Stunden aus deinem Schädel zu streichen, auch wenn es …“
    Sie wurden von dem Klingeln von Jussis Handy unterbrochen und hatte Semir geglaubt, dass Jussi nicht noch blasser werden konnte, wurde er nun eines Besseren belehrt.
    „Das Appartement von Thores Vater … es ist explodiert …“



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    1 Es handelt sich um einen Kinderreim aus England.

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  • Niilo sprach nur wenige Worte mit dem Einsatzleiter der Feuerwehr. Man hatte eine männliche Leiche gefunden und zusammen mit der Tatsache, dass man Thores Vater nicht erreichte, konnte er sich denken, wer der Tote war.
    Sein Blick ging das Gebäude hoch, wo inzwischen nur noch rauch und schwarze Fassade davon zeugte, was sich hier zugetragen hatte.
    Er drehte sich weg und fuhr sich mit den Fingern über das Nasenbein. „Wieso sollte ich herfahren?“
    Wenig später landete eine Hand auf seiner Brust. „Was fühlst du gerade?“, fragte Mikael.
    „Eine Hand auf meiner Brust?“ Niilo hob den Kopf und blickte seinem Mentor in die Augen. Ihm war klar, dass es nicht das Thema war, worauf Mikael hinauswollte.
    „Du weißt, wie ich es meinte.“
    „Was soll ich den fühlen? Ich kenne den Mann nicht, er ist mir egal.“ Niilo lief weiter zum Auto und griff nach dem Telefon, um das weitere Vorgehen mit dem Chef zu besprechen. Als er wieder auflegte, lehnte Mikael neben der Fahrertür am Auto.
    „Nichts?“
    „Nichts“, bestätigte er.
    „Er ist Bergs Vater.“
    „Aber nicht meiner“, gab er zurück.
    Mikael seufzte laut. „Was ist mit Ben und Berg. Du hast sicherlich mitbekommen, dass sie vielleicht die Abteilung wechseln.“
    „Was hat das mit mir zu tun?“
    „Ist dir das egal?“
    „Gibt es nicht gerade wichtigeres? Wenn wir sie nicht bald finden, dann werden sie keine Abteilung mehr wechseln, weil sie dann tot sind.“
    „Sie sind dir also nicht egal.“
    Niilo stöhnte laut auf. „Wie wäre es, wenn du diese verfluchten Spielchen einfach mal lassen kannst? Mir ist klar, dass bei mir im Oberstübchen was nicht normal läuft.“ Seine Hand landete auf seiner Brust. „Ja, ich sollte vielleicht etwas fühlen, bei dem Gedanken daran, dass das der Vater von meinem Kollegen ist. Ja, ich sollte wütend sein, dass sie mich zurücklassen. Bin ich aber nicht. Da, Mikael, ist einfach nur leere.“ Er zog die Autotür auf. „Ist es nicht besser als am Mitgefühl für die Opfer zu Grunde zu gehen? Ehrlich, ich weiß nicht, wo dein Problem liegt. Du bist ein Wrack, weil du mit allem und jedem Mitgefühl hast, jeden beschützen willst.“
    Mikael öffnete den Mund und wollte etwas erwidern, doch Niilo ließ ihn nicht zu Wort kommen: „Steig ein, verfluchte! Du verschenkst Zeit, in der wir Ben und Thore finden könnten. Denn das fühle ich, Mr. Neumalklug. Ich will nicht, dass meine Freunde sterben.“
    „Du bist wütend“, stellte Mikael fest, als er sich auf den Beifahrersitz setzte.
    „Sei doch zufrieden, da hast du deine fehlenden Gefühle.“
    „Candice hat sich noch nicht gemeldet. Wir haben noch keine Ahnung, wo sie sind.“
    „Wir wissen nicht mal, ob sie noch leben“, grummelte Niilo und ließ den Motor an. „Er hat Thores Vater getötet, seine Schwester niedergeschossen, wieso sollten dann Thore und Ben nicht auch schon tot sein?“
    „Darüber sollten wir nicht nachdenken.“
    „Es ist eine Option. Wir müssen das rational betrachten.“
    „Sie leben noch“, nuschelte Mikael und sah hinaus. „Sie müssen einfach noch leben.“
    Sie waren nicht lange gefahren, da durchbrach das Klingeln von Mikaels Handy die Stille. Es hatte nur wenige Sekunden gebraucht, da war er rangegangen.
    „Ein altes Fabrikgebäude … hm, ja, gut … ja, wir machen uns direkt auf den Weg. Bis dann, Candice.“
    Niilo sah seinen Beifahrer gespannt an. „Neuigkeiten?“
    „Sie glaubt, dass sie für längere Zeit in der nähe eines alten Fabrikgebäudes mit den Handy eingeloggt waren. Wir werden uns das ansehen, die anderen sind schon auf dem Weg. Ich sende dir die Daten auf das Navi.“





    Ben spürte sein Herz gegen die Brust schlagen. Er hatte das Gefühl als würde er schon Stunden vor dem Türschloss hocken, um zu versuchen es zu öffnen.
    „Verdammt“, schimpfte er, als er einmal mehr mit dem Draht abrutschte, den er auf der Erde gefunden hatte. Das Thore neben ihm mit dem Baseballschläger rumfuchtelte, machte es ihm nicht gerade leichter. Er konnte die Nervosität seines Freundes ja verstehen, aber gerade jetzt ging es darum, die Ruhe zu bewahren.
    „Ich denke, dass die Fenster die beste Option sind“, kam es ungeduldig von Thore. „Du sitzt schon Minuten an der Tür.“
    „Und wie willst du darankommen?“
    Die Fenster waren viel zu hoch angebracht, als das sie ohne Probleme daraus flüchten konnten, auch gab es keinerlei Kisten oder etwas anderes, dem sie sich bedienen könnten.
    „Räuberleiter“, schlug Thore vor.
    „Wird nie klappen. Selbst dann wirst du nicht genügend halt bekommen, um es mit dem Schläger einzuschlagen.“
    „Dann nehme ich eben den Arm, ganz einfach.“
    „Ich würde es vorziehen, wenn du dir nicht deinen Arm zerschneidest.“ Ben wackelte mit dem Draht hin und her, ohne dass sich etwas tat. Er wünschte, dass er mit Semir und Mikael eingesperrt war. Bei den Beiden war er sich sicher, dass sie das Schloss schneller aufbekommen würden.
    „Wir könnten neben der Tür auf unsere Chance warten.“ Thore hielt ihm den Schläger vor die Augen. „Wenn er durch die Tür tritt, dann werde ich ihm eine rüberbraten.“
    Ben sah skeptisch zur Seite. „Du glaubst doch wohl nicht, dass es klappt.“
    „Ich kann sehr hart schlagen.“ Thore beugte sich hinunter und fasste in seinen Schuh. „Außerdem habe ich noch was anderes dabei.“
    „Er wird sich kaum so leicht überrum …“ Ben hielt inne, als er ein Geräusch an der Tür hörte. Nun war Thores Option wohl ihre einzige. Er richtete sich langsam auf und hielt sich den Finger vor die Lippen. Thore schien sofort zu verstehen, richtete sich schnell wieder auf und presste sich an die Wand, während Ben sich hinter der Tür platzierte. Wenig später hörte er, wie der Schlüssel ins Schloss gesteckt und umgedreht wurde. Unmittelbar darauf öffnete sich die Tür.
    Ben sah, wie Janne hineintrat, doch ehe er selbst etwas unternehmen konnte, war Thore aus seiner Ecke gesprungen und der Baseballschläger sauste auf den Mann zu, der sie festhielt. Fast im gleichen Augenblick ertönte ein Schuss. Blut strömte aus Thores Schulter, er ließ für einen winzigen Moment den Schläger locker und Janne zog ihn am Pullover zu sich heran und drückte den Lauf der Waffe gegen Thores Stirn.
    Jannes blauen Augen blickten auf Ben. „Du solltest jetzt nicht unüberlegtes machen, sonst werde ich Thore erschießen müssen.“
    Mit einer geübten Bewegung, schlug Janne Thore den Schläger aus der Hand, der mit einem Krachen auf den Boden landete.
    „Du wirst mich doch ohnehin erschießen“, zischte Thore und ehe sich Ben versah, holte sein Freund aus und schlug den Ellenbogen in die Magengrube von Janne.
    Abermals war ein Schuss zu hören, dann sackte Thore vor ihm zu Boden. Die Hand des Jüngeren ging an seine Seite und Blut sickerte durch die Finger.
    Janne lächelte, drückte den Lauf der Waffe gegen Thores Hinterkopf und sah wieder zu Ben. „Was denkst du, wird er lebend hier rauskommen? Wie viel bist du bereit zu riskieren?“
    „Du solltest uns gehen lassen. Das alles hier, das bringt doch nichts. Thore kann nichts dafür, dass deine Mutter gestorben ist.“
    „Er kann nichts dafür! Es ist alles seine Schuld!“
    „Thore war schwer verletzt, die Ärzte haben nur das gemacht, was in diesem Moment …“
    „Haben Sie das?!“ Janne ließ ihn nicht aussprechen. „Oder haben Sie das gemacht, was Ihnen einen besseren Status einbrachte?“
    „Halts Maul!“ Thores scharfe Stimme hallte an den Betonwänden wieder. „Wenn du mich erschießen willst, dann mach es. Ich bin hier! Ich bin bereit!“
    „Thore …“, setzte Ben an.
    „Nein, Ben. Er hat schon recht, ich bin am Tod seiner Mutter schuld. Wäre ich damals nicht gewesen, dann würde sie noch leben.“ Mit wackeligen Beinen erhob sich der schwarzhaarige Kommissar und stellte sich vor Janne. „Also los, erschieß mich. Lass es uns zu Ende bringen.“
    Janne zog den rechten Mundwinkel hoch. „Weißt du welche Anime-Figur, du am meisten verkörperst?“
    „Mhm?“
    „Du und Jussi, eure beschissene Freundschaft. Wie heißt dieses nervtötende Ninja-Anime noch. So ein Mainstream-Ding, welches du schon seit der Kindheit schaust.“
    „Worauf willst du hinaus.“
    „Ich hasse Anime“, zischte Janne. „Alles daran. Und doch habe ich alle beschissenen Serien geschaut, die du geschaut hast. Einmal, zweimal, dreimal … solange, bis ich jedes Detail daraus kannte. Du und Jussi ihr seit wie die beiden Hauptfiguren aus dem Ninja-Ding. Selbst als er am Abgrund stand, alle gegen ihn waren, er suspendiert war, hast du zu ihm gehalten. Widerlich!“
    „Wer davon bin ich?“
    „Ist das nicht klar. Naruto.“1
    „Ist das so?“ Thore machte einen Schritt auf Janne zu. „Ich dachte immer, mein Charakter würde mehr zu Sasuke passen. Jussis und meiner, unserer beider.“
    „Wenn du noch einen Schritt machst, knall ich dich ab.“
    „No matter what darkness lies ahead, I will pursue that path.“
    Thore machte noch einen Schritt auf Janne zu.
    „Keinen Schritt näher!“
    „Wieso hast du meinen Vater getötet?“
    „Weil er meine Mutter getötet hat!“
    „Auge um Auge, Zahn um Zahn …“
    Thores Hand griff in seine Hosentasche und wenig später zog er ein Messer hervor. „Was man nicht alles in seinen Schuhen findet“, zischte er. „Ich bin hier, bringen wir es zu Ende. Wer von uns die Fabrik lebend verlässt, hat gewonnen.“
    Bens Augen weiteten sich und er hechtete nach vorne, doch er kam zu spät. Thore war nach vorne gesprungen, erwischte Janne am Arm, ehe dieser abermals abdrückte und die nächste Patrone in Thores Körper eindrang. Bens Gedanken rasten, er musste irgendwas tun. Er musste verhindern, dass Thore starb! Und er musste verhindern, dass Thore eine Dummheit beging. Sie mussten rational denken, ihn gemeinsam überwältigen. Rache war nicht der Weg, egal, ob Thores Vater noch lebte oder nicht. Aber was sollte er tun? Er brauchte eine Waffe, eine Waffe …
    Der Baseballschläger!
    Wo hatte Thore ihn fallen lassen? Er suchte den Boden ab, ehe seine Augen endlich auf das Sportgerät fielen. Er lag nah bei den beiden Männern, die sich umkreisten, auf einen Fehler des jeweils anderen warteten. Janne schien mit Thore spielen zu wollen. Er hätte mehrere Schüsse abgegeben können, es aber nicht getan. Wie fatal waren die Verletzungen der bisherigen Wunden? Nach dem zweiten Schuss hatte es so ausgesehen, als hätte sich Thore nicht mehr bewegen können, doch nun merkte man davon nichts mehr. Vermutlich waren es aber nur das Adrenalin und die Wut, die Thore aufrecht hielten. Deshalb musste er schnell handeln. Ohne die Sache noch weiter hinauszuzögern, sprang Ben nach vorne und griff nach dem Baseballschläger. Jetzt würden sie das Blatt zu ihren Gunsten wenden …
    Der nächste Schuss fiel und aus dem Augenwinkel sah Ben, wie Thore neben ihm zu Boden ging. Er wollte sich wieder erheben, doch schien nicht die Kraft aufzubringen. Das Messer wurde von Janne weggeschossen.
    „Das war es schon? Mehr kannst du mich nicht unterhalten?“ Janne beugte sich herunter, hielt die Waffe in Bens Richtung und nahm dann den Schläger an sich. „Ich dachte, ich würde meine Rache länger auskosten können, doch nun scheinst du schon aufzugeben.“
    „Du bist krank“, grummelte Ben. „Verbittert und krank!“
    Janne sah ihn nur an, richtete die Waffe auf Thores Kopf. „Wie ist es, ich gebe euch noch eine letzte Chance, mich zu unterhalten. Unter der Fabrik gibt es ein Labyrinth aus mehreren Abwassertunneln.“ Janne grinste schief. „Ich gebe euch drei Minuten Vorsprung, dann folge ich euch und werde euch jagen.“
    „Wieso sollte ich darauf eingehen?“
    Janne zuckte mit den Schultern. „Vielleicht, weil du glaubst, dass du deinen Freund noch retten kannst. Weil du denkst, dass ihr mich abhängen könnt und du Hilfe findest. Vielleicht, weil du die Hoffnung hast, dass er bis dahin nicht ausgeblutet ist. Vielleicht, weil ich sonst Nora erschießen werde. Brauchst du noch einen Grund?“
    „Wer sagt mir, dass du nicht schon vor dem Ablauf der drei Minuten uns folgst?“
    „Niemand. Das ist wohl das kleine Restrisiko, nicht wahr?“
    Ben schluckte. Sein Blick ging in Richtung Boden. Thore würde sterben, wenn sie hierblieben. Aber hatte keine Garantie, dass er es nicht auch tat, wenn er auf das Spielchen einging. Vermutlich kannte Janne die Gänge – anders als er.
    „Ticktack, ticktack.“
    Thore brauchte einen Arzt. Vielleicht waren ihnen die Kollegen ja auch schon auf der Spur. Aber wie sollten sie sie finden, wenn sie unter der Erde waren.
    „Ticktack, Ticktack, Ticktack.“
    „Okay, spielen wir ein Spiel“, schoss es aus Ben heraus.
    „Nein … du … ich kann das selbst zu Ende bringen.“ Thore machte erneut den Versuch sich zu erheben, presste die Arme auf den Boden und drückte sich hoch. Als er fast stand, knickten die Beine unter ihm ein.
    Ben packte beherzt zu und griff unter seinen Arm, um ihn so aufrecht zu halten. „Also, wann legen wir los, Janne?“
    „Ben …“
    „Sei ruhig, du hast schon genug Ärger gemacht“, würgte Ben seinen Freund ab und richtete seinen Blick wieder auf Janne. „Also?“
    Janne machte einen Schritt zur Seite. „Geh vor die Tür. Vier Meter, keinen Schritt weiter, dann werde ich schießen.“
    Ben nickte, stabilisierte Thore und verließ mit ihm das Fabrikgebäude aus der Nebentür. Nach vier Metern hielt er an.
    „Rechts von euch ist eine Luke. Darunter befindet sich das Tunnelsystem. Ab jetzt habt ihr drei Minuten, ehe ich euch folge.“
    Ben zögerte.
    „Die Zeit läuft, ich würde sie nicht verschwenden“, flötete Janne. „Mir ist es egal, ob ich euch hier oben erschieße oder ihr als tote Kanalratten endet.“
    Ben ließ Thore vorsichtig zu Boden gleiten. „Ich hole uns hier raus, Kumpel, keine Sorge“, flüsterte er in dessen Ohr und schon dann den schweren Kanaldeckel zur Seite.


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    1 Man möge mir verzeihen, dass ich einen Trailer für den Kinofilm der Nachfolgeserie nehme, aber es gibt keine offiziellen Trailer oder ich habe keine gefunden zur Naruto-Serie, aber ich nehme an, viele sind damit schon in Berührung gekommen, sei es auch nur mit der fürchterlichen alten geschnittenen und zensierten Kinderversion von RTL 2.

  • Ben war in einem Tunnel. In der Dunkelheit zog er einen Atemzug. Die Luft abgestanden, modrig, auf dem Fußboden klebte der Dreck. Er setzte seinen Weg vorsichtig fort. Der Tunnel war klein und er musste Acht geben, dass er sich nicht den Kopf stieß. An seiner linken Seite spürte er warmes Blut, dass seine Brust herunterlief. Thores Wunde blutete immer noch.
    Ben biss sich auf die Lippe. Er brauchte etwas, um die Blutung endlich zu stoppen. Vor allem brauchte er einen sicheren Vorsprung. Es war nicht lange her, da war Thore neben ihm zusammengebrochen und er hatte ihn auf seinen Rücken gestemmt.
    Er war müde. Ihm war kalt. Er musste seinen Körper regelrecht dazu zwingen nicht abzuschalten. Einen Fuß vor den anderen. Er konnte es schaffen. Nein, er würde es schaffen genug Meter zwischen sich und dem Verfolger herauszuholen.
    Und so lief er einfach weiter. Seine rechte Hand glitt an der kalten und rauen Wand entlang. Mit jedem Schritt, den er tat, wurde sein Körper müder. Er bog nach rechts ab, stolperte in einen kleinen Abwasserkanal. Für einige Sekunden hielt er inne. Es waren keine weiteren Schritte zu vernehmen, er schien endlich entkommen zu sein. Dennoch blieb er nicht stehen, sondern setzte sich wieder in Bewegung. Vielleicht hatte er Glück und würde den Weg nach draußen finden. Er hoffe es, denn der Blutverlust war hoch. Viel zu hoch, um in diesen Wirrwarr aus Gängen festzusitzen.
    Seine Stimme sagte ihm, er solle aufgeben, doch sein Körper trug ihn hartnäckig weiter. Es war egal, wie mühsam alles war. Er hatte ein Ziel vor Augen und dieses Ziel galt es, so schnell wie nur möglich zu erreichen. Es war, als würde ein Countdown vor seinem Auge aufleuchten und langsam herunterzählen. Ben hatte keine Ahnung, wie lange er schon hier unten war. Ihm kam es vor, als würde er schon seit einiger Ewigkeit um ihrer Beider Leben rennen.
    Er hörte ein Geräusch und verharrte. Mit einem lauten Quieken sprang eine Ratte aus einem Kanalrohr hervor und lief über seinen Schuh. Ben atmete erleichtert auf. „Verfluchtes Vieh!“, schimpfte er leise und kämpfte sich dann weiter vor. Das stehende Wasser hatte längst seine Schuhe durchnässt und mit jedem Schritt wuchs in ihm die Verzweiflung. Er wusste nicht, wo er war. Er war der Situation ausgeliefert und konnte nur hoffen, dass der Weg, den er genommen hatte, richtig gewesen war und nicht die ganze Zeit im Kreis rannte. Alles andere würde das Ende bedeuten.


    Seine Beine wurden immer schwerer. Jeder Schritt kostete ihn all seine Energie. Als er an der nächsten Abzweigung ankam, zögerte er. Welche Richtung sollte er einschlagen. Welcher Weg würde die Rettung bedeuten?
    Links!
    Er entschied sich für die Richtung, die ihm als erstes in den Sinn gekommen war und er setzte seinen Weg schwer atmend fort.
    „Ben … du solltest mich zurücklassen.“ Thores Stimme war dünn und müde.
    „Vergiss es, dann werde ich deiner Schwester nicht mehr vor die Augen treten können.“
    „Er will nur mich.“
    „Spar die deine Kräfte auf und sei ruhig“, grummelte Ben.
    „Wir werden nicht entkommen können. Ich bin müde, lass mich einfach hier …“
    „Du sollst ruhig sein!“, erwiderte Ben nun lauter. „Du hast nicht den Luxus die Quasselstrippe zu spielen, außerdem wird er uns sonst finden!“
    Thore sagte tatsächlich nichts mehr und Ben konzentrierte sich darauf in der Dunkelheit nicht zu stolpern. Die Sicht war beschränkt und der unebene und nasse Boden machte es ihnen nicht einfacher. Bei jeder Gablung hielt er den Atem an, aus Angst, Janne könnte sich dort verstecken und auf sie warten. Wie groß war die Wahrscheinlichkeit, dass sie es lebend hier raus schaffen würden? Vermutlich nicht besonders hoch. Thore war am Ende seiner Kräfte, hielt sich mit reiner Willenskraft wach und auch er war müde, immerhin aber bis auf einen kleinen Kratzer an der Schuler unverletzt. Dort hatte ihn Janne erwischt, kurz nachdem sie in den Tunnel waren und er Thore noch hinter sich herziehen musste.
    Jussi gab Semir die Waffe in die Hand. Der deutsche Polizist konnte spüren, wie der Kollege zögerte und er konnte es ihm nicht verübeln. Er hatte hier keinerlei Befugnisse, war nur ein Zivilist.
    „Versuch bitte, sie nur im Notfall zu verwenden“, sagte Jussi und Semir nickte.
    Jussi sah hoch. Sein Blick traf den von Mikael und die Beiden nickten sich zu. „Okay, lasst uns das Gebäude mal näher anschauen“, erklärte Jussi.
    Semir hatte kein gutes Gefühl, als sie sich dem Gebäude nährten. Nervosität breitete sich in seinem Inneren aus. Was, wenn sie nur noch zwei leblose Körper finden würden. Nach allem, was bisher vorgefallen war, hielt er es für möglich. Wieso sollte sich Janne bei Thore und Ben mehr Zeit lassen? Vielleicht würde er Ben verschonen? Nein, er war ein möglicher Zeuge. Wobei, es war ohnehin bereits klar, dass es sich bei Janne um den Täter handelte. Da müsste er nicht mehr Menschen töten als nötig. Semir wusste, dass wenig Logik in seiner Hoffnung lag. Es waren bereits mehrere Menschen ermordet worden, die mit der Sache nichts zu tun hatten. Da war Ben für jemanden wie Janne nur ein kleines Übel.
    „Die Tür ist abgeschlossen.“
    Mikaels Stimme holte ihn zurück ins Hier und Jetzt und er sah, wie der Kollege sich an dem Schloss zu schaffen machte. Wenig später drückte er die Klinke hinunter und öffnete die Tür in eine weitere Fabrikhalle. Semir trat mit Jussi als erstes durch die Tür, dahinter folgten Niilo, Candice und Mikael.
    Semir blickte geradewegs auf einem Käfig, in dem eine Maschine stand. Ein Geräusch ertönte und ein Ball flog aus einer Öffnung geradewegs auf den Maschendrahtzaun des Käfigs.
    „Was ist das?“
    „Bettingmaschine. Benutzen Baseballer zum Training“, murmelte Jussi und machte weitere Schritte in die Halle hinein. „Sie müssen hier gewesen sein.“
    „Die Seitentür ist offen“, sagte Niilo und nickte nach links, ehe er sich von der Gruppe entfernte.
    Semir folgte ihm. Vielleicht war es Ben und Thore gelungen zu flüchten? Doch was er dann erblickte, schien seine Hoffnung zu verringern. Wenige Meter vor der Tür lag ein Messer, daneben ein Baseballschläger.
    Niilo hockte sich hin und seine Finger fuhren durch eine Blutpfütze. „Es muss einen Kampf gegeben haben“, stellte er nüchtern fest. „Keine Ahnung wie lange es schon her ist. An den Rändern ist das Blut schon getrocknet.“
    Semir schluckte. Jemand war verletzt worden. Ben, Thore oder der Angreifer? Er ging von Ben oder Thore aus, denn ansonsten hätten sie es sicher geschafft den Kerl zu überwältigen.
    „Ziemlich viel Blut“, murmelte Jussi neben ihm und ging mit der Waffe im Anschlag durch die Tür. „Ihr solltet euch das ansehen“, rief er unmittelbar darauf.
    Semir eilte durch die Tür ins Freie und erkannte sofort, was Jussi gemeint hatte. Die Blutspur endete an einem Kanalschacht. Niilo griff nach seinem Handy und schaltete die Taschenlampe ein, ehe er sich hinunterbeugte. „Ich sehe keinen Körper. Entweder er hat sie weiter weggeschafft oder aber sie sind nicht tot.“
    „Hör mal! Geht’s auch mit etwas mehr Taktgefühl!“, grummelte Jussi und zog Niilo nach hinten.
    „Lass nur.“ Mikael legte Jussi die Hand auf die Schulter und schüttelte den Kopf. „Wir sollten lieber überlegen, wie wir jetzt vorgehen.“ Er drehte sich zu Candice. „Bekommst du Unterlagen zu dem Kanalsystem?“
    „Wenn du viel Zeit verlieren willst, ja. Sonst, nein.“
    „Worauf warten wir noch, gehen wir rein.“ Semir packte die Ungeduld. Ben brauchte da unten vielleicht seine Hilfe und sie vergeudeten wichtige Minuten. Er war ein Mann der Tat und das hier dauerte für seinen Geschmack viel zu lange.
    „Wir sollten uns aufteilen“, widersprach Mikael. „Niilo und ich gehen runter, Jussi und Semir, ihr bleibt hier oben und sucht das Gelände ab.“ Mikael sah zu Candice. „Du versuchst an eine Karte zu kommen. Wenn du eine hast, schick sie uns auf die Handys, ja?“
    „Ich werde es versuchen, da ich nur mein Smartphone dabei habe, wird es aber etwas dauern.“
    „Mach es so schnell wie möglich“, antwortete Mikael.
    „Wir sollten auch mit runter“, warf Jussi ein. „Umso mehr wir sind, desto besser.“
    „Vielleicht sind sie schon nicht mehr unten. Wir wissen nicht wie weit das System geht und wie viele Zugänge es gibt. Deshalb ist es besser, wenn ihr euch hier oben umschaut.“
    „Ich bin Jussis Meinung“, gab nun auch Semir zu bedenken. Er hatte das Gefühl, als würde Mikael sie nicht nur deshalb oben lassen.
    „Es könnte nur ein Ablenkungsmanöver sein“, gab Mikael zu Bedenken. „Deshalb solltet ihr oben bleiben.“
    „Du bist nicht einmal Polizist, was denkst du, mir Anweisungen zu geben.“ Jussi ging an Mikael vorbei und wollte gerade einen Fuß auf die Leiter Richtung Abwasserkanal setzen, als Mikael ihn zurückzog. „Du wirst mit Semir gehen!“, sagte er mit Nachdruck. „Glaub mir, es ist besser, wenn Niilo und ich runtergehen.“
    „Gut, gut.“ Jussi stöhnte. „Machen wir es eben so. Besser als noch mehr Zeit zu verplempern.“

  • Bens rechte Hand löste sich für einen Moment von der Wand und ging an Thores Hals. Sein Herz schlug aufgeregt in seiner Brust, als er nach einem Puls suchte. Er hoffte nur, dass er nicht schon lange eine Leiche mit sich trug. Es waren sicherlich Minuten vergangen, seit Thore das Bewusstsein verloren hatte. Er hatte angehalten und versucht einen provisorischen Verband um die schlimmste Wunde zu machen, doch es schien nicht viel zu bringen. Er hatte das Gefühl, als wäre der Stoff des T-Shirts, welches er geopfert hatte, schon lange wieder durchtränkt worden. Ben konzentriere sich, als er einen Puls fand. Er war schnell, aber flach.
    „Nicht aufgeben Kumpel, ja?“, flüsterte er und ging weiter. „Ich schaffe uns hier raus.“


    Es kam Ben wie eine Ewigkeit vor, er begann die Hoffnung schon aufzugeben, doch dann sah er einen blassen Lichtstrahl. Seine Schritte beschleunigten sich, bis er schließlich rannte.
    „Ein Ausgang“, stieß er erleichtert aus und blickte auf den Kanaldeckel über sich.
    Vorsichtig setzte er Thore ab und lehnte ihn gegen die Mauer. Sein Kopf fiel zur Seite. Ben fuhr einmal mehr mit zittrigen Fingern an den Hals und prüfte den Puls. Noch lebte er.
    „Wir sind ganz nah dran. Nur noch ein bisschen durchhalten, Thore“, flüsterte er und wischte den kalten Schweiß von der Stirn seines Freundes. Dann erklomm er die Leiter und drückte sich gegen den Kanaldeckel. Doch der gab nicht nach. Ben versuchte es erneut, doch abermals wollte sich nichts tun. Sein Herzschlag beschleunigte sich, bei dem Gedanken daran, dass er hier festsetzen könnte. Endlich hatte er einen Ausgang gefunden und dann das!
    Er nahm einmal mehr seine ganze Kraft zusammen und drückte sich mit dem Rücken gegen den Kanaldeckel. „Komm schon“, fluchte er. „Geh auf!“
    Endlich schien sich was zu tun, doch er schaffte es nicht den Deckel ganz zu heben. Irgendwas schien dagegenzudrücken. Ben wollte nicht aufgeben und versuchte es immer wieder.
    „Bitte!“, entkam es ihm verzweifelt. „Geh auf!“
    Er sah hinunter auf die leblose Silhouette von Thore. Er wollte seiner Schwester keine Leiche zurückbringen. Das hier schien ihre letzte Chance zu sein und nun konnte er das letzte Hindernis nicht überwinden. Verzweifelt startete er den nächsten Versuch, doch wieder konnte er den Deckel nur wenige Zentimeter heben.
    In einer letzten, verzweifelten Tat, begann er zu schreien. Er rief um Hilfe, obwohl er wusste, dass hier, so weit draußen, wohl kaum ein Mensch anzutreffen war. Jedes Mal verstummte er für ein paar Sekunden und lauschte in die Gänge. Er fürchtete Janne war ihnen auf der Schliche, könnte jeden Moment um die Ecke biegen.
    „Ben?! Bist du das?!“
    Ben glaubte, dass er sich verhört hatte. War das Semirs Stimme gewesen?
    „Semir? Bist du das?!“, rief er zurück.
    „Wo bist du?“
    „Hier, hier muss irgendwo ein Kanaldeckel sein.“ Seine Stimme begann sich zu überschlagen. „Vielleicht steht was darauf, ich bekomme ihn nicht hoch. Bitte, du musst mir helfen, Thore … er, er ist schwer verletzt. Ich denke nicht, dass er es noch lange schafft. Bitte!“
    „Da steht ein großer Betontrog!“, hörte er Semir rufen. „Jussi, komm hilf mir.“
    Ben hörte ein Kratzen und unmittelbar darauf wurde der Deckel über ihn angehoben. Seine Augenlider zogen sich zusammen, als grelles Augenlicht ihn blendete. Als er sie öffnete, sah er in Semirs Gesicht. Für einen winzigen Moment machte sich Erleichterung breit, doch dann dachte er an Thore.
    „Ihr müsst mir helfen. Er, Thore, er hat viel Blut verloren. Ich reiche ihn euch an.“
    Ohne auf eine Antwort zu warten, stieg Ben hinab, schob Thore vorsichtig auf seinen Rücken und stieg die Leiter so weit hinauf, bis Semir und Jussi ihn greifen konnten. Als sie ihn an die Oberfläche zogen, stöhnte Thore leise auf.
    Ben erklomm die letzten Stufen der Leiter und als er aus dem Kanalschacht kletterte, sah er wie Jussi bereits über seinen Freund hockte und versuchte, ihn wachzubekommen. Semir seinerseits telefonierte. „Ich habe die Rettung angefordert“, sagte er, als er auflegte.
    „Wie lange ist er schon bewusstlos?“, fragte Jussi und klopfte gegen die Wangen seines Freundes.
    „Ich weiß nicht, einige Minuten auf jeden Fall“, flüsterte er und schluckte, als er zum ersten Mal sah, wie blass Thore wirklich war. Unten ihm Kanal hatte er nur die Kälte gespürt, die von Thore ausging, nun schien das ganze Ausmaß sichtbar.
    „Janne, er ist noch da unten“, sagte Ben leise. „Ich hatte keine Zeit, die Wunden richtig zu versorgen.“
    „Er ist noch da unten?“, fragte Semir und Ben sah, wie er nach einem Funkgerät griff. „Ich werde Niilo und Mikael Bescheid geben. Sie sollen vorsichtig sein.“
    „Die sind da unten?“
    „Wir hatten Blut gefunden bei der Fabrik“, erklärte Semir.
    Ben nickte. Semir legte ihm die Hand auf die Schulter. „Mach dir keine Gedanken, Mikael hat die Sache im Griff. Ihnen wird schon nichts passieren.“
    Ben und Semir sahen zu Jussi, der sich versuchte einen Überblick zu verschaffen.
    „Die Verletzung an der rechten Seite ist die schlimmste“, berichtete Ben. „Die blutet stark. Es gibt noch weitere, aber ich glaube, dass ist diejenige, die vielleicht am meisten Schaden angerichtet hat.“
    Jussi zog sich seine Jacke über den Kopf und legte ihn wie eine Decke über seine Freund. Kurz darauf folgte der Pullover, denn er zusammenrollte und unter Thores Kopf schob.
    „Es kommt gleich Hilfe, du schaffst das“, sagte er und drückte die Hand von Thore.
    Thores Augenlider flackerten und Ben lächelte, als er sie einen Spalt öffnete.
    „Jus…si.“
    „Jetzt bist du überrascht, was?“ Jussi lächelte. „Es kommt gleich ein Rettungswagen. Versuch wach zu bleiben.“
    „Mein Vater …“
    Jussi zögerte und Ben wusste, dass sich das zugetragen hatte, was sie befürchtet hatten.
    „Es tut mir leid. Wir waren zu spät.“
    „Was ist mit Nora?“
    „Sie lebt.“
    Ben musterte Jussi und er spürte, wie ihm bei diesen zwei Worten das Herz in die Hose sank. Kein „Sie ist in Sicherheit“, kein „Es geht ihr gut“. Nur „sie lebt“.
    Thore schien es nicht zu bemerken, doch er war von den Worten mehr als beunruhigt. Hatte Jannes Schwester sie angegriffen? Hatte er die Drohung wahr gemacht?


    „Du dachtest wohl, du entkommst mir?!“
    Bens Kopf peitschte nach links und er erblickte Janne, der mit erhobener Waffe vor ihnen stand. Es hatte nicht lange gebraucht und Semir hatte sich schützend vor Thore positioniert.
    „Du solltest die Waffe runternehmen, Janne“, sagte Jussi mit ruhiger Stimme. „Es ist vorbei.“
    „Vorbei ist es erst, wenn er tot ist.“ Janne lachte. „Ich habe seinen verfluchten Vater umgebracht, seine Schwester und nun soll ich ausgerechnet ihn leben lassen? Niemals.“
    „Meine Schwester …“, hörte Ben hinter sich Thores kraftlose Stimme hauchen und dann war alles ganz schnell gegangen.
    Plötzlich hallte ein Schuss und kurzdarauf schrie Jussi Thores Namen. Doch es war nicht Thore, der getroffen war, sondern Janne. Ihr Gegenüber sackte auf die Knie und Semir sprang auf ihn zu, um ihn festzunehmen.
    Ben sah in Richtung Thore und seine Augen verfolgten, wie die Waffe zu Boden fiel, ehe sein Freund einmal mehr das Bewusstsein verlor.
    „Es tut mir leid, er hat einfach nach meiner Waffe gegriffen und geschossen“, stammelte Jussi. „Idiot, mir sagen, Mord ist nicht die Lösung und dann so was!“
    „Thore hat geschossen?“
    „Er hatte auf seine Brust gezielt, ich konnte seine Hand gerade noch runterdrücken.“ Jussi sah zu Semir. „Wo ist er getroffen.“
    „Bein. Sollte nicht so schlimm sein. Wie geht es Thore?“
    Jussis Finger fühlten den Puls. „Nicht gut, fürchte ich.“
    Zum Glück hatte es nicht lange gedauert und der Rettungswagen war gekommen und ein professionelles Team kümmerte sich um Thore.
    „Ich habe Mikael angefunkt“, sagte Semir neben Ben.
    Der braunhaarige Kommissar nickte. „Nora, ist sie wirklich tot?“, entkam es ihm tonlos.
    Semirs Augen weiteren sich, doch dann schüttelte er den Kopf. „Es sah nicht gut aus, aber sie lebt und ist stabil. Ich bin mir sicher, sie wird bald aus der Narkose aufwachen.“
    „Was soll ich ihr sagen? Dass ich versagt habe, dass Thore vielleicht stirbt?“
    „So solltest du nicht denken. Ich bin sicher, dass Thore wieder in Ordnung kommt.“ Semir drückte seine Schulter. „Er ist jemand der kämpft. Er hat bis jetzt durchgehalten, da wird er doch nun nicht aufgeben, oder?“
    „Ich hoffe du hast recht“, murmelte Ben und sah zu, wie Thore in den Rettungswagen gehoben wurde.

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