Nur sieben Versuche

  • Hier ist schon der Beginn meiner zweiten Story :) Semirs Partner ist wie angekündigt Alex. Allerdings ist es dieses Mal keine ganz „normale“ Geschichte, sondern sie spielt - ein bisschen wie z. B. „Tag der Abrechnung“ mit den Erzählformen und soll ein wenig experimentell sein, ich hoffe, das stört nicht zu sehr, ich will es einfach mal ausprobieren. Gleichzeitig wird Jenny mehr im Fokus stehen.





    „Bist du sicher, dass das hier der richtige Rastplatz ist?“
    „Wie, was, willst du damit etwa sagen, ich hätte keinen Orientierungssinn oder ich bin zu blöd, hinzuhören, oder was?“
    „Oh nein, reg dich ab, alles gut. Ich frage ja nur, weil bisher noch überhaupt nichts passiert-“
    Ein weißer BMW raste an Semir und Alex vorbei und fuhr dabei den linken Rückspiegel ab.
    Semir starrte dem Wagen mit offenem Mund hinterher. Ohne nachzudenken, beschleunigte er und nahm die Verfolgung auf.
    „Halt, Semir!“
    Alex' Einwand kam zu spät. Er schlug die Hände über dem Kopf zusammen: „Das war ein Test!“
    Er behielt Recht. Macovado startete seinen Mercedes und fuhr provozierend nahe an Semir und Alex vorbei. Er kurbelte die Fensterscheibe herunter:
    „Meine beiden Lieblingspolizisten, wie schön. Leider hab ich keine Zeit für nen Kaffee.“
    Semir zeigte ihm den Mittelfinger: „Anhalten, Freundchen!“
    Die Scheibe ging hoch und der Mercedes setzte sich vor Semirs Dienstwagen.
    „Jetzt reichts!“
    „Semir, nicht!“
    Macovado hielt Semir und Alex bereits seit Wochen zum Narren. Semirs Wut entlud sich in einer Kurzschlussreaktion: Er zog seine Dienstwaffe und zielte auf die Reifen des Mercedes.
    Er feuerte. Einmal. Zweimal. Der dritte Schuss traf das linke Hinterrad. Der Waffenhändler verlor die Kontrolle über das Auto. Es drehte sich einige Male, prallte gegen die Leitplanke und würde anschließend von einem roten Golf so gestreift, dass es durchbrach und einen Abhang herunterrollte.
    „Super gemacht“, sagte Alex sarkastisch.
    Semir bremste scharf und hielt direkt an der durchbrochenen Leitplanke.
    „Sind Sie okay?“, rief Alex der jungen Fahrerin des Golfs zu.
    Ein stummes Nicken war die Antwort.
    Alex rannte dem immer noch geladenen Semir hinterher. Macovados Auto hatte sich bergab einige Male überschlagen und war gegen einen Baum geprallt. Rauch stieg auf. Semir erreichte den Platz des Fahrers zuerst und richtete seine Waffe auf den Waffenhändler, der ihn lässig und mit Unschuldsmiene anblickte.
    „Ein Fingerschnipsen und Sie sind dran, Macovado!“, zischte er.


    „Ich bin mir keiner Schuld bewusst. Es ist weder verboten, auf Raststätten zu frühstücken, noch überstürzt aufzubrechen oder aus dem Fenster zu grüßen. Zudem habe ich die zulässige Höchstgeschwindigkeit nicht überschritten.“
    Macovado grinste Semir breit an und trommelte mit den Fingern auf den Tisch: „Was also soll ich hier?“
    „Sie sind eine elende Drecksau, Macovado. Aber eines Tages kriegen wir Sie dran für alles. Das schwöre ich Ihnen.“
    Die Tür öffnete sich. Kim Krüger und ein Mann Ende 40 mit glatt gekämmten, dunklen Haaren und Anzug traten ein.
    „Mein Mandant wird ab jetzt kein Wort mehr sagen. Dürfte ich erfahren, weshalb Sie ihn verhören?“
    Semir schwieg einen Moment lang.
    „Sie sind?“
    „Karafa. Rechtsanwalt. Gehe ich recht in der Annahme, dass nichts Konkretes gegen meinen Mandanten vorliegt? In diesem Fall würden wir dann gerne gehen. Jetzt!“


    „Ich hab doch noch 'Nein' gesagt. War das so missverständlich?“
    „Alex, der Kerl ist ein Waffenhändler.“
    „Das weiß ich auch, Semir. Aber jetzt können wir ihm schon wieder nichts beweisen.“
    „Gerkhan, Brandt, in mein Büro!“
    Kim Krüger kochte vor Wut. Als Semir und Alex ihr Büro betraten, sah sie die beiden erwartungsvoll an: „Und? Möchten Sie mir etwas sagen?“
    Semir räusperte sich: „Chefin, der Informant hat uns Ort und Zeit dieses Treffens verraten und es ist sicher kein Zufall, dass Macovado dort aufgetaucht ist.“
    „Und dann kam dieser BMW angerauscht, um Sie zu testen. Was übrigens hervorragend funktioniert hat. Macovado wird jetzt verstärkt nach einem faulen Ei in seinem Umfeld suchen. Und nicht nur das, wir haben uns absolut lächerlich gemacht. Alle Zeugen reden von einem schießwütigen Polizisten, der keine Gegenwehr bekam. Gerkhan, wissen Sie eigentlich, was das bedeutet? Ich hatte gerade ein höchst unerfreuliches Telefonat mit dem Polizeipräsidenten. Er hat über die Fernsehnachrichten davon erfahren und wollte Sie beurlauben. Ich habe mir den Mund fusselig geredet. Aber noch so eine Nummer und Sie müssen den Fall abgeben. Haben wir was über den BMW?“
    Alex seufzte: „Leider nicht. Bevor wir uns auf das Kennzeichen konzentrieren konnten, war Macovado schon neben uns.“
    „Großartig. Dann stehen wir also wieder bei Null.“
    Die Tür des Büros öffnete sich:
    „Wohl eher bei Minus 20. Meinen herzlichen Glückwunsch, Herr Gerkhan. Wo soll ich anfangen? Gefährdung unschuldiger Personen? Unbegründete Abgabe von Schüssen mit Unfallfolge?“
    „Frau Schrankmann, bitte. Wir waren so dicht dran an ihm.“
    „Soweit ich informiert bin, haben Sie sich nicht an die Absprache gehalten, die Kollegen aber schon. Kann es sein, dass Sie vielleicht etwas zu sehr unter Strom stehen? Macovado beschäftigt Sie seit Wochen. Und jedes Mal kurz vor der Festnahme war er ein Stück schlauer als Sie. So etwas frisst auf, nicht wahr?“
    Semir starrte die Staatsanwältin entgeistert an: „Was wollen Sie eigentlich, Frau Schrankmann? Wir reißen uns hier seit Wochen den Arsch auf und Ihnen fällt nichts Besseres ein, als zusätzlich zu provozieren?!“
    „Komm, Semir. Lass uns frühstücken.“
    Semir reagierte nicht sofort, sondern schickte der Staatsanwältin noch einige böse Blicke hinterher. Dann folgte er Alex nach draußen.


    „Vielleicht hättest du wirklich nochmal nachdenken sollen, bevor du geschossen hast, Semir.“
    Alex biss in das Tankstellenbrötchen und griff dann zu seinem Kaffee.
    „Fängst du jetzt auch schon an, ja? Willst du mich jetzt auch noch runterputzen?“
    Semirs Tag war gelaufen. Er starrte auf sein Frühstück und rief sich immer wieder den Blick von Macovado ins Gedächtnis, wie er grinsend an ihm vorbeifuhr.
    „Nein, sicher nicht. Nur haben wir jetzt überhaupt nichts in der Hand.“
    „Ich weiß.“
    „Wir müssen endlich wissen, wer der geheimnisvolle Informant ist.“
    Semir nickte stumm. Momentan wusste er überhaupt nicht, wie sie weiter vorgehen sollten.
    Alex blickte auf seine Uhr: „Shit, ich muss los. Hab ganz vergessen, dass Jenny wartet.“
    Semir schaute überrascht auf: „Jenny?“
    „Sie wollte sich in der Mittagspause nach einen Kostüm für diese Halloween-Party umsehen. Sie hat mich ja dazu verdonnert, mit ihr dahin zu gehen“, erklärte Alex seufzend und stand auf.
    „Du kommst klar?“
    „Jaja... Klar“, murmelte Semir halb abwesend.
    „Okay, Partner. Bis später.“

  • „Eine Ritterrüstung, ja? Sonst noch was?“
    Jenny kniff Alex scherzhaft in die Seite.
    Alex konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen: „Ja, warum nicht?“
    „Nein, ich brauche etwas Bequemes, etwas, dass zu mir passt.“
    Alex verkniff sich einen Kommentar und folgte Jenny in den vierten Laden, der Halloween-Kostüme anbot.
    „Den Kindern ist es doch sowieso egal, was du trägst.“
    Jenny drehte sich zu Alex um: „Erwähnte ich eigentlich schon, dass du auch ein Kostüm brauchst?“
    „Äh... Nein. Warum tue ich das nochmal?“
    „Weil du nach dem achten Bier noch geglaubt hast, mich im Boxen besiegen zu können. Sei froh, dass ich nur mit halber Kraft zugeschlagen habe“, antwortete die junge Polizistin lachend, dann ging sie auf eine Frau Ende 50 zu, die freundlich lächelnd hinter dem Verkaufstresen stand.
    „Ich bin auf der Suche nach einem Halloween-Kostüm“, kam sie gleich zur Sache.
    „Das sind viele. Wir haben hier so gut wie alles, Skelette, Ritter, Piraten, Hexen, Vampire...“, entgegnete die Verkäuferin und wies auf eine Ecke voller Kostüme.
    „Sie auch, junger Mann?“
    Alex zwang sich zu einem Lächeln: „Notgedrungen...“
    „Da finden wir schon was Passendes.“
    Die Verkäuferin strahlte eine solche Zuversicht aus, dass Alex ihr interessiert folgte.
    Währenddessen wühlte Jenny sich durch den Kostümberg. Als Alex an ihr vorbeiging, zog er breit grinsend an einem Kürbisumhang. Jenny verdrehte die Augen.
    „Hier, wie wäre es damit? Probieren Sie es mal an.“
    Skeptisch sah Alex an, was die nette Verkäuferin zu Tage gefördert hatte.
    „Na ja, ich weiß nicht...“
    „Alex, schau mal. Das sieht doch klasse aus, oder?“
    Alex drehte sich um. Jenny hielt ein schwarz-rotes Vampirkostüm hoch und blickte ihn erwartungsvoll an.
    Semirs Partner nickte: „Probier mal an.“


    „Das sieht doch toll aus. Sag mal, Semir, siehst du es überhaupt?“
    „Hm, was? Ach so... Ja, schön.“
    Jenny sah Alex verständnislos an: „Was hat er denn?“
    „Macovado ist schon wieder eine Nasenlänge schlauer gewesen. Semir hat ziemlich Ärger mit Krüger und der Schrankmann.“
    „Soso. Na dann wird es höchste Zeit, dir zu sagen, als was Alex gehen wird.“
    Jenny packte ihren Vampirumhang zurück in ihre große Tasche und zog die Teile von Alex' Verkleidung heraus.
    „Du wirst Jack Sparrow bestimmt Konkurrenz machen. Allein die Augenklappe ist doch schon nett“, lachte Jenny.
    Semir sah tatsächlich auf: „Du willst als Pirat gehen? Dann komme ich vielleicht auch.“
    Endlich sahen Jenny und Alex ein flüchtiges Lächeln über Semirs Gesicht huschen.
    „Einlass nur für kostümierte Gäste, sorry Semir“, ließ Jenny Alex' Befürchtungen, Semir würde sich den ganzen Abend über ihn amüsieren, zerplatzen.
    „Na dann viel Spaß euch nachher. Ich werde wohl ein wenig Akten abarbeiten und bestimmt im Revier einschlafen“, sagte Semir nachdenklich.
    „Was ist denn mit Andrea?“, fragte Jenny und sah Semir besorgt an.
    „Ist mit den Kindern über das Wochenende zu ihren Eltern gefahren. Und Dana geht natürlich feiern.“
    Bedrückt schüttelte Semir den Kopf: „Was soll's...“
    „Was hat die Chefin denn jetzt eigentlich mit den ganzen Bürostühlen gemacht, die du anstatt der Bleistifte bestellt hast?“, erkundigte sich Jenny, um das Thema zu wechseln.
    „Gegenfrage - Was hat Alex mit der Vitrine gemacht?“
    „Äh... Da sind noch ein paar Kratzer, die...“
    „Lass gut sein. Vielleicht geh ich einfach in irgendeine Bar und gucke, wen ich treffe. Die Akten sind ja Montag immer noch da.“
    Semir schnappte sich seine Jacke und schritt langsam zur Tür.
    „Meinst du, wir sollten ihn doch mitnehmen? Scheint ja momentan nicht so zu laufen“, raunte Jenny Alex zu.
    „Ach, Semir braucht einfach mal ein bisschen Ruhe. Außerdem hat er sich morgen freigenommen. Montag gehts ihm bestimmt schon besser“, winkte Alex ab.
    Dann dachte er wieder an die Halloween-Party und zischte kaum hörbar: „Pirat... Meine Güte...“


    Der Blick auf die Uhr verriet den beiden Polizisten, dass keine Zeit mehr blieb, sich zu Hause umzuziehen, weshalb sie beschlossen, dies im Bad des Veranstaltungshauses zu erledigen. Es war eine große, stattliche Villa mit schneeweißen Mauern, die von einem hohen schwarzen Zaun umgeben war. Der Veranstalter, Dieter Klärbach, lebte dort nur mit seiner Frau und vermietete deshalb einen riesigen Saal im Untergeschoss der Villa als Party-Veranstaltungsort. An diesem Abend stieg dort eine Kinder-Halloweenfete für Kinder zwischen 4 und 14 Jahren. Über ihre Freundin, die Maskenbildnerin Ramona war Jenny zu einem kleinen Job gekommen. Eine Animateurin hatte kurzfristig krankheitsbedingt absagen müssen und alleine hätte Ramona bei einer so großen Anzahl von Kindern ewig gebraucht, bis alle zufriedenstellend geschminkt waren. Alex war so leichtsinnig gewesen, nach einem Abend mit viel Bier zu versprechen, er würde Jenny begleiten, sofern sie ihn bei einem Boxkampf besiegen würde. Dieses Versprechen hatte Alex kurz darauf bitter bereut. Die Animation einer tobenden Kinderschar zählte nicht gerade zu seinen Lieblingsbeschäftigungen.
    Als sie vor dem auch von außen gruselig dekoriertem Haus parkten, begann es gerade zu regnen.
    „Beeilung, die Kinder rücken in ein paar Minuten an“, rief Jenny Alex zu, der ihr nur langsam folgte. Seufzend lief er hinter seiner Kollegin die kleine Treppe zum Eingangsportal hoch und trat ein. Sofort stürzte sich Ramona auf ihn. Sie hatte dunkelrote, schulterlange Haare und steckte in einem engen, glänzend-schwarzem Kostüm. Ihr Gesicht hatte sie mithilfe von fast leuchtender Schminke in das einer Katze verwandelt.
    „Hallo, du bist also Jennys Arbeitskollege? Hab viel von dir gehört. Du bist aber nicht der, für den ich Jenny damals in diese andere Frau verwandeln musste, oder?“
    „Ähm... Nein, ich...“
    „Nein, aber lass uns das später bequatschen. Ich muss mich umziehen. Du übrigens auch, Alex“, rettete Jenny ihren Kollegen zunächst vor Ramonas Redeschwall.
    „Schickes Kostüm“, rief Alex ihr noch zu, bevor er Jenny folgte.
    Aber Ramona plauderte bereits mit einer Frau.
    Wenig später hatte er sich in einen furchteinflößenden Piraten verwandelt und wurde von Jenny abgefangen: „Zieh mal bitte den Reißverschluss hoch hinten. Ich kriegs nicht hin.“
    Alex tat ihr den Gefallen, gerade rechtzeitig, bevor die ersten Kinder eintrafen und Ramona gestresst auf Jenny zulief: „Bist du soweit? Alex, für dich ist der Posten als Ersatz-DJ frei, da hinten bei Mike. Jetzt komm schon, Jenny!“
    Schon zog Ramona ihre Freundin mit sich zum Schminktisch, während Alex sich einen Weg zu Mike bahnte.
    Er musste einfach das Beste draus machen.


    „Semir? Alles klar?“
    „Was?“
    Semir blickte auf. Er hatte sich, weil er keine Lust hatte, den Abend in einer Bar zu verbringen, kurzfristig umentschieden und war in die Dienststelle zurückgekehrt. Alex in Jenny hatte er nicht mehr angetroffen, nur noch Susanne. Durch seinen kurzfristigen Entschluss waren die Kollegen, die Nachtdienst schieben sollten, dankbar abgerückt.
    „Du sitzt jetzt seit zehn Minuten über diesem Blatt Papier. Ist alles in Ordnung mit dir?“
    Susanne betrachtete Semir mit sorgenvoller Miene.
    „Klar doch, alles okay“, versicherte Semir ihr, aber er gab sich wenig Mühe, überzeugend zu klingen.
    „Ich mache Schluss, ja?“
    Susanne streifte ihre Jacke über und griff nach dem Autoschlüssel.
    „Hmm.“
    Susanne schloss die Tür hinter sich und Semir war allein in der Dienststelle. Er blickte auf die Uhr. Es war bereits 22:30 Uhr. Semir wurde bewusst, dass er gar nicht mehr wusste, was er in den letzten beiden Stunden eigentlich getan hatte. Ständig war er mit seinen Gedanken abwechselnd bei Macovado und bei Dana. Sie hatten sich vor zwei Tagen gestritten - seitdem ging sie ihrem Vater so gut es ging aus dem Weg und redete nur einsilbig mit ihm.
    Das schrille Klingeln des Telefons riss Semir aus seinen Gedanken. Er ging zu Susannes Platz, räusperte sich und hob ab: „Autobahnpolizei, Semir Gerkhan.“
    „Eine große Ladung Maschinenpistolen wird um Mitternacht am Hafen in Containern verschifft. Der Name des Schiffes lautet Rhodezia. Verkäufer ist Macovado.“
    KLICK. Aufgelegt.
    Semir hielt den Hörer noch einen Moment in der Hand, bevor er begriff. Der Informant hatte sich wieder gemeldet. Wieder hatte er einen Stimmverzerrer benutzt, wieder hatte er der Autobahnpolizei den Ort und Zeit eines Deals von Macovado verraten. Semir wusste, dass sie vielleicht nur noch diese eine Chance hatten, Macovado in Deutschland zu stellen.


    „Mitten in der Nacht hat sie mich aus dem Bett gescheucht, ja? Zuerst habe ich ihr gehörig den Marsch geblasen, aber was hat sie getan? Sie hat mich einfach unbeeindruckt unterbrochen und mir gesagt, ich müsste sie in eine Frau von einem Foto verwandeln und...“
    Alex' Handy klingelte.
    „Entschuldige mich kurz, ja?“
    Heilfroh, Ramonas Mundwerk für einen Augenblick entfliehen zu können, trat Alex etwas abseits und meldete sich: „Hey Semir, willst du doch noch kommen? Ist gar nicht so übel hier. Der DJ ist echt nett und...“
    „Sorry, wir haben Wichtigeres zu tun. Der Informant hat sich wieder gemeldet. Macovado will um Mitternacht im Hafen eine Ladung Maschinenpistolen loswerden, die sollen mit der Rhodezia verschifft werden, Pier 23, wir treffen uns da und bring Jenny mit!“
    „Halt, Moment, willst du da alleine hin?“
    „Wir müssen! Es hat auf der A4 eine riesige Massenkarambolage gegeben, unzählige Verletzte und eingeklemmte Personen, alle Kollegen sind im Einsatz und die Krüger ist nicht erreichbar. Also bewegt euch!“

  • „Kannst du mir mal bitte helfen?“
    Jenny ächzte. Sie bekam den Reißverschluss ihrer Verkleidung einfach nicht auf.
    „Ich fahre, falls du es noch nicht bemerkt hast“, entgegnete Alex.
    Als sie endlich eine schnurgerade Strecke entlangfuhren, beugte Jenny sich vor und Alex blickte abwechselnd auf die Straße und den goldenen Verschluss.
    „Klemmt“, kommentierte er angestrengt.
    „Ach was“
    Alex zog nochmal - und hatte den Schieber in der Hand.
    „Äh...“, begann er.
    Jenny lehnte sich zurück und sah, was Alex in der Hand hielt. Sie verdrehte wortlos die Augen.
    „Aber das kriegen wir bestimmt wieder hin“, versuchte Alex, die Situation zu retten.
    „Nur jetzt nicht“, knurrte seine Kollegin, „und jetzt soll ich in diesem Aufzug Macovado dingfest machen? Ganz großes Kino, ehrlich! Pass auf!“
    Gerade noch rechtzeitig riss Alex das Steuer herum, bevor er gegen einen Container fuhr.
    „Tut mir Leid. Wirklich.“
    Schweigen.


    Kurz vor Mitternacht erreichten Jenny und Alex den vereinbarten Treffpunkt. Semir stand ungeduldig wartend an einem Container und blickte Jenny irritiert an, als sie ausstieg.
    „Da braucht ihr so lange und dann hast du noch das Kostüm an?“
    Es klang mehr wie ein Vorwurf, als nach einer Feststellung. Jenny lag eine Antwort auf der Zunge, aber sie schluckte sie herunter.
    „Ist schon was passiert?“, wollte Alex wissen.
    „Nein. Wir sollten uns besser verstecken. Macovado und seine Jungs werden sicherlich bald aufkreuzen.“
    „Wieso Jungs?“ Jenny runzelte die Stirn, „Susanne meinte letztens, die Stimme des Informanten klingt mehr weiblich als männlich.“
    „Hm“, machte Semir nachdenklich, „darauf habe ich eben ehrlich gesagt nicht geachtet.“


    Die drei Autobahnpolizisten mussten nicht lange warten. Immer wieder hatte Semir vergeblich versucht, Kim Krüger zu erreichen. Jetzt fuhren drei schwarze Vans auf eine Lagerhalle nicht weit entfernt von der Rhodezia zu, einem dunkelblauen, riesigen Containerschiff.
    „Semir? Hörst du gleich bitte auf mein Kommando? Nicht, dass wieder das selbe passiert, wie heute morgen“, bat Alex. Er blickte seinen Partner scharf an.
    Semir verdrehte die Augen: „Nochmal geht er mir nicht durch die Lappen, das verspreche ich dir!“
    „War das ein Ja?“
    Semir grunzte nur verärgert.
    „Still. Es geht los“, zischte Jenny.
    Die Lagerhalle war umgeben von Containern, die sich teilweise zu bedrohlich hohen Türmen stapelten. Jetzt stieg ein Mann aus einem der Vans aus und schob das Tor auf. Die Autos fuhren in die riesige Halle.
    „Wir müssen näher ran“, flüsterte Alex. Semir nickte. Er sah Jenny an: „Bleib du hier und hol Hilfe, wenn was schiefgeht.“
    „Semir, ich...“
    „Keine Diskussionen jetzt. Da kommen schon Macovados Geschäftspartner“, entgegnete Semir mit einem Blick nach hinten. Es waren zwei Mercedes-Kleinbusse, die direkt auf die Lagerhalle zusteuerten. Semir und Alex warteten, bis die Motoren abgestellt worden waren, dann schlichen sie sich an den Containern entlang direkt neben das Tor. Semir betrat die Halle zuerst und ging sofort hinter einem Metallregal in Deckung. Alex folgte ihm.
    Ein bulliger Glatzkopf mit volltätowierten Armen begutachtete den Inhalt einer großen Holzkiste.
    Macovado stand ihm gegenüber.
    „Okay. Holt das Geld!“, herrschte der Käufer seine Jungs an.
    Schon wurden drei silberne Koffer vor dem Waffenhändler ausgebreitet.
    Macovado klappte die Schnappschlösser auf und nickte zufrieden.
    Eine rothaarige Frau in schwarzer Lederkluft, die zuvor an einem der Vans gelehnt hatte, kam auf Macovado zu: „Sicher, dass das keine Blüten sind?“
    Ihre Arme schlangen sich um ihn. Sie blickte den Glatzkopf - noch in der Umarmung - prüfend an.
    „Schon okay, Aurélia. Mironov weiß, was ihm blüht, wenn er versucht, mich auszutricksen. Ihr könnt verladen!“
    Mironov, der Glatzkopf, schnippte einmal mit dem Finger, schon traten seine Begleiter heran.
    „Zu viele“, wisperte Alex.
    „Wenn nicht jetzt, wann dann?“, fragte Semir zurück.
    „Das ist doch sinnlos!“, versuchte Alex ein letztes Mal, Semir zu bremsen, doch sein Partner sprang auf.
    „Macovado, mein Lieblingswaffenhändler! Wie wärs, wenn ich Ihnen jetzt die Zeit verschaffe, mit mir den Kaffee zu trinken, den Sie heute morgen aus lauter Eile nicht spendieren wollten?“
    Semir lächelte in die Runde. Er änderte seinen Blick auch nicht, als sich zehn Waffen auf ihn richteten.
    „Herr Gerkhan. Ich nehme stark an, dass Sie nicht allein gekommen sind.“ Macovado lächelte kalt, während er langsam auf ihn zuging.
    „Und wenn doch?“
    „Dann wäre das ... dumm?“
    Macovado erreichte Semir und wollte ihm die Waffe aus der Hand nehmen. Er rechnete nicht damit, dass Semir einen Schritt zurück machte, blitzartig unter Macovados Schultern hinter ihn trat und dem Waffenhändler seine Dienstwaffe nun an die Schläfe hielt.
    „Ein Schritt näher und ihr müsst euch einen neuen Geschäftspartner suchen“, zischte er in die Richtung von Mironov und seinen Helfern. Hinter Semir knallte es. Er blickte sich um und sah Jenny, die vor dem Eingang zur Halle langsam zu Boden sank. Macovado nutzte den Moment des Entsetzens - blitzschnell holte er aus und trat dem Autobahnpolizisten gegen das Schienbein. Gleichzeitig herrschte er seine Leute an: „Los, Abflug!“
    Macovado boxte Semir mit seiner Faust zu Boden und trat mit dem Fuß noch einige Male nach, bevor er zu einem der Vans sprintete. Beide Gruppen ließen ihre Tauschwaren wo sie waren und machten sich vom Acker. Alex kam hinter dem Regal hervor und zielte auf die Reifen der Fahrzeuge - traf aber nur ins Leere.
    Semir kam bereits wieder zu sich.
    „Partner? Sind sie weg?“
    Alex nickte.
    „Jenny...“, brachte Semir heraus und stand auf.
    Beide blickten vor das Hallentor auf ihre am Boden liegende Kollegin in einem Vampirkostüm. Alex war zuerst bei ihr. Er klopfte gegen ihre Wange: „Jenny! Verdammt!“
    „Kümmer du dich um sie und ruf Verstärkung, ich schnapp mir die Typen“, rief Semir seinem Partner im Laufen zu.
    Alex fingerte sein Handy aus seiner Hosentasche - und fluchte: Gerade jetzt gab der Akku den Geist auf.
    „Jenny? JENNY!“

  • Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Verwirrt blickte sich die junge Polizistin um. Um sie herum war alles weiß. Sie lag in einem Krankenhausbett. Ihr Kopf dröhnte und sie spürte Schmerzen am ganzen Körper. Dennoch nahm sie das Klingeln wahr. Es kam vom Nachttisch. Jenny griff zu ihrem Handy und starrte das Display an: Anonym.
    „Dorn?“, meldete sie sich und merkte, wie heiser ihre Stimme klang.
    „Jenny! Du musst uns unbedingt helfen. Wo steckst du?“
    „Alex, bist du das? Im Krankenhaus… Was ist denn überhaupt passiert?“
    „Dafür ist später immer noch Zeit. Hör mir jetzt genau zu, Semir und ich sind in Schwierigkeiten, du musst uns helfen, sonst gibt es uns bald nicht mehr.“
    „Warte, Alex! Wo seid ihr, verdammt noch mal?“
    „Du bekommst gleich einen Hinweis. Überlege gut, wem du Vertrauen schenkst. Du hast nur sieben Versuche, Jenny…“
    Jenny ließ das Handy einen Moment sinken. Wovon redete Alex bloß? Wie war sie ins Krankenhaus gekommen?
    „Alex, was ist passiert, rede mit mir! Wer gibt mir einen Hinweis?“
    „Nur sieben Versuche, Jenny. Sonst ist alles aus. Und spare mit deinem Budget.“
    Es klickte.
    „Alex? ALEX?! Das gibt es doch nicht…“
    Einen Moment lang verharrte Jenny unschlüssig im Bett. Sie wusste einfach nicht, was sie jetzt tun sollte. Die Polizistin versuchte, Ruhe zu bewahren und sich zu konzentrieren, wurde aber immer wieder von aufkommenden Kopfschmerzen dabei gestört. Jenny atmete tief durch.
    Es klopfte an der Tür. Ohne eine Antwort abzuwarten, trat eine junge Krankenschwester ein.
    „Frau Dorn, das hier ist eben für Sie abgegeben worden von einem Jungen. Hier, bitte.“
    Prompt hatte Jenny einen silberfarbenen Briefumschlag in der Hand. Sie wollte etwas sagen, doch bevor sie ein Wort herausbrachte, war die Schwester bereits wieder verschwunden.
    Mit zittrigen Fingern öffnete Jenny den Umschlag und faltete einen handgeschriebenen Zettel auseinander.
    Wenn Sie Ihren Kollegen helfen wollen, fahren Sie in die Kapitelstraße 13. Über dem Kamin finden Sie den nächsten Hinweis. Doch Vorsicht, schenken Sie niemandem Vertrauen!
    Schon wieder, dachte Jenny. Erst sprach Alex davon, dass sie sich überlegen musste, wem sie vertraute und jetzt auch noch dieser anonyme Hinweis. Aber es war Jennys einzige Spur. Mit einem Satz sprang sie aus dem Bett und zog sich an. Über einem Stuhl hing ihre Jacke. Als sie sie gerade überstreifen wollte, vernahm sie aus der Jackentasche ein leises Rascheln. Jenny öffnete sie und fischte mehrere 5-Euro-Scheine heraus. Es waren insgesamt 50 Euro. Sie erinnerte sich daran, dass Alex etwas von Sparen gesagt hatte. Langsam fügten sich die Puzzleteile zusammen, doch Jenny hatte trotzdem nicht den blassesten Schimmer, um was es eigentlich hier ging. Es gab nur einen Weg, das herauszufinden.


    Auf dem Weg durch den Gang hatte Jenny nur den Fahrstuhl im Blick. Sie rannte in vollem Tempo gegen einen Servierwagen, der prompt gegen die Wand knallte, was ein lautes Klirren zur Folge hatte. Jenny strauchelte, fing sich aber wieder und lief weiter.
    „Tschuldigung“, rief sie der verärgerten Krankenschwester zu. Eine Übersicht am Fahrstuhl gab ihr Auskunft darüber, dass sie sich im zweiten Stock befand. Gleichzeitig sah sie, dass beide Aufzüge gerade im fünften Stock waren. Jenny nahm die Tür zum Treppenhaus, atmete einmal tief durch und sprintete nach unten.
    „Frau Dorn!“
    „Halt!“
    „Wo wollen Sie hin?“
    Jenny wusste nicht, ob das plötzliche Stimmengewirr nur in ihrem Kopf war, oder tatsächlich das halbe Klinikpersonal hinter ihr her war. Sie drehte sich nicht um, sondern erreichte das Erdgeschoss und verließ das Krankenhaus durch eine Seitentür. Sie blieb für einen Moment stehen und schnappte nach Luft. Dann lief sie – dieses Mal etwas langsamer – zur Straße und hatte Glück: Ein Taxi hielt direkt auf die Polizistin zu. Jenny stieg ein und warf hastig die Tür zu.
    „Äh… Kapitolstraße 13…“, keuchte sie noch außer Atem.
    „Die gibt es nicht. Meinen Sie vielleicht die Kapitelstraße?“
    „Was…?“ Leicht irritiert kramte Jenny den Zettel hervor und bemerkte ihren Irrtum: „Stimmt… Sorry. Bitte, ich habe es eilig!“


    13 Minuten später bog der Fahrer in die Kapitelstraße ein und hielt vor Hausnummer 13, auf der anderen Straßenseite.
    Jenny stieg aus.
    „Moment! Das macht 17,80 Euro, bitte!“
    Mit zittrigen Fingern kramte Jenny einige der Scheine aus ihrer Jackentasche und reichte sie dem Taxifahrer.
    Schon war sie dabei, die Straße zu überqueren.
    „Halt! Da fehlen 2,80 Euro“, rief der Fahrer sie zurück. Er hatte die Fensterscheibe heruntergekurbelt.
    Jenny überlegte einen Moment lang, entschied sich dann aber doch, zurückzulaufen. Vielleicht brauchte sie den Fahrer später noch einmal. Hastig riss sie die Beifahrertür auf und zog einen weiteren Schein hervor: „Tut mir Leid.“
    Der Fahrer schielte an ihr vorbei und machte plötzlich einen entsetzten Gesichtsausdruck: „ACHTUNG!“
    Jennys Kopf wirbelte herum. Ein Bus fuhr in Schlangenlinien direkt auf sie zu. Offenbar hatte der Fahrer die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren. Jenny war wie gelähmt. Der Bus erfasste sie und ihr wurde schwarz vor Augen. Das Letzte, was sie sah, waren die weit aufgerissenen Augen des Busfahrers. Dann wurde alles still.


    Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Verwirrt blickte sich die junge Polizistin um. Um sie herum war alles weiß. Sie lag in einem Krankenhausbett. Ihr Kopf dröhnte und sie spürte Schmerzen am ganzen Körper. Dennoch nahm sie das Klingeln wahr. Es kam vom Nachttisch. Jenny griff zu ihrem Handy und starrte das Display an: Anonym.
    „Dorn?“, meldete sie sich und merkte, wie heiser ihre Stimme klang.
    „Jenny! Du musst uns unbedingt helfen. Wo steckst du?“
    Jenny realisierte, dass das alles schon einmal passiert war.
    „Das habe ich dir doch bereits gesagt… im Krankenhaus. Kannst du mir vielleicht endlich erklären, was das hier alles zu bedeuten hat?“
    „Du bekommst gleich einen Hinweis. Überlege gut, wem du Vertrauen schenkst. Du hast nur sechs Versuche, Jenny…“
    „Sechs? Wieso sechs? Eben waren es doch noch…“
    Jenny ließ das Handy sinken. Ihr wurde klar, dass sie bereits einen Versuch verbraucht hatte.
    Oh nein, dachte sie verzweifelt, oh nein, oh nein, oh nein. Das konnte doch alles nicht wahr sein.
    Wie kam sie aus diesem Albtraum bloß wieder heraus?

  • Jenny kontrollierte ihren Bargeldbestand in ihrer Jackentasche, der erneut bei 50 Euro lag. Sie beschloss, nicht auf die Krankenschwester zu warten, die ihr den Hinweis bringen würde. Als sie die Tür des Zimmers öffnete, stand sie bereits direkt vor ihr und blickte die Polizistin mit großen Augen an: „Frau Dorn, wo wollen Sie denn hin? Sie müssen sich schonen…“
    Die Krankenschwester versuchte, Jenny sanft zurück in das Zimmer zu schieben.
    „Ich muss gar nichts. Lassen Sie mich durch!“
    Jenny drängte sich an der Frau vorbei und prallte so unglücklich gegen den Servierwagen, mit dem sie schon bei ihrem ersten Versuch Probleme gehabt hatte, dass sie einen stechenden Schmerz im rechten Bein verspürte. Die Polizistin hüpfte mit schmerzverzerrtem Gesicht weiter.
    „Frau Dorn! Bleiben Sie hier!“
    Jenny hatte Glück, dass die Schwester so perplex war, dass sie nicht selbst die Verfolgung aufnahm. Sie hörte sie nach einer anderen Schwester rufen. Als Jenny endlich den Fahrstuhl erreichte, hatten sich beide Kabinen bereits auf den Weg ins Untergeschoss gemacht. Sie drückte den Knopf zu spät. Ein Blick nach hinten verriet ihr, dass die Schwester – mit doppelter Verstärkung – näher kam. Jenny ignorierte ihr schmerzendes Bein und lief zum Treppenhaus. Sie riss die Tür auf und lief los. Die Treppenstufen waren etwas glitschig, was das Laufen nicht gerade leichter machte. Im ersten Stock verschnaufte sie einige Sekunden vor der dortigen Tür, die sich prompt öffnete. Der junge Arzt, der aus der Tür trat, schien es sehr eilig zu haben. Er prallte mit Jenny zusammen, wobei seine Aktentasche auf den Boden fiel und sich öffnete. Für einen Moment war Jenny unschlüssig, ob sie dem Mann beim Einsammeln der herausgefallenen Papiere helfen sollte. Die sich nähernden Schritte nahmen ihr die Entscheidung ab und sie versuchte erneut ihre Hüpftaktik, als sie die letzten Stufen Richtung Erdgeschoss nahm. Plötzlich hörte Jenny, wie jemand im Erdgeschoss die Tür schwungvoll aufriss. Eine starke Windböe wehte hinein und ließ einige Papiere aus der Aktentasche des Arztes auf die Treppenstufen segeln. Jenny konnte nicht mehr ausweichen und rutschte auf den Blättern aus. Sie versuchte noch, sich am Treppengeländer abzufangen, doch es war zu spät. Die junge Polizistin stürzte die Treppe hinab und schlug mit ihrem Kopf auf den kalten Fliesen auf. Sie verlor das Bewusstsein.

  • Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Verwirrt blickte sich die junge Polizistin um. Um sie herum war alles weiß. Sie lag in einem Krankenhausbett. Ihr Kopf dröhnte und sie spürte Schmerzen am ganzen Körper. Dennoch nahm sie das Klingeln wahr. Es kam vom Nachttisch. Jenny griff zu ihrem Handy und starrte das Display an: Anonym.
    „Alex!“, fauchte sie in den Hörer, „wo, verdammt noch mal seid ihr? Ich wurde bereits von einem Bus überrollt und bin die Treppe des Krankenhauses heruntergeflogen! Kannst du mir endlich mal sagen, was hier läuft?“
    „Jenny? Du musst uns unbedingt helfen. Semir und ich haben nur noch eine halbe Stunde bevor...“
    Alex stockte.
    „Bevor was?“
    „Du hast nur noch fünf Versuche, Jenny.“
    „Danke, ich kann auch zählen. Alex! Wo seid ihr?“
    Es knackte. Jenny starrte auf das Handydisplay - sie hatte exakt 30 Sekunden mit Alex gesprochen. Ihre Gedanken rasten. Sie hatte immer nur 30 Sekunden Zeit, mit Alex zu telefonieren und offenbar nur 30 Minuten, um Semir und ihn zu retten - und nur noch fünf Versuche.
    Ohne große Umschweife schnappte sie sich ihre Jacke und riss die Tür auf. Jenny sah eine Krankenschwester mit einem goldfarbenen Umschlag in der Hand. Sie zögerte nur einen kurzen Moment, dann rannte sie los zum Fahrstuhl.
    „Frau Dorn?“
    Dieses Mal hatte sie Glück. Kaum hatte die Polizistin den Knopf gedrückt, hielt die Fahrstuhlkabine und sie stieg ein. Als sie sich umdrehte, sah Jenny den Servierwagen, mit dem sie bereits schmerzliche Bekanntschaft gemacht hatte. Sie atmete tief durch, nachdem sich die Türen des Aufzugs geschlossen hatten.


    Vor dem Haupteingang des Krankenhauses erinnerte Jenny sich wieder daran, dass sie niemandem vertrauen durfte. Sie beschloss, kurz auf den Taxifahrer zu warten, der sie bei ihrem ersten Versuch gefahren hatte, indem sie zum Treppenhauseingang lief. Gleich darauf saß Jenny bereits in der ihr wohlbekannten Taxe.
    „Kapitelstraße 13. Bitte tun Sie an den Ampeln so, als wären Sie farbenblind. Das ist ein Notfall!“, rasselte sie herunter.
    Der Fahrer drehte sich zu ihr um, ein junger Mann mit schwarzen Haaren, schwarzem Bart und osteuropäischen Gesichtszügen.
    „Ich verstehe nicht ganz...“
    „Sie sollen nicht verstehen, sondern losfahren! Sofort!“
    „Jaja, schon gut.“
    Mit einer ruckartigen Bewegung legte der Taxifahrer die Hände zurück ans Steuer. Dabei rutschte der Ärmel seines Hemds ein Stück nach oben. Jenny erstarrte. Auf dem Arm befand sich eine Tätowierung - das Gesicht eines Wolfs. Die junge Polizistin hatte das schon einmal gesehen.
    „Halten Sie an!“
    „Wie bitte?!“
    „Anhalten!“
    „Sie wissen auch nicht, was Sie wollen, oder?“
    Der Fahrer stoppte das Taxi an einer Ampel und drehte sich erwartungsvoll zu Jenny um: „Also? Was ist los?“
    „Zeigen Sie mir den Wolf!“, forderte Jenny sich um eine kräftige Stimme bemühend.
    „Welchen Wolf?“
    „Ihr Tattoo. Es ist doch sicher kein Zufall, dass ein slowakischer Gangsterboss, ein Waffenhändler, der mit allen Wassern gewaschen ist und hier in Deutschland Geschäfte macht, genau das gleiche Tattoo am gleichen Arm auf der gleichen Stelle hat?“
    Der Fahrer starrte sie einen Moment mit ausdruckslosem Gesicht an, dann öffnete er ohne hinzusehen das Handschuhfach und zog einen langen, dünnen Gegenstand hervor.
    „Sie haben Recht. Das ist kein Zufall.“
    Mit einer blitzartigen Bewegung beugte sich der Taxifahrer zu der jungen Polizistin und drückte ihr ein Tuch aufs Gesicht. Jenny schnappte nach Luft. Sie versuchte, den Angriff mit den Händen abzuwehren, wurde jedoch abrupt von Macovados Scherge gestoppt. Mit seiner zweiten Hand umklammerte er Jennys Arme so fest, dass Jenny glaubte, er wollte sie zerquetschen. Ihr Widerstand ließ nach. Schließlich fühlte sie eine Taubheit am ganzen Körper. Ihr Kopf kippte zur Seite und sie wurde ohnmächtig.

  • Als Jenny aufwachte, spürte sie als Erstes heftige Kopfschmerzen. Sie stöhnte und schlug die Augen auf. Sie lag nicht im Krankenhaus, sondern auf einem kalten, sandigen Boden. Jenny bekam Panik. Wo war sie? Was war passiert? Als sich die Polizistin aufrichten wollte, spürte sie, dass ihre Arme und Beine gefesselt waren. Jenny begriff. Ihr dritter Versuch lief noch. Der Taxifahrer hatte sie überwältigt, gefesselt und sie verschleppt. Ihr lief die Zeit davon. Sie hatte für jeden Versuch, Semir und Alex zu retten, nur eine halbe Stunde. War diese bereits um? Sie zwang sich zur Ruhe.
    Eine Uhr, dachte Jenny, ich brauche eine Uhr. Im Krankenhaus war es 12 Uhr mittags gewesen. Plötzlich vernahm sie Schritte. Sie drehte ihren Kopf leicht nach links und sah den Taxifahrer, der sich ein Handy ans Ohr hielt.
    „Noch zwei Minuten? Ja, das werde ich wohl schaffen. Ich glaube, sie schläft sowieso noch. Tja, dann macht es wohl gleich 'Rumms'.“
    Der Fahrer lachte hämisch. Jenny erschrak. Ihr blieben nur noch zwei Minuten. Ihr Entführer beendete sein Telefongespräch und kam direkt auf sein am Boden liegendes Opfer zu. Die junge Frau schloss die Augen und versuchte, sich schlafend zu stellen. Ihr Herz pochte so stark, dass sie glaubte, er musste es hören können.
    „Gleich ist es vorbei“, hauchte er ihr ins Ohr. Jenny zitterte. Endlich entfernte er sich und kehrte ihr den Rücken zu. Schließlich war er außer Sicht- und Hörweite.
    Jenny blickte sich um - dann sah sie es: Sie lag nicht weit entfernt von einer Baugrube, deren Tiefe sie von ihrer Position aus nicht abschätzen konnte. Sie wusste, dass sie sich innerhalb von zwei Minuten nicht befreien und ihre Kollegen retten konnte. Die Polizistin brauchte einen vierten Versuch, den sie vermutlich nur bekam, wenn sie in die Grube stürzte. Vorsichtig zog sie ihre Beine in die richtige Richtung und kam dann mit dem Oberkörper nach.
    Oh Mann, dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen, was mache ich hier. Plötzlich vernahm sie ein seltsames Geräusch, ein lautes Ticken, wie von einer großen Wanduhr. Irritiert blickte sich Jenny um. Sie konnte die Quelle des Geräuschs nicht orten. Als sie für einen Augenblick die Augen schloss, wurde ihr bewusst, dass es in ihrem Kopf tickte. Eine innere Uhr, die ihr signalisierte, dass die Zeit ablief. Jenny atmete tief durch und schüttelte ungläubig den Kopf. Sie konnte es nicht fassen. Das Ticken in ihrem Kopf wurde immer lauter, sodass es ihr schwerer fiel, sich zu konzentrieren. Mit jedem lauteren Tick-tack wurde Jenny nervöser und schneller. Endlich spürte sie unter ihren Beinen keinen Boden mehr.
    „Hey! Was tun Sie da?”
    Der Entführer eilte auf Jenny zu. Der Lautstärkepegel in ihrem Kopf war unerträglich. Ihr blieb keine Zeit mehr, um noch einmal nachzudenken, ob sie gerade das Richtige tat. Mit letzter Kraft schob sie ihren Oberkörper ins Nichts. Jenny fiel in bodenlose Finsternis. Es wurde schwarz vor ihren Augen.

  • Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf. Um sie herum war alles weiß. Jenny atmete erleichtert tief durch. Ihr Plan war in letzter Sekunde aufgegangen. Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass er auch unangenehme Folgen hatte. Ihr Schädel brummte noch stärker und sie spürte einen starken Schmerz im Rücken. Ihr wurde klar, dass es mit jedem missglückten Versuch länger dauern würde, bis sie in der Lage war, klar zu denken. Benommen griff sie in die Richtung, aus der das Klingeln kam - und drückte versehentlich auf „Ablehnen“. Verärgert setzte sie sich auf.
    Na ja, dachte sie dann, ich bekomme ja sowieso ständig das Gleiche zu hören und zählen kann ich auch selbst.
    Es klopfte an der Tür. Die Krankenschwester trat ein und übergab Jenny einen silberfarbenen Umschlag.
    „Frau Dorn, das hier ist eben für Sie abgegeben worden von einem Jungen. Hier, bitte.“
    Geistesabwesend nahm Jenny den Umschlag entgegen. Endlich ließen die Schmerzen nach. Die Polizistin wartete, bis die Schwester das Zimmer wieder verlassen hatte, dann streifte sie ihre Jacke über und drückte die Türklinke herunter. Gerade rollte ihr alter Feind - der Servierwagen - an ihr vorbei. Jenny lief in normalem Tempo zum Fahrstuhl - dieses Mal erreichte sie ihn, als er gerade im Begriff war, wieder den Weg nach oben zu nehmen. Sie rief die Kabine gerade rechtzeitig. Auf dem Weg nach unten wurde Jenny klar, dass man sie überwachte. Es musste einen Weg geben, die Kapitelstraße ohne Taxi und dennoch schnell zu erreichen. Als Jenny durch den Haupteingang des Krankenhauses nach draußen lief, sah sie ihn: einen abfahrbereiten Krankenwagen. Jenny zögerte nicht und riss die Fahrertür auf. Der Schlüssel steckte bereits. Der Fahrer selbst stand nur wenige Meter entfernt in ein Gespräch mit seinem Kollegen vertieft. Als der Motor aufheulte, drehte er sich um und riss ungläubig die Augen auf.
    „Hey! Anhalten! Sofort!“, brüllte er der Polizistin entgegnen. Da Jenny den Befehlen nicht Folge leistete, nahmen die beiden Sanitäter zu Fuß die Verfolgung auf, mussten aber kurz darauf aufgeben.
    Eine Anzeige verriet Jenny, dass es bereits 12:06 Uhr war. Sie durfte bei ihrem Versuch nicht länger als eine halbe Stunde in Anspruch nehmen. Die tickende Uhr in ihrem Kopf hatte ihr verdeutlicht, dass Semir und Alex sonst nicht mehr gerettet werden konnten. Immer noch schossen Jenny viele Fragen durch den Kopf, während sie den Krankenwagen Richtung Kapitelstraße lenkte. Wer hatte ihr den Hinweis zugespielt? Wie hatte Macovado sie gefunden? Warum war sie überhaupt im Krankenhaus gelandet? Und vor allem: Wie kam sie aus dem sich ständig wiederholenden Szenario wieder heraus? Jenny erhoffte sich Antworten auf ihre Fragen in der Kapitelstraße 13. Sie drückte aufs Gas.


    Bereits bei ihrem ersten Versuch hatte Jenny einen Blick auf das Gebäude werfen können. Es war eine große Villa, die hinter einer hohen grünen Hecke, die nur von einem nicht minder hohen Tor unterbrochen wurde, versteckt war. Jenny wurde bewusst, dass sie einen Plan brauchte, um an den Kamin zu kommen. Und dafür blieben ihr nur etwa 12 Minuten. Plötzlich öffnete sich das Tor automatisch und ein hagerer, kleiner Mann trippelte auf den Krankenwagen zu. Jennys Fuß glitt auf das Gaspedal. Mit fuchtelnden Händen bedeutete der Mann ihr, die Scheibe herunterzukurbeln.
    „Wollen Sie vorher noch Ihren Kaffee trinken oder was? Harry braucht Hilfe! Also trödeln Sie nicht rum und fahren Sie zu!“
    „Äh... ja, natürlich. Entschuldigung!“
    Man muss eben auch mal Glück haben, dachte Jenny erleichtert.
    Sie steuerte den Krankenwagen vorbei an Harrys aufgebrachtem Freund, der nicht gemerkt hatte, dass Jenny gar nicht die passende Kleidung trug, auf das Grundstück. Die Villa war umgeben von einer Grünfläche, die sich bis zum Horizont zog.
    Die Polizistin stieg aus, räusperte sich und ging auf den erregten Mann zu: „Wo ist der Verletzte?“
    „Im Haus. Gerade durchgehen und dann links. Ich muss mal dringend auf die Toilette aber ich beeile mich.“
    Ehe Jenny sich versah, war der seltsame Mann um eine Ecke verschwunden.
    Sie betrat - ohne Utensilien aus dem Krankenwagen - das Foyer der Villa. Die Halle war mit mehreren Gemälden an der Wand geschmückt. Ein Kronleuchter hing von der Decke. Jenny gelangte in einen schmaleren Gang, von dem links und rechts unzählige Türen abgingen. Ihr blieb nur wenig Zeit, den Kamin zu finden.
    Die Stille im Haus machte sie misstrauisch. War Macovado hier? Welchen Job hatte der hagere Mann, der gerade die Toilette aufsuchte? Jenny ging mit leisen Schritten geradeaus und spähte dann durch die letzte Tür auf der linken Seite. Ein Mann lag am Boden. Er hielt sich ächzend den Bauch. Plötzlich vernahm Jenny Stimmen. Zwei Personen waren auf dem Weg hierher und die Polizistin hatte keine Ahnung, wo sie sich verstecken konnte. Kurzerhand drückte sie sich genau neben der Tür an einen massiven, dunklen Wandschrank und hoffte, dass ihr die Männer keine Aufmerksamkeit schenken würden.
    „Ich habe gesagt: kein Arzt. Bist du von allen guten Geistern verlassen?“
    „Aber ich dachte...“
    Jenny erkannte die zweite Stimme sofort, sie gehörte Harrys Freund.
    „Du wirst nicht fürs Denken bezahlt, Albert, sondern für die Buchhaltung. Solche Entscheidungen trifft allein der Boss, klar?“
    Auch diese Stimme kam ihr bekannt vor. Jenny kramte nervös in ihrem Gedächtnis. Und dann sah sie ihn. Macovados Anwalt. Sie war ihm kurz auf dem Revier begegnet, er kannte ihr Gesicht! Instinktiv drückte Jenny sich tiefer in ihre Ecke.
    „Jaja. Schon gut. Aber der Boss ist nun mal nicht hier.“
    „Dann fragst du mich, verdammt. Ich mach mir jetzt selbst ein Bild von ihm.“
    Erleichtert registrierte Jenny, dass der Anwalt mit Albert das Zimmer betrat. Doch die Tür ließ er offen.
    „Wo ist denn diese Ärztin?“, hörte sie
    Karafa misstrauisch fragen.
    „K-keine Ahnung, ich hab sie hier hin geschickt.“ Alberts Stimme zitterte. Jenny wagte sich ein Stück vor - und bemerkte den Kamin an der rechten Wand.
    „Die kann ja nicht weit sein. Los, komm mit!“
    „Und was ist mit Harry?“
    „Er wird uns schon nicht abhanden kommen. Jetzt komm endlich!“
    Karafa zerrte den verunsicherten Albert aus dem Zimmer. Jenny wartete, bis die beiden Männer außer Hörweite waren, dann trat sie ein. Sie riskierte zunächst einen Blick auf Harry. Zuerst hatte sie geglaubt, dass er an Bauchkrämpfen litt, dann sah sie jedoch das Blut. Offenbar hatte sich Harrys Schulter eine Kugel eingefangen. Jenny wusste, dass sie keine Zeit hatte, um Harry zu helfen. Gerade hatte sie den Kamin erreicht und einen darauf festgeklebten, silberfarbenen Umschlag entdeckt, als der Verletzte seinen Kopf zu ihr drehte.
    “Hey... Hil... Hilfe“, röchelte er.
    Jennys Gewissen meldete sich. Semir und Alex schwebten wahrscheinlich in Lebensgefahr, aber konnte sie einen Verletzten einfach hier seinem Schicksal überlassen? Jenny kniete neben dem Mann nieder und öffnete den Briefumschlag. Es war wieder eine Nachricht:
    Sehr gut! Als Nächstes müssen Sie ein Hausboot aufsuchen. Es heißt „Serafina“ und liegt in Köln. Vertrauen Sie niemandem!
    Der Polizistin wurde abwechselnd heiß und kalt. Wollte die geheimnisvolle Person überhaupt, dass sie Semir und Alex fand? Wie viele Versuche benötigte sie noch?
    „Hilfe...“
    Harry sah Jenny flehend an.
    In diesem Moment nahm Karafa ihr die Entscheidung ab: „Wer sind Sie? Was haben Sie hier verloren?”
    „Das ist sie, diese Notärztin.“ Albert kam hinter Karafa ins Zimmer und deutete anklagend mit dem Finger auf Jenny.
    „Pah. Albert, hast du sie noch alle? Hat sie vielleicht nen Erste-Hilfe-Kasten dabei oder sieht sie aus wie eine Notärztin, hm? Sei froh, wenn Macovado das nicht erfährt. Also Schätzchen, mitkommen! Hab ich dich nicht schon mal gesehen?“
    Jenny tat so, als wollte sie keinerlei Widerstand leisten. Karafa packte sie und wollte sie zur Zimmertür ziehen. In diesem Moment schlug die Polizistin zu. Ihre Faust landete unter Karafas Kinn. Jenny nutzte den Überraschungsmoment und holte mit dem rechten Bein aus. Karafa fing sich unglaublich schnell wieder. Der Anzugträger wollte Jenny mit einem gezielten Schlag ins Reich der Träume schicken, doch im letzten Augenblick wich sie aus. Jenny traf Karafas Gürtel mit einem Tritt. Er strauchelte, fiel aber nicht. Die Polizistin spürte von hinten, wie jemand an ihren Nacken griff. Jenny wirbelte herum und schubste Albert nach hinten, der den Halt verlor. Karafa schlang seine Arme währenddessen um Jennys Oberkörper. Mit festem Griff zerrte er sie Richtung Fenster und öffnete es. Jenny erstarrte. Direkt darunter befand sich ein prall gefüllter Graben.
    „Guten Flug“, ächzte der Anwalt und gab ihr einen Stoß. Jenny wehrte sich nicht mehr. Vielleicht war es die einzige Chance, rechtzeitig einen neuen Versuch starten zu können. Schließlich blieb ihr kaum noch Zeit und den Hinweis hatte sie gelesen. Sie fiel kopfüber nach unten - direkt in die dunkle Brühe. Dann spürte sie nichts mehr.

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  • Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf. Um sie herum war alles weiß. Ihr Schädel brummte gehörig. Fast schon routiniert griff sie zum Handy und nahm das Gespräch entgegen:
    „Alex? Wo liegt dieses Hausboot, diese Serafina?“
    „Jenny? Du hast nur noch drei Versuche, dann ist alles aus...“
    Jenny kochte vor Wut: „ALEX! Ich reiße mir hier den Arsch für euch auf, jetzt hilf mir gefälligst!“
    „Ich habe keine Ahnung von einem Hausboot.“
    „Na toll“, schnaubte die Polizistin, „und wer spielt mir diese Hinweise zu?“
    „Sie...“ Es knackte. Die 30 Sekunden waren um.
    Also eine Frau, dachte Jenny. Aber darum konnte sie sich auch später noch kümmern. Sie durchforstete das Telefonbuch des Handys und wählte Hartmuts Nummer. Der KTU-Mitarbeiter meldete sich sofort.
    „Hartmut? Hier ist Jenny. Hör zu, ich brauche dringend eine Info von dir. Irgendwo in Köln liegt ein Hausboot namens Serafina. Kannst du den Ort rausfinden?“
    „Ja klar, kein Problem. Was ist denn los?“
    „Frag nicht. Ruf zurück, wenn du was hast. Danke.“
    Jenny legte in dem Moment auf, als die Krankenschwester hereinkam.
    „Lassen Sie mich raten - den hat ein Junge für mich abgegeben?“, konnte sie sich nicht verkneifen.
    Die Schwester sah sie verwundert an: „Äh... ja. Woher...?“
    „Egal. Vielen Dank.“
    Die Tür schloss sich wieder, nachdem die Frau Jenny noch einmal eindringlich gemustert hatte.
    Dieses Mal öffnete die Polizistin den Umschlag, weil sie sich neue Informationen erhoffte. Sie wurde enttäuscht. Der Hinweis war wieder der selbe auf die Kapitelstraße 13. Schließlich erhob sie sich und warf sich ihre Jacke über. Verwundert bemerkte sie, dass es nicht raschelte. Als sie ihre Jackentasche kontrollierte, bekam sie Gewissheit: Die 50 Euro waren verschwunden!


    Als Jenny das Krankenhaus durch den Haupteingang verließ, sah sie gerade noch den Krankenwagen wegfahren. Die Polizistin war zu langsam gewesen. Sie lief zur Straße und hielt den Daumen hoch, gab aber schon kurz darauf auf. Niemand wollte anhalten. Ihr blieb keine andere Wahl, als das einzige Taxi zu nehmen, welches frei war: Jenes mit Macovados Scherge als Fahrer. Dieses Mal durfte sie einfach nicht mit ihm reden. Schließlich hatte er sie ja bei ihrem ersten Versuch auch zur Kapitelstraße gebracht. Gerade als Jenny Platz nahm, klingelte ihr Handy. Es war Hartmut, der den Standort der „Serafina“ lokalisiert hatte. Jenny gab seine Informationen an den Taxifahrer weiter.
    Dann dachte die Polizistin erschrocken an das nicht vorhandene Geld. Offenbar stand es ihr nicht mehr zur Verfügung, weil sie es bei ihrem letzten Versuch nicht beansprucht hatte. Obwohl ihr bewusst war, dass die 50 Euro nicht wieder auftauchen würden, wühlte sie während der Fahrt zum Hausboot immer wieder in ihren Taschen. Vergeblich. Plötzlich machte der Fahrer eine Vollbremsung. Erschrocken blickte Jenny nach vorne: Gerade ratterte ein Zug über den Bahnübergang.
    „Sorry“, murmelte Macovados Gehilfe.
    Der hat Nerven, dachte die junge Frau. Aber eigentlich sollte mich nichts mehr schocken, nach dem was heute schon alles passiert ist.
    Als Jenny unauffällig begann, das Taxi näher mit Blicken zu untersuchen, fiel ihr etwas auf, was vor der Vollbremsung noch nicht dagewesen war: unter einer kleinen schwarzen Fußmatte im Fußraum des Beifahrersitzes ragte eine silberfarbene Waffe hervor. In diesem Moment wusste Jenny, was sie tun musste.


    Kurze Zeit später hielt der Wagen an und Jenny stieg aus. Sie öffnete sofort die Beifahrertür und tat so, als würde sie ihn ihrer Jackentasche nach Geld kramen.
    „16,20€, bitte“, sagte der Fahrer schroff ohne Jenny wirklich anzusehen. Sie beugte sich vor und griff mit einer pfeilschnellen Bewegung zur Fußmatte. Schon lag die Waffe in ihrer Hand: „Hände hoch!“
    Langsam leistete Macovados Scherge dem Befehl Folge.
    „Und? Was willst du jetzt? Mich abknallen?“
    „Antworten will ich. Einfach nur ein paar Antworten. Zunächst will ich mal wissen, wo meine Kollegen sind.“
    Jenny starrte den Typ vor ihr finster an und hielt die Waffe fest umklammert.
    „Pff. Und wenn ich es dir nicht sage, jagst du mir eine Kugel ins Gehirn?“
    „Wenn Sie es drauf ankommen lassen wollen, gerne.“
    Auf Jennys Stirn brachen Schweißperlen aus. Sie brauchte Zeit.
    „Rauskommen! Wie heißen Sie?“
    „Boris Jacik. Sonst noch Fragen?“
    Völlig unbeeindruckt von der Waffe, die Jenny auf ihn richtete, stieg Jacik aus dem Taxi und sah die Polizistin erwartungsvoll an.
    „Wir gehen jetzt gemeinsam zur Serafina. Ich denke, du weißt ganz gut, wo ich sie finden kann, oder?“
    Jacik brummte unwirsch: „Ich kenne keine Serafina.“
    Jenny machte einen Schritt auf ihn zu und drückte mit der Waffe gegen dessen Kopf: „Verarsch mich nicht. Los, vorwärts!“
    Ihr Fahrer begann zu grinsen: „Mädchen, weißt du überhaupt, wie man damit umgeht? Wenn du schon auf mich zielst, solltest du wenigstens die Waffe entsichern.“
    „Was...“
    Für einen Moment war Jenny irritiert. Jacik nutzte seine Chance und schlug ihr die Waffe aus der Hand. Er hob sie auf und zielte direkt auf Jennys Stirn.
    „So ein Pech aber auch...“
    Die Polizistin trat zu. Jacik war so überrascht, dass ihm die Waffe aus der Hand rutschte. Jenny nahm sie auf, schmiss sie ins Wasser und während Jacik fassungslos seiner Pistole hinterherblickte, holte sie mit einem am Boden liegenden Stück Treibholz aus und schickte ihren Taxifahrer ins Reich der Träume. Sie ärgerte sich, dass ihr die Aktion keine neuen Erkenntnisse gebracht hatte. Jetzt lief ihr die Zeit davon. Sie musste schnellstmöglich zur Serafina.

  • Die „Serafina“ war ein kleines, relativ unauffälliges Boot, dass zwischen einigen Rennbooten und einer weißen Yacht ziemlich fehl am Platz aussah. Jenny sprang ohne zu Zögern direkt an Bord, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass niemand an Deck war. Es gab nur eine Schiebetür, durch die Jenny in eine enge Kajüte gelangte, in der sie kaum aufrecht stehen konnte. Es gab ein Holzbett, daneben einen Nachttisch, auf dem eine Lampe stand und einen Schreibtisch zu bestaunen. Doch es lagen nirgendwo Sachen herum, es schien, als hätte niemand dieses Boot in letzter Zeit benutzt. Jenny öffnete die Schreibtischschublade, doch außer ziemlich viel Staub befand sich nichts darin. Ihr lief die Zeit davon. Als Nächstes inspizierte die Polizistin das Bett und den Nachttisch - ebenfalls ohne Ergebnis. Jenny legte sich auf den nicht gerade sauberen Boden und spähte unter das Holzbett - auch hier war kein weiterer Umschlag angebracht. Plötzlich vernahm sie von draußen ein Geräusch. Ehe sie nachsehen konnte, hatte jemand die Schiebetür bereits zugesperrt. Jenny erkannte den Taxifahrer. Er hielt zu ihrem Entsetzen einen Benzinkanister in der Hand und verteilte dessen Inhalt großzügig an Deck und an den Seitenwänden. Dann sprang er zurück auf den Steg und zückte ein Feuerzeug. Fassungslos hämmerte Jenny gegen die Tür - aber weit und breit war niemand zu sehen - und an der Decke fehlte der Rauchmelder. Gleich darauf loderten die ersten Flammen. Jennys einzige Chance war es, die Scheibe einzuschlagen - doch womit? In ihrer Verzweiflung riss sie mit einem kräftigen Ruck die Schreibtischschublade heraus - dabei purzelte etwas zu Boden: ein Briefumschlag! Hastig riss die Polizistin ihn auf und überflog den Text:
    Glückwunsch, Sie sind fast am Ziel! Macovado wird um 12:00 Uhr einen großen Deal auf einem leerstehenden Fabrikgelände einer Papierfabrik in Porz abschließen. Danach werde ich zu Ihnen stoßen und Ihnen die ganze Geschichte erklären. Bitte greifen Sie nicht ein!
    Jenny steckte den Zettel ein und nahm die Schublade in die Hand. Mit aller Kraft warf sie sie gegen die Scheibe - und hatte Glück. Doch jetzt schossen die Flammen direkt auf sie zu. Jennys Atemhäute wurden gereizt, sie musste husten. Die Rauchentwicklung schritt immer weiter voran. Panik stieg in der Polizistin auf. Mehr oder weniger blind stolperte sie durch die Glassplitter. Gerade als sie sich zurück auf den Steg begeben wollte, gab es hinter ihr eine Stichflamme, auf die eine Explosion folgte. Diese Wucht riss Jenny den Boden unter den Füßen weg, sie stieß sich an einem herumfliegenden Metallteil den Kopf und verlor, während sie ins Wasser fiel, das Bewusstsein. Alles wurde schwarz.


    Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Verwirrt blickte sich die junge Polizistin um. Um sie herum war alles weiß. Am liebsten hätte sie sich einfach auf die Seite gedreht und wäre wieder eingeschlafen. Es war mittlerweile ihr sechster Versuch und Jenny spürte am ganzen Körper die Folgen der letzten fünf Versuche.
    Sie holte tief Luft und nahm das Gespräch entgegen: „Alex, bitte, kann ich diesem Briefeschreiber vertrauen, ja oder nein?“
    „Jenny? Du musst uns helfen. Semir und ich...“
    Jenny hätte das Handy fast vor Wut gegen die Wand geschmissen: „Verdammt nochmal, ja, ich habe nur noch zwei Versuche! Wärst du so freundlich jetzt bitte meine Frage zu beantworten?“
    „Wer schreibt dir denn Briefe?“, kam stattdessen eine Gegenfrage.
    Die Polizistin legte auf und warf sich verzweifelt auf den Bauch, doch die Schmerzen wurden nicht besser. Eine Träne kullerte über ihre Wange. Sie wusste einfach nicht weiter. Würde sie je aus diesem Albtraum entkommen können? Es klopfte an der Tür und die Krankenschwester trat ein.
    „Frau Dorn, das hier ist... geht es Ihnen gut?“
    „Es ging mir nie besser“, zischte Jenny verächtlich. Sie wollte einfach nur in Ruhe gelassen werden.
    „Sind Sie ganz sicher?“
    Jenny wandte sich direkt zu der Schwester und blickte ihr in die Augen: „Bitte gehen Sie jetzt!“
    „Vielleicht sollten Sie ein Beruhigungsmittel...“
    Die Polizistin konnte sich nicht mehr beherrschen. Sie packte die Schwester am Arm und starrte sie wütend an: „Verschwinden Sie! Sofort!“
    Als die Krankenschwester versuchte, sich loszureißen, sah Jenny es - und erstarrte. Die Schwester folgte ihrem Blick - und griff mit der anderen Hand langsam in ihre Kitteltasche. Sie zog ein kleines Sprechfunkgerät hervor und betätigte eine Taste: „Alle verfügbaren Leute sofort ins Zimmer 209. Frau Dorn möchte unsere Zelle kennenlernen.“
    Jenny warf ihr einen stummen, fassungslosen Blick zu.
    Lächelnd wandte sich die Frau ihr zu: „Tut mir Leid. Sie haben ihre Chance verspielt, hier lebend herauszukommen...“

  • Tut mir Leid, dass es zu einer längeren Pause gekommen ist. Teil 12 folgt am 20. oder 21.12., Teil 13 (das letzte Kapitel) spätestens am 23.12. Danke für euer Verständnis.


    Die Spritze traf Jennys Vene millimetergenau. Sie unterdrückte einen Schrei und ließ den anderen Arm der falschen Krankenschwester los. Diese bugsierte sie sanft zurück ins Bett und lächelte sie süffisant an. Ihre Stimme klang jetzt widerlich freundlich: „Alles wird gut. Jetzt geht es erst mal auf große Fahrt.“
    Kaum hatte die Schwester das Bett losgemacht, polterten drei Männer in weißen Kitteln ohne anzuklopfen in das Zimmer. Die Krankenschwester deutete auf ihr Tattoo, einen Wolfskopf, mehr war nicht nötig, sofort wurde Jenny aus dem Zimmer geschoben. Sie wollte etwas sagen, doch es gelang ihr nicht. Die Polizistin fühlte sich wie gelähmt. Alles schien vor ihren Augen zu verschwimmen. Gleichzeitig wusste sie jedoch, dass jetzt ihre einzige Chance war, der anstehenden Kerkerhaft zu entgehen. Sie kannte das Krankenhaus, in dem sie sich befand, recht gut und bei ihren vorherigen Versuchen war das eine oder andere bekannte Gesicht an ihr vorbeigelaufen. Folglich hatte Macovado nur einige seiner Leute eingeschleust. Jenny war klar, dass sie jemanden auf sich aufmerksam machen musste.
    Und sie hatte Glück: Gerade als ihre Entführer ihr Bett in den Bettenaufzug schoben, quetschte sich eine junge Krankenschwester noch mit in den Aufzug, deren Namensschild sie als Schwester Katharina auswies: „Entschuldigung, ich habe es eilig! Ins Erdgeschoss bitte.“
    Widerwillig, aber kommentarlos drückte einer der Männer im weißen Kittel den gewünschten Knopf.
    „Hil…“
    Weiter kam Jenny nicht. Die falsche Schwester drückte ihr sanft die Hand auf den Mund. Neugierig blickte Schwester Katharina zu Jennys Bett: „Was hat sie denn?“
    „Schwere Probleme, nicht die Kontrolle über sich selbst zu verlieren. Sie muss sofort in eine andere Klinik transportiert werden.“
    Ungläubig blickte Schwester Katharina ihre falsche Kollegin an: „Danach sieht die Patientin aber nicht aus… Wie heißt denn ihr betreuender Arzt?“
    „Müssen Sie alles wissen?“, funkte einer der Männer unwirsch dazwischen.
    Erschrocken fuhr Schwester Katharina zurück: „Äh, nein. Natürlich nicht. Aber mir ist so, als hätte ich die junge Frau schon einmal gesehen…“
    In diesem Moment durchzuckte Jenny ein Geistesblitz. Ihr Polizeiausweis war nicht in ihrer Jacke, sondern in der Hosentasche. Wenn sie es schaffte, den Ausweis Schwester Katharina im richtigen Moment zuzuspielen, würde die wissen, dass Gefahr im Verzug war.
    „Erdgeschoss. Gehen Sie bitte einmal zur Seite, wir müssen zuerst raus“, brummte ein Entführer die Schwester an.
    Im Erdgeschoss öffneten sich beide Türen, eine führte zum Haupteingang und zur Rezeption, auf der anderen Seite lagen OP-Schleuse, Intensivstation und Aufwachraum. Jennys Hand glitt in die Hosentasche und fischte den Ausweis – zusammen mit einem etwas klebrigen Bonbonpapier – heraus. Als sie ihn fallen lassen wollte, klebte sich das Papier an ihrem Zeigefinger fest. Jenny schüttelte ihre Hand, doch durch die Spritze hatte sie deutlich weniger Kraft. Als es ihr endlich gelang, den Ausweis auf den Boden zu befördern, war dessen Auftreffen deutlich zu vernehmen. Schwester Katharina hatte den Vorgang zunächst verwundert verfolgt, hob nun aber reaktionsschnell Jennys Ausweis auf und tat so, als wäre es ihrer. Sie verließ den Fahrstuhl auf der anderen Seite und die Türen schlossen sich wieder. Jetzt konnte Jenny nur hoffen, denn viel Zeit hatte sie nicht mehr.


    „Schau mal unauffällig nach hinten.“
    Die Entführer hatten Jenny in einen abfahrbereiten Krankenwagen umgeladen und waren sofort losgefahren. Doch jetzt spürte sie, dass der Fahrer des Wagens unruhig wurde. Die falsche Krankenschwester drehte sich um.
    „Und? Werden wir verfolgt?“
    „Das ist doch die Schwester von vorhin. Was will die? Hatte sie es nicht eben noch furchtbar eilig?“
    „Vielleicht ist es ja auch nur ein dummer Zufall“, beschwichtigte der Beifahrer seine Kollegen.
    „Das werden wir feststellen!“ Schon schoss der Fahrer ohne zu blinken nach links in eine Straße.
    Abermals sah sich die Schwester um: „Sie ist uns nicht gefolgt.“
    Jenny bekam Panik. War es wirklich nur ein Zufall gewesen oder hatte Katharina noch ein Ass im Ärmel?
    Sie hatte. Nur zwei Minuten darauf fuhr der Krankenwagen direkt auf eine Polizeisperre zu.
    „Ruhig bleiben, nichts anmerken lassen“, gab die falsche Schwester dem Fahrer zu verstehen.
    „Keine Sorge. Ich mache meinen Job schon etwas länger“, gab dieser zurück.
    Schon wurde er aufgefordert, die Scheibe herunterzukurbeln.
    „Ihren Führerschein bitte!“
    „Entschuldigung, wir haben einen dringenden Einsatz. Wenn Sie uns also nicht länger aufhalten würden…“
    Jennys Kollege ließ sich davon nicht beeindrucken: „Wir würden gerne mal sehen, wen sie da transportieren. Öffnen Sie bitte mal die hinteren Türen.“
    „Aber warum, ich glaube hier liegt eine Verwechslung vor.“
    „Um das festzustellen, sollten Sie meine Anweisung befolgen. Wenn nichts ist, können Sie sofort weiterfahren.“
    Der Fahrer warf einen flüchtigen Blick zum Beifahrer, dann gab er Gas. Der Wagen durchbrach die Polizeisperre nur mit viel Glück und schlitterte anschließend auf der Fahrbahn herum. Schnell gelang es dem Fahrer jedoch, die Kontrolle über das Fahrzeug zurückzugewinnen. Er bog rechts ab und bemerkte sofort, dass er einen Fehler gemacht hatte. Erst vor wenigen Minuten hatte es auf der Straße einen Unfall gegeben, die Stelle war noch nicht abgesichert worden. Ein LKW hatte literweise Öl verloren.
    „Brems doch“, brüllte die Krankenschwester von hinten. Doch es war zu spät. Der Krankenwagen rollte nach rechts direkt auf ein Baugerüst zu. Jenny schloss die Augen, als es krachte. Bei dem Aufprall wurde sie zur Seite geschleudert und stieß sich den Kopf. Es wurde schwarz um sie.

  • Ein leises Klingeln riss Jenny aus dem Schlaf. Sie schlug die Augen auf. Um sie herum war alles weiß. Die Polizistin atmete einige Male tief durch und fuhr dann hoch. Sie biss die Zähne zusammen, ihr Kopf brummte gehörig und ihr Rücken schmerzte so stark wie noch nie zuvor, aber sie musste sich zusammenreißen. Jenny steckte das klingelnde Handy in ihre Jackentasche und wankte mehr oder weniger zur Tür. Sie wiederholte ihre Atemübungen. Nur allmählich begann der Schmerz nachzulassen.
    Egal, dachte sie, Augen zu und durch!
    Mit Schwung riss Jenny die Tür auf und legte einen Sprint zum Fahrstuhl hin. Während sich die Türen öffneten, konnte sie verschnaufen.
    „Frau Dorn?“
    Die falsche Krankenschwester hatte sie entdeckt. In ihrer Hand hielt sie den Umschlag. Jenny begab sich in die Kabine, drückte den Knopf für das Erdgeschoss und sah, wie die Schwester näher kam.
    „Kommen Sie bitte da raus?“
    Geh zu, betete Jenny im Stillen, geh endlich zu.
    Die Türen setzten sich in Bewegung, die Schwester hatte bereits die automatische Stationstür passiert und kam weiter auf die Polizistin zu. Für einen Moment sah es so aus, als könnte sie noch rechtzeitig ihren Fuß zwischen die Türen stellen. Doch dann begann der Lift endlich, nach unten zu fahren.

    Der Krankenwagen rollte gerade als Jenny durch den Haupteingang das Krankenhaus verließ dorthin, wo die junge Frau ihn bei ihrem vierten Versuch entführt hatte. Der Fahrer stieg aus, als er seinen Kollegen auf sich zukommen sah:
    „Ah, Herbert, warte mal kurz. Ich muss dich sprechen.“
    „Worum gehts? Ich hab nicht viel Zeit!“
    Herbert ließ die Tür offen stehen. Mit einem Blick auf eine Ärztin, die in Hörweite stand und auf ihrem Handy tippte, trat sein Freund näher an ihn heran und meinte: „Komm ein Stück weiter. Dahinten steht Cornelia. Die muss das nicht unbedingt mitkriegen.“
    Herbert wurde unruhig: „Nur eine Minute, klar?“
    „Sonnenklar. Los jetzt!“
    Die beiden Männer entfernten sich ein Stück weit, aber Herbert behielt den Wagen im Blick. Jenny sammelte noch einmal kurz ihre Kräfte, dann riss sie die Tür weiter auf und kletterte ins Führerhaus.
    „Hey! Sofort anhalten! Stopp!!“, brüllte Herbert ihr entgegen.
    Schon rannte er direkt auf sie zu. Im letzten Moment konnte Jenny bremsen. Sofort legte sie den Rückwärtsgang ein und bog anschließend nach rechts ab. Herbert hatte keine Chance mehr.


    Jenny erreichte die Papierfabrik dank des Blaulichts bereits gegen 12:15 Uhr. Die Fabrik hatte vor einigen Jahren pleite gemacht, seitdem hatte niemand mehr das Grundstück gepachtet oder gekauft. Kleine Kinder nutzten die nie verschlossenen, verwaisten Hallen gelegentlich als Spielplatz für Mutproben, wenngleich an einigen Türen ein „Eltern haften für ihre Kinder“-Schild prangte. Heute jedoch war die Fabrik der Schauplatz einer ganz anderen Aktion; dem illegalen Verkauf verschiedenster Waffen. Jenny parkte etwas abseits und lief zur nächstbesten Wand, an der sie sich nach vorne zu einer unverschlossenen, halb verfallenen Tür arbeitete. Es reichte bereits, sie einen Spalt aufzustoßen. Die Polizistin sah Macovado, zudem kam ihr die junge, rothaarige Frau neben ihm sehr bekannt vor, Macovado hatte sie „Aurélia“ genannt. Jenny war gerade rechtzeitig gekommen, um mitzuerleben, wie Geld und Waren verladen wurden. Kurz darauf raunte Aurélia dem Waffenhändler etwas zu. Dieser nickte und heizte dann seine Jungs an, sich zu beeilen. Nur wenig später fuhren zunächst zwei LKWs, dann drei schwarze Vans durch ein großes Tor aus der Halle. Macovado gab Aurélia einen Kuss auf die Wange, dann sprang er in einen der Vans. Jetzt war Aurélia allein. Jenny war sich unschlüssig, was sie jetzt tun sollte. Dann aber entschied sie sich für die Offensive. Schlimmer konnte es schließlich nicht mehr werden. Mit großen Schritten ging sie auf die rothaarige Frau zu, die komplett in einer schwarzen Motorradkluft steckte.
    „Sie wollten mich sprechen?“, kam sie sofort zum Punkt.
    Aurélia wandte sich um: „Jenny Dorn, nicht wahr? Aurélia Lasarew. Kriminalhauptkommissarin aus Berlin. Abteilung 4, zuständig für qualifizierte Eigentumskriminalität, wie zum Beispiel Waffenhandel. Ich würde Ihnen gerne meinen Ausweis zeigen, aber sie wissen ja wahrscheinlich selbst, dass man den als verdeckte Ermittlerin nicht bei sich trägt.“
    „Sie sind eine Kollegin?“, fragte Jenny verwundert.
    „So ist es. Ich wurde vor eineinhalb Jahren in Gregor Macovados Bande eingeschleust. Mittlerweile hat er sich in mich verliebt, was die Arbeit ziemlich erleichtert. Gleichzeitig wird das Risiko immer größer, enttarnt zu werden. Gregor hat mich eigentlich bei allen größeren Deals mit dabei und er sucht bereits nach einer undichten Stelle. Deshalb habe ich mich zur Kooperation mit der Autobahnpolizei entschlossen, weil Sie und Ihre Kollegen ihn jagen, nicht wahr?“
    „Stimmt. Aber wo sind meine Kollegen jetzt?“ Jenny tippte nervös mit einem Fuß auf den anderen.
    „Ich wollte Ihnen am Hafen schon alles erzählen. Aber dann sind ihre Kollegen dazwischen gekommen. Gregors Männer haben sie erwischt, aber offenbar hat es jemand von Ihren Kollegen geschafft, Ihnen einen Krankenwagen zu rufen. Deshalb wurden sie liegen gelassen. Gregor hat daraufhin Ihren Standort herausgefunden und einige Leute in das Krankenhaus eingeschleust. Die haben angehört, wie sich zwei Ärzte über Ihren Zustand unterhalten haben. Sie sprachen von einer Amnesie, Sie konnten sich nicht erinnern. Da haben Gregors Leute den Auftrag bekommen, Sie zu überwachen. Er hat heute noch ein großes Ding vor und will keinen Fehler machen.“
    „Besonders gut aufgepasst haben Macovados Leute aber nicht. Ich konnte relativ problemlos hierher fahren“, warf Jenny ein.
    „Das war Absicht. Sie sind überall überwacht worden. Gregor wollte wissen, an was Sie sich erinnern, Frau Dorn. Die Krankenschwester, die Ihnen meine Nachricht überbracht hat, weiß natürlich, dass Macovado mir vertraut. Ich musste ihr nur sagen, dass der Brief vom Chef höchstpersönlich kommt. Das hat sie kommentarlos geschluckt. Und dann habe ich Ihnen an jeder Station einen Brief hinterlassen. Ich dachte mir, dass Sie von selbst drauf kommen würden, dass man Sie überwacht und dass Sie dann auf dem Weg zur Papierfabrik alle Verfolger abschütteln.“
    Jenny wurde flau im Magen – darauf hatte sie nicht geachtet. „Und warum haben Sie mir nicht gleich im ersten Brief den Treffpunkt verraten?“
    Aurélia zuckte mit den Schultern: „Weil ich selbst erst kurz zuvor darüber informiert worden bin. In diesem Punkt vertraut Gregor tatsächlich absolut niemandem.“
    Aurélia holte kurz Luft, bevor sie fortfuhr: „Ihre Kollegen sind dort, wo das Treffen an Halloween stattgefunden hat. Sie sollten sich beeilen.“
    Jenny lief auf den Ausgang zu, in der Hoffnung, dass ihre Verfolger tatsächlich die Fährte verloren hatten.
    Dann drehte sie sich noch einmal um: „Und die sieben Versuche? Was hat es damit auf sich?“
    Die verdeckte Ermittlerin runzelte die Stirn: „Sieben Versuche?“
    „Jedes Mal, wenn ich etwas falsch gemacht habe, bin ich wieder im Krankenhausbett aufgewacht. Jedes Mal klingelte mein Handy und immer war mein Kollege für genau 30 Sekunden dran. Jedes Mal hatte ich für einen Versuch nur 30 Minuten Zeit und wenn ich nicht vor Ablauf dieser Zeitspanne irgendwo runtergefallen, überfahren oder in die Tiefe gestürzt wäre, wäre alles aus gewesen.“
    Jenny schloss die Augen. Vor ihrem geistigen Auge liefen ihre missglückten Versuche erneut ab. Der Bus, der sie überfahren hatte, die Treppe, auf der sie ausgerutscht war, das Fenster, aus dem Macovados Anwalt sie geworfen hatte, die Grube, in die sie gestürzt war, die Explosion, die sie ins Wasser befördert hatte und zuletzt das Baugerüst, gegen das ihre Entführer gekracht waren. Als sie ihre Augen wieder öffnete, war Aurélia verschwunden.
    Jenny hatte keine Zeit, um darüber nachzudenken, sie hechtete zum Krankenwagen, stieg ein und gab Gas.


    Mit quietschenden Reifen stoppte die Polizistin den Wagen genau an der Stelle, an der sie mit Alex an Halloween ebenfalls geparkt hatte. Sie stieg aus, vergaß jede Vorsicht und rannte zum Eingang der Halle. Schon von weitem sah sie zwei Männer, die nebeneinander auf einer Kiste saßen.
    „Semir! Alex!“, brüllte Jenny ihnen glücklich entgegen. Endlich hatte sie ihre Kollegen gefunden.
    „Jenny! Du musst diese Ketten aufkriegen“, rief Alex zurück.
    Noch während Jenny sich nach einem Gegenstand umsah, mit dem sie die Fesseln zerschlagen konnte, bemerkte sie plötzlich einen riesigen Schatten. Sie wandte sich um – und erstarrte. Ein Container von einem nicht weit von Semir und Alex entfernten Turm hatte den Halt verloren und krachte langsam nach unten. Entsetzt rannte Jenny in Semirs und Alex‘ Richtung, doch ihre Beine schienen zu versagen. Wie in Zeitlupe sah sie das gewaltige Geschoss auf die Kiste zusteuern, auf der ihre Kollegen saßen. Jenny hatte sie bereits fast erreicht, als es krachte.
    Fassungslos blickte die Polizistin die Stelle an, auf die der Container aufgetroffen war.
    „Nein… NEIN!“
    Die Wucht riss ihr den Boden unter den Füßen weg, sie knallte mit dem Kopf auf den Boden – und verlor das Bewusstsein.

  • „Jenny! Jenny, wach auf! Bitte, bitte, wach auf...“
    Jenny spürte, wie jemand ihren Kopf bewegte. Sie lag auf einem kalten Boden. Vorsichtig öffnete sie ihre Augen. Zunächst bekam sie nur ein verschwommenes Bild. Sie nahm die erleichterte Stimme von Alex wahr:
    „Gott sei Dank.“
    „Wie lange...?“
    „Eine halbe Stunde. Semir jagt Macovado und seine Komplizen, mein Handyakku ist leer, deins hat kein Netz und ich habe dein Kostüm nicht aufbekommen. Der Reißverschluss von vorhin... Ehrlich gesagt hatte ich echt Angst um dich“, entgegnete Alex. Bei seinem letzten Satz musste er lächeln.
    Endlich konnte die Polizistin sein Gesicht erkennen. Sie drehte den Kopf und sah sich um. Sie lag vor der Halle, vor der jemand von Macovados Männern sie erwischt hatte. Plötzlich schossen ihr wieder die Bilder durch den Kopf, wie sie mit Semir und Alex die Ankunft von Macovados und seinen Leuten beobachtete. Ihr inneres Auge fokussierte sich auf die Türme aus Containern.
    Schlagartig wurde ihr bewusst, was sie zu tun hatte. Ohne auf den pochenden Schmerz an ihrer Schulter zu achten, richtete sie sich auf und zog Alex weg: „Lauf!“
    Die Erkenntnis kam keine Sekunde zu spät. Es war die gleiche Situation, wie bei ihrem siebten Versuch. Nur hatte Jenny dieses Mal - in der Realität - das Richtige getan. Kaum waren Alex und Jenny einige Meter entfernt, krachte einer der Container eines meterhohen Turmes direkt auf die Stelle, an der sich Alex vor wenigen Sekunden noch über seine verwundete Kollegin gebeugt hatte. Jenny verstand. Gleichzeitig schauderte sie.
    Mit offenem Mund starrte Alex erst den heruntergekommenen Container und dann Jenny an: „Wie... wie hast du...“
    Die Polizistin konnte es selbst nicht fassen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
    Ein Auto kam auf die beiden zugesteuert. Semir stieg mit besorgter Miene aus:
    „Jenny! Alex! Alles ok? Ich hab nen Krankenwagen bestellt. Müsste eigentlich längst da sein.“
    Dann fiel sein Blick auf den Container: „Oh Gott...“
    Alex wandte sich zu ihm: „Hast du sie erwischt?“
    „Einen. Immerhin. Sitzt da drin und wird uns hoffentlich was zwitschern.“
    „Die nächsten Orte von Macovados Deals sicher nicht“, sagte Jenny bitter, „da vertraut er niemandem.“ Semir und Alex sahen sie verwundert an. Jenny wich ihren Blicken aus. Die letzte halbe Stunde war die schlimmste Zeit ihres Lebens gewesen.


    Wenig später kam der Krankenwagen. Alex blieb bei Jenny, die sich gerade etwas umständlich von dem Kostüm zu befreien versuchte. Schlussendlich saß es so fest, dass die Sanitäter es schließlich aufschneiden mussten. Währenddessen hatte die junge Frau Zeit, um über alles nachzudenken. Sie hatte noch immer keine Ahnung, weshalb sie sieben Versuche durchgemacht hatte, weshalb alles immer wieder von vorne angefangen hatte und vor allem wusste sie nicht, ob Aurélias Informationen in ihrem Albtraum der Wahrheit entsprachen. Nachdem das Kostüm sich von Jennys Körper verabschiedet hatte, widmeten sich die Sanitäter der Schulter.
    Eine Frau Ende 30 sah sich die Stelle der Verletzung an - und runzelte die Stirn: „Frau Dorn? Körperlich fehlt Ihnen nicht allzu viel.“
    „Wie bitte?“, platzte Alex heraus, „sie wurde angeschossen!“
    „Wenn tatsächlich ein Schuss abgegeben worden ist, dann sind Sie jedenfalls nicht davon getroffen worden. Wahrscheinlich haben Sie durch den Sturz eine Gehirnerschütterung erlitten... aber sonst kann ich nichts feststellen.“
    „A-aber das...“ Jenny brach ab. Ihr wurde bewusst, was das bedeutete. Sie hatte Alex und sich selbst das Leben gerettet, was ihr ohne den Albtraum nicht geglückt wäre. Die Polizistin bekam eine Gänsehaut. Fassungslos schloss sie die Augen. Sie wollte einfach nur noch schlafen.


    ENDE


    Die Geschichte um Jenny und Gregor Macovado geht weiter mit „Die blaue Rächerin“, zu der ich am 23.12. einen ersten „geschriebenen Trailer“ veröffentlichen werde (vielen Dank an Campino für die Idee!). Dort werden auch die noch offenen Fragen aus dieser FF beantwortet werden. Vielen Dank fürs Lesen, frohe Weihnachten und bis sehr bald!


    Eye :)

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