Nightmare

  • Aus dem Hintergrund erklang eine erboste männliche Stimme:„Was suchen Sie denn noch hier Schwester Anna? Hatte ich mich vorhin nicht eindeutig ausgedrückt? Sie sollten nach Hause gehen! Brauchen Sie richtig Ärger?“
    Dr. von Zadelhoff war in der Eingangstür zu Zimmer 12 aufgetaucht. Seine nächsten Worte blieben ihm förmlich im Hals stecken, als er erkannte, dass der Chefarzt der Intensivstation vor dem Bett des Patienten stand und dessen Krankenakte studierte. Dieser schaute von dem Krankenblatt auf und musterte seinen neuen Assistenzarzt eindringlich.


    „Vielleicht sollten Sie mir mal was erklären, Herr Dr. von Zadelhoff!“ Die Stimme des Chefarztes vibrierte. Jeder der ihn kannte, wusste der Dr. Kraus stand kurz vor einem emotionalen Tobsuchtsanfall. „Wann haben Sie die Werte des Patienten das letzte Mal kontrolliert?“ Dabei tippte er mit seinem Zeigefinger unmissverständlich auf die letzten Laborwerte in der Krankenakte. „Warum wurde ich von der Verschlechterung seines Zustandes nicht informiert, obwohl hier eine eindeutige Anweisung steht und ich seit einer Stunde Hintergrunddienst habe?“, fauchte der Professor den vor ihm stehenden Mann wutentbrannt an. Mit jedem Satz war der Klang seiner Stimme schärfer geworden.


    Nachdem Dr. von Zadelhoff den ersten Schrecken über das unerwartete Auftauchen des Chefarztes verdaut hatte, kam seine übliche arrogante Art wieder zum Vorschein.
    Friedrich von Zadelhoff hielt sich für etwas Besonderes, für etwas Besseres, seinen Kollegen und Kolleginnen überlegen. Nur noch ein paar Monate musste er diesen lästigen Klinikalltag mit Stress, Überstunden und Nachtschichten durchstehen, dann hatte er sein angestrebtes Ziel erreicht. Er dufte sich Facharzt für Innere Medizin bezeichnen und auf ihn wartete ein lukrativer und gut bezahlter Job in der Pharma-Industrie. Zu seinem Leidwesen erwartete sein künftiger Arbeitgeber den Nachweis von beruflicher Praxis in gewissen medizinischen Fachbereichen an einer Uni-Klinik und gute Verbindungen zur Klinikleitung, um Forschungsprojekte durchzuführen. Diese Beziehungen hatte er dank seines Onkels. Dem entsprechend verhielt er sich auch gegenüber dem Chefarzt.
    „Ich verstehe überhaupt nicht, warum Sie sich so aufregen Herr Professor Kraus?“ Dabei rümpfte er die Nase. „Die Werte des Herrn Jägers werden selbstverständlich von mir oder der Schwester stündlich kontrolliert.“ Fast schon schnippisch kam die Antwort über die Lippen des jungen Mannes. Er zuckte mit den Schultern und reichte wie zum Beweis seinem Chef die neuesten Laborergebnisse, die er in seinen Händen hielt. „Da sehen sie doch selbst! ... Was kann ich dafür, dass das Labor den Erreger noch nicht bestimmt hat! Sollte ein Befund vorliegen, dann kann selbstverständlich eine entsprechende Therapie eingeleitet werden.“ Für ein paar Augenblicke schwieg der angehende Facharzt, ließ seine Worte auf seinen Chef wirken und legte nach: „Wissen Sie, Herr Professor Dr. Kraus, ich arbeite strikt nach Lehrbuch und Kosteneffizienz!“


    Mit einer fast schon unnatürlichen Ruhe im Tonfall, leise fast schon flüsternd, antwortete der Chefarzt: „Sie wollen mir allen Ernstes erklären, ihre einzige therapeutische Maßnahme waren Blutentnahmen, das Fieber mit Medikamenten senken und das Warten auf die neuesten Laborwerte, sonst nichts?“


    Aus welchem Grund auch immer fühlte sich der Assistenzarzt durch diese Frage in seinem Handeln bestätigt und hatte den warnenden Unterton in der Stimme seines Chefs völlig überhört. Er fing an zu selbstzufrieden grinsen: „Natürlich! … Alles andere wäre doch Verschwendung von teuren Medikamenten, die doch keinen Erfolg haben würden! … Schließlich bin ich auf die größte mögliche Kostenersparnis bedacht, was auf dieser Station ja nicht üblich zu sein scheint. Meinem Onkel habe ich davon schon unterrichtet.“


    Die Blicke des anwesenden Personals richteten sich auf ihren Chef. Jeder konnte die Spannung fühlen, die sich aufgebaut hatte. Man hatte das Gefühl die Luft knisterte und nur noch ein kleiner Funke würde eine gewaltige Explosion auslösen. Dr. Kraus Stimme vibrierte vor unterdrückter Wut:„Das ist wirklich ihr Ernst?... Sie haben keinen erfahrenen Arzt um Rat gefragt? … Den Oberarzt nicht von der dramatischen Verschlechterung des Zustands ihres Patienten seit der Morgensivite informiert?“


    Der Assistenzarzt, der sich mittlerweile an den Türrahmen angelehnt hatte, nickte voller Überzeugung. „Ich weiß ja schließlich was ich kann! … Keine Ahnung, was ihnen diese unfähige Krankenschwester“, dabei durchbohrte sein Blick Anna förmlich, „für einen Floh ins Ohr gesetzt hat.“
    Dem Chefarzt entwich deutlich hörbar die Atemluft. „Pfffff!“ Er umrundete das Krankenbett und forderte die neben ihm stehende Krankenschwester auf, ihm zu assistieren.
    „Anna, helfen Sie mir bitte den Verband abzunehmen!“ Mit geschickten Fingern kam diese der Aufforderung ihres Chefs nach. Mit einem kleinen Ruck riss sie die Wundabdeckung am Rücken, die sich mit dem angetrockneten Wundsekret verklebt hatte, ab. Die Verkrustungen, die sich gebildet hatten, wurden mit abgelöst. Zwischen den Stichen der Naht, die die klaffende Wunde verschlossen hatte, sickerte eitriges Sekret hervor. Die Augen des Chefarztes funkelten vor Zorn. Er kämpfte mit sich, um seine Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und blaffte von Zadelhoff an: „Und jetzt erklären Sie mir mal diese Sauerei hier! Nach Lehrbuch, so weit ich mich entsinnen kann, steht die Suche nach möglichen Infektionsherden und deren Säuberung an erster Stelle! Nach ihren Aufzeichnungen haben sie vor zwei Stunden auf Bitten der Schwester die Wunden des Patienten das letzte Mal kontrolliert. Wie kann es sein….“ Professor Kraus wandte sich seinem Assistenzarzt wieder zu. Sein Gesicht war vor Zorn gerötet, „Das eine Krankenschwester,wie haben sie sich so abfällig ausgedrückt ... als unfähig bezeichnen, die geröteten und geschwollenen Wundränder sehr wohl erkennt und sie nicht? … Obwohl Schwester Anna sie extra darauf aufmerksam gemacht hat?“


    Die Gesichtsfarbe des Assistenzarztes änderte sich in Leichenblässe, als er seinen verhängnisvollen Fehler erkannte. Von Zadelhoff wich zwei Schritte zurück in Richtung des Ganges. Er suchte verzweifelt nach Worten, um sich zu rechtfertigen. Gerade noch rechtzeitig erkannte der Assistenzarzt an der Mimik seines Vorgesetzten, dass dies weder der geeignete Ort noch der richtige Zeitpunkt dafür waren.
    „Falls sie es noch nicht begriffen haben, Herr Dr. von Zadelhoff, wir Ärzte arbeiten um Menschenleben zu retten und nicht um jeden Cent dreimal umzudrehen, wie diese Erbsenzähler in der Verwaltung. …. Soviel zum Thema Kostenersparnis!“ Professor Kraus schnaubte durch, „Wir sprechen uns noch verehrter Dr. von Zadelhoff. Doch zuerst werden wir versuchen, das Leben dieses Patienten zu retten!“


    Der Chefarzt schnaufte mehrmals erregt durch und versuchte zu verdrängen, welche persönlichen Beziehungen ihn mit dem jungen Patienten verbanden. In diesen Minuten war nur noch seine fachliche Kompetenz gefragt.
    „Welcher OP ist frei Schwester Anja? Schaffen wir ihn rüber! Schnell!“, forderte er die Stationsschwester auf, tätig zu werden. Diese eilte zum Stationsstützpunkt, um die notwendigen Schritte einzuleiten, um nur wenige Minuten später ihren Chef etwas hilflos erklären zu müssen: „Tut mir leid Dr. Kraus! Momentan ist kein OP frei. Im Gegenteil! Es herrscht das reinste Chaos im OP Bereich. Operationssaal 1 ist vorläufig wegen Infektionsgefahr gesperrt und in OP zwei und drei laufen langwierige Eingriffe. Deswegen steht auch kein weiterer Chirurg zur Verfügung, der ihnen assistieren könnte. Wir werden noch warten müssen!“
    Ein erneuter Blick auf die aktuellen Vitalwerte des fiebernden Ben Jägers offenbarten Dr. Kraus, dass es hier keine Zeit mehr zu verlieren gab. Er schüttelte seinen Kopf, während er antwortete, „Keine Zeit! Die Vitalwerte sind so instabil. Wir säubern die Wunde auf Station! Anna, sie gehen mir zur Hand!“ Sein Blick schweifte suchend umher. „Wo ist Dr. Vollmer?“ – „Im OP-Bereich, an der Schleuse! – Es gibt momentan Diskussionen, welche Intensivstation den infektiösen Patienten aus OP1 übernimmt!“ - „Was gibt es da zu diskutieren?", blaffte der Chefarzt. "Wir sind Rand voll, soweit ich es überblicken kann. … Also schaffen Sie mir Dr. Vollmer und alles her, was wir für den Eingriff brauchen. Wir werden den Eingriff im Patientenzimmer unter lokaler Betäubung durchführen. Sie werden mir ebenfalls assistieren, Schwester Anja.“
    Gezielt erteilte der Chefarzt seine Anweisungen und der Eingriff wurde vorbereitet.

  • Dr. Vollmers hatte mittlerweile seinen infektiösen Patienten auf Station in einem Isolierzimmer untergebracht, da der Zustand des betroffenen Mannes nach dem Eingriff überraschend stabil war. Als der erfahrene Oberarzt auf die Intensivstation zurückkehrte, war er ebenfalls entsetzt und sprachlos über das Verhalten des angehenden Facharztes. Der Oberarzt konnte nicht nachvollziehen, warum Dr. von Zadelhoff weder ihn noch den anwesenden Internisten zu Hilfe geholt hatte bzw. einen weiteren erfahrenen Arzt, der auf einer der Pflegestationen arbeitete, um Rat gefragt hatte.


    Schemenhafte Gestalten standen um ihn herum. Nur verschwommen nahm Ben ihre Umrisse war. Sie wechselten die Farben von blau nach grün. Er hörte ihr Gemurmel, die Sprache klang so eigenartig. Redeten sie über ihn? Bens verwirrter Geist konnte den Inhalt der Worte nicht erfassen. Ein grelles Licht flammte auf und blendete ihn, zwang ihn, seine Augen geschlossen zu halten. Er wollte sich bewegen, sich bemerkbar machen. Doch sein Körper gehorchte ihm nicht, fühlte sich wie gelähmt an, wie gefesselt an. Panik stieg in Ben hoch. Irgendetwas Glühendes fuhr in seinen Rücken hinein, eine Welle aus Schmerzen überflutete ihn … er schrie … er stöhnte … wollte sich aus der Umklammerung befreien, … warum half ihm denn keiner? Ein riesiger Abgrund tat sich vor ihm auf, nahm ihn mit auf die Reise in einen tiefen dunklen Schlund der Bewusstlosigkeit…


    Als die Reinigung und Versorgung der Wunde beendet war, blickte Dr. Kraus noch Mal nachdenklich auf den jungen Patienten. Es hatte ihn fast das Herz zerrissen, als Ben lauthals geschrien hatte, vor Schmerzen sich gewunden und zum Schluss nur noch wimmernd vor sich hin stöhnte. Er hatte alles Menschenmögliche getan, um das Leben des jungen Mannes zu retten. Doch auch er war nur ein Mensch, der in seiner Gedankenwelt nicht ausblenden konnte, dass er persönlich befangen war.
    Anna, die ihm gegenüber stand, zitterten die Hände, als sie die letzten Instrumente zurück auf den Eingriffswagen legte. Besorgt schaute der Chefarzt auf die Schwester bzw. angehende Ärztin. Hatte er ihr zu viel zugemutet? „Alles in Ordnung bei ihnen Anna?“, fragte er besorgt nach. „Sie haben eine sehr gute Arbeit geleistet. Ich kann ihnen versichern, ich kenne nicht viele angehende Ärzte, die das so professionell hinbekommen hätten wie Sie gerade eben!“, meinte er voller Respekt.


    „Alles gut, Chef! War wohl ein bisschen viel Aufregung am heutigen Nachmittag!“, wiegelte sie geschickt ab. Anna konnte Dr. Kraus doch nicht erklären, warum sie innerlich so aufgewühlt war. So schnell wie möglich versuchte sie ihre Gefühlswelt wieder in Ordnung zu bringen und konzentrierte sich auf ihre Arbeit. Ihre Vermutungen hatten sich durch weitere Untersuchungen in doppelter Hinsicht bestätigt. Zusätzlich zur Infektion an der Rückenwunde hatte sich eine Candida-Sepsis entwickelt hatte, die letztendlich für den raschen und schweren Krankheitsverlauf bei Ben verantwortlich gewesen war.
    Der Chefarzt streifte sich den Mundschutz und die Handschuhe ab. Dies war das Zeichen, dass der Eingriff endgültig beendet war.


    „Keine Angst Anna, ich habe gehört, wie Dr. von Zadelhoff ihnen gedroht hat. Ich regle das mit der Klinikleitung. Ihnen wird nichts passieren, versprochen!“ Sein Blick richtete sich auf seinen Patienten, dessen Wangen fiebrig rot glühten. „Mehr können wir für Ben nicht mehr tun. Hoffentlich wirken das Antimykotikum und das neue Antibiotikum schnell! … Anna, bleiben Sie bitte vorerst bei Herrn Jäger! Ich schlafe heute Nacht drüben in meinem Arztzimmer und will sofort Bescheid wissen, wenn sich etwas ändert! Sie wissen ja, was Sie im Auge behalten müssen.“


    Anna nickte zustimmend und seufzte innerlich auf. Sie war sich sicher, es würde eine lange Nacht werden. Die junge Frau säuberte mit der Unterstützung ihrer Kollegin Natascha das Patientenzimmer.


    Während dessen wandte sich Dr. Kraus seinem neuen Assistenzarzt zu, der am Stationsstützpunkt schweigend Krankenakten studierte und dokumentierte. Dr. Zadelhoff hatte einen fast schon trotzigen Gesichtsausdruck aufgesetzt. Dr. Vollmers begleitete seinen Chef. Auch im Oberarzt brodelte es. Die beiden erfahrenen Mediziner kannten sich schon viele Jahre. Es bedurfte keinerlei Absprachen zwischen ihnen, es genügten Blicke und Gesten. Es war klar, dass das eigenmächtige Handeln eines angehenden Facharztes und dem daraus resultierenden verhängnisvollen Fehler nicht einfach unter dem Tisch gekehrt werden konnte. Egal, wieviel Vitamin B der junge Herr in der Klinikleitung hatte. So übernahm es auch Professor Kraus höchstpersönlich, den jungen Mann zu Recht zu weisen.
    „Und jetzt zu ihnen, Herr Dr. von Zadelhoff, wir sehen uns in fünfzehn Minuten in meinem Arztzimmer, denn vorher muss ich erst einmal ein paar verzweifelte Angehörige beruhigen!“
    Der Blondschopf begriff, diese Aufforderung des Chefarztes duldete keinen Widerspruch und auch keinen Aufschub. Selbst sein Patenonkel würde ihn weder vor der Standpauke des Professors, noch vor den möglichen Konsequenzen schützen können.


    ******


    Am Aachener Weiher ….


    Am Rande des Parks war der kleine Weiher an dessen Ufer etliche Parkbänke, die unter riesigen Trauerweiden standen, zum Verweilen einluden. Semir nahm auf einer Platz und beobachtete das fröhliche Treiben in einem gegenüberliegenden Biergarten. Mittlerweile hatte er Kraft genug gesammelt, um mit seiner Frau und auch Susanne zu telefonieren.


    Von ihm fast unbemerkt hatte sich inzwischen eine Frau, mittleren Alters, auf der Parkbank neben ihm niedergelassen. Sie trug eine schwarze enganliegende Hose, mit einem weißen Top. Die Kleidung brachte ihre sportlich durchtrainierte Figur voll zur Geltung und betonte ihre weiblichen Reize. Doch dafür hatte Semir keinen Blick. Ihre kurz geschnittenen Haare, die platin-blond gefärbt waren, bildeten zusammen mit der schwarzen modernen Hornbrille den passenden farblichen Kontrast und vervollständigten ihr Outfit. Die Frau zückte ein Smartphone aus ihrer Handtasche und schien in der Anzeige ihres Handys vertieft zu sein und tippte darauf rum.
    Semir beachtete sie nicht weiter. Was der Kommissar zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, neben ihm saß Gabriela Kilic, die geschickt ihr Äußeres verändert hatte. Interessiert lauschte diese den Telefongesprächen des kleinen Türken. Innerlich stellte sie sich vor, wie einfach es wäre, wenn sie ihre Waffe mit dem Schalldämpfer aus der Tasche holen würde und einfach abdrückte. Bei dieser Vorstellung huschte ein selbstzufriedenes Grinsen über ihr Gesicht. Ihre Rachepläne nahmen langsam Gestalt an. In diesem Moment genoss sie es einfach nur, den Autobahnpolizisten leiden zu sehen. Dank des Peilsenders, den sie am silbernen BMW angebracht hatte, konnte sie dem kleinen Türken überall hin folgen und hatte gleichzeitig die Möglichkeit, wann immer sie wollte, zuschlagen zu können. Doch zuerst interessierte es sie vor allen Dingen, wo dieser Autobahnpolizist seine Frau versteckt hatte.


    Vom nahegelegenen Biergarten duftete es verlockend nach Essen, nach frischem Flammkuchen und gegrilltem Fleisch. Doch selbst als der kleine Türke seine Telefongespräche beendet hatte, verspürte er keinen Hunger. Das Lachen der Menschen, die dort ausgelassen ihren Feierabend genossen, klang zu ihm herüber. Was wussten die denn schon von seinen Sorgen und Problemen, schoss es ihm dabei durch den Kopf und er machte sich auf den Weg zurück zur Uni-Klinik.
    Gabriela folgte ihm mit gebührendem Abstand. Die Abenddämmerung hatte eingesetzt und kündigte die kommende Nacht an. Auf der kardiologischen Intensivstation erfuhr der Kommissar, dass Julia Jäger vor zehn Minuten das Krankenhaus verlassen hatte, nachdem sie mit Dr. Kraus gesprochen hatte. Semir entfuhr ein wütender türkischer Fluch. Mehrfach versuchte er daraufhin auf dem Gang vor der kardiologischen Intensivstation Julia auf ihrem Handy zu erreichen. Doch die junge Frau hatte in der Aufregung vergessen, nach dem Verlassen der Intensivstation ihr Smartphone wieder anzustellen. Wiederholt meldete sich die Mail-Box von Julia Jäger auf die verzweifelten Anrufe des Türken. Wie sollte er nun erfahren, wie es um Ben stand?
    Welcher Ausweg blieb Semir? Auf einen Rückruf von Julia warten oder zurück zur chirurgischen Intensivstation gehen. Er entschloss sich zum Letzteren. An der Gegensprechanlage wimmelte ihn ein Krankenpfleger ab. Auf Grund seines energischen Nachfragens bekam der Türke zumindest die Auskunft, dass man Ben Jäger noch einmal operiert hatte und der Chefarzt sich aktuell nicht mehr auf der Intensivstation befinde. Alles Weitere würde Semir von dem behandelnden Arzt erfahren. Die Aussicht darauf, mit diesem blonden Arzt ein weiteres Gespräch führen zu müssen, hinterließ bei Semir einen üblen Beigeschmack. Der Krankenpfleger bat Semir, er solle sich bitte vor der Intensivstation gedulden, bis der Arzt für ihn Zeit finden würde.
    Im Wartebereich lehnte Semir sich an die Wand, rutschte daran herunter und machte es sich auf dem Fußboden bequem.

  • Als die Ärzte und Schwestern Bens Zimmer verlassen hatten und die Schiebetür sich geschlossen hatte, betrachtete Anna den dunkelhaarigen Polizisten gedankenverloren. Sie hatte ihn mit Hilfe ihrer Kollegin gesäubert, neu gebettet und wieder mit all den Maschinen und Monitoren verbunden. Erneut stellte sie sich eine Waschschüssel mit Wasser bereit. Sie tauchte den Lappen hinein, wrang ihn aus und tupfte die Schweißtropfen von der Stirn ihres Patienten. Leise sprach sie auf ihn ein.
    „So langsam kenne ich jeden Zentimeter deines Gesichts. So glatt rasiert … passt irgendwie nicht zu dir.“
    Unerwartet wurde die Zimmertür geöffnet und ihre mütterliche Freundin Anja betrat das Intensivzimmer und schloss die Tür hinter sich.
    „Ich habe Feierabend. Brauchst du noch Hilfe Anna?“, erkundigte sie sich.
    Diese schüttelte den Kopf. „Nein lass mal gut sein! Ich komme schon klar! Wird wohl eine extra Nachtschicht werden, so wie es ihm geht!“
    Anna schaute dabei auf ihren fiebernden Patienten, der wieder begonnen hatte, sich unruhig im Bett hin und her zu bewegen. Anja stellte sich auf die andere Seite des Krankenbettes.
    „Darf ich dich mal was fragen Anna? Was ist mir dir in den letzten Tagen los? Ist es der Prüfungsstress? Ich erkenne dich gar nicht wieder! Gerade du bist doch in der Vergangenheit eine Meisterin darin gewesen, solche Schicksale wie dieses von Herrn Jäger nicht persönlich an dich ran zu lassen, die gewisse Distanz zum Patienten zu bewahren. Was ist diesmal anders?“
    Die dunkelhaarige Krankenschwester hielt inne und überlegte einige Atemzüge lang, ob sie sich ihrer Freundin anvertrauen könnte. Augenblicklich war ihr klar, diese kannte sie viel zu gut und allein schon ihr Erscheinen und ihre Fragen offenbarten ihr, dass Anja sie schon längst durchschaut hatte. Anna blies sich eine ihrer widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht, bevor sie leise wispernd die gewünschte Erklärung ablieferte. Fast schon liebevoll tupfte sie dabei von Bens Oberkörper den Schweiß.
    „Ich war doch vor drei Wochen zusammen mit Basti in dem Club, wo er nebenbei als Barkeeper arbeitet. Damals ist doch diese tolle Live- Band aufgetreten.“
    Anja nickte ihr zu, ja sie konnte sich noch gut daran erinnern, wie Anna ihr tagelang von diesem Abend vorgeschwärmt hatte.
    „Der Sänger der Band … dieser Dunkelhaarige mit den Wuschelkopf, … dem Drei-Tage-Bart … den bezauberndsten Lächeln, das du dir vorstellen kannst! … Und seine dunkelbraunen Augen, als die mich anblickten …“ ihre Stimme stockte. Ihr Gesicht bekam einen verträumten Ausdruck.


    „Du meinst deinen Traumprinzen, der für einige schlaflose Nächte bei dir gesorgt hat? …. Ja und … was hat das jetzt mit dem Patienten hier zu tun?“, fragte Anja vorsichtig nach. Eine dumpfe Ahnung stieg in ihr hoch.
    „Anja …!“ Anna schluchzte gequält auf … „Anja, er ist dieser Sänger!“ Ungläubig riss ihre Freundin die Augen auf. „Oh, Sch …!“ den Rest verschluckte sie besser. „Ich dachte, er ist Polizist oder habe ich da was nicht richtig mitgekriegt!“
    „Sein Freund, der andere Polizist, hat mir ein bisschen von ihm erzählt. … Ja er ist Polizist und macht Musik mehr so als Hobby! Verstehst du mich, da schwirrt er mir die ganze Zeit im Kopf herum und jetzt …“ Anna schniefte kurz auf „jetzt liegt er so schwer krank vor mir! Ich versuch schon ständig gegen meine Gefühle anzukämpfen. Aber es geht nicht … funktioniert einfach nicht … Bitte verrate es keinem!“, flehte sie förmlich ihre Freundin an. Ihre Augen glitzerten feucht. Anja schritt um das Bett herum und nahm ihre Freundin tröstend in den Arm. „Mach dir keine Sorgen Süße, dein Geheimnis ist bei mir gut aufgehoben. Ich gehe und wenn was ist, ruf mich an, ja Liebes!“
    Anja war trotz des Altersunterschiedes wirklich ihre beste Freundin.


    *****
    Auf dem gleichen Stockwerk einige Meter Luftlinie entfernt, schritt Dr. von Zadelhoff unruhig auf dem Krankenhausflur hin und her. Er wusste, das Gespräch mit dem Chefarzt der Chirurgischen Intensivstation würde kein Zuckerschlecken für ihn werden. In Gedanken hatte er sich schon zig Rechtfertigungen für sein Handeln zu Recht gelegt. Wäre ja noch schöner, wenn eine Krankenschwester mehr Ahnung von Medizin hätte als er, dachte er bei sich. Der Versuch, seinen Onkel telefonisch zu erreichen, um von ihm noch zusätzlich Rückendeckung zu bekommen, war fehlgeschlagen. Dieser befand sich auf einer Charity-Veranstaltung, um Spenden für die Kinderkrebsstation der Uni-Klinik zu sammeln.


    Friedrich von Zadelhoff setzte eine trotzige Miene auf, als der Chefarzt Dr. Kraus auf dem langen Krankenhausflug auf ihn zukam. Der Professor kramte in seiner Hosentasche nach seinem Schlüssel und schloss die Tür zu seinem Arztzimmer auf. Er betrat als erster den Raum, knipste das Licht an und nahm wortlos hinter seinem Schreibtisch Platz. Ohne Aufforderung setzte sich Dr. von Zadelhoff auf einen der Besucherstühle davor, schlug die Beine übereinander, faltete seine Hände und legte diese auf den Oberschenkeln ab. Er versuchte einen möglichst selbstbewussten Eindruck seinem Chef gegenüber auszustrahlen.


    Dr. Kraus musterte den angehenden Facharzt, der erst wenige Tage auf der Intensivstation arbeitete, eingehend. In den ärztlichen Besprechungen, die Fachbereichs übergreifend regelmäßig stattfanden, war ihm schon so einiges über den jungen Mann zu Ohren gekommen. Von seinen Chefarztkollegen und anderen Oberärzten war er schon vorgewarnt worden, dass Dr. von Zadelhoff beratungsresistent sei, aus Fehlern nicht unbedingt lernte und der Mensch an sich für den jungen Mann nicht viel zählte.
    Die Anspannung im Raum war für beide Männer fast körperlich spürbar. In Dr. Kraus brodelte nach wie vor der Zorn über das Verhalten des jungen Mediziners. Es kostete ihn ein Maß an Selbstbeherrschung nicht einfach lauthals loszubrüllen, um seinen Ärger Luft zu machen. In der letzten halben Stunde hatte der Professor sich Gedanken darüber gemacht, wie er das Gespräch mit dem jungen Arzt führen sollte. Und dann stellte der Chefarzt eine Frage, die der junge Mediziner nicht erwartet hätte.
    „Warum wollen Sie Facharzt für Innere Medizin werden?“
    Von Zadelhoff hatte sich innerlich auf eine Standpauke eingestellt, doch nicht auf eine solche Frage. Fieberhaft suchte er nach einer passenden Antwort. Schließlich konnte er dem Professor nicht auf die Nase binden, dass er den Job in der Klinik nur als Sprungbrett auf der Karriereleiter betrachtete. Nervös biss er sich auf seine Unterlippe, während sich Dr. Kraus nach vorne beugte und seine Hände, ebenfalls verschränkt, auf der Schreibtischplatte legte. „Was hat Sie dazu bewegt, als junger Mensch den Arztberuf zu wählen?“
    „Um Menschen, die krank sind, zu helfen!“, antwortete der junge Mann lapidar. Er richtete sich etwas in seinem Stuhl auf und fühlte sich auf einmal in seinem Element. „Wissen Sie, ich habe wie ein Wahnsinniger in meinem Studium gebüffelt, um dahin zu kommen wo ich jetzt bin. Im Klinikalltag bin ich ein Mann, der sehr hart arbeitet und das alles nur, um Menschen zu helfen.“ Und dann bekam seine Stimme fast schon einen abfälligen Tonfall. „Menschen, die oftmals durch ihre eigene Dummheit und Fahrlässigkeit ärztliche Hilfe brauchen!“ In diesem Sinne legte er noch ein paar Floskeln hinter her.
    Dr. Kraus lachte ironisch auf und hämmerte mit einer geschlossen Faust auf die Schreibtischplatte. „Schluss jetzt! … Hören Sie auf mit diesem Gerede! … Jedem anderen Medizinstudent oder Assistenzarzt würde ich vielleicht die eine oder andere Aussage glauben, aber warum glaube ich ausgerechnet ihnen nicht?“ Er erhob sich aus seinem Stuhl und stützte sich mit seinen Handflächen auf der Lehne des Drehstuhls ab. „Reden wir nicht länger um den heißen Brei herum, Herr von Zadelhoff! … Sie haben Fehler gemacht! Gravierende Fehler, die fast einem Menschen das Leben gekostet hätten!“ Dr. Kraus ließ die Worte auf seinen Gesprächspartner wirken, der auf seinem Stuhl etwas in sich zusammenschrumpfte. Der Professor fixierte mit seinem Blick förmlich den jungen Arzt. „Grundsätzlich! …. Jeder von uns macht Fehler in seinem Leben! … Doch Fehler sollten eigentlich bewirken, dass wir aus ihnen lernen. Jedoch habe ich bei ihnen das Gefühl, Sie lernen absolut nichts aus diesen Erfahrungen.“
    Dr. Kraus umrundete den Schreibtisch und setzte sich auf die Kante. Dr. von Zadelhoff vermied es seinen Vorgesetzten anzuschauen und starrte stattdessen eigensinnig an dem Professor vorbei in Richtung der Glasfront auf die Lichter der Großstadt. Ihm fiel einfach keine passende Antwort zur Rechtfertigung ein. Das entging auch nicht seinem Chef.
    „Ich werde ihnen mal meinen Standpunkt darlegen. … Es geht darum, wie diese Fehler passieren konnten. … Die Art und Weise! … Ihre medizinischen Fähigkeiten will ich gar nicht anzweifeln oder diskutieren. Sondern ihr Problem liegt völlig wo anders. … Im Arztberuf ist es wie in jedem anderen Beruf. … Es ist noch kein Meister vom Himmel gefallen. Also warum, so frage ich mich die ganze Zeit über schon, ziehen Sie wenn es bei einem Patienten Komplikationen gibt, nicht einen erfahrenen Oberarzt oder sonstigen Kollegen zu Rate?“ Als Antwort erntete der Chefarzt nur das Schweigen seines Gesprächspartners. Also fuhr Dr. Kraus mit seiner Ansprache fort, in der Hoffnung irgendetwas in dem jungen Mann zu bewirken, der wie ein trotziger Schüler vor seinem Lehrer saß. „Für Sie zählen andere Menschen nicht viel. Aber etwas kann ich ihnen heute schon prophezeien. Egal, ob Sie in einer Klinik arbeiten oder in die Forschung gehen, als erstes sollten Sie lernen, Menschen zu vertrauen, mit denen Sie zusammen arbeiten, Herrn von Zadelhoff.“ Dr. Kraus zwang sich ruhig zu bleiben, auch wenn er das Gefühl hatte, mit einer Wand zu reden und nicht mit einem Menschen. „Gewöhnen Sie sich ihre herablassende Art ab! … Lernen Sie die Arbeit von Krankenschwestern und Pflegern zu schätzen! …Denn diese Menschen sind genauso viel wert wie Sie im Alltag einer Klinik! … Egal, ob Sie studiert haben oder nicht! Verstehen Sie jeder, angefangen von der Putzfrau über das Servicepersonal, die Pflegekräfte …. Alle leisten ihren Beitrag, damit kranke Menschen wieder gesund werden!“
    Röte schoss dem jungen Mann ins Gesicht. Solch deutliche Worte hatte schon lange nicht mehr jemand an ihn gerichtet.
    „Aber … diese neunmalkluge Krankenschwester Anna ….!“, fiel er seinem Chef ins Wort.
    „Sie haben es immer noch nicht verstanden oder? … Haben Sie ein Problem damit, dass diese Krankenschwester eine bessere Beobachtungsgabe hatte als Sie? … Genau darum geht es in der Teamarbeit. Das Pflegepersonal ist näher am Patienten dran als Sie … und damit wir uns verstehen: Auf meiner Intensivstation arbeiten Ärzte und Pflegepersonal eng zusammen, vertrauen einander, zum Wohle des Patienten.
    Und wenn Sie ihren Schein für die Facharztprüfung von mir erhalten wollen, sollten Sie lernen auf die Hinweise und Ratschläge von erfahren Pflegekräften zu hören und mit ihnen zusammen arbeiten!“
    Unruhig rutschte der junge Arzt auf seinem Stuhl hin und her und sehnte sich nur noch das Ende der Unterredung herbei.
    „Denken Sie über meine Worte nach! Denn ich meine es Ernst! … Und nun gehen Sie zurück auf Station! … Ach ja, Ben Jäger ist ab sofort nicht mehr ihr Patient! Falls sich an seinem Zustand etwas ändert, verständigen Sie mich oder den diensthabenden Oberarzt!“
    Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, erhob sich Friedrich von Zadelhoff und marschierte mit hängenden Schultern in Richtung Intensivstation.

  • Als Anna wieder alleine mit Ben war, musterte sie ihn eingehend. Der verschwundene Bart, die Verletzungen im Gesicht und die daraus resultierenden Schwellungen hatten sein Äußeres so verändert, dass Anna ihn anfangs nicht wiedererkannt hatte. Erst als sie das Foto auf Semirs Handy gesehen hatte, war ihr bewusst geworden, wer Ben tatsächlich ist.


    Ihre Gedanken schweiften zurück zu jenem Abend vor gut drei Wochen in der Kölner Innenstadt …
    Die Trennung von ihrem langjährigen Freund Andre, der sie zum Schluss ihrer gemeinsamen Beziehung nur noch ausgenutzt und betrogen hatte, hatte Anna emotional ziemlich runter gezogen. Sie hatte sich in ihr Schneckenhaus zurückgezogen, war nicht mehr ausgegangen und hatte den Kontakt zu anderen gemieden. Alle in ihrer Clique hatten gewusst, dass Andre sie mit ihrer Freundin Nadja betrogen hatte. Alle! Aber keiner hatte den Mut besessen ihr die Wahrheit zu sagen.
    Sebastian, der mit ihr zusammen die Ausbildung zum Krankenpfleger absolviert hatte, war der Einzige gewesen, der sie zu Beginn ihrer Beziehung vor Andre gewarnt hatte. Nachdem Andre und er sich überhaupt nicht leiden konnten, war der private Kontakt zum dem Blondschopf ein wenig eingeschlafen. Jedoch war es der Krankenpfleger gewesen, der nach dem Liebes-Aus sie mit aufgefangen hatte und versuchte, sie auf andere Gedanken zu bringen. Mit Engelszungen hatte er auf sie eingeredet, ihr von der Live-Band vorgeschwärmt, die dort auftreten würden, bis sie sich bereit erklärte, in dem Club 99 zu kommen.
    Der Club befand sich in einem Kellergeschoß und schon auf dem Gehsteig vor dem Eingang konnte man die Bässe der Musik hören. Nach kurzem Zögern ging sie die Kellertreppe hinunter und betrat den großen Gewölberaum. Anna ließ ihren Blick in dem gut besuchten Raum in die Runde schweifen. Da sie niemanden kannte, setzte sie sich kurz entschlossen auf einen Barhocker vor der Theke, so konnte sie zumindest hin und wieder ein Wort mit Sebastian wechseln, der dort als Barkeeper arbeitete. Sie trug ihr kleines Schwarzes, das ihre Figur formvollendet zur Geltung brachte und den einen oder anderen anerkennenden Blick der anwesenden Männer. Die ersten beiden Bands waren nicht so nach ihrem Geschmack gewesen, aber anschließend war er, Ben Jäger, als Highlight des Abends auf der Bühne mit seiner Band erschienen. Schon mit seinem ersten Song hatte er sie mit seiner Ausstrahlung völlig in seinen Bann gezogen. Es war ihr, als würde die Welt still stehen, sie starrte ihn an. Vom ersten Moment an kam er ihr auf eine Art und Weise vertraut vor, die sie sich nicht erklären konnte. Auch wenn es ihr schon fast peinlich war, sie konnte ihre Blicke einfach nicht von ihm nehmen. Als auch Ben seinerseits immer wieder in ihre Richtung schaute, ihre Blicke sich für eine gefühlte Ewigkeit trafen, rann ein angenehmer Schauer durch ihren Körper. Beim Song „Ain’t got you“ war es endgültig um sie geschehen und Raum und Zeit hatten ihre Bedeutung verloren. Ihr schien es mehr als einmal, als würde er dieses Lied nur für sie singen. Am Ende des Auftritts kam er von der Bühne herunter und steuerte in ihre Richtung. Ihr Herz schlug bis zum Hals vor Aufregung. Er war nur noch wenige Schritte von ihr entfernt gewesen, als ihn jemand aufhielt, am Arm mit sich hinter die Bühne in den Backstage-Bereich zog. Vergeblich hatte sie fast noch eine Stunde darauf gewartet, dass er wieder auftauchen würde. Enttäuscht war sie anschließend nach Hause gegangen. Doch …..


    Im nächsten Augenblick wurde sie von einem gequälten Stöhnen und Gemurmel aus ihren Gedanken gerissen. Anna konnte deutlich erkennen, wie sich Bens Lippen bewegten … sie versuchte die Worte zu entziffern … zwischendurch kamen laute Wortfetzen, die völlig unverständlich waren. Sein Atem ging schwer und abgehackt. Mit einem feuchten Stäbchen benetzte sie seine rissigen Lippen. Prüfend betrachtete sie ihren Patienten und die Werte der Monitore und überlegte, ob sie den Chefarzt wecken sollte. Ein leichtes Zittern durchlief seinen Körper. Erneut stöhnte er furchtbar auf, sein Gesicht verzog sich vor Schmerzen oder Angst, sie wusste es nicht. Bens rechter Arm fuhr mit einer Abwehrbewegung in die Höhe, fast hätte er Anna dabei unabsichtlich geschlagen. Es war, als wollte er sich gegen etwas wehren, gegen etwas kämpfen. Ein Ruck ging durch seinen Oberkörper, er probierte sich aufzurichten und wimmerte dabei vor sich hin. Sanft, aber bestimmt, drückte ihn die Krankenschwester wieder zurück auf das Kopfkissen sprach auf ihn ein.
    „Scht …. Ben … scht … alles wird gut Ben … beruhige dich … scht … du bist in Sicherheit! Keiner wird dir etwas antun!“ Sachte strich sie ihm über die Wangen. Mit der anderen Hand tupfte sie ihm mit einem feuchten Tuch die Schweißperlen von der Stirn. In diesem Moment wünschte sie sich den Freund von Ben Jäger an ihrer Seite. Anna hatte nicht vergessen, welchen beruhigenden Einfluss dieser auf den Schwerkranken hatte. Unruhig bewegte er seinen Kopf hin und her. Bens Augenlider begannen zu flattern. Anna hatte das Gefühl, er würde diese gleich aufschlagen. Doch nichts dergleichen geschah. Stattdessen entspannten sich seine Gesichtszüge und die Atmung wurde ein bisschen ruhiger. Das Infusionsgerät fing an Alarm zu schlagen. Anna verließ das Krankenzimmer, um einen neuen Infusionsbeutel zu holen. Sie nutzte die Gelegenheit, um zumindest telefonisch dem Chefarzt einen kurzen Zwischenbericht zu liefern und sich neue Anweisungen bezüglich der Medikation zu holen.


    Als sie zurück ins Krankenzimmer kam, erwartete sie eine Überraschung. Ben lag mit geöffneten Augen da, deren fiebriger Glanz unterstrich noch die dunkle Farbe seiner Pupillen. Sein Blick irrte im Zimmer umher, als suche er etwas und erfasste Anna. Er starrte sie an. Die Art und Weise, wie er sie anschaute, vermittelten ihr den Eindruck, dass er sie erkannt hatte und ansprechbar war. Seine Lippen fingen an sich zu bewegen, er wollte ihr etwas mitteilen. Jedoch nur ein Krächzen entrang sich seiner Kehle. Vorsichtig befeuchtete sie seinen Mundbereich mit einem Pflegeset. Dankbar blinzelte er ihr zu. Sein Mund formte ein Wort: Semir. Ben vermisste seinen Freund.


    „Ihr Freund war die ganze Zeit über da. Nur nachts, da geht es halt nicht!“, erklärte sie ihm beschwichtigend, ergriff seine rechte Hand und umschlang diese. Sie konnte ihm doch nicht die Wahrheit sagen, dass dieser idiotische Assistenzarzt den Polizisten mehr oder weniger aus dem Zimmer rausgeschmissen hatte. Ben klammerte sich mit einer Kraft, die sie seinem geschwächten Körper nicht zugetraut hätte, an ihrem Arm fest und zog sie zu sich hin und versuchte ihr etwas mitzuteilen. Anna musste ihr Ohr nahe an seinen Mund legen, um ihn zu verstehen.
    „Nicht weggehen!“, wisperte er kaum hörbar. „Bitte … lassen Sie mich … nicht alleine … Anna! Nicht … weggehen! …Nicht … alleine … lassen … Anna!“
    Das Flehen in seinen Worten jagten ihr einen Schauer über den Rücken. In seinen Augen konnte sie seine ganze Not, seine Ängste und Schmerz lesen. In seinem Augenwinkel löste sich eine kleine Träne. Ergriffen strich ihm Anna mit der freien Hand beruhigend über die Stirn und streichelte über seinen Arm. „Keine Angst Ben, ich bleibe bei ihnen!“ Sein Wunsch hatte ihre innerste Seele berührt. Er schloss erschöpft seine Augen und driftete wieder ab, während sie sich bemühte, ihre Tränen wegzublinzeln.


    Immer wieder stöhnte Ben gequält auf. Anna wusste nicht, ob er Schmerzen verspürte oder ob es an den wilden Träumen lag, die er in seinem Fieberwahn durchlebte. Ab und an konnte sie einzelne Wortfetzen verstehen. Nach und nach vermittelten diese ihr einen Eindruck darüber, was der junge Mann während der Entführung und der anschließenden Flucht durchlebt hatte.


    Sie fing wieder an beruhigend auf ihn einzusprechen. Sie hatte keine Ahnung, ob ihre Worte zu ihm durchdrangen. Zärtlich strich sie ihm eine verschwitzte Haarsträhne aus der Stirn und wurde nachdenklich … keine Regung in seiner Mimik entging ihr. Sanft streichelte sie ihm über die Wange. „Werde bald wieder gesund Ben! Hörst du!“ Ben jammerte leise gequält vor sich hin. „Scht … Ben … Alles wird wieder gut. … Scht … Du wirst schon sehen.“ Sie hielt einen Moment inne und dachte nach. „Dir ist schon klar, dass du mir jetzt ein Abendessen schuldest und ein Konzert!“ entfuhr es ihr sehnsüchtig. „Ja, ich möchte dich gerne noch mal singen hören. Deine Augen haben damals so wundervoll geleuchtet, als du mich angeschaut hast. Dein Freund sagte, du hättest so wunderschöne dunkelbraune Augen und ich gebe ihm recht …wie drückte er sich aus Teddyaugen!“ Sie kichert kurz leise auf. „und so was sagt ein Mann. Ich möchte mich mit dir unterhalten … dich näher kennenlernen Ben! … Hörst du, streng dich an! Werde wieder gesund!“


    Es war ihr auch egal, was andere darüber dachten, dass sie ihn mit seinem Vornamen ansprach. Außerdem hörte es keiner. Mit ihrer linken Hand ergriff sie Bens Hand und hielt sie fest. Wollte ihm das Gefühl geben, dass er nicht alleine war, so wie sie ihm es versprochen hatte. Durch den Körperkontakt konnte sie förmlich spüren, wie das Fieber ihn innerlich versengte und in seinem Körper wütete. Da war noch was … seine Finger … diese hatten sich bewegt … übten leichten Druck aus … er suchte den Kontakt zu ihr. Ihr Blick ging wieder mal Richtung Uhr … Es war kurz vor Mitternacht. Es würde noch eine lange Nacht werden, aber egal was sie heute geplant hatte, dieser junge Mann hier brauchte sie …


    Endlos zogen sich die Stunden dahin. Immer wieder kontrollierte der Oberarzt den Zustand des Patienten. Erst mit Beginn der Morgendämmerung trat eine Änderung von Bens Zustand ein. Anna bemerkte wie die Atmung ihres Patienten ruhiger wurde, der ganze Patient ruhiger wurde. Die hektischen Ausschläge der Herztöne auf dem Monitor verlangsamten sich. So wie Ben jetzt dalag, wirkte es, als würde er sanft und selig schlafen. Ihr Gefühl sagte ihr, dass das Fieber gesunken sei und dies bestätigte sich bei einem Blick auf die Temperaturanzeige. Erleichtert atmete sie auf, als der Wert 39,1 Grad anzeigte. Hoffentlich bedeutete dies auch, dass er die schlimmsten Auswirkungen der Sepsis überstanden hatte und er auf dem Weg der Besserung war. Die Krankenschwester verständigte den Chefarzt, der sich in seinem Arztzimmer zum Schlafen hingelegt hatte.

  • Die ersten Strahlen der Morgensonne schimmerten durch die Fenster, als Dr. Kraus den Krankenhausflur entlang zur Intensivstation eilte. Sein Blick fiel in den Wartebereich vor der Intensivstation, täuschte er sich oder saß da zwischen den Plastikstühlen tatsächlich jemand einsam und verlassen am Boden. Neugierig geworden, schritt er auf die betreffende Person zu. Beim näheren Betrachten erkannte er den Freund von Ben Jäger. Semir hatte seine Beine angezogen und den Kopf auf den Knien abgelegt und schien zu schlafen.


    „Herr Gerkhan?“, ein bisschen ungläubig klang die Stimme des Chefarztes „Was machen Sie denn noch hier? Ich dachte, Sie wären schon längst nach Hause gegangen?“


    Der Kommissar hob ganz langsam, fast schon im Zeitlupentempo, seinen Kopf und schaute zu dem vor ihm stehenden Arzt auf. Dr. Kraus erschrak. Der am Boden sitzende Mann schien seit dem Zeitpunkt, als er ihn das letzte Mal gesehen hatte, um Jahre gealtert. Semir räusperte sich.
    „Ich warte seit Stunden auf Sie, Dr. Kraus oder einem ihrer Kollegen! Darauf, dass mir irgendjemand sagt, wie es Ben Jäger geht!“
    Völlig erschüttert, stand der Arzt da und wusste im ersten Moment nicht, was er darauf entgegnen sollte. Keiner hatte ihm davon berichtet, dass der Freund von Ben Jäger auf ihn wartete.
    „Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch!“ Dabei reichte er ihm auffordernd die Hand, die der Polizist dankbar ergriff. Mühsam erhob sich Semir. Die letzten Stunden am Boden sitzend, hatten seine Glieder steif werden lassen.
    „Wie geht es Ben?“, fast schon ehrfürchtig kam die Frage aus seinem Mund.
    „Besser, zumindest hoffe ich es. Ich bin gerade auf dem Weg zu ihm. Was halten Sie davon, wenn Sie mich begleiten?“
    Dieser Satz ließ die Augen des kleinen Türken aufleuchten.


    *****


    Diesmal fühlte sich das Erwachen anders an. Ben fühlte sich total benommen. In seinem Kopf hämmerte es wie wild. Was war nur geschehen, seit er in die Dunkelheit der Schattenwelt abgedriftet war? Krampfhaft versuchte er sich zu erinnern. Wieviel Zeit mochte seitdem vergangen sein? Erinnerungsfetzen kamen in ihm hoch. Verschwommene Eindrücke prasselten auf ihn ein … Da war dieser unendliche Schmerz gewesen, das Gefühl innerlich zu verbrennen … die Dämonen, die ihn in seiner Phantasie gejagt und verfolgt hatten und da war diese sanfte weibliche Stimme gewesen, die ihn seinen Namen gerufen hatte, die mit gesprochen hatte. Dank ihr hatte er das Gefühl gehabt, immer wieder den Weg aus diesem tiefen und dunklen Labyrinth seiner Ängste und Alpträume herausgefunden zu haben, in welches er sich verirrt hatte.


    Langsam lichteten sich die Nebel, die ihn eingehüllt hatten. Er registrierte die Geräuschkulisse, die um ihn herum war… ein monotones Blubbern … Stimmengewirr … er lauschte … Da war sie wieder diese vertraute Frauenstimme. Er zwang sich gegen die Schwerkraft anzukämpfen und seine Augen zu öffnen.


    Zuerst sah Ben noch alles wie durch einen Dunstschleier. Langsam nahm das Antlitz, das sich über ihn gebeugt hatte, Gestalt an. Es war ein hübsches Gesicht, mit einem strahlenden Lächeln, umrahmt von einer schwarzen Lockenpracht, aus deren Mitte zwei wunderschöne braune Augen ihn anschauten. Er hatte nicht geträumt oder es sich eingebildet, es war wirklich Anna, die junge Krankenschwester, die neben seinem Bett stand. Er versuchte sich zu bewegen und bereute es im gleichen Augenblick, als der Schmerz in seiner rechten Seite wie ein Feuerstrahl durch seinen Körper fuhr. Gequält verzog er das Gesicht und stöhnte auf.


    „Hallo Herr Jäger, wieder zurück unter den Lebenden! Wie fühlen Sie sich? Haben Sie Schmerzen?“, begrüßte Anna ihn mit einem leisen Lachen und fuhr fort. „Ich weiß, zu viele Fragen auf einmal!“
    „Ah …. Was … ist … denn … passiert?“ flüsterte Ben, seine Stimme hatte einen merkwürdigen Klang und ähnelte eher einer verrosteten Gießkanne. Erneut konnte er ein Aufstöhnen nicht unterdrücken. In diesem Moment betrat der Chefarzt das Krankenzimmer und beantwortete anstelle der Krankenschwester die Frage.
    „Hallo Ben!“ Die Erleichterung die in seinem Tonfall mitschwang war unüberhörbar, „du hattest dir zu allem Übel noch eine richtig böse Infektion eingefangen. Man … man … man hast du uns einen Riesenschrecken eingejagt. So langsam kann ich deinen Vater verstehen, du schaffst es wirklich, dass man vor lauter Sorge um dich, an den Rande des Wahnsinns getrieben wird!“


    „Onkel Peter …. Du?“ hauchte er von seinem Krankenbett aus, als er den Freund seines Vaters erkannte. „Ich … kann … mich … an nichts mehr … erinnern … alles weg. Nur die Schmerzen … so weh! … Bitte!“ Fast schon flehend wisperte er die schwer verständlichen Worte. Seine rechte Hand presste Ben an seine Schläfe und schloss die Augen, als könne er damit die schrecklichen Kopfschmerzen verjagen.


    „Ich gebe dir erst einmal etwas gegen die Schmerzen, Junge!“ Während der Chefarzt mit ihm sprach, erhöhte er die Dosis des Schmerzmittels, das per Infusion verabreicht wurde. „Dauert ein paar Minuten, aber dann wird es gleich besser.“, fügte er erklärend hinzu. Als er bemerkte, wie sich das Gesicht des Kranken entspannte, fing er vorsichtig an, den Patienten zu untersuchen. Zufrieden brummte er vor sich hin „Die Rückenwunde sieht gut aus!“
    Ben hatte während der Untersuchung seine Augen weiterhin geschlossen gehalten und sammelte neue Energie, um sie anschließend blinzelnd zu öffnen. Sein Blick schweifte suchend umher.
    „Semir … wo …ist … er?“
    Der Chefarzt winkte Semir zu sich herein. Er hatte den Autobahnpolizisten gebeten, vor dem Krankenzimmer zu warten, bis alle Untersuchungen abgeschlossen waren. Bens Augen leuchteten auf, als er seinen Freund neben seinem Krankenbett erblickte. Seine Finger tasteten nach der Hand des kleinen Türken und ergriffen diese.
    „S…e…m…i…r !“, wisperte Ben „Du … bist … da … Par…t…ner!“
    Aus jedem einzelnen Buchstaben konnte der Deutsch-Türke heraushören, wie Ben das Sprechen anstrengte.
    „Ich bin da, Ben!“, er schnaufte hörbar durch, „ich bin da! … Und bleibe bei dir! … Hörst du! Werde einfach nur wieder gesund Partner!“
    Die Erleichterung, die in Semirs Stimme mitschwang, war unüberhörbar. Die Ängste, die er in der vergangenen Nacht ausgestanden hatte, wieder einen Partner zu verlieren, hatten auch ihn äußerlich schwer gezeichnet. Ben war mehr als ein Partner für ihn, fast schon ein Bruder. Er beugte sich zu dem Kranken hinunter um die nächsten Worte zu verstehen, die leise flüsternd aus dessen Mund kamen: „Du … hast … auch … schon mal … besser … ausgesehen … Partner!“ Dabei huschte ein Lächeln über Bens Gesicht. Semir spürte wie seine Augen feucht wurden und antwortete innerlich tief bewegt: „Verdammt …. Verdammt Ben, das sagt gerade der Richtige!“ Er schüttelte erregt den Kopf und sprach weiter „Wie fühlst du dich?“
    Die Antwort konnte er mehr von den Lippen des Patienten ablesen als hören. „Müde … müde!“
    Dieser schloss vor Erschöpfung die Augen und dämmerte in den Schlaf hinüber.


    Währenddessen gab Dr. Kraus der Krankenschwester durch ein Handzeichen zu verstehen, dass sie zusammen mit ihm das Krankenzimmer verlassen sollte und verschloss die Zimmertür. Durch das Fenster in der Tür beobachtete er die beiden Polizisten. Draußen meinte er zu Anna „Geben Sie den beiden ein paar Minuten alleine. Und vorerst kein Wort zu Herrn Jäger, über den Zusammenbruch seines Vaters. Herr Gerkhan soll später wieder kommen. Ich denke, Ben wird die nächsten Stunden sowieso schlafen.“
    Der Chefarzt verabschiedete sich und die Krankenschwester kehrte ins Krankenzimmer zurück. Zuerst schaute sie auf Ben, der ruhig schlafend dalag, die Anzeigen der Monitore und dann wanderte ihr Blick weiter zu Semir. „Alles in Ordnung mit ihnen Herr Gerkhan?“ Ihr war aufgefallen, wie blass der ältere Polizist noch war.


    „Alles gut! Danke der Nachfrage! …. Das Wichtigste ist, dass Ben eine realistische Chance hat, wieder gesund zu werden.“ Semir atmete mehrmals tief durch. „Sie wissen gar nicht, was diese Nachricht für mich bedeutet!“


    Anna nickte ihm zu „Doch!“ in Gedanken fügte sie hinzu, ich kann sie besser verstehen, als sie denken. Laut fragte sie Semir: „Ich kenne hier in der Nähe eine kleine Bäckerei bei der man morgens ab 06.00 h bereits ein tolles Frühstück bekommt. Möchten Sie mich nicht begleiten? Sie sehen so aus, als könnten Sie einen starken Kaffee und was zu essen gut vertragen! Anschließend können Sie ja Herrn Jäger wieder besuchen. Geben Sie Schwester Theresa ihre Handy Nummer. Man wird Sie anrufen, falls er aufwacht! Einverstanden?“


    Nachdem die Anspannung etwas von ihm abgefallen, merkte Semir, wie sein Magen grummelte und nahm die Einladung dankend an. Anna bat ihn während der Übergabe an ihre Kollegin, das Zimmer bzw. die Station zu verlassen. Der Türke entschloss sich unten im Eingangsbereich auf die Krankenschwester zu warten, die sich erst noch umziehen musste.
    Beim gemeinsamen Frühstück erwies sich Anna als interessierte Zuhörerin. Die Anspannung fiel von Semir ab und er erzählte einige Anekdoten, die er mit Ben erlebt hat. Gefühlte Stunden später und nach der dritten Tasse Kaffee verabschiedeten sich die beiden voneinander und der Türke kehrte in die Uni-Klinik auf die Intensivstation zurück.

  • Gabriela saß am vereinbarten Treffpunkt in der Nähe des Rheinufers. Sie beobachtete das Treiben um sich herum. Die angenehmen Temperaturen hatten Jogger, Radfahrer und Spaziergänger ins Freie gelockt. Alle hatten etwas gemeinsam, sie genossen das schöne Frühjahrswetter entlang der Uferpromenade. Auf den Grünflächen des Rheingartens hatten sich junge Menschen niedergelassen, die sich unterhielten, lachten, Spaß miteinander hatten und das eine oder andere Bier tranken.


    Die kleine Eckkneipe hatte nur ein paar Tische im Außenbereich, die alle voll besetzt waren. Gabriela hatte ihren Cappuccino schon längst ausgetrunken und bezahlt. Ungehalten blickte sie auf ihre Uhr. Entgegen seiner sonstigen Gewohnheit hatte sich ihr Gesprächspartner verspätet. Sie wollte schon aufstehen und weggehen, als jemand sie von hinten ansprach.


    „Hallo Gabriela!“ Sie drehte sich um und blickte über die Schulter. Von ihr unbemerkt hatte sich Christian Wenzel von hinten genähert. Sein Kleidungsstil passte zu seinem gepflegten Erscheinungsbild, wie immer trug er einen Maßanzug, der der Jahreszeit angepasst, aus hellem Leinenstoff angefertigt worden war. Ein dazu passendes hellblaues Hemd mit einer dezent gepunkteten dunkelblauen Krawatte.


    Sein Gesicht war braun gebrannt und stand im Kontrast zu seinem kurzgeschnittenen grau-weißen Haaren. Solange sie ihn kannte, hatte er schon diese Haarfarbe, die damals sogar vor gut fünfzehn Jahren gar nicht zu seinem Alter zu passen schien. Wie sie mittlerweile wusste, war er Ende vierzig. Ein Lächeln umspielte seine Lippen. Jedoch blickten seine blauen Augen kalt drein und hoben sich von den gutgeschnittenen Gesichtszügen ab.


    „Wollen wir ein Stück am Ufer entlang gehen? Im Laufen redet es sich besser oder geht das nicht in diesen Schuhen?“ sein Blick war dabei auf ihre hochhackigen Sandalen gerichtet, die perfekt zu ihrem himmelblauen Kleid mit den weißen Tupfen passten. Gabriela nickte ihm zu und erhob sich. Unauffällig folgten ihnen die beiden Bodyguards ihres Begleiters. Beide Männer, die in dunklen Anzügen gekleidet waren, hätten jederzeit an einem Wettbewerb für Bodybuilding teilnehmen können.


    „Was hast du für mich Christian?“, ergriff sie zum ersten Mal das Wort.


    „Es wird dir nicht gefallen, was ich dir jetzt sagen werde!“


    Eines seiner Laster war das Rauchen, das so im krassen Gegensatz zu seiner sportlichen und gesunden Lebensweise stand. Sport war eine seiner wichtigsten Freizeitbeschäftigungen. Gewohnheitsgemäß zündete er sich ein Zigarillo an und inhalierte den Rauch tief in seine Lungen, während er seine Informationen preisgab.


    „Du wirst per internationalen Haftbefehl gesucht meine Liebe! Man konnte dir eindeutig die Entführung des Polizisten und der Frau mit ihrem Kind nachweisen. Außerdem wurden deine Fingerabdrücke in dem schwarzen Audi gesichert. Dein Anschlag auf die KTU der Autobahnpolizei war wohl ein Fehlschlag.“


    Sie blieb augenblicklich stehen und drehte sich zu ihrem Gesprächspartner hin und nahm ihre Sonnenbrille ab. In ihren Augen blitzte es wütend auf und sie fauchte ihn an.


    „Pfff …. Wem ich das mit den Zeugen zu verdanken habe, weist doch du wohl am besten!“


    „Ich weiß, worauf du anspielst. Aber ich hatte meine Gründe und das Geschäft ging vor! Du kennst die Regeln!“, wies er sie in einem scharfen Tonfall zu Recht. Schweigend liefen sie einige Schritte nebeneinander her. Christian studierte dabei die Mimik seiner Gesprächspartnerin. „Woran denkst du?“ Er lachte ironisch auf und schnippte seine Kippe achtlos zu Seite. „Vergiss es! Es nützt dir auch nichts die Zeugen zu beseitigen. Die Beweislage ist eindeutig! Hier, in dem Umschlag findest du alle Informationen, die du wolltest. So wie es aussieht, hat der entführte Polizist, dieser Ben Jäger, deinen Bruder und deinen Cousin auf dem Gewissen. Ich habe dir alles hineingesteckt, was ich über ihn auftreiben konnte … und ich meine wirklich alles. Außerdem sind auf dem Stick alle Protokolle und Tatortberichte, an die ich in der Kürze der Zeit ran kam!“


    Dabei hielt er ihr einen verschlossenen dicken DIN A4 Briefumschlag hin.


    „Was hast du vor?“


    Eigentlich kannte er die Antwort schon im Voraus und hätte sich die Frage sparen können. Sie hatte zwischenzeitlich wieder ihre Sonnenbrille aufgesetzt. Ihr breitkrempiger Hut verdeckte ihr Gesicht.


    „Ich werde meinen Bruder und auch meinen Cousin rächen. Und nichts und niemand wird mich aufhalten können! Dieser Ben Jäger wird sterben und ich schaue ihm dabei zu!“ Es war wie ein Versprechen und ihre Stimme klang dabei so eiskalt, dass selbst Christian Wenzel, der selbst absolut keine Skrupel kannte, wenn es ums Geschäft ging, eine Gänsehaut bekam.


    „Überlege es dir noch mal Gabriela! Setz dich ins Ausland ab, geh in dein Domizil in der Schweiz! Lass erst Mal Gras über die Sache wachsen. Denn momentan sucht dich die ganze Polizei von Nordrheinwestfalen.“ Versuchte er sie mit seinen Argumenten zu überzeugen.


    Sie lachte spöttisch auf und hielt erneut an. „Schau mich doch an? Wer erkennt mich? Nicht einmal du hättest mich erkannt, wenn ich dir nicht vorher ein Foto geschickt hätte! Und zerbrich dir mal nicht meinen Kopf! Ich habe schon vorgesorgt. Diese Trottel von der Polizei suchen mich bestimmt nicht in Köln und Umgebung.“ Sie lehnte sich an das Geländer der Uferpromenade und schaute hinaus auf den Rhein. An einem der Landungsstege bestiegen Touristen einen der Ausflugsdampfer, die auf dem Fluss in Richtung Düsseldorf fuhren.


    „Gabriela, bitte! Denk doch mal nach!“ appellierte er an ihre Vernunft. „Deine Rachepläne kannst du doch auch auf später verschieben!“


    „Hast du Angst Christian? Oder worum geht’s es dir? … Dir geht es doch immer nur ums Geld. Dir hat ja auch noch niemand etwas weggenommen oder deine Familie umgebracht. Aber keine Sorge, das ist allein meine Sache!“
    Sie kannte ihn zu gut. Er hasste nichts mehr, als dass seine Geschäfte gestört wurden, vor allem die, die außerhalb des Gesetzes lagen. Nichts war schlimmer als neugierige Polizisten und Staatsanwälte. „Unter diesen Voraussetzungen ist es wohl besser, wenn wir unsere Geschäftsbeziehung erst mal auf Eis legen! Mit deinen Racheplänen möchte ich nichts zu tun haben. So was ist nicht gut fürs Geschäft!“, brummte er missmutig.
    Mit einem ironischen Blick zur Seite konnte sie sich ihre nächste Bemerkung nicht verkneifen. „Ein Glück, dass deine sogenannten Freunde aus dem Rotary-Club oder wo du noch alles Mitglied bist, nicht wissen, womit du tatsächlich dein Geld verdienst! Du spendest ja für so viele wohltätige Zwecke!“ Gabriela lachte zynisch auf.
    „Was soll deine Bemerkung? Willst du mir drohen?“
    „Ich?… nein! … War nur eine Feststellung Christian. Du solltest dir mal ab und an dein Spiegelbild vor Augen halten. In gewisser Weise bist du nicht besser als ich. Deine sogenannte weiße Weste ist genauso beschmutzt wie meine Hände, die für dich die Drecksarbeit erledigen.“
    Sie legte eine kurze Pause ein und beobachtete ihn. Er hatte sein Pokerface aufgesetzt, doch an dem Flackern in seinen Augen konnte sie erkennen, dass ihre Worte ihn sehr wohl erreicht hatten. „Wir sprechen uns! Und wenn du einen Auftrag hast, weißt du ja, wie du mich erreichen kannst!“ legte sie noch selbstgefällig nach. Sie waren zwischenzeitlich auf Höhe des Doms angekommen. Ohne jedes weitere Wort drehte sie sich um und ging über eine der Treppen hoch zur Domplatte und verschwand im Gewühl der Menschen in Richtung Kölner Innenstadt.


    Auf dem Weg zu ihrem PKW, den sie in einem nahe gelegenen Parkhaus abgestellt hatte, warf sie in Gedanken einen Blick zurück in ihre Vergangenheit. Sie kannte Christian schon fast fünfzehn Jahre. Ja, er hatte sie aus dem Sumpf herausgezogen, in dem sie nach ihrer Flucht aus den Kriegsgebieten des ehemaligen Jugoslawien mit ihrem Bruder und Cousin gelandet waren. Eine Zeit lang war sie seinen erotischen Verführungen erlegen. Durch ihn hatte sie gelernt, dass man mit viel Geld alles erreichen konnte, sich alles kaufen konnte, welche Macht man mit Reichtum in den Händen hielt. Ihr erklärtes Ziel, nachdem sie den Mördern ihrer Familie entkommen waren, war Rache. Dieser übermächtige Wunsch hatte Gabriela alles ertragen und durchstehen lassen. Dank Christians Verbindungen und seiner Hilfe hatte sie sich in militärischen Trainingscamps ausbilden lassen und die Namen und Wohnorte der Täter ausfindig gemacht, die damals für die Tat verantwortlich gewesen waren. Sie hatte blutige Rache geübt, lies die Meuchelmörder und Mordbrenner leiden und genoss bei jedem ihrer Opfer ihren Rachefeldzug. Als Gegenleistung erledigte sie für Christian blutige Mordaufträge, Überfälle und schaltete seine Gegner aus. Ja, er war schon geschickt und durchtrieben. Er hatte Beziehungen bis in die höchsten Regierungskreise, er bediente sich selbst der Justiz, um unliebsame Personen aus dem Weg zu räumen. Sie war mehrmals in der Vergangenheit als Informantin des BKAs aufgetreten und hatte dank ihrer Aussagen sogar Zeugenschutz genossen. Das war Geschichte, aus und vorbei in ihren Augen.


    In einer ihrer geheimen Wohnungen in einem Hochhaus am Rande des Stadtkerns studierte sie eingehend die übergegebenen Unterlagen. Beim Anblick des Fotos ihres getöteten Cousins drehte sie kurzfristig durch. Jeder Gegenstand, der in ihrer Reichweite stand oder lag, wurde Opfer ihrer Zerstörungswut. Erst das erboste Klopfen einiger Nachbarn, die sich durch den Lärm belästigt fühlten, brachte sie wieder zur Besinnung. Sie beschimpfte diese lauthals in ihrer Heimatsprache. Ihr Atem ging dabei keuchend und rasselnd, ihr Körper war schweißgebadet. Sie stützte sich mit ihren Händen an der Wand des Eingangsflurs ab und spann ihre Rachegedanken gegen Ben Jäger. Sie hatte das gestrige Telefongespräch im Park nicht vergessen. Sollte dieser seine Verletzungen überleben, gehörte er ihr. Und über noch etwas machte sie sich Gedanken, die Zeugin Andrea Gerkhan.
    Nur tote Zeugen waren gute Zeugen in ihren Augen.

  • Einen Tag später ….


    Anna betrat vor ihrer Übergabe nochmals Bens Krankenzimmer und betrachtete den schlafenden Patienten. Seine Wangen waren vom Fieber noch leicht gerötet, aber bei weitem war die Temperatur nicht mehr so hoch wie vor zwei Tagen. Sein Körper kämpfte mit den Auswirkungen der Sepsis, die am Abklingen war. Das Zentrallabor konnte den Erreger bestimmen, seitdem bekam der Patient ein neues Antimykotikum verabreicht. Das neue Medikament schien gut anzuschlagen. Sie hatte seine neuesten Blutwerte gesehen und die sahen vielversprechend aus. Mit viel Glück würde die Sepsis an den Nieren und den anderen Organen keine Spätfolgen hinterlassen.
    Während ihrer Frühschicht hatte der Patient einen Untersuchungsmarathon in der Urologie mit einem kleinen Eingriff, der erfolgreich verlaufen war, über sich ergehen lassen müssen.


    „Hey Ben, ich sehe schon, ich habe kein Glück, dich noch einmal wach zu erleben. Hat wohl nicht sollen sein, dass wir beide noch einmal miteinander reden können!“
    Traurigkeit schwang in Annas Stimme unüberhörbar mit. Mit routinierten Handgriffen legte sie in dem Perfusor die neuen Medikamentenspritzen ein, programmierte den Automat gemäß den ärztlichen Anweisungen und redete anschließend weiter mit ihrem Patienten.
    „Ich weiß, der Eingriff heute Morgen war wohl verdammt unangenehm und schmerzhaft. Kein Wunder, dass du noch fix und fertig bist und schläfst.“
    Sie seufzte auf und begann mit der Mundhygiene. Fasziniert musterte sie seine Lippen. Für einen Augenblick schloss sie die Augen und stellte sich vor, wie es sich anfühlen würde, diese zu küssen. Oh man, schalt sie sich selbst in Gedanken, du benimmst dich wie ein verliebtes junges Mädchen. Genau das war es, sie hatte sich in den jungen Mann verliebt und wusste nicht mal, ob der Dunkelhaarige diese Gefühle erwidern würde. Ihre Überlegungen wurden unterbrochen, als sich die Zimmertür öffnete und Jens, der Physiotherapeut, sie ansprach.


    „Hallo Anna, wie lange brauchst du noch? Ich hätte Zeit, um den Patienten durchzubewegen. Brauchst ihn auch nicht umzulagern, mache ich hinterher!“


    „Lass ihn noch ein wenig schlafen Jens! Herr Jäger hat heute schon einiges hinter sich gebracht. Fang doch erst einmal mit der Patientin in Zimmer fünf an.“
    Der Physiotherapeut nickte zustimmend, die Tür schloss sich und sie war mit Ben alleine im Zimmer.
    Anna beendete ihre Arbeit. Sie biss sich kurz auf die Lippen und Wehmut überfiel sie. „So schwer es mir auch fällt, für mich heißt es Abschied nehmen. Heute ist mein letzter Arbeitstag auf dieser Station als Krankenschwester. Ausgerechnet jetzt ….“ Sie hielt inne und dachte nach „Lassen wir das Schicksal entscheiden, ob wir uns noch einmal begegnen werden. Ich muss erst mal lernen für meine Prüfungen. Das wirst du nicht verstehen, aber ich habe für meinen Traum Ärztin zu werden, so viel geopfert, mich mit meinen Eltern überworfen und habe mein Ziel fast erreicht. Die große Hürde, drittes Staatsexamen, wenn ich die überwunden habe, beginne ich hier an der Klinik am ersten Juli als Ärztin zu arbeiten. Dann beginnt ein anderes Leben für mich!“ Zärtlich strich sie ihm über die Stirn und widerstand der Versuchung ihm einen Kuss darauf zu hauchen. „Vielleicht begegnen wir uns ja im Club 99 wieder, wenn du gesund bist und dort einen Auftritt mit deiner Band hast.“
    Mit diesen Worten verließ sie das Krankenzimmer und vermied es zurückzublicken.


    ******


    Die Tage, die Ben auf der Intensivstation verbrachte, waren auch für Semir nicht einfach. Er verbrachte viele Stunden am Krankenbett seines Freundes. Bens Schwester Julia löste ihn regelmäßig ab. Der junge Polizist befand sich zwar nicht mehr in akuter Lebensgefahr, aber das Fieber und damit verbunden die Infektion verschwanden nicht einfach über Nacht, so wie es sich der kleine Türke gerne gewünscht hatte. Bens Gesundheitszustand war in dieser Zeit ein stetiges auf und ab. Zwischendrin war er wach und ansprechbar, allerdings litt er vor allem nachts unter heftigen Alpträumen. Man verabreichte ihm Medikamente, die sedierend wirkten und dazu führten, dass der dunkelhaarige Polizist sich manchmal tagsüber in einer Art Dämmerschlaf befand.
    Sowohl der Oberarzt, als auch der Chefarzt versicherten Semir, dass er sich keine Sorgen zu machen brauche, Ben würde wieder gesund werden, der geschwächte Körper seines Partners benötige einfach mehr Zeit, um sich wieder zu regenerieren.


    Der Autobahnpolizist pendelte zwischen der Uni-Klinik, der Dienststelle und dem Haus seiner Schwiegereltern hin und her. Ihm war auch wichtig, soviel Zeit wie möglich mit seinen Töchtern und seiner Frau zu verbringen.
    In dieser Zeit folgte ihm Gabriela Kilic wie ein Schatten und beobachtete jeden seiner Schritte. Nachdem sie den Tagesablauf des Polizisten und den Aufenthaltsort von Andrea kannte, entfernte sie aus Angst vor einer möglichen Entdeckung den Peilsender am silbernen BMW.


    Auf der PAST hatte ihn Frau Krüger vorerst einmal zum Innendienst verdonnert. Der Türke sollte die Bemühungen von Susanne und Hartmut unterstützen, den Maulwurf in der Staatsanwaltschaft zu finden. Diese vorrangigen Ermittlungsarbeiten gestalteten sich schwieriger als gedacht. Susanne meinte irgendwann einmal mit einen verzweifelten Unterton: „Selbst Erbsen zählen, sei da einfacher!“
    Dank der akribischen Zusammenarbeit der Drei konnte der Kreis der Verdächtigen auf fünf männliche Personen eingegrenzt werden. Der Maulwurf hatte seine verräterischen Spuren geschickt verborgen. Zusätzlich durchleuchteten die Mitarbeiter der Autobahnpolizei die überfallenen Firmen in Düsseldorf und suchten dort nach Anhaltspunkten und Zusammenhänge. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit ermittelte Semir mit Bonrath vor Ort, nur um dem Büroalltag zu entfliehen.


    Wie versprochen, übersandte Martin Hillenbrand an Frau Krüger alle Akten zur Schießerei im Fuchsbachgrund. Über Interpol wurde die Identität des unbekannten Toten festgestellt. Es handelte sich um Mario Kilic, einen Verwandten von Gabriela Kilic. Damit bestätigte sich Andreas Aussage, die bisher nur den Vornamen des Toten nennen konnte. Die Verdächtige selbst blieb unauffindbar. Keine Spuren, keine Hinweise, einfach nichts!


    Vor seinem Dienstbeginn auf der PAST wollte Semir, wie in den letzten Tagen auch, unbedingt bei Ben auf der Intensivstation vorbeischauen. Auf dem Weg dorthin erreichte ihn Susannes Funkruf. „Zentrale für Cobra 11!“ - „Cobra 11 hört!“, antwortete er.


    „Guten Morgen Semir, wo bist du gerade!“, flötete sie sanft ins Mikro.


    „Ich bin auf dem Weg zu Ben, auf der A4, unmittelbar vor der Abfahrt Klettenberg. Was ist denn so dringend? Ich komme erst gegen Mittag zur Spätschicht ins Büro, war mit der Chefin so abgesprochen!“


    „Sorry Semir, daraus wird wohl nichts!“ seufzte sie wohlwissend auf, dass ihr Kollege am anderen Ende der Leitung nicht damit einverstanden sein würde, mit dem, was sie jetzt zu sagen hatte. „Du sollst zur Dienststelle kommen und zwar gleich! Anweisung von der Krüger!“


    „Oh, verdammt …!“ Den Rest verschluckte er lieber mal und schlug wütend mit dem Handballen auf sein Lenkrad.


    „Gibt es Neuigkeiten von Ben?“, fragte die Sekretärin interessiert nach. „Muss er noch lange auf der Intensivstation liegen?“


    „Ich habe gestern Abend noch mal mit Julia telefoniert. Alles unverändert, während der Besuchszeit schläft er die meiste Zeit … Naja, etwas ist doch anders, er hat seit gestern Morgen kein Fieber mehr. Und die Ärzte meinten, mit Verschwinden des Fiebers sollte er munterer und ansprechbarer werden. Was glaubst du, warum ich zu ihm fahren wollte?“, brummte er missmutig ins Mikro zurück, der unterdrückte Ärger war deutlich rauszuhören. „Was ist denn so wichtig, dass ich zur Dienststelle muss? Gestern hieß es noch, ich habe morgens frei! Habt ihr wenigstens eine heiße Spur gefunden?“, erkundigte er sich weiter bei Susanne, während er seinen BMW geschickt durch den morgendlichen Berufsverkehr lenkte.


    „Ach Semir, ich verstehe dich doch. … Und es gibt eine heiße Spur ….“ Die Sekretärin informierte ihn darüber, dass Hartmut gestern Abend durch einen Datenabgleich noch einen Volltreffer bei den Nachforschungen gelandet hatte. Die Identität des Maulwurfs, der bei der Staatsanwaltschaft arbeitete, war endgültig bekannt.


    „Übrigens, es kommt noch dicker. Hartmut hat herausgefunden, dass Herr Stiebler, so heißt der Kerl, eine Schadsoftware ins Computernetzwerk der Staatsanwaltschaft eingeschmuggelt hatte. Wenn ich Hartmut richtig verstanden habe, hatte dieser Trojaner alle abgelegten Dateien nach bestimmten Schlagwörter und Namen durchsucht und wenn es fündig wurde, eine Alarmmeldung an Stiebler ausgegeben.“ Sie gab ihm über Funk vorab die Adresse und den Namen des Rechtspflegers durch. Als der Kreis der Verdächtigen feststand, hätte Semir am wenigsten auf diesen Mann getippt, den er von verschiedenen Gerichtsverhandlungen kannte. Er konnte ihn förmlich vor sich stehen sehen in seinem grauen Anzug, der seine füllige Figur kaschieren sollte. Immer korrekt, nach außen hin ein Beamter wie aus dem Bilderbuch. Der Mann stand kurz vor der Pensionierung. Einfach unglaublich, wie man sich so in einem Menschen täuschen konnte.


    Für die Festnahme sollte er sich mit Dieter Bonrath auf der PAST treffen. „Frau Schrankmann ist bereits da und erwartet euch. Sie hat den Haftbefehl dabei!“, klärte sie den Kommissar auf. Dieser schnaufte deutlich hörbar aus. Allerdings war diese Verhaftung ein wichtiger Grund, um den Besuch bei Ben zu verschieben. „Hartmut und die Kollegen von der Spurensicherung werden das Haus des Verdächtigen im Beisein der Staatsanwaltschaft erst durchsuchen, wenn er bei uns im sicheren Gewahrsam ist. Die Staatsanwältin will verhindern, dass er irgendwelche Spuren zu den Hintermännern verwischen kann.“

  • Irgendwo in Köln - Porz


    Thorsten Stiebler, so hieß der Verdächtige, bewohnte zusammen mit seiner Frau ein schmuckes Einfamilienhaus in der Gartenstraße 25 in Porz, am Stadtrand von Köln. Das einstöckige Gebäude, zusammen mit dem Grundstück, welches für Semirs Geschmack recht großzügig waren, hätte in jede Villengegend gepasst. Der Besitzer hatte keine Kosten und Mühen bei der Ausstattung und Anlage des Gartens und den anderen Außenanlagen gescheut. Der Eingangsbereich war mit teuren Terrakotta-Platten ausgelegt. Rechts neben dem Wohnhaus befand sich eine überdimensionierte Doppelgarage. Daran schloss sich ein Carport an, unter dem ein schwarzes BMW Z3 Cabriolet parkte.
    Wow, nicht schlecht, dachte sich der Kommissar beim Näherkommen, entweder bin ich in der falschen Gehaltsklasse oder der Typ hat tatsächlich Dreck am Stecken, mutmaßte Semir für sich. Er hatte seinen BMW am Straßenrand vor der Auffahrt geparkt, um so einen mögliche Fluchtversuch des Verdächtigen mit seinem Wagen zu verhindern. Auf sein Klingeln öffnete niemand die Eingangstür des Hauses. Die beiden Autobahnpolizisten wollten schon das Anwesen verlassen, als Semir aus der Garage ein leises Hämmern hörte. Er gab Dieter ein Zeichen, ihm zu folgen und ihm den Rücken zu decken. Die seitliche Eingangstür, die sich nach außen öffnen ließ, stand einen kleinen Spalt offen, aus diesem schimmerte ein Lichtschein nach draußen. Eine tiefe Männerstimme trällerte den aktuellen Schlagersong „Atemlos“ vor sich hin.


    „Hallo Herr Stiebler? …“ Semir umfasste mit seiner Linken den Türgriff und lauschte angespannt. „Mein Name ist Gerkhan, Kripo Autobahn, sind Sie da drinnen in der Garage? … Ich komme jetzt zu ihnen rein! Wir hätten ein paar Fragen an sie.“
    Der Gesang war verstummt. Im Inneren der Garage herrschte Stille.
    Semir war sich darüber im Klaren, wenn Stiebler der Maulwurf war, musste seine Anwesenheit die reinste Provokation für den Verräter sein. Mit gezogener und entsicherter Waffe öffnete er mit einem Ruck die Seitentür der Garage, die mit einem lauten Knall gegen die Außenwand krachte. Der Kommissar betrat den Raum und achtete nicht darauf, dass Bonrath nahe genug hinter ihm war, um ihn den Rücken zu decken. Das Licht der Neonröhre verlosch schlagartig. Es dauerte ein paar Sekundenbruchteile bis sich die Augen des Türken an die neuen Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Ein kleines Seitenfenster auf der gegenüberliegenden Wandseite spendete ein diffuses Tageslicht. Inmitten der Garage parkte ein XXL-Wohnmobil, während an den Seiten Werkzeugschränke und eine riesige Werkbank standen. Aus dem Augenwinkel nahm Semir einen Schatten wahr, der sich auf ihn zu bewegte. Instinktiv wollte er ausweichen. Zu spät!


    Der Schlag eines Kantholzes erwischte den Deutsch-Türken voll am Rücken und brachte ihn zum Straucheln. Sein Gegner schlug erneut gnadenlos zu. Semir schrie vor Wut und Schmerz lauthals auf.
    „Du verdammter Arsch!“
    Der zweite Treffer brachte ihn endgültig zu Fall. Die Schusswaffe entglitt seiner Hand und schlitterte am Boden entlang, als Semir versuchte seinen Sturz abzufangen. Mit seiner Stirn knallte er gegen die Kante eines der Werkzeugschränke. Er spürte, wie die Haut aufplatzte und warmes Blut herausrann. Das Adrenalin in seinem Blut verdrängte seine aufkommenden Schmerzen und die Benommenheit. Blitzschnell wich der Kommissar dem nächsten Hieb aus, rollte über den Boden und schnellte auf die Beine, um seinerseits zum Gegenangriff überzugehen. Wieder kam das Kantholz auf ihn zu. Mit Mühe und Not blockte er mit dem linken Unterarm den Schlag ab und rammte seinem Gegner den Kopf in den Magen. Dem entwich keuchend die Atemluft. Mit lautem Gepolter entfiel das Holzstück dessen Händen. Als Semir nachsetzen wollte, um dem Verdächtigen den Rest zu geben, gehorchte sein linker Arm nicht mehr. Der Schmerz brandete auf, es fühlte sich an, als wäre der Unterarm in zwei Teile geteilt worden. Vor seinen Augen blitzten Sterne auf. So sehr auch gegen die aufkommenden Schmerzen und die Schwäche seines Körpers ankämpfte, Semir konnte es nicht verhindern, er fiel vor seinem Gegner wehrlos auf die Knie. Vor seinen Augen lag ein Schleier, das austretende Blut behinderte zusätzlich seine Sicht.
    Wie aus weiter Ferne erklang hinter seinem Rücken Bonraths Stimme: „Das würde ich nicht machen Herr Stiebler! Lassen Sie die Waffe liegen, ansonsten zwingen Sie mich zu schießen!“, befahl er mit seiner unheimlich ruhig klingenden Stimme dem Verdächtigen. „Wir haben einen Haftbefehl gegen Sie, Herr Stiebler. Nehmen Sie die Hände hoch und stützen sich an dem Wohnmobil ab!“


    Semir spürte wie sein Magen anfing zu rebellieren. Er versuchte die aufkommende Übelkeit und seine Schmerzen unter Kontrolle zu bringen. Die getroffenen Körperstellen brannten wie Feuer. Er war sich nicht sicher, ob sein Unterarm gebrochen war. Mit seinem Jackenärmel wischte sich Semir das Blut aus dem Gesicht und betastete mit den Fingerkuppen seiner Rechten die Platzwunde. Wie durch Watte erklang das Klicken der Handschellen. Eine Hand legte sich auf seine rechte Schulter.


    „Geht’s Semir? Oder soll ich dir helfen?“, erkundigte sich Bonrath besorgt und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche „Da nimm erst mal das Tuch und drücke es auf die Wunde.“ Dem schlaksigen Polizisten entging nicht der komische Blick, dem ihm sein Kollege zuwarf. „Keine Sorge, ist frisch gewaschen!“ Dessen Gestalt erschien Semir völlig verschwommen. Bevor ihm der Türke widersprechen konnte, griff ihm Bonrath unter die rechte Achsel und half ihm beim Aufstehen.


    „Nein, nein … lass gut sein, ich komme klar. … Bring den Kerl zum Auto, Dieter!“, wiegelte der Verletzte ab und versuchte seiner Stimme ein bisschen Festigkeit zu verleihen, was ihm gründlich misslang. Vor seinen Augen tanzten bunte Sterne und er fühlte sich weiter total benommen. Der Kommissar lehnte sich mit dem Gesäß gegen die Werkzeugbank, drückte mit dem Taschentuch auf die Platzwunde und verharrte einige Augenblicke. Als sich das Schwindelgefühl ein wenig gelegt hatte, torkelte er mehr als das er aufrecht und gerade ging ins Freie. Ein bisschen unsicher auf den Beinen wankte er über den Gartenweg hinter Bonrath und dem Verhafteten in Richtung BMW her. An der Garagenecke konnte er den Brechreiz nicht länger unterdrücken und übergab sich ins angrenzende Blumenbeet. Sein Atem ging keuchend, er musste seine ganze Willenskraft aufbieten, um die letzten Meter zum BMW zurückzulegen. Dort angelangt, stützte er sich mit dem rechten Unterarm am Wagendach ab. Der Verhaftete saß bereits gesichert auf der Rücksitzbank.


    „Nimm mal deine Hand weg Semir und lass mich mal die Platzwunde anschauen!“ Nur mühsam konnte er ein Aufstöhnen unterdrücken, als sein älterer Kollege die Wunde untersuchte. Als er seinen linken Arm abtastete, schrie er vor Schmerz auf.
    „Das sieht gar nicht gut aus Semir! Ich fahr dich am besten erst mal ins Krankenhaus! Das muss sich ein Arzt anschauen und die Platzwunde muss genäht werden!“, lautete der trockene Kommentar von Bonrath, während er einen provisorischen Verband anlegte und auch den linken Arm notdürftig versorgte.


    „Jetzt nicht! … Wir bringen den Kerl erst einmal zur Dienststelle. Das hat Vorrang vor so ein paar Schrammen. Die Schrankmann und die Krüger warten auf uns!“, protestierte Semir, dabei reichte er den Autoschlüssel an Bonrath weiter. „Ist Hartmut mit den Kollegen schon da?“, fragte er nach, um von sich abzulenken.


    Semir wusste nicht wie, aber irgendwann hatte er es geschafft und rutschte vorsichtig auf den Beifahrersitz. Die Schmerzen, die dabei aufwallten, ließen ihn aufstöhnen. Seinen linken Unterarm hielt er umklammert, in der Hoffnung damit die Qualen ein bisschen zu lindern. Aus den Augenwinkel konnte er erkennen, wie Bonrath ihm ein ums andere Mal einen sorgenvollen Blick während der Fahrt zuwarf. Der grauhaarige Mann auf dem Rücksitz zog es vor zu schweigen. Semir, der während der Autofahrt mit einer erneut aufkommenden Übelkeit und seinen Schmerzen zu kämpfen hatte, blieb ebenfalls stumm. Am meisten ärgerte er sich über sich selbst. Er hatte den Verdächtigen, der so unscheinbar wirkte, total unterschätzt und sich wie ein Anfänger von dessen Angriff überraschen lassen. Wer hätte auch gedacht, dass ein fast sechzigjähriger Mann mit einer fülligen Figur bei einer Verhaftung derart Widerstand leisten würde. Die Quittung dafür hatte er in Form seiner Blessuren bekommen.

  • Die Verhaftung ihres Mannes wurde von der Ehefrau, Gerda Stiebler, die sich im Haus befunden hatte, beobachtet. Sie war unter der Dusche gewesen und hatte deswegen die Eingangstür nicht geöffnet. Über ein gekipptes Fenster im Wohnzimmer verfolgte sie jedes Wort, das draußen gesprochen wurde. Ihr Mann hatte ihr für solch einen Fall klare Anweisungen hinterlassen, die sie befolgte.


    Auf der PAST wurde der Gefangene von Bonrath sofort in einen Verhörraum gebracht.


    „Gerkhan!“ Entsetzt erklang die Stimme von Frau Krüger, als der Kommissar auf unsicheren Beinen die Dienststelle betrat und die Richtung seines Büros ansteuerte. „Was ist denn passiert? Wer hat sie denn so zugerichtet? Etwa Herr Stiebler?“, prasselten die Fragen der Chefin auf ihn ein. Semir hatte rasende Kopfschmerzen und wollte nur noch seine Ruhe haben. Ziemlich ungehalten, antwortete er: „Wer sonst! Sehen Sie hier noch einen anderen Verdächtigen!“
    Erleichtert ließ er sich auf seinem Bürostuhl niedersinken, drückte den Kopf gegen die Lehne, schloss die Augen und wartete darauf, dass seine Umgebung aufhören würde zu schwanken. Unbewusst lauschte er durch die geöffnete Tür den Anweisungen von Frau Krüger, die wie durch einem Wattebausch zu ihm durchdrangen.


    „Susanne, fahren Sie Herrn Gerkhan ins Krankenhaus. Das soll sich ein Arzt anschauen und kümmern Sie sich darum, dass er anschließend zu Hause bleibt! … Bonrath, wir brauchen ihren Bericht zur Verhaftung so schnell wie möglich. Sobald Harmut sich wegen der Hausdurchsuchung meldet, geben Sie Frau Schrankmann und mir Bescheid. Ab sofort sind wir im Verhörzimmer. Und keine Störung!“


    Susanne betrachtete besorgt den Mann ihrer besten Freundin. Mit kalkweißem Gesicht saß er zurückgelehnt in seinem Bürostuhl und versuchte mit Kühl-Akkus, die sie ihm zwischenzeitlich gebracht hatte, gegen die Schwellungen an seinem Kopf und Arm anzukämpfen. Entschlossen schnappte sie sich ihren Autoschlüssel und ihre Handtasche. Susanne stützte Semir ein wenig am gesunden Arm, dem beim Aufstehen ein bisschen schwindlig wurde.
    „Na, ich will mal nichts sagen Kollege, aber das sieht nach einer astreinen Gehirnerschütterung aus. Ich gebe Frau Krüger vollkommen recht, du solltest den Rest des Tages zu Hause auf dem Sofa verbringen und nicht hier im Büro oder auf der Autobahn!“


    Als die beiden in Susannes Auto einstiegen, fuhr vor der PAST eine große Mercedes Limousine vor. Der geschniegelte Herr im Designeranzug mit seinem geschäftsmäßigen Lächeln war Semir bestens bekannt. Es war der ehemalige Rechtsanwalt von Nicolas Schneider, Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen. Was will der denn hier, wunderte sich Semir, als das Auto der Sekretärin vom Parkplatz rollte und er dem Herrn nachblickte, wie er im Eingangsbereich der Dienststelle verschwand.


    *****


    Semir saß in der Notfallambulanz der Uni-Klinik Köln und wartete darauf, behandelt zu werden. Den Kopf an die Wand gelehnt, beobachtete er das Geschehen um ihn herum. Ein bekanntes Gesicht kam mit einer Patientenakte aus einem der Behandlungszimmer, Herr Dr. von Zadelhoff. Hoffentlich arbeitete dieser Idiot nicht seit neuestem hier. Bei der Vorstellung, diesen Kerl als behandelnden Arzt zu haben, verspürte er ein Würgen im Hals.


    Als der Blondschopf den Autobahnpolizisten im Wartebereich erblickte, zuckte er zusammen und senkte seinen Blick. Dr. von Zadelhoff hatte eine für ihn schmerzliche Erfahrung machen müssen. Obwohl sein Onkel eine wichtige Position in der Verwaltung Inne hatte, gab es auch für ihn in seiner ärztlichen Ausbildung keine Sonderbehandlung. Heute musste er in der Notaufnahme aushelfen. Er hatte einen Versetzungsantrag gestellt, von der chirurgischen Intensivstation auf eine andere Intensivstation im Uniklinikum versetzt zu werden, um dort seine Facharztausbildung abzuschließen. Doch Professor Kraus war dagegen und meinte, der angehende Facharzt sollte seine Entscheidung nochmals in Ruhe überdenken.

    Kaum hatte Susanne die Anmeldeformalitäten für ihren Kollegen erledigt, als ihr Handy klingelte. Frau Krüger bat sie darum, so bald als möglich zur Dienststelle zurückzukommen, da sie dort für das Protokoll dringend gebraucht wurde. Semir versprach ihr hoch und heilig keinen Blödsinn zu machen und mit einem Taxi nach Hause zu fahren.


    Wie nicht anders zu erwarten war, diagnostizierte der behandelnde Arzt bei Semir eine Gehirnerschütterung. Er nähte mit vier Stichen die Kopfwunde und begutachtete dessen Arm. Schwere Prellung, nichts gebrochen, lautete die Diagnose. Um den Unterarm zu schonen, wurde dem Autobahnpolizisten eine Schiene angelegt, die er die nächsten Tage tragen sollte. Am liebsten hätte der Arzt den Kommissar zur Beobachtung mindestens für eine Nacht im Krankenhaus behalten. Doch hier biss er auf Granit. Also blieb dem Arzt nichts anderes übrig, als mit einigen Verhaltensmaßregeln und einer Hand voll Schmerztabletten den türkischen Kommissar auf eigene Verantwortung zu entlassen. Dieser zog mühselig seine abgelegte Jacke an und überlegte kurz, während er von der Behandlungsliege aufstand, sitzen oder liegen ist doch egal, den Rest des Tages könnte er bei Ben auf der Intensivstation verbringen. Damit würde er sogar zum Teil dem Wunsch des Arztes nachkommen und unter ärztlicher Aufsicht stehen. Bei dem Gedanken huschte ein Lächeln über sein bleiches Gesicht. Jedoch vorher sollte er sich noch einen starken Kaffee genehmigen und angesichts der pochenden Kopfschmerzen, würde wohl eine Schmerztablette auch nicht schaden. In der Cafeteria ließ er sich an einem der Tische nieder und schlürfte das heiße Getränk und wartete darauf, dass die Tablette ihre Wirkung zeigte. Anschließend machte er sich auf unsicheren Beinen auf den Weg zur Intensivstation, um seinen Freund zu besuchen.


    *****
    Die Staatsanwältin konnte es nicht verstehen, wie ihr langjähriger Mitarbeiter Thorsten Stiebler, dem sie in der Vergangenheit vollkommen vertraut hatte, so einen Verrat hatte begehen können. In all den vergangenen Jahren war der Rechtspfleger für sie der Inbegriff eines Vorzeigebeamten gewesen. Wie konnte man sich nur so in einem Menschen täuschen, die Frage hämmerte unaufhörlich auf sie ein. Jedoch war die Beweislage eindeutig und erdrückend. Frau Schrankmann wollte nur noch eines wissen: die Hintermänner, die Namen der Leute, die dem Rechtspfleger die Informationen abgekauft hatten bzw. ihn beauftragt hatten, gezielt die Staatsanwaltschaft auszuspionieren. Während des Verhörs blieb ihr Mitarbeiter stumm, starrte auf die Tischplatte vor sich und hin und wieder auf seine Armbanduhr. Ohne eine Miene zu verziehen, ließ der Mann die Anschuldigungen und Fragen über sich ergehen. Dem Blick der Staatsanwältin hielt er kaltschnäuzig stand, was deren Wut nur noch mehr anstachelte. Frau Krüger, die dem Verhör beiwohnte, hatte das Gefühl, der Verdächtige spielte auf Zeit, wartete auf etwas. Die Schrankmann polterte mit ihren Fragen auf ihn ein. Sie konnte ihren Zorn und Erregung kaum im Griff halten.


    Währenddessen betrat ein elegant gekleideter Mann die PAST und ging sofort auf Dieter Bonrath zu. „Guten Tag, ich bin der Rechtsbeistand von Herrn Wolfgang Stiebler. Mein Name ist Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen. Ich möchte sofort zu meinem Mandanten vorgelassen werden.“


    Der Autobahnpolizist blickte von seinem Bericht hoch und meinte in einem fast gelangweilt klingenden Tonfall: „Einen Moment mal bitte. Ich sag der Chefin Bescheid!“ Er ließ sich von dem dominanten Auftreten des Anwalts nicht beeindrucken und schritt gemächlich in Richtung des Verhörraums. Als er bemerkte, dass ihm dieser folgte, drehte er sich um und stellte sich ihm in den Weg. „Warten Sie hier bitte Herr Rechtsanwalt! Frau Krüger wird zu ihnen kommen!“, wies er ihn in seine Schranken.
    Er klopfte leise an der Tür des Verhörraums. Frau Schrankmann stand mit hochrotem Kopf da und kochte. Nach wie vor verlief die Befragung des Verdächtigen nicht nach ihren Vorstellungen. Die Laune von Frau Krüger schien nicht viel zu sein. Entsprechend maulte sie ihn an: „Was gibt es Herr Bonrath, dass Sie das Verhör stören?“
    Dieter Bonrath flüsterte seiner Chefin ins Ohr, wer da im Großraumbüro aufgetaucht war. Während die beiden Frauen zum Rechtsanwalt gingen, bewachte Dieter Bonrath den Verdächtigen. Er stellte sich mit dem Rücken zur Eingangstür und beobachtete ihn mit einer ausdruckslosen Miene. Über das Gesicht von Wolfgang Stiebler zog ein selbstzufriedenes Grinsen. Draußen entbrannte zwischen der Staatsanwältin und Herrn Dr. Hinrichsen eine hitzige Diskussion, die damit endete, dass der Anwalt zu seinem Mandanten durchgelassen wurde. Nach einer kurzen Unterredung mit diesem zog er seinen nächsten Trumpf aus dem Ärmel. Er hatte sich bereits mit dem Haftrichter in Verbindung gesetzt. Der Verdächtige sollte in die Untersuchungshaft überstellt werden und morgen früh sollte ein Haftprüfungstermin stattfinden. Der Anwalt spielte auf Zeit und wollte erreichen, dass Wolfgang Stiebler gegen Zahlung einer Kaution wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.

  • Intensivstation …..


    Beim Betreten von Bens Zimmer war Semir fast ein wenig enttäuscht, seinen Partner wieder schlafend vorzufinden. Zu seinem Erstaunen saß Julia neben dem Krankenbett auf dem Besucherstuhl und hielt die Hand ihres Bruders fest umschlungen.


    „Hallo Semir! Er schläft. Ist irgendwie unheimlich ihn so ruhig daliegen zu sehen nach den letzten Tagen, wo er sich in seinen Fieberträumen wie wild hin und her gewälzt hat.“


    Der antwortete erst mal gar nichts, sondern musterte seinen Freund und Partner. Es stimmte, sein Gesichtsausdruck sah so friedlich aus. Die Risswunden und Schwellungen in seinem Gesicht waren fast verschwunden. Der dunkle Bart unterstrich noch die blasse Gesichtsfarbe. Sein Oberkörper wurde durch einen dieser Krankenhauskittel verdeckt. Als der Arzt gestern Ben während seiner Anwesenheit untersucht hatte, hatte er einen Blick darauf werfen können. Die Hämatome waren verblasst, schillerten in Gelb- und Grüntönen und waren fast schon nicht mehr sichtbar. Seine äußeren Verletzungen und Operationswunden waren am Ausheilen. Ein breiter Verband schützte die Wunden am Bauch und Rücken. Ein Teil der Plastikschläuche, die aus seinem Körper herausgekommen waren, waren verschwunden. Die Flüssigkeit im Urinbeutel war nicht mehr rot gefärbt. Mit Ben schien es gesundheitlich wirklich aufwärts zu gehen.


    „Oh mein Gott, was ist denn mit dir passiert?“, riss Julia ihn aus seinen Gedanken, während sie auf seine Verletzung an der Stirn deutete und seinem bandagierten Arm.
    „Ach nicht weiter schlimm!“, wiegelte er ab „Kleiner Betriebsunfall! Das wird schon wieder.“
    Er holte sich den anderen Besucherstuhl und setzte sich Bens Schwester gegenüber.
    „Bist du schon lange hier?“, fragte er sie.
    „Ja seit einer guten halben Stunde. Paps wird heute entlassen. Er hat den Eingriff am Herzen gut überstanden und wird direkt in ein privates Reha-Zentrum zur Nachsorge verlegt. Dort wird er noch für mindestens zwei Wochen stationär weiter behandelt. Es war nicht einfach, ihn davon zu überzeugen und wenn Onkel Peter ihm nicht ordentlich die Meinung gesagt hätte … “ Sie rollte ein bisschen genervt die Augen, „ach was sag ich, du kennst ja meinen Vater. … Ich wollte nur mal kurz bei Ben vorbeischauen, in der Hoffnung, dass er vielleicht wach ist! … Die kommenden Tage werde ich wohl kaum Gelegenheit haben, ihn zu besuchen.“


    „Wie geht es denn deinem Vater sonst? Hat er sich in Bezug auf Ben beruhigt oder…?“, erkundigte sich Semir.
    Zwischendurch hatte er auch Konrad Jäger einen Kurzbesuch abgestattet, als dieser auf die Pflegestation verlegt worden war. Als dieser ihn nur mit Vorwürfen wegen Bens Verletzungen und dessen Berufswahl bombardiert hatte, hatte er auf weitere Krankenbesuche verzichtet. Julias Blick fiel auf ihre Armbanduhr. Die Entlassungspapiere sollten fertig sein und ihr Vater wartete bestimmt schon seit geraumer Zeit auf sie. Mit einem Seufzen stand sie auf und stellte ihren Stuhl zurück. An der Schiebetür blieb sie nochmals kurz stehen, um die Frage des Türken zu beantworten. Sie drehte sich zu ihm um.


    „Der Arzt hat ihn eindringlich darauf hingewiesen, den Stress zu reduzieren, geschäftlich kürzer zu treten und sich zukünftig mehr zu schonen. Das nächste Mal wird es nicht mehr so glimpflich für ihn ausgehen.“ Julia fuhr sich mit Hand nachdenklich über ihr Gesicht und seufzte auf. „Peter und ich haben schon mehr als einmal mit ihm darüber geredet, dass mein Mann in die Geschäftsführung der Firma miteintreten würde, ihn entlasten würde. Aber Paps ist so stur und eigensinnig. Niemand kann es ihm Recht machen … nur er trifft die richtigen Entscheidungen. … Das allerschlimmste ist nur, er gibt im Moment Ben an seinem gegenwärtigen Gesundheitszustand und seinen Herzproblemen die Schuld!“ bei den letzten Worten schluchzte sie auf und suchte in ihrer Handtasche nach einem Taschentuch. Semir stand auf und nahm sie zum Trost in den Arm.
    „Du wirst sehen Julia, wenn dein Vater etwas Abstand hat, wird er seine Meinung über Ben ändern.“
    Als sie sich beruhigt hatte, verließ sie ohne einen Blick zurück zu werfen die Intensivstation. Semir schaute ihr bedrückt hinterher und dachte in dem Moment an seinen eigenen Vater, mit dem er sich ebenfalls sehr oft wegen seiner Berufswahl gestritten hatte. Väter und Söhne, warum konnte es keinen Frieden zwischen beiden geben.


    „Woran … bin … ich … schuld?“, wisperte jemand hinter ihm.


    Erschrocken fuhr der Türke zusammen. Hatte da Ben gerade gesprochen? Er drehte sich um. Mit weit aufgerissenen Augen lag der Patient in seinem Bett und wirkte irritiert. Was Semir zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, sein Freund hatte die gesamte Unterhaltung mit Julia mitangehört.


    „Schuld?“, lachte der ältere Autobahnpolizist erleichtert auf … „schuld … an einigen der schlimmsten Stunden meines Lebens …“
    Semir konnte einfach nicht anders. Er musste seine Gefühle zum Ausdruck bringen und beugte sich über seinen Freund und drückte ihn vorsichtig. Dabei hatte er nicht bedacht, dass er selbst ein bisschen lädiert und flügellahm war. Als Ben den Druck mit seiner rechten Hand sanft erwiderte, konnte sich Semir ein leichtes Aufstöhnen nicht verkneifen.


    „Was haben Sie denn mit dir gemacht Partner?“, fragte Ben nach, als sie sich voneinander gelöst hatten und deutete auf die Verletzung an Semirs Stirn. „Sieht so aus, als bräuchtest du dringend jemanden, der auf dich aufpasst!“ Bei seinen letzten Worten huschte ein schelmisches Grinsen über sein Gesicht. „Wird wohl Zeit, dass ich endlich aus dem Krankenhaus raus komme!“


    In knappen Sätzen berichtete der Kommissar über den Einsatz heute Morgen und dem aktuellen Stand der Ermittlungen. Obwohl das Gespräch nicht lange dauerte, erkannte Semir wie erschöpft sein Freund war und wie schwer es ihm viel, die Augen noch offen zu halten.
    „Ruh dich aus Ben, … ich bleib noch ein bisschen da! Bin krank geschrieben, flügellahm und habe den Rest des Tages nichts Besseres vor!“, meinte er mit einem kleinen Augenzwinkern und einem Blick auf seinen lädierten Arm. Insgeheim gab Semir Julia Recht, es war ein angenehmes Gefühl, Ben so ruhig schlafend zu beobachten. Er war kurz davor, selbst auf dem Besucherstuhl ein kleines Nickerchen zu machen. Das Öffnen der Zimmertür holte ihn zurück in die Realität.
    „Entschuldigung, Herr Gerkhan, ich wollte Sie nicht erschrecken!“
    Eine jüngere Krankenschwester, zu Semirs Enttäuschung war es nicht Anna, wechselte die Infusionen, kontrollierte Bens Verbände und lagerte ihn ein wenig um. Außer einem leisen Seufzen und Stöhnen schien die Maßnahme den Erholungsschlaf des Patienten nicht weiter zu stören. Nachdem sein Freund sein Einverständnis gegeben hatte, wurde Semir deswegen nicht mehr vor die Intensivstation geschickt. Beim Verlassen des Raumes zögerte die Krankenschwester einen Augenblick und drehte sich zu dem Kommissar um.
    „Ich weiß ja nicht, ob es wichtig ist, Herr Gerkhan, aber heute Morgen ist etwas Merkwürdiges passiert.“
    Semir hob verwundert die Augenbraue und fragte neugierig nach: „Merkwürdiges? … Wie meinen Sie das Schwester Theresa?“ Er wandte seinen Kopf der jungen Frau zu.
    „An der Eingangstür zur Intensivstation klingelte eine Frau und wollte Herrn Jäger besuchen. Diese Frau weigerte sich ihren Namen zu nennen, obwohl wir ihr erklärt hatten, dass nur bestimmte Personen, deren Namen hinterlegt sind, Herrn Jäger besuchen dürften. Sie behauptete, sie sei eine enge Freundin der Familie Jäger und das sei nur ein Missverständnis, dass sie nicht auf der Besucherliste stand. Die Stationsschwester ließ sie aber trotzdem nicht rein und bat sie, sich einen Moment zu gedulden. Anja telefonierte anschließend mit dem Chef und wollte in dessen Auftrag die Identität der Frau feststellen. Nur die war weg, als Anja an der Eingangstür wenige Minuten später nachschaute.“


    „War sie noch einmal da?“ der Polizist in Semir war mit einem Schlag hellwach und er wusste nicht wieso, aber irgendwie regte sich sein warnendes Bauchgefühl. „Die darf auf keinen Fall zu Herrn Jäger durchgelassen werden, verstehen Sie!“


    „Nein, keine Sorge, hier kommt niemand rein!“, beruhigte sie den Kommissar.

  • Ben schlief den Nachmittag hindurch bis in den späten Abend hinein. Während der Abendvisite aß der Türke eine Kleinigkeit in der Cafeteria. Irgendwann vor der Übergabe an den Nachtdienst überfiel auch Semir die Müdigkeit. Er hatte seinen rechten Arm auf Bens Bett abgelegt, sein Kopf ruhte darauf. Er war eingeschlafen. Als Marco, der Krankenpfleger, der heute Nachtdienst hatte, ihn wecken wollte, hielt ihn Dr. Vollmers am Arm fest. „Ich denke wir lassen Herrn Gerkhan heute Nacht bei seinem Freund schlafen. Vielleicht erschlagen wir damit zwei Fliegen mit einer Klappe.“ Fragend blickte der erfahrene Pfleger den Arzt an. „Möglicherweise gelingt es Herrn Gerkhan den Patienten ohne Medikamente zu beruhigen, wenn ihn wieder die Alpträume plagen.“ Auf diese Aussage bekam der Arzt ein zustimmendes Nicken von Marco, bevor er fortfuhr: „Kollege Renger aus der Notaufnahme ist beruhigt, dass Herr Gerkhan bei uns unter Beobachtung steht. Er scheint sich neben seiner Blessur am Arm eine schöne Gehirnerschütterung eingefangen zu haben. Fahren Sie den Mobilisationsstuhl rein und haben sie ein Auge auf die beiden Herren! …. Ärztliche Anweisung!“, meinte der Oberarzt mit einem Schmunzeln um den Mundwinkel.


    *****


    Am frühen Morgen des darauffolgenden Tages ….
    Eine ältere Krankenschwester, die Frühdienst hatte, kam ins Krankenzimmer und tippte Semir auf die Schulter. Aus verschlafenen Augen und ein bisschen desorientiert blickte dieser die Schwester an. Er stöhnte auf, als er seine steif gewordenen Glieder langsam aufrichtete. So bequem der Mobilisationsstuhl auch im Vergleich zu dem Besucherstuhl war, in seinem eigenen Bett schlief es sich in jedem Fall angenehmer. In der vergangenen Nacht war es ihm tatsächlich gelungen, Ben zu beruhigen, als dieser von Alpträumen geplagt wurde. Händchen haltend, wie ein vertrautes altes Ehepaar, waren sie dann nebeneinander liegend eingeschlafen.
    Die Schwester meinte mitfühlend: „Sie sehen trotz Schlaf müde und erschöpft aus, Herr Gerkhan. Ich habe es schon vom Kollegen gehört, war eine unruhige Nacht. … Übrigens, deshalb habe ich sie geweckt. … Eine Frau König wartet draußen vor der Intensivstation auf Sie. Sie machte sich schon große Sorgen um Sie, weil sie Sie telefonisch nicht erreichen konnte.“
    Semir fischte mit seiner gesunden Hand sein Handy aus der Hosentasche. Tatsächlich, schon gewohnheitsgemäß hatte er es beim Betreten der Intensivstation ausgeschaltet und überhaupt nicht daran gedacht, dass er Susanne hätte informieren sollen. Sein schlechtes Gewissen plagte ihn ein wenig.
    Die Krankenschwester interpretierte seinen Gesichtsausdruck anders und meinte: „Herrn Jäger geht es doch soweit schon wieder besser und wir passen auf ihn auf. …Sie brauchen sich also keine Sorgen zu machen, wenn Sie für ein paar Stunden nach Hause gehen.“
    „Schon gut! … Schon gut!“, murmelte er, richtete sich endgültig auf. Im ersten Moment war ihm ein wenig schwindlig, als er die ersten Schritte in Richtung Zimmertür tapste. Er warf noch einen flüchtigen Blick auf seinen Freund. „Schlaf gut du Langschläfer und mach bloß keinen Unsinn mehr. Wir sehen uns spätestens am Nachmittag!“
    Ben schlief währenddessen seelenruhig weiter.


    Susanne hatte am gestrigen Abend nach Dienstschluss ein bisschen eingekauft und vergeblich Semir in seinem Haus gesucht. Nach zahlreichen Telefonanten hatte die Sekretärin herausgefunden, dass Semir im Krankenhaus geblieben war. Dr. Vollmers hatte Susanne beruhigen können und ihr erklärt, dass er es aus ärztlicher Sicht sogar begrüße, dass Herr Gerkhan eine Nacht im Krankenhaus verbringt. Die beiden vereinbarten, dass sie den Polizisten am frühen Morgen abholen könne. Den Umweg über die Notaufnahme lehnte Semir kategorisch ab, auch wenn ihm beim Verlassen der Intensivstation die Auswirkungen der Gehirnerschütterung noch sichtlich zu schaffen machten. Er war total blass und kämpfte auf dem Weg zum Ausgang mehrmals gegen das aufkommende Schwindelgefühl an. Während seine Kollegin ihren roten Mini aus einem weiter entfernten Parkhaus holte, setzte sich Semir auf eine Parkbank im Eingangsbereich der Uni-Klinik und nutzte die Wartezeit, um mit Andrea zu telefonieren. Er wusste nicht warum, aber er fühlte sich beobachtet. Mit seinen Blicken suchte er die Gegend ab, konnte aber nichts entdecken.


    *****


    Aus sicherer Entfernung beobachtete Gabriela wie der Autobahnpolizist in Begleitung einer Frau das Krankenhaus verließ und sich auf einer Parkbank setzte. Geschickt schlich sie sich, die Deckung der Büsche und Sträucher ausnutzend, von hinten an den Kommissar heran und wieder kam sie bis auf Tuchfühlung in die Nähe des Türken. Dies gab ihr die Gelegenheit seinem Telefonanruf zu lauschen. Zufrieden grunzte sie vor sich hin, als sie die Nachricht hörte, dass Ben Jäger auf dem Weg der Gesundung war. Wenig später tauchte ein roter Mini in der Zufahrt zum Krankenhaus auf, in dem der kleine Türke auf der Beifahrerseite einstieg.


    Als das Auto außer Sichtweite war, stapfte Gabriela zurück zu ihrem eigenen Wagen, ließ sich auf den Fahrersitz nieder und sinnierte über ihre Rachepläne nach. Ein kaltes Lächeln umspielte dabei ihre Lippen, als sie sich vorstellte, wie sie Ben Jäger beim Sterben zusah. Ihre ursprüngliche Absicht hatte sie über den Haufen geworfen, obwohl sie bereits ein geeignetes Objekt inmitten von Köln gefunden hatte. Ihr Lieblingsanwalt würde in ihrem Auftrag über ihre Schweizer Briefkastenfirma die Villa kaufen. Sie betrachtete mittlerweile dieses Schmuckstück als eine gute Geldanlage.
    Im Laufe der letzten Tage hatte sie begriffen, dass es noch Wochen dauern würde, bis der dunkelhaarige Polizist der körperlichen Verfassung war, um tagelangen Folterungen Stand zu halten. Ihr Kontaktmann beim BKA hatte bei einem gemeinsamen Treffen eindringlich an ihre Vernunft appelliert, sich ins Ausland abzusetzen, bis Gras über die Sache gewachsen war. Im Falle einer Verhaftung würde auch er ihr nicht mehr helfen können. Angesichts der Beweislage warteten ein paar Jahre Gefängnis auf sie. So besessen Gabriela von ihrem Rachewahn war, siegte der letzte Funken Verstand in ihrem Kopf. Die Kroatin liebte ihre Freiheit über alles. Die Aussicht, wie ein wildes Tier eingesperrt zu werden, versetzte sie in Panik.
    Sie startete den Motor und ließ ihren Wagen anrollen. Über die Schulter warf sie einen Blick auf das Krankenhausgebäude und dachte sich, wozu weiter nachgrübeln, es gab nur zwei Optionen. Entweder den Polizisten aus dem Krankenhaus entführen oder abwarten, bis er entlassen würde. In seiner Wohnung würde sie ihm ungestört in aller Ruhe beim Sterben zuschauen können. Dabei würde Zeit keine Rolle spielen. Auch Andrea Gerkhan würde nicht verschont werden. Für sie wollte sich Gabriela noch was Besonderes ausdenken. Es war nur noch eine Frage der Zeit, bis der Polizeischutz aufgehoben wurde. Früher oder später würde ein Ermittler auf die falsche Spur stoßen, die sie in Kroatien gelegt hatte. Dies würde ihr auf jeden Fall noch ein paar Tage Zeit verschaffen.


    Mitten in ihre Gedankenspiele hinein klingelte ihr Handy. Über die Freisprecheinrichtung nahm sie das Gespräch an.
    „Bist du allein und kannst du reden?“, fragte eine männliche Stimme nach.
    „Oh, du Christian!“, entfuhr es ihr erstaunt. „Mit einem Anruf von dir hätte ich nicht gerechnet. Was willst du? … Dich versichern, dass Brauer seine Arbeit gemacht hat. Danke, die Botschaft ist angekommen! … Ich habe es begriffen!“, blaffte sie ihn schnippisch an.
    „Nein, das ist nicht der Grund meines Anrufes! Hast du bei all deinen Racheplänen Zeit für einen Auftrag?“, fragte er kühl nach. Sie lachte ironisch auf und er ließ sich auf keine weitere Diskussion ein. „Interesse? Dann treffen wir uns in einer Stunde an der üblichen Stelle. Dort bekommst du alle Information einschließlich deiner Bezahlung. Wichtig ist nur, es muss schnell passieren und wie ein Unfall aussehen!“
    Ohne ihre Antwort abzuwarten, beendete er das Gespräch.

  • Nach einem ausgiebigen Frühstück und einer Dusche erreichte Semir zusammen mit Susanne erst um die Mittagszeit die Dienststelle. Die Chefin hatte darauf bestanden, dass die Sekretärin den angeschlagenen Beamten erst von seinem Hausarzt untersuchen ließ. Alles protestieren half dem Kommissar nichts und es kam, wie es kommen musste, Semir wurde für zwei weitere Tage krank geschrieben.


    Schon beim Betreten der Dienststelle konnte man spüren, dass etwas in der Luft lag. Eigentlich wollte sich der Türke nur seinen Autoschlüssel von Dieter abholen. Frau Krüger, die neben dem Schreibtisch von Bonrath und Jenny stand, erwartete bereits ihre beiden Mitarbeiter und empfing sie mit einer Hiobsbotschaft.


    „Hallo, Herr Gerkhan, auch wenn Sie offiziell krank sind, gibt es ein paar Entwicklungen in unserem Fall, die Sie unbedingt wissen müssen!“ Ihr ernster Gesichtsausdruck verhieß nichts Gutes. Semir folgte seiner Chefin wortlos in ihr Büro und ließ die Türe offen stehen. Sie stand hinter ihrem Schreibtisch mit verschränkten Armen.


    „Ich habe vor einer halben Stunde einen Anruf der Staatsanwaltschaft erhalten. Herr Stiebler wurde vom Untersuchungsrichter bei der Haftprüfung um neun Uhr gegen Auflagen und Hinterlegung einer Kaution freigelassen. Anschließend wurde er von seiner Frau am Gerichtsgebäude abgeholt. Auf der Fahrt nach Hause hatten die beiden auf der A4 einen Unfall. Beide Fahrzeuginsassen sind tot. Der BMW der Stieblers kam aus noch ungeklärter Ursache ins Schleudern, durchbrach die Mittelleitplanke und geriet auf die Gegenfahrbahn … der Fahrer eines Sprinters konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten und prallte frontal in das Cabriolet. Die Kollegen ermitteln Vorort!“


    Diese Nachricht musste Semir erst einmal verdauen. Jetzt war ihm das Verhalten seiner Chefin verständlich. „Glauben Sie wirklich, dass das einfach nur so ein Unfall war, Frau Krüger?“
    Diese schnaufte durch und bewegte ungläubig den Kopf hin und her. „Ganz ehrlich, Nein!“
    „Sie wissen schon, was Sie gerade gesagt haben Chefin!“
    Diese nickte wissend ihrem Kommissar nachdenklich zu.
    „Frau Schrankmann ist übrigens der selben Meinung und ist zurzeit auf dem Weg zur Unfallstelle. Sie will sich vor Ort selbst ein Bild machen und die Ermittlungen leiten. Irgendjemand hat da gewaltig Dreck am Stecken und beseitigt mögliche Zeugen. … Ist halt nicht mehr unser Fall, Herr Gerkhan!“ meinte Kim Krüger mit einem leichten Bedauern im Tonfall. Ein Ruck ging durch ihren Körper und sie setze sich auf ihren Stuhl nieder und suchte etwas in dem Papierstapel, der rechts auf ihrem Schreibtisch lag. „Hier ist ein Fax vom BKA, welches gestern Abend noch rein kam. Da lesen Sie selbst!“ mit diesen Worten reichte sie den Ermittlungsbericht des BKAs wegen Gabriela Kilic an Semir weiter. Dieser überflog das Schriftstück und erfasste den wesentlichen Inhalt.


    Über das BKA, das in diesem Fall eng mit Interpol zusammenarbeitete, kam die Information, dass auf dem Friedhof in Gabriela Kilics Heimatort ein frisches Grab mit der Aufschrift „Luca Kilic“ entdeckt worden sei. Die Nachforschungen durch beauftragte Mitarbeiter vor Ort in Mostar ergaben, dass sich die Gesuchte tatsächlich dort vor gut einer Woche aufgehalten hatte. Der Pfarrer, der die Beerdigung geleitet hatte, gab zu Protokoll, dass sich die gesuchte Person nach Südamerika absetzen wollte. Die Ermittler verfolgten ihre Spur bis zum Internationalen Flughafen in Zagreb. Laut der Passagierliste hatte eine Gabriela Kilic einen Flug nach Havanna gebucht. Die dortigen Behörden hatten die Einreise von der Kroatin bestätigt und gingen davon aus, dass sich diese nach Venezuela abgesetzt hat. Das BKA, seines Zeichens die verantwortliche Ermittlerin, Waltraud Kistner sprach nach diesen gesicherten Ermittlungsergebnisse die Empfehlung aus, dass ein Polizeischutz für Familie Gerkhan nicht länger erforderlich sei.


    Semir atmete mehrmals tief durch. Eigentlich sollte er eine gewisse Erleichterung verspüren. Die Gefahr für seine Familie, für Andrea und auch Ben schienen gebannt. Doch sofort regte sich sein warnendes Bauchgefühl. Die unbekannte Besucherin auf der Intensivstation ging ihm einfach nicht aus dem Kopf. Er berichtete Frau Krüger davon, obendrein dass er sich in den vergangenen Tagen öfters beobachtet gefühlt hatte. „Ich kann es nicht ändern, Semir. Die Anweisung ist eindeutig. Der Polizeischutz für ihre Familie wird heute abgezogen.“


    Dieter Bonrath war in der Tür erschienen und hatte einen Teil der Unterhaltung zwischen Kim Krüger und seinem Kollegen mitangehört. „Entschuldigung Chefin, ich habe die aktuellen Meldungen durchgeschaut. Das hier wird ihnen gar nicht gefallen und dir auch nicht Semir!“


    Interessiert blickten die beiden den Dienst ältesten Polizisten der PAST an. „Im Seeweg in Köln Porz gab es eine Gasexplosion. Das Wohnhaus ist komplett ausgebrannt. Der Brand begann in der Garage mit einem riesigen Knall, wie Anwohner berichteten. In den angrenzenden Häusern sind die Fensterschreiben zerborsten. Die Feuerwehr geht davon aus, dass eine Propangasflasche für das Wohnmobil explodiert ist. Die Kollegen für die Brandursachenermittlung sind Vorort und ebenfalls die Kollegen der Kriminaltechnik und der Staatsanwaltschaft. Wie mir Kollege Kern vom dortigen Polizeirevier gesteckt hat, geht man davon aus, dass Stiebler vielleicht die Gasflasche gestern anschließen wollte und von uns dabei gestört wurde.“


    Der Türke schüttelte skeptisch den Kopf und fluchte ungehalten vor sich hin. „Das ist doch alles kein Zufall mehr Frau Krüger. Hier räumt doch jemand gründlich auf und beseitigt Beweise und Zeugen. … Jedes Mal taucht dieser arrogante Anwalt auf. Der Kerl steckt doch mit denen unter einer Decke. Wenn der keinen Dreck am Stecken hat wer dann? Da sieht doch selbst ein Blinder!“ Erregt hatte er sich von seinem Stuhl erhoben und trippelte vor dem Schreibtisch unruhig hin und her „Erst der angebliche Unfall … dann der Brand … hier verarscht uns doch jemand ganz gewaltig … Verstehen Sie! Unsere Gegner sind uns immer einen Schritt voraus … sobald wir den Hauch einer Spur haben, löst sich alles im Nichts auf!“ Wütend hieb er mit seiner Faust gegen die Wand „Und dann erklären Sie mir, der Polizeischutz für meine Familie wird abgezogen. Haben Sie eine Vorstellung, wie ich mir gerade vorkomme?“, schleuderte er seiner Chefin empört entgegen. Die stand etwas ratlos da. Sie hatte keine Argumente, um die Bedenken ihres Mitarbeiters zu zerstreuen. Im Gegenteil, sie pflichtete ihm innerlich bei.


    „Naja Semir“, unterbrach Bonrath den Wutausbrauch seines Kollegen und sein Blick richtete sich auf Frau Krüger „ich hätte da einen Vorschlag. Mir steht doch noch mein ganzer Jahresurlaub zu. … ich habe noch Überstunden ohne Ende … Jürgen, mein Sohn, wollte mit mir zum Segeln, aber … aber er hat eine Freundin und …“ ein bisschen Traurigkeit schwang in seinen Worten mit … „Hotte muss seiner Mutter helfen …“ er verstummte für einen Moment „wenn du möchtest Semir und Andrea natürlich auch einverstanden ist, würde ich in den nächsten Tagen und Wochen während deiner Dienstzeit auf Andrea und die Kinder aufpassen. Wir hätten alle was davon … und ich wäre nicht so allein.“


    Semir war richtig gerührt von Bonraths Angebot und gleichzeitig betroffen von der Einsamkeit, die sein Kollege durchlebte.


    Kim Krüger stimmte unverzüglich dem Vorschlag zu und genehmigte den Urlaubsantrag. Nach diesen deprimierenden Nachrichten wollte Semir nur noch zu seiner Familie und Ben. Zuerst wollte er zu seinem Partner ins Krankenhaus und hinterher Andrea und die Kinder nach Hause holen. Auf der Fahrt versuchte er seine Emotionen in den Griff zu kriegen. Unzählige Gedanken schwirrten in seinem Kopf umher.

  • „Hey, du Schlafmütze! Wird langsam langweilig, die meiste Zeit sitze ich hier rum und du schläfst. …!“
    Semir schnappte sich den Besucherstuhl und setzte sich neben das Krankenbett. Eine Zeit lang beobachtete er seinen schlafenden Freund und grübelte nach. Urplötzlich brach es aus dem enttäuschten Kommissar heraus. Sein aufgestauter Frust brauchte ein Ventil.


    „Verdammt Ben! … Ich vermisse dich! … Ich brauche dich! … Jedes Mal, wenn ich dieses Zimmer betrete, hoffe ich darauf, dass du wach bist, mit mir redest! Doch die Zeitspanne, die wir miteinander sprechen können, ist so verschwindend klein … so kurz … “ Semir seufzte auf. Sicher wusste er, dass der Körper seines Freundes diesen Schlaf brauchte, um wieder gesund zu werden. Dennoch, Semir konnte nicht anders, er brauchte jemand, der ihm zuhörte und wenn es sein schlafender Partner war.
    Er schüttete ihm sein Herz aus, erzählte, was ihn bewegte, seine Sorgen und Bedenken … den erneuten Fehlschlag bei ihren Ermittlungen.
    „Weist du, diese Hintermänner … diese verfluchten Schweine … stellen sich außerhalb des Gesetzes, nutzen ihre Macht und Geld und verschaffen sich Vorteile ohne Ende … und wenn man ihnen zu nahe kommt, werden Zeugen beseitigt, Spuren verwischt … und die Idioten sind solche kleinen Polizisten wie du und ich. Korrupte Kollegen, korrupte Politiker, das ist alles ein dreckiger Sumpf. Ich frage mich momentan, wofür sind wir eigentlich Polizisten geworden?“ Nachdenklich streifte er sich mit gespreizten Fingern durch das kurzgeschorene Haar und ließ sie dann wieder auf die Bettdecke fallen. „Damit wir die kleinen Fische kriegen und um am Ende die, die das dicke Geld einstreichen, … damit wir die, wieder laufen lassen müssen.“ Er schüttelte den Kopf. „verstehst du Ben, das kann es nicht sein. Wo liegt der Sinn in unserer Arbeit? … Das du bei einer Entführung fast drauf gehst? … Nein … nein, das kann es einfach nicht sein. Wir wollten für Gerechtigkeit sorgen, Unschuldige beschützen!“ er lachte sarkastisch auf „weißt du, wie sich das anhört … sich anfühlt, wenn Aida nachts schreiend und weinend aufwacht, deinen Namen verzweifelt ruft …“ seine Stimme klang verbittert und enttäuscht. ….


    Die Zimmertür öffnete sich und Dr. Vollmers trat ein, begrüßte den Besucher und prüfte die Werte seines Patienten.
    „Sie wirken heute so niedergeschlagen, Herr Gerkhan?“, stellte der Arzt fest „wegen Herrn Jäger? Das brauchen Sie nicht. Wir haben ihn heute Morgen nochmals ein CT gemacht. Seine inneren Verletzungen heilen sehr gut ab. Da“, der Oberarzt deutete auf den Urinbeutel, der seitlich am Bett hing „seit gestern ist kein Blut mehr im Urin nachweisbar. Trotz der Sepsis konnten wir die verletzte Niere retten. Die Drainage an der Rückenwunde haben wir heute Morgen gezogen.“


    „Darum geht es doch gar nicht Dr. Kraus“, fiel ihm Semir ins Wort und fügte erklärend hinzu. „Ich hatte gehofft, dass Ben wach ist, ein bisschen mit mir redet, sie sagten doch …“
    Der erfahrene Arzt nickte verstehend. „Er war heute Morgen sogar lange wach, hatte seine erste aktive Physio-Einheit. … Stand auf eigenen Füßen vor dem Bett! … Geben Sie ihm einfach ein bisschen Zeit. Das war alles sehr anstrengend für Herrn Jäger!“
    Mitfühlend legte er seine Hand auf Semirs Schulter, als sich der Zustand des Patienten sich schlagartig änderte. Bens Augenlider begannen zu flattern. In dem Türken kam schon die Hoffnung auf, dass er am Aufwachen war. Sein verletzter Partner begann sich unruhig zu bewegen, versuchte seine Hand Semir zu entziehen und dann begann, was Semir von der vergangenen Nacht kannte. Das Alarmsignal am EKG-Monitor fing hektisch an zu piepsen. Die grünen Zacken über die Herzfrequenz sprachen eine eigene Sprache. Kleine Schweißperlen bildeten sich auf seiner Stirn, sein Atem ging keuchend. Er versuchte sich unter stöhnen aufzurichten und sprach im Schlaf erregt vor sich hin.
    „Nein! … Nein! … nicht … nicht schießen! Andrea … Nein … Oh Gott … Aida lauf! …Lauf!“
    Der Monitor fing wieder an Alarm zu schlagen. Noch bevor der Oberarzt reagieren konnte, war Semir bereits aufgestanden, hatte Ben an den Schultern angefasst und sachte zurück auf sein Bett gedrückt. Sanft tätschelte er seine bärtige Wange.
    „Ben … Ben … wach auf! Ich bin es Semir! … Du bist in Sicherheit! Beruhige dich doch!“ Mehrmals wiederholte er den Satz, der langsam zu dem Patienten durchzudringen schien. Die Ausschläge des EKG Monitors verlangsamten sich zu einem normalen Rhythmus.


    Der dunkelhaarige Polizist blinzelte und blickte ein bisschen verwirrt drein, bis er seinen Freund erkannt. Er flüsterte leise:„S…e...m…i...r? … Wo ist Aida?“ Langsam beruhigte er sich und starrte seinen Freund, der neben ihm am Bett saß, forschend an.
    „Und geht es wieder?“, erkundigte sich dieser fürsorglich.
    Ben nickte und meinte beschwichtigend „Ich habe wohl nur ein bisschen schlecht geträumt!“
    Dr. Vollmers, der die Szene wortlos beobachtete, warf dem älteren Polizisten vielsagende Blicke zu. Dieser verstand.
    „War wohl eher ein Alptraum, und zwar ein ziemlich heftiger Ben!“, stellte Semir ernüchternd fest und nicht der erste dieser Art mein Freund, dachte er bei sich. Schon in der vergangenen Nacht hätte er gerne gewusst, was sich in den Tagen der Entführung abgespielt hatte. Er sah wie sich Bens Körperhaltung veränderte und nur noch Ablehnung ausdrückte. So gut kannte er seinen jungen Kollegen, dass er keine Chance hatte, weiter in ihn zu dringen. Stattdessen gab er dem Gespräch eine andere Wendung. Er erzählte davon, dass er auf dem Weg zu Andrea und den Kindern war, um diese nach Hause zu holen. Im Laufe der recht einseitig geführten Unterhaltung entspannte sich Ben mehr und mehr. Nachdem sich Dr. Vollmers versichert hatte, dass der Türke die Situation im Griff hatte, verließ er wortlos das Krankenzimmer.


    Einige Minuten später betrat ein älterer Krankenpfleger mit einem Tablett, auf dem verschiedene Schüsseln mit Essen standen, das Krankenzimmer. „Ich habe einen Teller Suppe und eine Schale Pudding vom Mittagessen für Sie aufgehoben. Brauchen Sie Hilfe beim Essen Herr Jäger?“ Ben schüttelte den Kopf. Eine Frage brannte ihn auf der Seele, die er nicht länger zurückhalten konnte. „Entschuldigung, Wolfgang, ich hätte noch eine Frage! Hat Schwester Anna Urlaub?“
    Der Krankenpfleger blickte überrascht hoch. „Anna? Die arbeitet hier nicht mehr. Die hatte vor ein paar Tagen ihren letzten Arbeitstag!“ Ben kniff die Lippen zusammen und versuchte irgendwie seine Enttäuschung zu verbergen, sowohl Semir als auch dem Pfleger war Bens Reaktion nicht entgangen.
    „Anna studiert und macht momentan ihre Abschlussprüfungen, mehr weiß ich auch nicht“, erklärte ihm Semir, nachdem der Pfleger das Zimmer verlassen hatte. Völlig verblüfft schaute Ben seinen Freund an.
    „Woher weißt du das?“
    In dem Augenblick huschte ein schelmisches Grinsen über Semirs Gesicht und mit einem kleinen Augenzwinkern erzählte er seinem kranken Freund „Ich war mit der jungen Dame Kaffee trinken.“
    Dieser Satz versetzte dem Dunkelhaarigen einen leichten Stich im Herzen, er beneidete seinen Kollegen um dieses Erlebnis, der ihm in knappen Worten von dem gemeinsamen Frühstück mit Anna erzählte. Die Horrornacht davor verschwieg er lieber.

  • Irgendwo in Düsseldorf … einen Tag später … Ein Telefon klingelte.


    „Guten Morgen, was gibt es denn so wichtiges, dass du mich schon am Sonntag vor dem Frühstück störst?“, erklang eine leicht verärgerte männliche Stimme.


    „Wir haben ein Problem.“, erwiderte ebenfalls eine männlich, markante Stimme.


    „Problem?“ Der Gesprächsteilnehmer lachte süffisant auf. „Wie kann ich dir helfen Chris?“


    „Pfeif die Autobahnpolizei zurück! Die Jungs sind gut … leider zu gut! Einer ihrer Ermittler hat rausgefunden, was der tatsächliche Grund des Überfalls in Düsseldorf war. Dir ist klar, was das heißt! Neben dem LKA wird auch das BKA wegen des Wirtschaftsdelikts ermitteln und da könnte irgendwann auch für dich die Luft dünn werden. Vor allem werden die rausbekommen wollen, von wem der Tipp stammte oder hast du den Laden auch so im Griff wie das LKA.“


    „Fuck!“, entfuhr es dem Angerufenen, mit dieser Entwicklung hatte er nicht gerechnet. Er stand, in seinem Seidenkimono bekleidet, auf der Terrasse seiner Villa und betrachtete seine Frau, die in dem beheizten Pool eine Bahn nach der anderen schwamm. Ihr makelloser Körper hatte ihn vor dem Anruf auf andere Gedanken gebracht. Er fühlte sich gestört und war verärgert. Neben ihm stand ein Servierwagen mit alkoholischen Getränken. Auf diesen Schrecken hin, schenkte er sich während des Gesprächs ein Glas Whiskey ein und nippte daran. Normalerweise trank er morgens nie.
    „Ich kümmere mich darum, dass der Fall beim LKA bleibt. Mach dir keine Sorgen!“


    „Das will ich auch hoffen.“ Christian schwenkte um zu einem völlig anderen Thema. „Sehen wir sehen uns heute Nachmittag im Club zum Golf spielen Justin?“


    „Ja klar! Dabei können wir uns ja auch über unsere weiteren geschäftlichen Beziehungen unterhalten.“ Die beiden Herren verabschiedeten sich.


    Justin von Gronau betrachtete die goldfarbene Flüssigkeit in seinem Glas und dachte nach. Ein Ruck ging durch seinen Körper und er trank mit einem großen Schluck den Whiskey aus. Seine flatternden Nerven beruhigten sich wieder. Für was arbeitete er schließlich als Staatssekretär im Innenministerium des Landes Nordrhein-Westfalen. Diese übereifrigen Autobahnpolizisten hatten bei diesem Deal schon genug Ärger gemacht. Es wurde Zeit, dass jemand sie mal in die Schranken wies. Die sollten Strafzettel auf der Autobahn verteilen und sich aus den Ermittlungen von anderen Polizeibehörden raus halten.


    Der Staatssekretär kannte keine Skrupel, wenn es um seinen persönlichen Vorteil ging. Er war in der Vergangenheit über Leichen gegangen, um bis hierher zu kommen: an die Schaltstellen der Macht. Es war schön zu wissen, wenn man die richtigen Fäden in den Händen hielt und nur daran ziehen musste, damit andere wie Marionetten danach tanzten. Bei diesen Gedanken lachte er meckernd vor sich hin und leckte sich genüsslich über die Lippen, als seine Frau aus dem Pool stieg.


    *****


    Zwei Tage später zu Dienstbeginn auf der PAST erwarteten den türkischen Kommissar einige Überraschungen. Er hatte noch nicht richtig das Büro betreten, als aus dem Hintergrund die erboste Stimme von Frau Krüger erklang.


    „Herr Gerkhan und Frau König, kommen Sie bitte gleich zu mir ins Büro! Sofort!“


    Die Aufforderung war klar und unmissverständlich. Semir warf Susanne einen fragenden Blick zu, den diese mit einen Achsel zucken und der Geste … keine Ahnung beantwortete. Kims Miene sprach Bände. Sie war furchtbar geladen. Wie gewohnt, nahm sie hinter ihrem Schreibtisch Platz.


    „Setzen Sie sich bitte!“ dabei zeigte sie einladend auf die beiden Besucherstühle. Da sie sich nicht mal nach dem Zustand von Ben erkundigte, war Semir klar, dass seine Chefin innerlich am überkochen war.


    „Es gibt Neuigkeiten“, begann sie ihren Bericht, wobei die beiden klar erkennen konnten, wie es in ihrer Mimik arbeitete. Sie schnaufte einmal tief durch, bevor sie fortfuhr.


    „Ich war gestern Nachmittag noch zu einer Besprechung ins BKA Wiesbaden zusammen mit Frau Schrankmann geladen worden.“ Sie blies sich eine nicht vorhandene Haarsträhne aus dem Gesicht. „Um es in einen Satz zusammenzufassen, die gesamten Ermittlungen werden ab sofort vom BKA in Zusammenarbeit mit dem LKA Düsseldorf zentral übernommen.“


    Susanne und Semir warfen sich verwunderte Blicke zu. Mit dieser Entwicklung bei den Nachforschungen hatte keiner gerechnet. „Wir, die Autobahnpolizei, sind raus aus dem Fall! Und zwar endgültig! Dank ihrer und Hartmuts Hilfe wurde festgestellt, dass es die Einbrecher beim Überfall auf das Bürogebäude in Düsseldorf nicht nur auf die Edelsteine bzw. seltene Erden abgesehen hatten, sondern denen ging es in der Hauptsache um den Diebstahl wertvoller Forschungsunterlagen. Die haben die Server von den Forschungslabor Science Int. Corp. angezapft und deren neuesten Forschungsergebnisse im Bereich der Halbleitertechnik und Nanotechnik gestohlen. Das Labor wurde vom Bundeswirtschafts- und Bundesforschungsministerium finanziell mitunterstützt. Brauch ich noch mehr zu sagen?“
    Sie hatte ihre Hände vor sich auf den Schreibtisch gelegt und zusammengefaltet. Ihr Blick war fest darauf gerichtet.


    „Das erklärt einiges Frau Krüger, aber nicht alles“, bemerkte der Kommissar ein bisschen sarkastisch und konzentrierte sich weiter auf die Ausführungen seiner Chefin.


    „Ja, … die Forschungen waren abgeschlossen und bereit zum Übergang in die industrielle Fertigung. Wir sprechen hier über Wirtschaftsspionage im großen Stil und Verluste für die betroffenen Unternehmen, die sich im dreistelligen Millionenbereich bewegen. Wobei die hohen Herren davon ausgehen, dass die Forschungsergebnisse bereits an interessierte Abnehmer in Fernost weiterverkauft wurden. … Allerdings ist allen Beteiligten klar, dass hier mit Insider Wissen gehandelt wurde. Die wollen den Maulwurf finden!“


    „Aber warum sollen wir nicht weiter ermitteln? Wir haben doch gute Arbeit geleistet oder behauptet da jemand was anderes.“, bohrte Semir nach. Verärgert runzelte er die Stirn. Er war dabei aufgestanden und stützte sich mit seinen Handflächen auf dem Schreibtisch von Frau Krüger ab. Seine Augen funkelten aufgebracht seine Chefin an.


    „Es tut mir leid Herr Gerkhan, es bleibt dabei, wir sind raus aus der Nummer!“


    So langsam kochte sein türkisches Blut in ihm hoch. Semir konnte und wollte die Anordnung seiner vorgesetzten Dienststellen nicht verstehen, diese nicht einfach so hinnehmen. Der Kommissar hieb wütend mit der Faust auf die Schreibtischplatte, dass Kims Kaffeetasse klapperte.
    „Verdammt noch mal, dass können die doch nicht mit uns machen!“


    Frau Krüger, die ebenfalls innerlich kurz vorm explodieren war, hatte sich mittlerweile auch erhoben. Sie und ihr Kommissar standen sich von Angesicht zu Angesicht gegenüber, nur durch die Schreibtischplatte getrennt und schnaubten sich gegenseitig an.
    „Oh, doch Herr Gerkhan, das können die! …. Und wie die das können! … Die Anweisung kommt von ganz oben, vom Innenminister höchstpersönlich, dessen Staatssekretär Herr von Gronau, war bei der Besprechung mit anwesend. Die Ansage, die wir bekommen haben, ist eindeutig oder wollen Sie ihren Job riskieren und zukünftig irgendwo in einem Keller Akten sortieren? Aber es kommt noch dicker! Ich bin ab sofort für die nächsten drei Wochen beurlaubt.“
    „Wie bitte?“, fragte Semir völlig paff erstaunt nach. „Sie gehen in Urlaub? Geht’s noch!“
    „Ja, Herr Gerkhan! Sie haben richtig gehört! ….“ Kim schürzte ihre Lippen, sie war an der Grenze ihrer Selbstbeherrschung angelangt, was sich auf ihrem Gesicht wiederspiegelte. „Auf Anraten des Herrn Polizeipsychologen haben mir die hohen Herren ans Herz gelegt, meinen Jahresurlaub einzureichen!“
    „Ticken die nicht mehr richtig?“, erboste sich der Kommissar und tippte sich dabei mit dem Zeigefinger an die Schläfe.

  • Es war nicht die Art von Kim Krüger eigene Schwächen offen zu legen. Es kostete sie einiges, sich selbst zu überwinden und wieder ruhiger zu werden. Doch als sie die Reaktion ihrer Mitarbeiter sah, Susanne war erblasst und saß nur schweigend da, blieb ihr nichts anderes übrig. Leise und sehr nachdenklich fuhr sie fort „An dem Tag, als man Ben im Wald gefunden hatte … da draußen … ich … ich … hatte … einen nervlichen Zusammenbruch!“ Sie schloss ihre Augen und versuchte die schlimmen Erinnerungen daran zu verdrängen und die Tränen, die sich ihren Weg suchten, wegzublinzeln und den Kloß, der sich in ihrem Hals breit machte, hinunterzuschlucken. „Genau daraus dreht man mir jetzt einen Strick. Ich bin ab Morgen offiziell in Urlaub.“ Den nächsten Satz, den der Staatssekretär ihr an den Kopf geknallt hatte, behielt sie für sich. Laut dem Herrn von Gronau bestand der Psychologe darauf, dass sie außerdem mindestens zehn Therapiesitzungen bei ihm oder einen anderem Psychologen besuchen musste, bevor sie wieder ihren Dienst antreten könne.


    „War das ihr letztes Wort Chefin?“, fauchte der Kommissar. „Wir geben auf? … Einfach so?“


    „Ja! Es ist vorbei Herr Gerkhan! … Aus und vorbei für uns … so leid es mir tut! Glauben Sie es mir!“


    Semir entfuhr eine Serie von türkischen Flüchen. Sein hitziges Temperament drohte mit ihm durchzugehen. Er drehte sich auf dem Absatz um und stürmte wutentbrannt aus dem Büro ohne sich von den beiden Frauen zu verabschieden. Die Eingangstür von Frau Krügers Büro wurde von ihm so heftig zugeschlagen, dass die Trennwand des Büros in ihren Grundfesten erbebte. Susanne saß einfach nur noch fassungslos da. Auch sie empfand diese Wendung in den Ermittlungen als eine Klatsche durch die vorgesetzten Dienststellen.


    Kim seufzte abgrundtief auf und setzte sich wieder hin. Sie konnte ihren Mitarbeiter ja so gut verstehen. Wenn sie nur an diesen arroganten Typen von Gronau dachte, überkamen sie Verbitterung und unbändiger Zorn. Nach der Besprechung hätte sie dem Kerl am liebsten eine Ohrfeige verpasst. Aber in diesem Fall saß dieser Kerl am längeren Hebel und wie hatte er sich so schön ausgedrückt, der Innenminister war sehr dankbar für die Ermittlungsbemühungen der unteren Behörden. Doch nun wurde es Zeit, dass die echten Profis die Arbeit übernahmen. Er hatte ihr eindeutig klar gemacht, sollte sie sich nicht an die Anweisungen halten, würde sie sich eine Menge Ärger einhandeln. Er hatte sich sogar erdreistet, ihr mit einer Strafversetzung zu drohen. Durch das Bürofenster konnte sie erkennen, wie der Türke in sein Dienstfahrzeug stieg und mit durchdrehenden Reifen vom Hof fuhr. Ein Ruck ging durch ihren Körper, als sie sich umdrehte und der Sekretärin wieder zuwandte.


    „Susanne, maile deine Erkenntnisse an das BKA weiter und kümmere dich ein bisschen um Herrn Gerkhan! Pass auf ihn auf, dass er in den nächsten Tagen keinen Unsinn macht! Und ach ja… hier ist die Mail-Adresse vom zuständigen Sachbearbeiter beim BKA!“


    Susanne stand auf, nickte zustimmend, da ihr noch immer die Worte fehlten und ging zurück an ihren Schreibtisch. Nachdenklich beobachtete sie von dort aus Kim, die regungslos auf ihrem Bürostuhl saß und erneut zum Bürofenster hinausstarrte. Gerne hätte sie hinter die eiserne Maske von ihr geschaut und gewusst, was in ihrer neuen Freundin vorging. Sie grübelte über Kims Worte nach. Dieser windige Rechtsanwalt war nicht Teil der Ermittlungen gewesen. Ihr gingen Semirs Gedankengänge über die Verwicklung des Anwalts in die kriminellen Machenschaften seiner Mandanten nicht aus dem Kopf. Keiner hatte ihr verboten, sich diesen Kerl und seine Kanzlei mal näher anzuschauen. Susanne wusste, dass sie mit äußerster Vorsicht vorgehen musste. Mal schauen, welche Leiche dieser eingebildete Kerl im Keller vergraben hat, dachte sie bei sich und ein selbstzufriedenes Lächeln huschte über ihr Gesicht.


    *****


    Als Semir wutentbrannt vom Hof fuhr, hatte er im ersten Moment kein Ziel vor Augen. Ihm wurde bewusst, dass der Antrieb, die Verbrecher zu fassen, nicht nur sein Gerechtigkeitsgefühl war, sondern auch sein Wunsch nach Rache. Während er die Autos beobachtete, die vor ihm herfuhren, dachte er nach, was ist denn wirklich wichtig? Seine Familie war gesund und in Sicherheit. Der Kinderpsychologe, der Aida betreute, hatte ihm und Andrea erst gestern in einem Gespräch versichert, dass seine Tochter die traumatischen Erlebnisse gut verarbeiten würde, vor allem da ihr Onkel Ben noch am Leben war. BEN!!!!


    In diesen Gedanken hinein klingelte sein Handy. Ein Krankenpfleger der Uni-Klinik Köln war am anderen Ende der Leitung. In dem Augenblick als er das Gespräch beendete, war ihm endgültig klar, was wirklich wichtig ist im Leben. Die Fahrt in die Innenstadt und anschließend zur Uni Klinik kam ihm wie eine gefühlte Ewigkeit vor. Er blieb im morgendlichen Berufsverkehr hängen und es dauerte fast die doppelte Zeit wie normal.


    Die Sonnenstrahlen, die durchs Fenster ins Zimmer fielen, wärmten seine rechte Gesichtshälfte. Es war so angenehm, die Wärme der Sonne auf der Haut zu verspüren. Um ihn herum herrschte Ruhe, eine unbeschreibliche Ruhe. Ben überlegte, wo er war. Blinzelnd schlug er die Augen auf und schaute sich suchend im Raum um. Er befand sich immer noch im Krankenhaus. Die Infusionen und Schläuche um ihn herum waren verschwunden. In seinem linken Arm steckte noch eine Kanüle. Den ZVK und den Blasenkatheter hatte man ihm im Laufe des Abends auf der Normalstation gezogen.
    Langsam kehrte die Erinnerung zurück. Eigentlich hätte er mindestens noch eine Nacht auf der Intensivstation verbringen sollen und erst nach der heutigen Morgenvisite sollte endgültig entschieden werden, ob er auf eine normale Pflegestation verlegt werden könne. Stimmt, gestern Abend gab es einen großen Unfall mit vielen Schwerverletzten, so dass die Verlegung kurzfristig angeordnet wurde.


    Er schaute sich in dem Krankenzimmer um. Man hatte ihn in einem geräumigen Einzelzimmer auf der Privatstation untergebracht. Das Zimmer war in einem angenehmen gelben Farbton gestrichen. Seinem Bett gegenüber befand sich das Bad, dessen Tür einladend offen stand. Gewisse menschliche Bedürfnisse regten sich bei ihm und die Dusche sah ja so verlockend aus. Er wollte nicht schon wieder nach der Schwester klingeln, damit sie ihm eine neue Urinflasche reichte. Schließlich hatte er auf der Intensivstation schon seine ersten Gehversuche hinter sich gebracht, da sollte er doch den kurzen Gang zur Toilette auch schaffen. Vorsichtig versuchte er sich über seine rechte Seite aufzurichten. Irgendwie fing sich alles an zu drehen. Während er noch krampfhaft überlegte, wie er aus dem Bett kommen sollte, wurde die Zimmertür geöffnet und eine jugendlich klingende Männerstimme erklang.


    „Das würde ich mal lieber sein lassen Herr Jäger oder wollen Sie gleich wieder zurück auf die Intensivstation!“


    Ben blickte zur Tür. Dort stand ein junger Krankenpfleger, fast im gleichen Alter wie er. Er war bestimmt einen halben Kopf kleiner als der Polizist und hatte eine schlaksige Figur. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Nur woher? Der dunkelhaarige Polizist musterte ihn beim Näherkommen. Die verstrubbelten blonden Haare, die wie wild nach allen Seiten abstanden, erinnerten ihn an jemand. Dieser Jemand trug ziemlich ausgeflippte Kleidung und mischte die besten Cocktails, die er kannte. Der Pfleger kam zu ihm ans Bett und lachte ihn freundlich an.
    „Guten Morgen, ich wünsche einen wunderschönen Tag. Mein Name ist Sebastian aber alle nennen mich nur Basti!“
    Dabei überstrahlte ein fröhliches Lachen sein sympathisches Gesicht, das von seinen tiefblauen Augen noch unterstrichen wurde.
    „Kennen wir uns nicht?“, fragte Ben neugierig nach.

  • „Ja klar, … du hast mit deiner Band im Club 99 öfters gespielt. Ich arbeite da hinter der Theke als Barkeeper … Nebenjob um ein bisschen die Finanzen aufzubessern. Das Leben ist teuer …!“, meinte er mit einem Grinsen, „Wir haben da schon einige tolle Nächte miteinander durchgefeiert. Hey Ben, … mach mal schön langsam. Du bist noch ganz schön blass um die Nase!“


    „Ich müsste mal da rein!“ Ben deutete in Richtung des Badezimmers. Dabei gelang es ihm, mit Hilfe des Krankenpflegers sich in eine sitzende Position zu bringen und die Beine ganz langsam aus dem Bett zu schieben. Er blickte an sich herunter und schmunzelte. Er trug ein knielanges Patientenhemdchen der Intensivstation. Auf einmal schien das Bett Karussell zu fahren. Sein Kreislauf spielte ein bisschen verrückt. Er stützte sich mit seinen Handflächen auf der Bettkante ab.


    „Ok Ben, nicht runter schauen sondern schau mir in die Augen. … Sehr schön! … Gleichmäßig weiteratmen!“, meinte Basti, als er sah, dass die Blässe aus dem Gesicht seines Patienten wich. „Du rührst dich nicht von der Stelle und ich hole mal schnell den Rennwagen rein!“ – Ben lachte auf: „Rennwagen?“ – „Einen Rollator! Denn du scheinst noch ein wenig wackelig auf den Beinen zu sein und wir wollen doch keinen Sturz riskieren!“ Sebastian hatte den Rollator neben der Zimmertür im Flur griffbereit hingestellt. Seinen Patienten behielt er im Auge, während er den Rollator ins Zimmer holte.
    „Fertig für den großen Gang?“, fragte er Ben und dieser nickte zustimmend. Sebastian erteilte seinem Patienten klare Anweisungen, was er zu tun hatte.
    Der dunkelhaarige Polizist hielt die Griffe des Rollators krampfhaft umschlungen. Seine Knie waren butterweich. Mit Hilfe des Physiotherapeuten und einer Krankenschwester war er schon einige Male auf eigenen Füßen gestanden, einige Schritte gemacht und wusste, was ihm bevor stand. Er holte tief Luft, soweit es seine gebrochenen Rippen zuließen. Nachdem er den ersten Schritt gemacht hatte, spürte er erneut recht deutlich, wo seine Verletzungen gewesen waren. Vor allem im Bauch und im Rücken zippte und zwickte es gewaltig. Ein Glück, dass ihm Basti nicht in die Augen schauen konnte und darin den Schmerz lesen konnte, den er empfand, sonst hätte er wohl die Aktion abgebrochen. Aber sein eiserner Wille half ihm den Weg bis zur Toilette und auch wieder zurück ins Bett zu schaffen.


    Beim Waschen der Hände hatte er Gelegenheit sich im Spiegel zu betrachten. Ein mageres, blasses Gesicht, das von einem wilden dunklen Bart überwuchert wurde. Hier und da waren die roten Narben der Kratzer zu sehen. Aus dem Ausschnitt seines Patientenhemds blinkte ihm das Pflaster entgegen, wo man ihn am gestrigen Tag den ZVK gezogen hatte. Seine dunklen Haare hingen strähnig und ungepflegt herunter. Er dachte nur, oh verdammt, siehst du scheiße aus! Wie ein Zombie, der einem Horrorfilm entsprungen war. Eine Dusche … und ja eine Rasur mit dem Barttrimmer, der aus diesem Gestrüpp wieder in einen ansehnlichen Drei-Tage-Bart machte, sollte aus ihm wieder einen Menschen machen. Er sah auch ein, war wohl eine falsche Entscheidung gewesen, dem Pflegepersonal auf der Intensivstation eine Rasur zu verweigern. Nur ohne Bart fühlte er sich irgendwie nackig. Die versprochene Dusche am gestrigen Abend, die im Marco zugesichert hatte, war seinem Umzug auf die Normalstation zum Opfer gefallen.


    Zurück im Bett verspürte Ben etwas anderes: Hunger.


    „Kriegt man hier auch was zum Essen Basti? Ich bin am Verhungern! Und dann möchte ich nur noch eines: Duschen!“ Dabei fiel ihm ein, dass er außer ein paar Toilettenartikel noch nicht mal eigene Kleidung oder sonst was hier hatte. „Kannst du mir noch einen Gefallen tun? Rufst du meinen Partner an, dass er mir ein paar Sachen vorbei bringt? Hast du einen Zettel und einen Stift, dann schreibe ich dir seine Handynummer auf!“


    „Und in welcher Reihenfolge hätten der Herr die Wünsche gerne erfüllt?“ Basti lachte dabei. „Ok ich schlage mal vor, erst Frühstück, dass mit dem Duschen besprechen wir mit dem Arzt bei der Visite und naja, wenn du Glück hast, hat dir dein Kumpel bis dahin frische Klamotten gebracht!“ Er zog aus seiner Hosentasche einen Kugelschreiber und notierte sich auf einem Schnipsel Papier Semirs Handynummer.


    Ben hätte nie zugegeben, wie sehr ihn der kurze Ausflug ins Bad erschöpft hatte. Er war froh, als der Pfleger das Zimmer verlies und er die Augen schließen konnte, um sich auszuruhen. Der Anfang war gemacht ….


    Er war nur kurz eingedöst. Das gewaltige Grummeln seines Magens weckte ihn. Wo blieb denn Basti nur mit dem Frühstück? Seine Gedanken schweiften ab zu dieser dunkelhaarigen Schwester Anna. Sie ging ihm einfach nicht mehr aus dem Kopf. Gerne hätte er sie noch mal gesehen und gesprochen, als die Zimmertür geöffnet wurde und der Pfleger mit einem voll beladenen Tablett eintrat.


    „Frühstücksservice gefällig? Ich habe dir ein bisschen Toast, Butter, Marmelade, ein Frühstücksei … Ich hoffe du magst das alles. Es gibt auch noch Nachschub!“


    „Du hast wohl immer einen coolen Spruch auf den Lippen Basti, dachte, das wäre nur im Club so … aber sehe schon … du bist immer so gut drauf!“ Die gute Laune des Pflegers wirkte ansteckend. Bis er sich versah, hatte dieser, alles so hergerichtet, dass er gemütlich im Bett frühstücken konnte.


    „So und jetzt die nächste gute Nachricht. Ich habe beim Ober nachgefragt!“


    „Bei wem nachgefragt?“, unterbrach ihn Ben kauend.


    „Ts ts ts mit vollem Mund spricht man nicht!“, schmunzelte Basti „Mit unserem Oberarzt … er will sich bei der Visite noch mal kurz deine OP-Wunden anschauen. Die Fäden wurden ja gestern gezogen. Er war überrascht, als ich ihm von deinem Ausflug ins Bad berichtet habe. Er entscheidet dann, ob einer Dusche mit meiner Assistenz nichts mehr im Wege steht!“


    Während Ben frühstückte, richtete der Pfleger eine Infusion her. Als er bemerkte, dass Ben bei der einen oder anderen Bewegung Probleme hatte, half er ihm, was dieser natürlich mit einem lockeren Spruch kommentierte.


    „Bist du jetzt mein persönlicher Pfleger? Oh, shit, ich dachte, dass mit den Infusionen ist durch! Und wie soll ich mir das mit persönlicher Assistenz vorstellen?“


    „Zum einen, das sind noch Medikamente … Antibiotikum und was gegen die Schmerzen. Nee… nee erzähl mir nichts … ich merk doch ganz klar, dass du noch Schmerzen hast und nicht zu wenig. Und zum anderen … du solltest noch bis heute Morgen auf Intensiv sein, zumindest war dies der Wunsch des Chefarztes, der war überhaupt nicht damit einverstanden, dass man dich gestern Abend verlegt hatte. Auf besonderen Wunsch des Alten bin ich für dich abgestellt. Du scheinst ja was ganz Besonderes zu sein. … Sprich wir haben alle Zeit der Welt! Übrigens? Wer hat dich denn so zugerichtet? Oder gehört das bei dir zum Berufsrisiko?“, fragte der Krankenpfleger neugierig nach. „Hier kursieren so einige Geschichten darüber.“


    Ben überlegte kurz und fing an, in knappen Worten dem Pfleger die Geschichte mit der Entführung und der Flucht zu erzählen. Währenddessen hatte Basti die Infusion angelegt und wollte mit dem geleerten Frühstückstablett das Zimmer verlassen, als ihn eine Frage von Ben anhalten lies und er sich noch mal seinem Patienten zuwandte.


    „Darf ich dich noch was fragen oder bitten Basti?“


    „Na klar, immer raus damit!“


    „Kennst du Schwester Anna, die auf der Intensivstation gearbeitet hat?“


    Sebastian blickte Ben interessiert an. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht mit solch einer Frage.


    „Ja klar, kenne ich die? Warum fragst du?“


    Ben horchte in sich hinein, ja da war so ein Kribbeln im Bauch, wenn er an sie dachte. Er wollte sie unbedingt noch mal sehen, mit ihr sprechen. Er überlegte kurz, bevor er die nächste Frage stellte.


    „Ich würde gerne noch mal mit ihr reden. Ich weiß, sie arbeitet nicht mehr hier als Krankenschwester. Aber es gibt da noch etwas, was ich mit ihr unbedingt klären müsste!“


    Basti lachte erneut auf und schüttelte ein bisschen ungläubig seinen Kopf. Als er antwortete hatte seiner Stimme so einen gewissen Unterton. „Und wie kommst du darauf, dass ausgerechnet ich diese Krankenschwester näher kennen soll?“
    „Ganz einfach, weil sie im Club 99 bei dir an der Theke saß und ihr euch unterhalten habt, wie zwei Menschen, die sich gut kennen!“, gab Ben zurück und richtete sich ein wenig in seinem Bett auf.


    „Okay … okay!“, lenkte Bast ein „Ja, ich kenne Anna auch privat. Sie will die nächsten Tage nicht gestört werden … Aber wenn es dir so wichtig ist, schau ich mal, was ich für dich machen kann!“


    „Hey, nicht was du denkst!“


    „Ben, ich sehe da was in deinen Augen! So ein gewisses Leuchten!“, legte der Pfleger nach und ein verschmitztes Grinsen lag in seinem Gesicht.

  • „Hallo Partner, schön dich so gut gelaunt und munter zu sehen!“, begrüßte der Türke seinen Freund. In seiner Hand hielt er eine prall gefüllte Sporttasche.


    „Hier ist alles drin, was du bestellt hast. Sogar deinen IPod habe ich in deinem Chaos gefunden und dabei! Wie geht es dir? Ich konnte es gar nicht glauben, als der junge Mann dort drüben am Telefon mir erklärte, dass du auf eine normale Pflegestation verlegt worden bist.“


    „Es geht aufwärts! Am liebsten würde ich morgen schon nach Hause gehen. Aber die werden mich wohl nicht gehen lassen“, erwiderte Ben wagemutig und schnitt ein paar seiner berühmten Grimassen dabei. Semir rollte ein bisschen die Augen und grinste drauf los.


    „Hey Kumpel! … Jetzt mach mal ein bisschen langsam. Kaum kannst du die Nase wieder heben, wirst du auch schon wieder frech“, versuchte ihn sein älterer Kollege ein bisschen zu maßregeln. Innerlich freute er sich über die Reaktion seines Partners. Semir konnte nicht anders, er stellte die Tasche auf den Besucherstuhl und musste seinen Freund und Partner einfach mal drücken.


    „Wow, so groß ist die Sehnsucht nach mir? Wird wohl auf die Dauer langweilig, ohne mich Autos zu schrotten!“, scherzte Ben und grinste dabei schelmisch. Aber dem dunkelhaarigen Polizisten waren nicht die Zornesfalten, die Semir ins Gesicht geschrieben standen, als er das Zimmer betreten hatte, nicht entgangen.
    „Hattest du Ärger mit der Krüger, weil du mir Klamotten bringen solltest?“


    Der ältere Polizist schüttelte den Kopf und wiegelte ab „Nein, nein … alles gut! Mach dir mal keine Sorgen. Die ist momentan so friedlich und handzahm, du würdest sie glatt nicht wiedererkennen!“


    „Was ist los Partner? … Was ist es dann, was dich beschäftigt? Ist was mit Aida oder Andrea?“, forschte der Dunkelhaarige nach. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn dabei, weil er an seine eigenen Alpträume denken musste. „Geht es den Beiden gut?“


    „Mach dir keine Sorgen um die Zwei! Aida besucht heute zum ersten Mal wieder die Schule seit …!“, er brach ab und konnte das Wort „Entführung“ nicht aussprechen. „Ich habe ihr versprochen, sie von dort nach dem Unterricht abzuholen. Wie du siehst, alles bestens! So langsam kehrt der Alltag wieder ein.“ Der Türke setzte ein künstliches Grinsen auf. Ben richtete sich etwas im Bett auf und musterte seinen Kollegen.
    „Irgendetwas stimmt doch nicht! Ich merke es dir doch an! Also raus mit der Sprache, du musst mich nicht mehr in Watte packen, Partner! Mir geht es wieder gut!“, forderte er seinen älteren Kollegen etwas energischer auf, mit ihm offen zu reden. Sebastian hatte während der Unterhaltung Bens Sporttasche ausgeräumt und die Sachen im Bad und Kleiderschrank verstaut und verschwand wortlos aus dem Zimmer. Als wäre dies das entscheidende Signal gewesen, lenkte Semir ein, der zwischenzeitlich neben Bens Bett auf dem Stuhl Platz genommen hatte.


    „Du hast ja Recht Ben!“


    Mit knappen Worten berichtete er seinem verletzten Partner, was er heute Morgen von Frau Krüger erfahren hatte. Außerdem informierte er ihn über den Teil der Ermittlungen, den er ihm bisher verschwiegen hatte, dass sich die Kilic angeblich ins Ausland abgesetzt hatte und worum es bei dem Überfall in Düsseldorf hauptsächlich gegangen war. Ben unterbrach ihn nicht dabei. Sein fröhliches Gesicht wurde nachdenklich. Als Semir geendet hatte, herrschte erstmal Schweigen im Zimmer. Der Blick des Dunkelhaarigen wanderte von seinem Partner zum Infusionstropf. Minutenlang beobachtete er wie sich ein Tropfen nach dem anderen löste und in den Infusionsschlauch rann, als würde der eine Antwort auf die Frage liefern, die ihn beschäftigte.


    „Ich glaube es nicht!“, entfuhr es Ben und er strich sich mit gespreizten Fingern durch die strähnigen Haare und wiederholte sich. „Ich glaube es nicht, dass die Kilic einfach verschwunden ist. Egal was Interpol sagt.“ Er schloss seine Augen. Vor ihm erschien ihr Bild, der Ausdruck ihrer eiskalten Augen … ein Schauder rann ihn über dem Rücken und sein Pulsschlag beschleunigte sich. Ben öffnete seine Augenlider wieder und betrachtete seinen neben sich am Bett sitzenden Partner „Nein! Diese Frau gibt nicht auf! Solange, die frei rum läuft, werde ich vor ihr und ihrer Rache niemals sicher sein Semir. … Ich habe ihren Bruder und Cousin umgebracht. Die wird wieder kommen!“, entfuhr es ihm vollkommen überzeugt und seine Angst, die er dabei empfang, ließ seine Stimme vibrieren.


    Nach Bens letztem Satz versuchte Semir, die in ihm aufkommende Panik zu unterdrücken. Sofort fielen ihm wieder die unbekannte Frau auf der Intensivstation und sein eigenes Gefühl ein, beobachtet zu werden. Seine Gedanken gingen weiter, es gab aktuell keine Beweise, dass sich die Verdächtige noch in Deutschland aufhielt. Also, verrückt machen, hilft keinem! Sagte er sich und brachte das Gespräch in eine andere Richtung. Mit einem Grinsen im Gesicht erzählte Semir vom gestrigen Grillabend im Garten mit Onkel Dieter und den Kindern … und überhaupt wie Lilly den älteren Kollegen voll um den Finger gewickelt hatte. Mehr als einmal prustete Ben laut los vor Lachen. Die gute Laune hatte wieder Einzug gehalten im Krankenzimmer und die Zeit verflog. Semirs Blick fiel auf seine Uhr.


    „Oh sorry, ich muss gleich los! Du weißt doch, Aida abholen!“, erklärte er und erhob sich von seinem Stuhl, der er zurück an seinen alten Platz stellte. „Ich habe heute Nachmittag frei und komme später noch mal vorbei. Brauchst du noch etwas?“, erkundigte er sich fürsorglich auf dem Weg zur Zimmertür.


    Überrascht hob Ben die Augenbraue. „Du hast frei? Bring Andrea und Aida mit, wenn du mich besuchen kommst!“


    Die Bitte des jungen Kommissars verblüffte den Türken. „Mensch Ben, wird dir das nicht zu viel?“


    „Lass das ruhig mal meine Sorge sein Semir. Bitte bringe die beiden mit, es ist mir wichtig!“, unterstrich er nochmals seinen Wunsch. Ben hatte die Hoffnung, dass der Anblick der Beiden ihm half, die Schreckgespenster, die ihn im Schlaf quälten, zu vertreiben. Sein Partner verabschiedete sich und wer war wieder allein im Zimmer.


    Nach dem Mittagessen durfte er tatsächlich mit der Unterstützung des jungen Pflegers rasieren und duschen. Schon lange nicht mehr hatte er eine Dusche als so angenehm und wohltuend empfunden. Anschließend versank er in einen tiefen Erholungsschlaf bis ihn ein leises Klopfen an der Zimmertür weckte.

  • Ben benötigte einige Sekunden um richtig wach zu werden und sich zu orientieren, bis er ein „Ja bitte!“ rief und seine Besucher eintraten. Semir betrat als erster den Raum und hielt Aida an der Hand. Zum Schluss folgten ihnen Andrea.


    „Hallo ihr drei!“, begrüßte er freudig die Angekommenen.
    „Hallo Ben!“
    Es klang bei Andrea und Aida sehr zurückhaltend. Er konnte in Andreas Augen so eine unausgesprochene Fragen lesen, als sie ihn anblickte. Aber zuerst war ihm Aida wichtig. Deshalb wandte er sich dem Mädchen zu und ließ die beiden Erwachsenen fast schon unbeachtet.
    „Hallo Prinzessin, wie geht es dir? Willst du nicht her zu mir kommen?“ Dabei deutete er auf die linke Seite seines Bettes. „Setz dich her!“
    Fragend blickten ihn die dunklen Augen von Aida an.
    „Was ist? Traust du dich nicht?“ erneuerte er seine Einladung neben ihm auf dem Bett sich hinzusetzen. Er war ein bisschen zur Seite gerutscht und klopfte mit der flachen Hand auf die Matratze.
    „Na komm!“ ermunterte er sie mit einem Lächeln im Gesicht. „Hast du Angst vor mir?“
    Leise erklang ihre Stimme. „Ich will dir doch nicht weh tun, Ben!“


    „Hey, es ist alles wieder gut, Aida! Du tust mir nicht weh, wenn du dich hersetzt und ein bisschen mit mir kuschelst!“ Er schaffte es sogar, dabei sein „fröhliches Ben Lächeln“ aufzusetzen. Innerlich war er froh darüber, dass er erst vor Kurzen eine Dosis Schmerzmittel bekommen hatte, die ihm jetzt half, die Situation mit Aida gut zu überstehen.
    „Ehrlich? Dir tut nichts mehr weh?“
    Ungläubig kam die Frage aus ihrem Mund. Mit großen Kinderaugen musterte das Mädchen den Mann im Krankenbett und trat einen Schritt näher heran.
    „Naja, vielleicht noch so ein klein bisschen!“
    Mit seinem Daumen und Zeigefinger machte er eine kleine Geste, die ihr zeigen sollte, wie viel Schmerzen er im Vergleich zu einigen Tagen vorher noch empfand. Aida trat seitlich ans Bett heran, streichelte ihm sacht über den Unterarm und betrachtete Ben eingehend. Man sah ihr an, dass sie überlegte. Völlig unerwartet zog sie seine Bettdecke etwas zurück und hob sein T-Shirt an.
    „Was wird das denn Prinzessin?“, erkundigte sich Ben überrascht nach dem Grund für ihren Forscherdrang.
    Die Wundpflaster hatte Sebastian nach dem Duschen erneuert und so zierten etliche seinen Oberkörper. Die blauen Flecke und Hämatome waren mittlerweile verblasst oder fast verschwunden. Sie deutete mit ihrem Zeigefinger auf eines der Pflaster.
    „Darf ich sie mal berühren?“, kam zögerlich die nächste Frage.
    Zustimmend nickte der dunkelhaarige Polizist und war gespannt darauf, was Aida als nächstes tun würde. Vorsichtig tastete sie mit ihren Fingerkuppen über einige Pflasterränder. Sehr genau registrierte das Mädchen jede Reaktion von Ben, der sich selbst überwand. Kein Muskel in seinem Gesicht verriet, ob er Schmerz empfand. Statt dessen lächelte er das Mädchen aufmunternd an. Dabei herrschte Stille im Zimmer. Diese Minuten hatten etwas Geheimnisvolles fast schon Mystisches an sich. Aida legte sanft ihre flache Hand in Bens Hand. Zwischen den beiden fand eine stille Kommunikation statt. Ohne Worte. Nur durch Blicke und Gesten. Das Mädchen atmete mehrmals geräuschvoll eine und aus, zog das Shirt runter und deckte Ben wieder zu. Nachdem Aida sich selbst überzeugt hatte, dass ihrer Ansicht nach alles in Ordnung ist, krabbelte sie tatsächlich zu Ben ins Bett und kuschelte sich an ihn heran. Ben legte seinen Arm um sie, strich ihr über die Haare und fing an sich mit ihr zu unterhalten. Zuerst über dies und das, ihren Aufenthalt im bei den Großeltern, das Krankenhaus und zum Schluss über das, was im Wald passiert war.


    Mit seiner einfühlsamen Art schaffte Ben etwas, was selbst den Psychologen nur ansatzweise in allen seinen bisherigen Therapiegesprächen nicht gelungen war. Aida redete mit Ben über die Entführung und was danach geschah. Anfangs noch sehr wortkarg und zurückhaltend, aber dann plapperte sie immer mehr drauf los. … Und auf einmal sprach Aida über das, was sie die letzten Tage beschäftigt hatte, ihr Denken in Besitz genommen hatte. Sie redete über ihre Ängste … die Angst um ihren geliebten Ben … ihre Trauer … Sie redete sich regelrecht ihrem Kummer von der Seele. Dabei löste sich mehr als eine Träne aus Bens Augenwinkel.
    Die beiden im Krankenbett hatten total ausgeblendet, dass Andrea und Semir am Fußende standen und ungläubig dabei zuhörten.


    Der Türke war ja sehr skeptisch wegen des Krankenbesuchs gewesen und hätte Aida am liebsten bei Susanne und Lilly in der Cafeteria gelassen. Doch wenn er momentan in das strahlende Gesicht seiner Tochter blickte, wurde er eines Besseren belehrt. Allerdings war ihm auch nicht entgangen, wie sehr Ben das Gespräch anstrengte, wie sehr es ihn emotional mitgenommen hatte.


    „Ich habe dich lieb Ben!“, flüsterte Aida Ben ins Ohr.
    „Ich habe dich auch lieb Prinzessin. Und versprochen, sobald ich hier raus bin, holen wir unseren Nachmittag nach.“ Dabei hauchte er ihr einen Kuss auf die Stirn und strich ihr nochmals liebevoll durchs Haar.
    „Ich glaube deine Schwester und Susanne warten auf uns“, mit diesen Worten versuchte Semir den Besuch zu beenden. Aida schaute ihren Vater an.
    „Darf ich morgen wieder kommen Papa?“, fragte sie ihren Vater. Statt Semir beantwortete Ben die Frage der Kleinen: „Ja klar, und dann bringst du auch Lilly mit!“


    Andrea stand die ganze Zeit schweigend dabei. Während des Gesprächs zwischen Ben und Aida konnte der dunkelhaarige Polizist klar erkennen, wie sich ihre Augen mit Tränen füllten, die sie mit ihren Handrücken wegwischte. Ihre Lippen glichen einem Strich.
    Zum Abschied gab Aida Ben noch einen dicken Kuss auf die Wange, rutschte aus dem Bett, zog ihre Schuhe an und tapste zu ihren Eltern hinüber.


    „Andrea hast du noch ein paar Minuten Zeit? Ich möchte gerne mit dir reden. Lasst ihr uns allein? … Bitte!“, bat Ben.


    Semir schaute ihn überrascht an. Damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte deutlich erkennen, wie den verletzten Polizisten der Besuch von Aida erschöpft hatte und jetzt wollte er allein mit Andrea sprechen. Jedoch lag da was in seinem Blick, das keinen Widerspruch duldete.
    „Komm Aida, lassen wir die beiden Mal alleine und schauen, was Lilly und Susanne treiben. Vielleicht fällt für dich auch ein Eis ab.“
    Er fasste seine Tochter an der Hand und verließ mit ihr das Zimmer.


    „Setz dich bitte zu mir Andrea, ich glaube, wir beide haben noch was zu besprechen.“

  • Semir schaute ihn überrascht an. Damit hatte er nicht gerechnet. Er konnte deutlich erkennen, wie den verletzten Polizisten der Besuch von Aida erschöpft hatte und jetzt wollte er allein mit Andrea sprechen. Jedoch lag da was in seinem Blick, das keinen Widerspruch duldete.


    „Komm Aida, lassen wir die beiden Mal alleine und schauen, was Lilly und Susanne treiben. Vielleicht fällt für dich auch ein Eis ab.“


    Er fasste seine Tochter an der Hand und verließ mit ihr das Zimmer.


    „Setz dich bitte zu mir Andrea, ich glaube, wir beide haben noch was zu besprechen.“


    Mit einem aufmunternden Lächeln forderte er sie auf, sich neben sein Bett auf den Besucherstuhl zu setzen. Der verletzte Polizist erkannte wie Andreas Augen erneut feucht schimmerten. Sie hatte nach wie vor ihre Lippen fest zusammengekniffen und versuchte mühsam die Tränen wegzublinzeln.
    „Kannst du mir bitte das Glas Wasser geben?“
    Immer noch schweigend reichte sie ihm das Glas vom Nachtisch. Er trank es leer, bevor er erneut das Wort ergriff. Das Sprechen strengte Ben wesentlich mehr an, als er gedacht hatte. Er war nach dem Gespräch mit Aida bereits an seine körperlichen Grenzen gestoßen und dennoch war es ihm wichtig, mit Andrea zu reden. Der Dunkelhaarige räusperte sich.


    „Du gibst dir die Schuld, dass ich im Wald den Abhang runtergestürzt bin oder?“ leise stellte er die Frage. Ben hatte noch nicht zu Ende ausgesprochen, als ihr die Tränen über die Wangen flossen. Sie schluchzte auf und suchte in ihrer Tasche verzweifelt nach einem Taschentuch.
    „Woher … weißt … du das?“
    „Dein Besuch auf der Intensivstation … deine Worte …!“
    „Du warst doch wach!“ fiel sie ihm fast schon bestürzt ins Wort und schlug die Hände vors Gesicht. Ben richtete sich ein wenig auf, stützte sich mit dem Unterarm ab und umschlang mit der freien Hand Andreas Handgelenk. Die fuhr bei der Berührung zusammen.
    „Schtt…, alles ist gut!“ Ihr Körper bebte vor Erregung und sie schniefte leise vor sich hin.
    „Ja, ich habe dich reden gehört … Bruchstücke davon sind in meinem Gedächtnis haften geblieben. … Aber nicht nur deswegen! … Als du das Zimmer vorhin betreten hast, habe ich es dir angesehen, es gespürt!“ Mit seiner rechten Hand zog er ihre Hände vom Gesicht weg. „Hey, schau mich an! … Du hast nichts dafür gekonnt. Als ich da oben am Abhang stand, war mir klar, dass ich körperlich völlig am Ende war. Ich habe nicht mehr weiter gekonnt. Egal, ob mit oder ohne deine Hilfe, ich wäre diesen Berg niemals runter gekommen. …Verstehst du! … Niemals!“


    Ben ergriff Andreas Hand und hielt sie fest und blickte sie mit seinen dunklen Augen an. Langsam sprach er weiter. Die Abstände zwischen den einzelnen Sätzen wurden immer länger.
    „Ich wollte nach dir rufen, um dir zu sagen, dass du mit Aida allein weiter flüchten sollst. …. Es ist mir ein Rätsel, wie ich es überhaupt so weit geschafft habe … euch so lange durch den Wald folgen konnte …. Der Sturz hat uns diese Entscheidung abgenommen. …. Du hättest mich zurück lassen müssen. …. So oder so. … Mir wurde schlecht und ich habe das Gleichgewicht verloren … und dann …!“
    Sie spürte wie er erschauderte, als würde er den Sturz erneut erleben.
    „Ben! … ich !“
    „Nein, du hast nichts mehr für mich tun können und als ich da auf dem Waldboden lag, ich wollte nur noch eines … keine Schmerzen mehr haben … ja vielleicht in dem Moment auch nur noch sterben!“
    „Ben, als du nach der Waffe verlangt hast, hatte ich furchtbare Angst, du könntest dir selbst was antun. Deine letzten Worte … du hast dich von mir verabschiedet. … Es klang so endgültig …“ Der Rest ging in einem Aufschluchzen unter.
    „Ja, ich hatte aufgegeben Andrea. Noch nie in meinem Leben hatte ich solche furchtbaren Schmerzen. … Verstehst du? …. Ich wollte nur … noch sterben ...!“
    „Und dann … draußen auf der Anhöhe, als ich die Schüsse gehört hatte, … oh Gott ich fühlte mich so hilflos. Ich wollte zurück zu dir rennen … dir helfen …. Dieser Zwiespalt, er hat mich zerrissen… aber da war noch Aida … und ich wollte doch Hilfe holen… Semir holen.“
    Sie fing hemmungslos an zu weinen. Er zog sie vorsichtig zu sich heran. Ihr Oberkörper lag auf seiner Zudecke und er strich ihr beruhigend über das Haar … über den Rücken. Langsam beruhigte sie sich wieder.
    „Schttt , ... hey alles ist wieder gut Andrea! Ich habe es überlebt!“


    „Aber das Schlimmste kam danach. … Ben! … Die vorwurfsvollen Blicke der anderen, der Kollegen auf der Dienststelle. Sie starrten mich an. Jeder einzelne Blick glich einem Nadelstich und in jedem stand die Frage: Wie konnte ich dich da nur so zurück lassen. Selbst bei der Befragung von Frau Krüger … !“ Sie schluchzte wieder auf. „Und Semir … selbst bei ihm hatte ich dieses Gefühl … und ich fühlte mich so schuldig … so furchtbar elend … alleine … einsam!“


    „Niemand kann und wird dir einen Vorwurf machen Andrea, am allerwenigsten Semir, glaube es mir. … Denk daran, was wir an jenem Abend in der Hütte besprochen hatten. Nur das war wichtig. … Uns beiden war doch von Anfang an klar, dass eine Flucht mit meinen Verletzungen aussichtslos war. …“ Seine Worte wurden leiser, Andrea konnte ihn kaum noch verstehen. Das Sprechen fiel Ben immer schwerer. Seine Augen hatte er mittlerweile geschlossen, um sich besser konzentrieren zu können. „Normalerweise … hättest du mich schon am Schuppen zurücklassen müssen … es war ein Wunder, … das ich überhaupt so weit gekommen bin. …. Und noch was, … ich habe dich wegschickt,… denn dies war unsere einzige Chance.“
    „Danke!“ nur dieses eine Wort hauchte sie.
    Er hielt sie nach wie vor ganz sanft an sich herangedrückt. Seine rechte Hand lag wie schützend auf ihrem Rücken. Sein Atem wurde ruhiger und gleichmäßig. In diesem Moment wurde ihr bewusst, dass er bis zur völligen Erschöpfung mit ihr gesprochen hatte.


    Unbemerkt von Andrea und Ben hatte zwischenzeitlich Semir das Zimmer betreten und den Schluss der Unterhaltung mit angehört. Sichtlich geschockt stand er da und beobachtete, wie seine Frau vorsichtig den Arm von Ben zur Seite schob und sich von ihrem Stuhl erhob. Einen Moment blickte sie nachdenklich auf den schlafenden Polizisten und trocknete ihre letzten Tränen. Als sie sich der Tür zuwandte, fuhr sie erschrocken zusammen.
    „Du?“
    „Ja, ich! … Es tut mir leid Andrea! … So unendlich Leid! … Ich hatte nie so etwas von dir gedacht, dass du Ben im Stich gelassen hättest. … Oh mein Gott, wie konntest du das nur von mir denken.“
    Semir eilte auf seine Frau zu, nahm sie in den Arm und hielt sie ganz fest an sich gedrückt. Nach einer Weile lösten sie sich voneinander.
    „Die Kinder und Susanne warten unten auf uns. Komm!“


    Sein letzter Blick galt seinem friedlich schlafenden Partner. Alles wird wieder gut, waren seine Gedanken, als Andrea und er das Zimmer verließen

  • Einige Tage später ….


    Semir kam mit der offiziellen Vertretung von Frau Krüger überhaupt nicht klar. Wann immer sich eine Möglichkeit bot, fuhr er auf der Autobahn Streife. Dieter Bonrath verbrachte den größten Teil seiner Urlaubstage bei den Gerkhans. Vor allem Lilly war schwer begeistert von Onkel Dieter, wie sie ihn nannte. Der schlaksige Polizist genoss die Zeit und dachte wehmütig daran, wie schön es wäre, wenn er selbst einmal Enkelkinder haben würde. Die Erinnerungen an die schrecklichen Ereignisse verblassten mehr und mehr.
    Es gab keinerlei Hinweise darauf, dass sich Gabriela Kilic in Deutschland aufhalten würde. Die Behörden, insbesondere das BKA, gingen auf Grund der Nachforschungen von Interpol davon aus, dass sie sich nach Venezuela abgesetzt hatte.


    Eines Nachmittags hatte der Deutsch-Türke die spontane Idee dem Apotheker in der Eifel, der Parfums selbst herstellte, einen persönlichen Besuch abzustatten. Vielleicht hatte dieser ein erschwingliches Geschenk für Andrea vorrätig und er brauchte vor Dienstschluss nicht mehr im Büro auftauchen. Bei diesen Gedanken huschte ein verschmitztes Lächeln über Semirs Gesicht. Er drehte während der Fahrt das Autoradio lauter und pfiff die Melodien im Radio mit. Als er an Bens Kommentare bezüglich seiner Gesangskünste dachte, lachte er lauthals auf. Schneller als erwartet, erreichte er den kleinen Ort in der Eifel. Direkt vor der Apotheke fand er einen Parkplatz. Er unterhielt sich eine Weile mit dem Apotheker. Für einen Augenblick kam der Polizist bei ihm durch, er konnte es nicht lassen und erkundigte sich, ob Gabriela Kilic hier in den letzten Wochen oder Monaten aufgetaucht war.


    „Nein, Herr Gerkhan, daran würde ich bestimmt erinnern. Diese Frau bevorzugt eine besondere Duftmischung, die ich extra herstelle und die sie in der Regel vorbestellt.“ Er holte sicherheitshalber seine Kundenkarteikarte heraus, die altmodisch auf Papier geführt wurde. „Hier sehen Sie, der letzte Eintrag ist aus dem Dezember vergangenen Jahres. Sie können sich sicher sein, ich melde mich bei ihnen.“


    „Stopp, Herr Bartsch! Nicht weglegen, zeigen sie mir doch mal die Adresse, die sie darauf vermerkt haben!“ Semir notierte sich auf einem kleinen Zettel, die Adresse in einem Kölner Vorort, der für seine Hochhäuser berüchtigt war … wer weiß? Anschließend überreichte er dem Apotheker seine Visitenkarte und fand danach ein Geschenk für seine Frau, ein Parfum auf der Basis von Maiglöckchen. Er freute sich schon darauf, es ihr am Abend zu überreichen. Vorher wollte er aber bei dieser Adresse noch einmal vorbeischauen.


    Der Autobahnpolizist konnte nicht ahnen, was er mit diesem Besuch unbewusst auslöste. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite hielt ein schwarzer Audi TT an, dem eine platinblonde Frau entstieg. Sie steuerte zielstrebig auf die Eingangstür der Apotheke zu, als ihre Aufmerksamkeit sich auf den silbernen BMW richtete, der davor parkte. Den kannte sie doch! Sie wäre fast zu einer Salzsäule erstarrt, als sie den kleinen Türken drinnen in der Apotheke erkannte. Nein … nein … nein .. das durfte doch nicht wahr sein. Unauffällig ging sie weiter und versuchte ihre Gedanken zu sortieren. Brauer und ihr Freund Wenzel hatten sie mehrmals eindringlich vor den Ermittlungserfolgen dieses Polizisten gewarnt und dass er der Einzige sein würde, der die Kröte mit einer Flucht ins Ausland nicht so einfach schlucken würde. Wie war er ihr nur auf die Schliche gekommen? Was wusste er? Sein Auftauchen hier konnte kein Zufall sein und warf in diesem Augenblick ihre gesamten Rachepläne über den Haufen.


    Wenn der Autobahnpolizist ihr schon so Nahe war, warum hatten sie ihre Freunde nicht gewarnt! Sie konnte es förmlich spüren, die Zeit zerrann ihr zwischen den Fingern. Konnte sie das Risiko eingehen und noch länger zu warten, bis Ben Jäger endgültig gesund war und entlassen wurde? Heimlich verfolgte sie den silbernen BMW. Als dieser vor ihrer Tarnwohnung in einem Kölner Hochhaus anhielt, war die Entscheidung für ihre Rache getroffen. Sie schnaubte wütend durch. Hasserfüllt glitzerten ihre Augen, als sie den Autobahnpolizisten weiter beobachteten.


    Semir betrachtete das zehnstöckige Gebäude eingehend. In dieser Wohngegend am Rande von Köln Chorweiler brauchte er keine Nachbarn befragen. Die sahen und hörten hier grundsätzlich nichts, wenn die Polizei fragte. Die Anzahl der Klingelknöpfe bestätigte seine Vermutung, dass sich in dem Anwesen mehr als vierzig Wohnungen befanden. Eingehend las er die einzelnen Namen. Wäre auch zu schön gewesen, aber eine Gabriela Kilic befand sich nicht darunter. Das war die richtige Aufgabe für Susanne, wenn einer etwas rausbekommen würde, dann sie. Nur so lange dieser Idiot Schulze, mit einem „E“ am Ende wie er es betonte, auf dem Stuhl der Krüger saß, mussten sie mit äußerster Vorsicht vorgehen.

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