Nightmare

  • Es war ein herrlicher Frühlingsmorgen. Die Sonne lachte durchs Schlafzimmerfenster und die warmen Sonnenstrahlen kitzelten den jungen Kommissar an der Nase. Genüsslich räkelte er sich verschlafen in seinem Bett. Es war vergangene Nacht wieder mal spät geworden, wenn er daran und an die Nacht davor dachte, umspielte ein Lächeln seine Lippen. Ein kurzer Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er noch ein paar Minuten liegen bleiben konnte und so döste er wieder ein. Durch das Klingeln seines Handys schreckte er aus dem Schlaf hoch.
    „Oh Shit!“ entfuhr es ihm, während er ran ging.
    „Guten Morgen Schlafmütze“, begrüßte ihn sein Freund und Partner. „Ich steh hier schon seit 10 Minuten vor deiner Haustür und warte drauf, dass du runter kommst.“
    „Oh sorry, Partner ich glaube, ich habe verpennt. Ich dusch noch mal schnell und komm gleich runter.“
    In Rekordzeit schaffte es Ben sich zu duschen und anzukleiden und zu Semir ans Auto zu kommen. Mit einem herzhaften Gähnen öffnete er die Beifahrertür und murmelte ein verschlafenes:
    „Guten Morgen Semir.“, und ließ sich auf den Beifahrersitz gleiten.
    „Bereit zu neuen Heldentaten?“, begrüßte der Türke seinen jungen Kollegen froh gelaunt und ließ den BMW anrollen.
    „Ähm… nee. Ich brauche erst mal einen extra starken Kaffee und was zum Essen. Kannst du da vorne an der kleinen Bäckerei anhalten?“ Der Dunkelhaarige deutete dabei mit dem Finger auf ein Hinweisschild und gähnte nochmals vor sich hin
    „Nee vergiss es! Du krümelst mir hier nicht wieder das ganze Auto voll. Strafe muss sein, wenn man verpennt.“
    „Ach komm Semir … ein Kaffee geht doch oder?“ bettelte Ben, blickte ihn treuherzig an und versuchte mit seinem Dackelblick, seinen Partner zu erweichen. „Ich bringe dir auch einen mit. Auch was Süßes.“
    Semir fing lauthals an zu lachen. „Ok, gebe mich geschlagen. Aber gegessen wird nichts im Auto verstanden. Ich habe erst am Samstag den Innenraum ausgesaugt!“
    Der Türke parkte seinen Dienstwagen auf einen der Parkplätze vor der Bäckerei und beobachtete nachdenklich durch das Schaufenster seinen Freund. Nach ein paar Minuten kam Ben voll bepackt mit Kaffeebecher und Brötchentüten aus der Bäckerei. Ein bisschen hilflos stand er vor seiner Beifahrertür und wusste nicht so recht, wie er diese öffnen sollte. Lachend öffnete der Ältere von innen die Autotür.
    „Na los, steige schon ein!“
    Irgendwie schaffte es Ben tatsächlich einzusteigen, ohne etwas zu verschütten. Semir fädelte sich in den beginnenden Berufsverkehr ein und schlug die Fahrtrichtung zur Autobahn ein, als sich sein junger Kollege an der ersten Brötchentüte zu schaffen machte.
    „Vergiss es, Ben!“ ermahnte er ihn mit einem warnenden Unterton, „Nicht hier im Auto!“
    „Ach komm! Ich verhungere gleich! Hab doch Erbarmen mit mir.“ Dabei knüllte er die Tüte wieder zu und verzog sein Gesicht zu einer beleidigten Schnute. Wie zur Bestätigung gab sein Magen ein hungriges Knurren von sich, doch auch davon ließ sich der Türke nicht erweichen.
    „Und wer hat Erbarmen mit mir und meinem Auto? Schließlich muss ich wieder die ganzen Krümel und den Dreck wegputzen.“
    „Weißt du was, bist echt ein alter Spießer!“, bekam er prompt als Antwort zurück.
    „Nee nix Spießer, bin nur nicht deine Putzfrau! Warte noch ein paar Minuten, ich halte am nächsten Rastplatz an und dann kannst du gemütlich frühstücken.“
    Semir warf einen kurzen Blick auf seinen Beifahrer und musste sich beherrschen, dass er nicht erneut lauthals zu lachen anfing. Diese Grimassen von Ben, die ihm wohl zeigen sollten, dass er eingeschnappt war, waren einfach unvergleichlich. Für einige Minuten herrschte Schweigen im Auto. Gedankenverloren blickte der junge Mann zur Fensterscheibe hinaus und nippte ab und an am Kaffeebecher. Semir fuhr auf die Autobahn auf und beschleunigte sein Fahrzeug.
    „Was hast du denn das ganze Wochenende getrieben, dass du schon wieder verschlafen hast?“ fragte Semir neugierig bei seinem Beifahrer nach.
    „Ähm der Kenner genießt und schweigt Kollege.“ Der Gesichtsausdruck wechselte und ein genießerisches Lächeln huschte über Bens Gesicht und er lümmelte sich gemütlich in seinen Sitz.
    „Und lerne ich die junge Dame, die dir den Schlaf geraubt hat, auch mal kennen?“
    „Hm, nee, das wird wohl nichts. Sie ist heute Morgen um vier Uhr wieder weiter geflogen.“
    „Wie weiter?“
    „Sie ist Stewardess. War halt ein schönes langes Wochenende und ein One-Night-Stand mehr nicht.“
    „Oh man Ben, schaffst du es einmal, dass bei dir eine Beziehung mal länger als einen Abend oder ein Wochenende dauert?“ lästerte Semir.
    Er hatte die Worte noch richtig ausgesprochen, da hätte er sich sich selbst schon ohrfeigen können. Ein trauriger Ausdruck huschte über das Gesicht seines jungen Partners. Die Geschichte mit Laura lag schon länger als ein Jahr zurück. Und trotzdem, die Wunde, die der Verlust von Laura in seinem Herzen und seiner Seele hinterlassen hatte, schien für einen Außenstehenden geheilt, aber er kannte ihn besser, für ihn waren die vorhandenen Narben unübersehbar.
    „Da vorne ist ein Parkplatz“, nuschelte Ben in seinen Kaffeebecher und im selben Augenblick hatte auch Semir das Hinweisschild erblickt.
    „Haben der Herr besondere Wünsche bezüglich des Sitzplatzes?“, versuchte er die Stimmung aufzulockern.
    „Ja klar, schön sonnig, mit Liegestuhl ähm…“, kam lachend von Ben zurück.
    Es war einer dieser alten Rastplätze an der Autobahn, der durch Hecken und Bäume eingewachsen war. Mehrere Steintische mit Holzbänken waren wie geschaffen dafür, um dort eine Rast einzulegen. Der erste Tisch lag im warmen Licht der morgendlichen Sonnenstrahlen und lud förmlich dazu ein, das Frühstück zu verzehren. Dort machten es sich die beiden erst Mal gemütlich und Ben verzehrte hungrig seine belegten Brötchen. Sein älterer Kollege trank einfach nur seinen Kaffee und bekam von Ben tatsächlich zum Schluss noch einen Muffin ab. Die beiden Polizisten waren die einzigen Besucher des Parkplatzes zu so früher Stunde.


    Außer dem gedämpften Lärm der vorbeifahrenden Autos und LKWs herrschte auf dem Parkplatz eine wohltuende Ruhe, die plötzlich jäh unterbrochen wurde. Ein schwarzer Audi TT fuhr mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit auf den Rastplatz ein und zog mit seiner sehr sportlichen Fahrweise die Aufmerksamkeit des Deutsch-Türken auf sich.

  • „Eh, das gibt es doch nicht. So fährt man doch auf keinen Parkplatz ein. Das ist doch Verkehrsgefährdung!“, machte der Türke auch gleich seinem Unmut Luft. Von seinem Sitzplatz aus konnte Semir den Audi sehr gut beobachten.


    Die Fahrertür öffnete sich und zu seiner Überraschung stieg ein recht junger Mann aus. Semir konnte nicht sagen was es war, aber irgendetwas störte den erfahrenen Kommissar an dem jungen Fahrer. War es seine alte abgetragene Kleidung, die so überhaupt nicht zu einem Besitzer eines solchen teuren Sportwagens passte oder war es sein Verhalten. Er vermochte es einfach nicht zu sagen, warum sich sein warnendes Bauchgefühl regte.


    Der Fahrer des schwarzen Audi TTs drehte den beiden Autobahnpolizisten den Rücken zu, stützte sich mit einer Hand auf die Fahrertür mit der anderen auf das Dach des Audis und schien ein sehr energisches Wortgefecht mit einer weiteren Person zu führen, die noch im Auto saß. Immer wieder gestikulierte er mit den Händen und schüttelte heftig den Kopf. Dabei flogen seine schulterlangen dunklen Haare wie wild umher.


    „Dreh dich mal und schau dir das an!“ forderte er Ben auf, in Richtung der Ausfahrt des Rastplatzes zu schauen.
    Ben fühlte sich beim Essen gestört und brummte missmutig mit vollem Mund zurück, dabei warf er einen kurzen Blick über die Schulter.
    „Was soll da sein? Was geht uns das an? Wahrscheinlich wird der Typ von einer reichen älteren Frau ausgehalten und die beiden streiten sich. Lass die doch einfach in Ruhe!“
    „Sorry Partner, mein Bauchgefühl sagt mir, irgendetwas ist da drüben faul. Der Typ passt überhaupt nicht zu einem solchen Auto. Wer weiß, vielleicht hat er das Auto gestohlen? Das schaue ich mir mal näher an. So eine kleine Personenkontrolle kann nicht schaden. Lass schon mal von Susanne das Kennzeichen überprüfen!“
    „Ach Semir komm, kann man nicht mal in Ruhe zu Ende frühstücken! Muss das sein!“, maulte Ben seinen Partner an.
    „Hallo Kollege riskiere mal einen Blick auf deine Uhr … wir sind seit 10 Minuten im Dienst!“ Beim Aufstehen schaute der Türke demonstrativ auf seine Armbanduhr und setzte sich in Richtung des auffälligen Fahrzeugs in Bewegung.


    „Ok! Ich bin ja gleich fertig!“ gab sich Ben geschlagen. Dabei brummte er lautlos einige Worte vor sich hin, die seinen Unmut deutlich machten und verzog dabei sein Gesicht zu Grimassen. „… Wie der Herr wünschen … bla … bla .. bla … sind doch nur noch zwei Bissen und ein letzter Schluck Kaffee“ Laut und deutlich hörbar für seinen Partner rief Ben ihm zu: „Geh schon mal vor ich komme gleich nach. Vorher setze ich den Funkspruch an die Zentrale ab. Wie hätte es der Herr denn gerne? Wie soll ich denn folgen? … Mit dem Auto oder zu Fuß?“
    Kopfschüttelnd ging der Deutsch-Türke weiter auf das verdächtige Fahrzeug zu. Seine Annäherung blieb nicht unbemerkt. Als er die ersten Wortfetzen des Streitgesprächs erhaschen konnte, kam eine weibliche, befehlende Stimme aus dem Innern des Audis.
    „Steig ein! Sofort! Da kommt jemand!“ Der junge Fahrer kam augenblicklich der Aufforderung nach, stieg ein und schlug Semir buchstäblich die Autotür vor der Nase zu.


    Der Kommissar hatte in diesem Augenblick das Heck des Fahrzeugs erreicht und versuchte durch die getönten Scheiben im Innenraum etwas zu erkennen. Der erfahrene Polizist war sich sicher, die Umrisse eines Gewehrkoffers auf der Rücksitzbank erkannt zu haben. Einen Schritt weiter, war er auf Höhe der Fahrertür angekommen, klopfte mit der Linken an die Scheibe und zog gleichzeitig mit seiner anderen Hand seinen Dienstausweis aus der Hosentasche.


    „Öffnen Sie mal das Fenster!“ forderte er den dunkelhaarigen Mann hinter dem Steuer auf. Der warf einen Blick auf den Polizeiausweis. Seine Beifahrerin entzog sich geschickt Semirs Blicken. Fast unbemerkt gab sie dem Fahrer des Audis ein Zeichen und der drückte augenblicklich das Gaspedal durch und fuhr wie von der Tarantel gestochen mit durchdrehenden Reifen los. In letzter Sekunde konnte sich der Polizist mit einem Sprung nach hinten in Sicherheit bringen.


    „Du verdammtes Arschloch!“ entfuhr es Semir wütend.
    Im Vollsprint rannte er zu seinem BMW zurück. Ben, der die Szene aus der Ferne beobachtet hatte, saß bereits auf dem Beifahrersitz und setzte einen Funkspruch ab.
    „Cobra 11 für Zentrale!“
    „Guten Morgen Jungs, na schon startbereit? Was kann ich für Euch tun?“ erklang die Stimme einer gut gelaunten Susanne aus dem Lautsprecher.
    „Guten Morgen Susanne, wir sind schon wieder mitten bei der Arbeit. Wir befinden uns auf der A3, Höhe Parkplatz Reusrather Heide in Richtung Düsseldorf bei Kilometer 356 und verfolgen einen verdächtigen schwarzen Audi TT mit dem amtlichen Kennzeichen K-LM 321. Kannst du den Halter mal abfragen, Susanne?“
    „Mach ich Ben! Braucht Ihr Verstärkung?“
    „Ja schick mal die Kavallerie zur Unterstützung mit raus, die sollen sich beeilen! Cobra 11, Ende!“


    Trotz Blaulicht und Sirene musste der erfahrene Autobahnpolizist sein ganzes fahrerisches Können aufbieten, während er sich durch den dichten Verkehr quälte, um den Audi wieder einzuholen. Sein Beifahrer hing ein ums andere Mal in seinem Sicherheitsgurt und fing an, über den Fahrstil seines türkischen Kollegen zu meckern.
    „Mensch Semir, kannst du nicht ein bisschen sanfter fahren? Ich habe gerade gefrühstückt. Das Auto und mein Magen werden es dir ewig danken. Oh, man! Oder willst du, dass es mir gleich schlecht wird?“
    „Sorry Partner, dann stopfe das nächste Mal nicht wieder so viel auf einmal in dich rein!“ bekam er gleich die Retourkutsche von dem Deutsch Türken.
    „Eh! Da vorne! Auf Höhe des Lasters mit der grünen Plane, auf der Überholspur, da ist der schwarze Audi, Semir! Na los, gib dem Pferdchen mal die Sporen!“, spornte Ben seinen Partner an, alles, was der Motor des BMW hergab, rauszuholen.
    Sofort war alles andere vergessen und die Aufmerksamkeit der beiden Polizisten galt einzig und allein dem flüchtigen Fahrzeug und dem Verkehr. Der Fahrer fuhr rücksichtslos und benutzte dabei alle vorhandenen Fahrspuren der Autobahn. Überholte rechts … über die Standspur … schnitt den einen oder anderen Fahrer, die dieses rüde Verhalten mit einem wüsten Hupkonzert quittierten… es war nur eine Frage der Zeit, bis es zu einem Unfall kommen würde.
    „Achtung Semir!“, brüllte Ben los und hielt sich am Haltegriff über der Beifahrertür fest.

  • Blaulicht, Sirene und Lichthupe ignorierend, scherte direkt vor dem silbernen BMW der Polizisten ein weißer Ford Fiesta hinter einem LKW von der Mittelspur auf die Überholspur aus. Ohne groß zu beschleunigen, fuhr der Fiesta-Fahrer an dem Laster mit Hänger vorbei, der seinerseits einen deutlich langsameren Laster überholte.
    „Verdammte Blindschleiche!“, fluchte Semir und legte reaktionsschnell eine Vollbremsung hin, fing das schleudernde Auto ab und verhinderte durch ein geschicktes Ausweichen einen Unfall.


    „Du Vollpfosten!“, brüllte Ben lautstark los „In den Rückspiegel schauen hilft!“ Wild gestikulierte er mit seinen Armen in Richtung des unaufmerksamen Fahrers, als der BMW auf der Überholspur an ihm vorbeifuhr und wieder die Verfolgung des Audi TT aufnahm. Bens Blick richtete sich wieder nach vorne in Richtung des schwarzen Sportwagens und sah dort, dass sich die nächste Katastrophe anbahnte.
    „Der hat doch nicht mehr alle Tassen im Schrank, so wie der fährt. Der Kerl ist verrückt … Oh verdammt, das geht nicht gut! …. Pass auf Semir! … Mensch gleich kracht es!“


    Ben hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als der Audi einen Opel Astra am Heck touchierte. Dessen Fahrer verriss das Lenkrad. Das Auto begann quer über die Fahrbahn zu schlingern, drehte sich mehrmals um die eigene Achse, schleuderte in die Mittelleitplanke, wieder zurück und traf frontal einen voll besetzten Reisebus. Der Fahrer des Busses erkannte die gefährliche Situation und versuchte eine Kollision mit dem Opel Astra zu vermeiden, aber er erreichte mit seinem Ausweichmanöver genau das Gegenteil. Ungewollt quetschte er den blauen Opel zwischen seiner Frontpartie und der Leitplanke ein. Darüber hinaus blieb der Bus quer als Hindernis über die linke und mittlere Fahrbahn stehen. Eines der nachfolgenden Fahrzeuge konnte nicht mehr rechtzeitig anhalten und krachte fast ungebremst in das Heck des Busses hinein. Dies löste eine Kettenreaktion aus. Andere Fahrer reagierten ebenfalls viel zu spät und es kam zu einer Massenkarambolage.


    Dank seines fahrerischen Könnens gelang es Semir hinter dem Heck des Busses über die Standspur und dem Grünstreifen ausweichen. Der Fahrer des Audis hatte durch den Zusammenstoß mit dem Opel ebenfalls die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren und war frontal in die Mittelleitplanke gekracht. Etliche Autofahrer hatten rechts auf der Standspur angehalten, waren ausgestiegen und rannten auf die Unfallstelle zu, um Erste Hilfe zu leisten. Die Passagiere des Reisebusses quollen aus den Türen heraus und fingen an wild zu diskutieren. Die ersten zogen ihre Smartphones aus den Taschen und begannen zu filmen oder Fotos zu machen. Auf den ersten Blick waren die meisten Unfallbeteiligten mit dem Schrecken davongekommen oder hatten nur leichte Blessuren davongetragen.


    Die beiden Polizisten sprangen aus dem BMW, entsicherten ihre Waffen und hasteten in Richtung des Audi TT. Die Beifahrertür stand offen und auch der Fahrer hatte das beschädigte Auto verlassen.


    „Verdammt, die Vögel sind ausgeflogen!“, brüllte Ben wütend. „Wo sind die Kerle hin Semir? Siehst du sie?“ Im Gegensatz zu seinem Kollegen hatte der dunkelhaarige Polizist den verdächtigen Fahrer nicht aus der Nähe sehen können. Angespannt musterte er die Menschen, die sich am Unfallort aufhielten, ob sich jemand durch sein Verhalten verdächtig machte. Fast erleichtert nahm er den Ausruf seines Partners wahr.


    „Da drüber ist der Kerl, Ben!“ Dieser hatte den Fahrer des Audis inzwischen entdeckt und deutete mit seinem ausgestreckten Arm auf einen dunkelhaarigen Mann. Der Flüchtige taumelte ein bisschen benommen, hielt sich an der Fahrertür eines anderen Unfallbeteiligten fest. Der Blick des Flüchtigen ruhte ebenfalls auf den Personen, die zwischen den anderen Unfallfahrzeugen teilweise orientierungslos umherirrten. Semir kam es so vor, als würde der Unfallverursacher jemanden suchen.


    „Halt! … Stehenbleiben!“, forderte der Ältere der beiden Kommissare den Verdächtigen auf, doch dieser dachte gar nicht daran sich zu ergeben, sondern suchte sein Heil in der Flucht. Er stürmte auf die anderen Betroffenen des Unfalls zu, in der Hoffnung, dass die Polizisten nicht auf ihn schießen würden, um keine Unbeteiligten zu verletzen.


    „Der gehört mir Ben! … Kümmere dich um den Rest hier!“ Mit diesen Worten nahm Semir die Verfolgung des Flüchtigen auf. Dessen Ziel war eines der Fahrzeuge, das abfahrbereit am Straßenrand stand. Die Fahrerin des blauen VW Passats wollte mit einem Erste Hilfe Koffer bepackt, den Verletzten augenscheinlich zu Hilfe eilen. Der Türke sprintete hinter dem jungen Mann hinter her. Der Flüchtige rempelte die junge Frau an und wollte ihr den Autoschlüssel entreißen. In dem Moment hatte ihn der Autobahnpolizist eingeholt und brachte ihn mit einem Hechtsprung zu Fall. Doch der Typ war gewandter wie eine Katze und entzog sich geschickt dem Griff des Polizisten. Der Dunkelhaarige trat dabei wie wild um sich und traf seinen Verfolger. Für einen Augenblick schüttelte Semir benommen den Kopf, um den Schwindel zu vertreiben, bevor er wild vor sich hin fluchend, erneut die Verfolgung des Unfallverursachers aufnahm. Der Flüchtige peilte ein neues Ziel an, die Anhöhe oberhalb des Seitenstreifens der Autobahn. Daran grenzte ein Waldstück an. Wahrscheinlich hoffte er, durch das Dickicht des Waldes seinem Verfolger besser entkommen zu können. Beim Versuch den Wildschutzzaun zu überklettern, blieb er hängen und kam erneut zu Fall, rappelte sich hoch und rannte weiter. Jetzt schlug die Stunde des Autobahnpolizisten. Durch den Sturz war der Vorsprung des Flüchtigen dahingeschmolzen und Semir bekam sein schwarzes T-Shirt zu fassen und konnte ihn endgültig stellen.


    „So Freundchen, keine Gnade mehr! Versuch es gar nicht erst noch mal!“ warnte er den jungen Mann, der krampfhaft versuchte, sich aus dem eisenharten Griff des Polizisten zu befreien. In Sekundenschnelle waren seine Hände mit Handschellen auf den Rücken gefesselt und seine Gegenwehr erstarb. Seine blauen Augen funkelten Semir hasserfüllt an.


    „Und jetzt, mein Freund, schuldest du mir einige Erklärungen für deinen rasanten Fahrstil. Du bist erst mal festgenommen!“

  • Der Unfallverursacher verzog keine Miene, als Semir ihn nicht gerade zartfühlend, vor sich her schob. Kein Ton kam über dessen Lippen. Von seiner Position auf der Anhöhe oberhalb der Autobahn konnte der Türke das ganze Ausmaß der Massenkarambolage überblicken. Der Reisebus … drei LKWs und ein dutzend Autos waren ineinander gekracht … unzählige Leute rannten hilflos zwischen den Fahrzeugen hin und her … Ben telefonierte und aus der Ferne hörte man die Martinshörner der herannahenden Rettungsdienste, Feuerwehr und der alarmierten Kollegen. Na super, dachte er bei sich, das gibt wieder einen Einlauf von der Krüger. Die Autobahn würde wieder über Stunden gesperrt sein, bis das Chaos beseitigt ist. Ok, diesmal hatte wenigstens der BMW die Verfolgungsjagd ohne Schaden überstanden, dachte er bei sich sarkastisch. Während der Türke zusammen mit dem Verhafteten weiter in Richtung seines Kollegen ging, schien der junge Mann mit seinen Blicken erneut die Gegend abzusuchen. Dem aufmerksamen Polizisten war dies nicht entgangen, und er vermutete sofort, dass er nach der Beifahrerin Ausschau hielt.
    Auch Ben kam ihnen entgegen und am Fahrbahnrand am Heck des BMWs trafen sie sich.


    „Ist eine Riesenschweinerei hier Semir. Gut, das du den Kerl bekommen hast.“ Bevor Semir eingreifen konnte, hatte Ben den Verdächtigen am Halsausschnitt seines T-Shirts gepackt und leicht zu sich herangezogen. „Dafür gehst du ein paar Jahre in den Knast mein Freund, das verspreche ich dir!“, fauchte der dunkelhaarige Polizist total wütend den Verdächtigen an. Deutlich hörbar entwich die Atemluft zwischen seinen Zähnen. Semir war verwundert. Selten hatte er in ihrer bisherigen Zusammenarbeit solch einen emotionalen Ausbruch seines Partners gegenüber einem Verdächtigen erlebt. Er wollte ihn schon ermahnen, doch da ließ Ben das Shirt los und trat einen Schritt zurück. „Du bist es gar nicht wert, dass ich mir die Finger dreckig mache!“ Der Blick aus seinen dunklen Augen, den er dem Schuldigen zuwarf, schien diesen förmlich zu zermalmen. Semir war klar, hier musste mehr passiert sein, als ein bisschen Blechschaden und ein paar Leichtverletzte. Auf seinen fragenden Blick hin fuhr Ben mit seinen Erklärungen fort. „Da vorne ist eine junge Mutter mit ihrem Kleinkind gestorben, gleich das erste Auto, das der Typ mit seinem Audi angeschoben hat und das daraufhin in die Frontpartie des Busses gekracht ist … und weiter hinten … unter dem Heck … der Astra …“ Ben schüttelte sich „Man sieht nichts mehr vom Fahrer … nur ein verformtes Blechknäuel … ich weiß nicht …“ Er deutete auf das Ende der Karambolage und biss sich auf die Oberlippe. „Ein LKW konnte zu spät bremsen und hat einen Renault Twingo unter sich begraben! Ich …. !“ Erschüttert wandte er sich ab, um weiter Hilfe zu leisten. Ben war sich nicht sicher, ob er nicht doch noch seine Selbstbeherrschung verlieren würde, da der Unfallverursacher bei seinem Bericht einen spöttischen Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte.
    Semir verfrachtete den Verdächtigen auf die Rücksitzbank seines Dienstwagens. „Werner!“, rief er einem Kollegen vom Streifendienst zu, der mit weiteren Kollegen der PAST am Unfallort eingetroffen war, „Du begleitest mich. Wir bringen unseren stummen Fisch zur Dienststelle!“ Er schlug die Autotür zu und wandte sich in Richtung seines Partners: „Ben? … Bleibst du hier und hilfst den Kollegen bei den Zeugenaussagen? Schau mal, ob du eine Spur von seiner Begleiterin findest! Vielleicht hat ja einer der Zeugen was gesehen und kann uns eine Beschreibung von ihr liefern. Oder einer dieser Möchte-Gern-Kamera-Leute hat was aufgenommen!“ Dabei deutete er auf eine Gruppe Jugendlicher, die trotz Aufforderung ihre Handys wegzustecken, eifrig weiter filmten. Sein Partner nickte zustimmend und verabschiedete sich, „Ich lass den Audi in die KTU bringen und komme so bald wie möglich mit einem der Kollegen nach!“


    *****
    Auf der Dienststelle wurden Semir und der Unfallverursacher bereits von Frau Krüger erwartet. Mit verschränkten Armen stand sie vor Susannes Schreibtisch. Ihre eiserne Miene sprach Bände.


    „Ist das der junge Mann, der für die Massenkarambolage auf der A3 verantwortlich ist?“
    Semir, der den gefesselten Mann vor sich her schob, nickte zustimmend. Die Chefin stellte sich vor dem Mann hin und musterte ihn mit ihrem tödlichen Blick. „Gut! Die Staatsanwaltschaft hat sich schon bei mir gemeldet. Das Kennzeichen des Audi TT ist gefälscht. Da hier akute Fluchtgefahr besteht und auf Grund der Unfalltoten wird er auf Anordnung der Staatsanwaltschaft erst mal in Untersuchungshaft genommen. Kümmern Sie sich um die erkennungsdienstlichen Maßnahmen, Herr Gerkan!“, ordnete sie an. „Sobald seine Identität bekannt ist, kümmert sich Frau Schrankmann um den Haftbefehl!“


    „Der Kerl war während der Fahrt stumm wie ein Fisch Frau Krüger. Kein Plan, wer er ist! Er hatte keine Papiere bei sich. Keinen Ausweis, keinen Führerschein, keine Fahrzeugpapiere. Einfach nichts. Außerdem denkt er wohl, dass er hier den harten Mann spielen kann!“, klärte Semir seine Chefin auf.


    „Die Vernehmung übernehme ich selbst!“, zischte sie.


    Der junge Verdächtigte wurde in ein Vernehmungszimmer geführt. Hier nahm ihm Semir höchstpersönlich die Fingerabdrücke ab. Nach wie vor zog es der Mann vor, sich in Schweigen zu hüllen. Seine Mimik hatte sich verändert. Er hatte ein Pokerface aufgesetzt, aus dem sich keine Reaktion auf den verursachten Unfall mehr lesen ließ. Der Kommissar studierte sein Gegenüber … eigentlich wirkte er wie ein normaler junger Mann, nichts Besonderes … nichts Auffälliges … einfach nur Durchschnitt. Anfang 20 … sportliche Figur … mittelgroß … so ein Typ wie du und ich. Er ließ den Unfallverursacher alleine im Verhörraum zurück. Ein bisschen Psycho-Krieg spielen, dachte er, vielleicht war es so leichter an ihn ran zu kommen, von ihm eine Aussage zu bekommen. Ohne Grund fährt ja schließlich niemand mit einem gefälschten Kennzeichen durch die Gegend. Auf dem Weg zu Susannes Schreibtisch kam ihm Frau Krüger im Flur entgegen, die mit dem Verhör beginnen wollte. Wortlos ging sie an ihm vorbei.


    „Jag die Fingerabdrücke gleich mal durch den Computer Susanne und schau mal nach, ob du was über unseren Freund findest. Falls ja, Frau Krüger wartet drauf. Sie ist momentan im Verhörzimmer und befragt den Verdächtigen. Und sag Hartmut Bescheid, dass er sich den schwarzen Audi dringend anschauen soll.“


    Der Hauptkommissar kehrte zurück und wohnte der Vernehmung als stiller Beobachter von außen bei. Über ein Fenster konnte er direkt in den Raum blicken und hörte über eine Gegensprechanlage, was gesprochen wurde. Der Unfallverursacher zeigte nach wie vor keine Regung … keine Antwort … nichts ließ einen Außenstehenden erahnen, was in seinem Innern vorging. Er verlangte noch nicht mal einen Anwalt zu sprechen. Stocksteif saß er auf seinem Stuhl, starrte einen imaginären Punkt an der gegenüberliegenden Wand an und hielt demonstrativ die Arme vor seiner Brust verschränkt.

  • Die Fragen von Frau Krüger prasselten auf den Unfallverursacher ein. „Ihren Namen? … Wo wohnen Sie? … Wer saß mit ihnen im Auto? … Wieso sind sie geflüchtet?“ Ihre Blicke schienen ihn förmlich zu durchbohren. Doch der Verdächtigte schaute stoisch auf die Tischplatte vor sich. Zwischendurch setzte er sich ein wenig bequemer hin und ließ sich durch nichts aus der Ruhe bringen.


    „Ok, ich kann auch anders. Ihnen ist doch klar, dass Sie für den von ihnen verursachten Unfall einige Zeit in den Knast gehen! Das war fahrlässige Tötung, da gibt es keine Bewährungsstrafe!“, versuchte sie ihn weiter einzuschüchtern. Ihre Worte wurden immer energischer. Sie stütze ihre Hände auf die Tischplatte vor dem Verdächtigen und fauchte ihn wütend an: „Ich rede mit Ihnen! Schauen sie mich gefälligst an!“ Der Unbekannte hob den Kopf, schaute Frau Krüger in die Augen und senkte ihn wieder. Völlig gelangweilt begann er sich die Fingernägel zu putzen. Ihre Fragen prallten an ihn ab. Wütend umkreiste sie ihn wie ein Raubtier seine Beute. Nichts, absolut nichts brachte ihren Gegner aus der Fassung, egal welche Verhörmethode die Krüger auch anwandte.
    Für Semir, der das Verhör nach wie vor beobachtete, war es ein bisschen unheimlich, wie abgebrüht und kaltschnäuzig der Unbekannte war. Die Chefin der PAST biss sich an dem Gefangenen sprichwörtlich die Zähne aus.


    „Ich habe da was über euren Freund da drinnen!“, erklang Susannes Stimme von hinten. Semir wandte sich ihr zu und warf einen flüchtigen Blick auf die Computerausdrucke.
    „Warte, ich hole Frau Krüger gleich dazu. Ich glaube, die kann dringend ein wenig Munition gebrauchen. Ihre Waffen sind im Verhör bisher recht stumpf geblieben.“


    Semir klopfte an die Tür des Vernehmungszimmers, öffnete diese und gab durch ein Zeichen Frau Krüger zu verstehen, dass sie vor die Tür kommen sollte. Gemeinsam mit Semir hörte sie aufmerksam Susannes Ausführungen zu.


    „Der junge Mann heißt Nicolas Schneider und ist seit mehreren Jahren aktenkundig. Er ist mittlerweile 24 Jahre alt und hat in seiner Kindheit und Jugend in verschiedenen Pflegefamilien im Großraum Köln gelebt. Bis er dann mit 16 Jahren in ein Heim kam und dort endgültig auf die schiefe Bahn geriet. Die Schule hat er abgebrochen, scheint aber trotzdem ein recht helles Bürschchen zu sein. Er hatte die Zeit zwischen seinem 17. bis 20. Lebensjahr im Jugendknast wegen verschiedener Delikte verbracht. Diebstahl, Körperverletzung, illegale Autorennen, kleinere Betrügereien, nichts Besonderes. Seit er damals entlassen wurde, war er nicht mehr auffällig gewesen, bis heute. Übrigens, was noch interessant ist. Es gibt keinen Eintrag ins Melderegister der Stadt Köln … keine Steuererklärung ... Keine Ahnung wo er sich die letzten drei Jahre aufgehalten hat, von was er gelebt hat, was er gemacht hat, es gibt nichts.“


    „Ok, dann warten wir mal ab, was Hartmut noch im Auto des Verdächtigen findet. Vielleicht haben wir dann einen Hinweis, warum er vor ihnen geflüchtet ist, Herr Gerkan! Bonrath, schnappen Sie sich einen Kollegen und bringen Sie den Gefangenen in die JVA Ossendorf! Und Sie Herr Gerkan, schreiben mir bis heute Abend ihre Berichte! Frau Schrankmann übernimmt selbst die Anklagevertretung, wenn er morgen dem Haftrichter vorgeführt wird.“
    „Wollen Sie ihn nicht mal befragen, Frau Krüger, nachdem wir jetzt wissen wer er ist?“, erkundigte sich der Türke.
    „Sie haben ihn doch die ganze Zeit beobachtet oder? Glauben Sie wirklich, dass der irgendwas aussagt?“
    Semir schüttelte den Kopf als Antwort.
    „Also los Herr Bonrath, schaffen Sie mir den Kerl aus den Augen!“


    Als hochgewachsene Polizist und eine weitere Kollege zusammen mit dem Gefangenen die PAST verließen, kam Ben zur Eingangstür herein. Der dunkelhaarige Polizist war gezeichnet von dem, was er in den letzten Stunden gesehen und erlebt hatte. Seine Kleidung war mit eingetrockneten Blutflecken überzogen. „Du siehst aus wie eine wandelnde Leiche, Ben!“, sagte Dieter Bonrath, als der an seinem jüngeren Kollegen vorbei ging. „Trink erst einmal einen Kaffee und gehe dich duschen! Das hilft vielleicht!“
    „Heute könnte ich etwas Stärkeres vertragen!“, murmelte Ben zurück.


    „Und wie sieht es da draußen aus Herr Jäger?“, wurde er gleich von der Krüger abgefangen. „Wurde die Vollsperrung mittlerweile aufgehoben?“
    Ben seufzte abgrundtief auf und fuhr sich mit seinen Händen über das Gesicht, bevor er mit seinem Bericht begann. „Da draußen sieht es aus wie auf einem Schlachtfeld. Es gab insgesamt drei Tote.“ Er deutete mit Geste in Richtung des abfahrenden Porsches von Bonrath und schüttelte dabei kurz den Kopf, als könne diese Bewegung die Bilder aus seiner Erinnerung verscheuchen und fuhr fort. „Zehn weitere Personen sind schwer verletzt, ob zwei davon überleben?“ Er zuckte mit den Schultern und sein blasses Gesicht wurde noch um einige Nuancen bleicher. „Keine Ahnung! Laut den Aussagen des Rettungsdienstes werden die nächsten Stunden entscheiden! … Ansonsten viele Leichtverletzte … der Sachschaden … keine Vorstellung davon … sechsstellig. … Auf jeden Fall wird noch Stunden dauern, bis die Autobahn endgültig geräumt ist und alle Fahrspuren wieder frei sind. Die Feuerwehr hofft, dass sie es bis zum einsetzenden Berufsverkehr am Abend schafft. Frau Krüger, das war ein Inferno! Es wird auch noch dauern, bis der Audi in die KTU kommt. Übrigens Semir, auf der Rücksitzbank war kein Gewehrkoffer mehr oder er ist weg“, beendete Ben seinen vorläufigen Bericht. Er stand mit hängenden Schultern da, mehrfach fuhr er sich mit den Händen durch seine verstrubbelten Haare, die nach allen Seiten abstanden.
    „Brauchbare Zeugenaussagen Herr Jäger?“
    Der Dunkelhaarige lachte ironisch auf. „Fragen sie hundert Leute und sie erhalten hundert verschiedene Meinungen. Der Busfahrer behauptet sogar, eine Frau habe den Audi gefahren. Zumindest ist er sich sicher, dass eine Frau von dem Fahrzeug weggerannt ist. Nur in einem sind sich die meisten Zeugen einig. Der Unfallverursacher war der Audi TT … Aber außer Semir kann niemand den Fahrer des Audis eindeutig identifizieren!“
    „Es hilft nichts! Genau aus diesem Grund brauche ich ihre Berichte und Aussagen vor Dienstende meine Herren! Die Staatsanwaltschaft wartet darauf. Also ran die Arbeit! Anschließend können sie gerne nach Feierabend machen.“


    In diesem Moment dachte Ben nur, ist sie wirklich so gefühlskalt oder ist das ihr Schutzmechanismus. Mit einem Stöhnen tapste er hinter Semir her ins gemeinsame Büro. Den Rest des Tages verbrachten die beiden Kommissare recht schweigsam mit Berichte schreiben.
    Semir warf seinen Kugelschreiber auf die Schreibtischplatte und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Geschafft! … Ich bin fertig, wie sieht es bei dir aus Partner?“ Ben blickte von seinem Schreibtisch hoch, schüttelte den Kopf und brummte unwillig vor sich hin. „Gleich … gib mir noch ein paar Minuten. Du könntest uns ja zwischenzeitlich noch einen Kaffee holen?“, meinte er mit einen schelmischen Grinsen und konzentrierte sich wieder auf seine Finger, die emsig auf der Tastatur rumhämmerten. Als Semir mit zwei Tassen dampfenden Kaffee zurückkam, streckte und dehnte sich sein Partner in seinem Stuhl. Die Finger hatte er dabei hinter seinem Hinterkopf verschränkt. Der Türke reichte eine Tasse weiter und fragte seinen Freund: „Hast du heute Abend schon was vor, Ben?“
    „Nein, warum?“
    „Ich habe vorhin mit Andrea gesprochen und ihr erzählt, was auf der Autobahn passiert ist. Sie meinte, ein bisschen Ablenkung würde uns wohl gut tun. Du sollst zum Abendessen vorbeikommen, so gegen 19.00 h. Naja, nichts Großes. Ich heize den Grill an und sie kocht uns was Leckeres dazu. Was hältst du davon?“
    „Zum Abendessen? Klar komme ich. Irgendwas mitbringen?“ war die Gegenfrage.

  • Zu Hause bei Semir …


    Ben parkte seinen Mercedes in der Auffahrt zur Garage der Gerkans und klingelte. Ein Blick auf seine Armbanduhr entlockte ihm ein Schmunzeln. Ausnahmsweise hatte er es mal geschafft pünktlich zu sein. Von draußen konnte er Aidas fröhliche Stimme hören.
    „Ich mach auf, das ist Ben!“
    Wie ein Wirbelwind fegte sie vom Garten über die Terrasse ins Haus und rannte zur Haustür. Kaum hatte sie diese einen Spaltbreit geöffnet, hüpfte sie voller Begeisterung an Ben hoch. Ihr freudiges „Beeeeeennn!“, hallte durch das Erdgeschoss. Nach der stürmischen Begrüßung ließ der Dunkelhaarige das Mädchen wieder zurück auf den Boden gleiten.
    „Boah, du wirst langsam zu schwer und zu groß dafür, Aida!“, ächzte er mit einem Lachen im Gesicht.
    Sie grinste ihn schelmisch an und zog ihn am Arm ins Haus hinein.
    „Das Essen dauert noch ein bisschen hat Mama gesagt. Kommst du mit mir in den Garten spielen?“


    Der Weg der beiden führte an der Küche vorbei, wo Andrea mit der Zubereitung der Beilagen für das Abendessen beschäftigt war. Der Duft von gedünstetem Gemüse, ein Hauch von Zwiebeln, Knoblauch und Tomaten und einer würzigen Soße lag in der Luft.
    „Hallo Andrea, hmm das sieht nicht nur lecker aus, das riecht verführerisch!“ Deutlich hörbar sog er die Luft in seine Nase und versuchte beim Vorbeigehen an der Küchentheke vom bereitgestellten Nudelsalat zu naschen.
    „Ben, Finger raus!“, ermahnte ihn Andrea, die seine Absicht erahnte. Sie reichte ihm einen Löffel und einen kleinen Teller. Ohne zu zögern, schöpfte sich der Dunkelhaarige eine Ladung Salat auf den Teller und stopfte sich einen üppig beladen Löffel mit Nudelsalat in den Mund.
    „Hmmm … Lecker! Du bist die beste Köchin der Welt!“ Kauend blickte er sich suchend im kombinierten Wohn-Essbereich um. "Wo ist denn der Herr des Hauses? Und Lilly? … Wo ist mein kleiner Sonnenschein?“
    „Oh, danke, du Charmeur! … Der Herr ist im Garten und heizt den Grill an … !“
    Nun sah Ben auch seinen Partner, der eifrig bemüht war, mit einem Blasebalg die Glut im Grill anzufeuern. „Oh, oh! Ich sehe schon, das wird was Größeres!“, und fing an zu lachen.
    „Gut erkannt! … Sprich es dauert noch ein wenig mit Essen bis unser Grillmeister das Fleisch serviert. … Und Lilly ist bei meinen Eltern.“
    Ben stellte den leer gegessenen Teller auf die Anrichte zurück und begab sich lachend mit seiner kleinen Freundin an der Hand in den Garten. Von dort beobachtete weiter seinen Partner und konnte sich den einen oder anderen Kommentar über Semirs Grillkünste nicht verkneifen. Feixend ging er in Deckung, als der Türke mehrere Grillbriketts nach ihm warf.


    Immer wieder warf Andrea einen Blick durch das Küchenfenster in den Garten. Ein Schmunzeln lag auf ihrem Gesicht, als sie beobachtete, wie Ben und Aida zusammen spielten und rumtobten. Nachdem das Fleisch auf den Rost lag und der Geruch von gegrilltem Fleisch breitete sich aus, kam Semir in die Küche, um für sich und Ben ein Bier zu holen. Lachte Andrea über ihn? Er warf ihr einen fragenden Blick zu, den seine Frau auch gleich verstand.
    „Irgendwie ist doch Ben ein kleiner großer Junge geblieben, wenn man ihn so sieht oder nicht … Aida liebt es mit ihm zu spielen. Du, ich habe Ben schon lange nicht mehr so ausgelassen lachen gehört Semir!“ Der nickte zustimmend, hauchte seiner Frau einen sanften Kuss auf die Lippen. Vergessen waren in diesem Moment die Sorgen des Alltags und die Ereignisse des Vormittags.


    Im Garten fragte Aida ihren Spielpartner, während sie mit einem Fuß gegen den Ball trat: „Bringst du mich später ins Bett Ben?“
    „Na klar!“, gab er als Antwort zurück und hechtete nach dem Fußball. Ben spielte den Torwart. Er stand zwischen zwei mannshohen Tannen, die das Tor markierten und Aida hatte ihre helle Freude daran ihn abzuschießen.
    „Und singst du mir was vor?“ Kam gleich die nächste Frage hinterher.
    „Natürlich Prinzessin! Für dich doch immer.“
    Ben dachte in diesem Moment daran, wie es wohl wäre, wenn er selbst mal Kinder haben würde. Seine Gedanken wurden durch Andreas Ruf „Essen ist fertig!“ unterbrochen. Beim Abendessen drehten sich die Gespräche um die kleinen Dinge des alltäglichen Lebens und es herrschte eine ausgelassene Stimmung. Zu Aidas Freude spielten die Erwachsenen anschließend ein bisschen UNO mit ihr, bis die mahnende Stimme ihrer Mutter erklang.
    „So kleines Fräulein, für dich wird es langsam Zeit ins Bett zu gehen! Du hast morgen Schule und musst früh raus!“
    „Ben, kommst du mit hoch? Du hast es verspochen? … Bitte!“, quengelte Aida gleich los.
    „Geh du erst mal ins Bad, wasche dich und putze dir die Zähne. Ben kommt hoch, wenn du mit Schlafanzug fix und fertig im Bett liegst. … Einverstanden!“, bestimmte Andrea. In Rekordzeit hatte sich Aida bettfertig gemacht und rief nach Ben. Unter dem Lächeln von Semir und Andrea flitzte er hoch ins Kinderzimmer. Die beiden lauschten nach oben als Bens wunderbare Stimme erklang. Er sang ihr einige ihrer Lieblingslieder aus Disney Filmen vor.
    Zum Schluss, als Aida schon fast nicht mehr wusste, wie sie die Augen für Müdigkeit offen halten sollte, fragte sie den jungen Mann, der auf der Bettkante saß: „Ben?“
    „Ja Aida.“ Erwartungsvoll blickte er das Mädchen an, was die junge Dame noch für eine Überraschung auf Lager hatte.
    „Du hast doch morgen frei? Oder?“ kam gleich hinterher.
    „Ja, ich habe morgen meinen freien Tag. Was hast du denn auf dem Herzen Prinzessin?“
    „Ich mag nicht mit Mami zu dem blöden Kaffeekränzchen gehen. Die Erwachsenen unterhalten sich nur über so blödes Zeugs. Keiner hat Zeit für mich, keiner spielt mit mir“, jammerte das Mädchen weiter. „Willst du nicht mit in den Zoo gehen oder noch besser ins Phantasia-Land? Ach bitte …. ! Du hast es schon so lange versprochen!“ Sie blickte Ben dabei so treuherzig aus ihren dunklen Augen an, zog den schönsten Schmollmund aller Zeiten, dass er nicht widersprechen konnte. Außerdem hatte er nur für den Nachmittag nur geplant, seine Wohnung aufzuräumen und die konnte warten.
    „Ok ich hole dich morgen Nachmittag nach den Hausaufgaben ab! … Versprochen!“
    Auf Aidas Gesicht ging die Sonne auf, so strahlte sie. „Oh ja super. Ich flitze gleich runter und erzähl es Mami.“
    „Nee, nee lass mal, dass mach ich schon. So und jetzt schlaf schön. Bis morgen Mittag.“


    Ben gab Aida noch einen Gute-Nacht-Kuss auf die Stirn, schaltete das Licht aus und ging zu Semir und Andrea runter ins Wohnzimmer. Ein Blick auf die Uhr zeigte ihm, dass er wieder mal sehr viel mehr Zeit im Kinderzimmer verbracht hatte, als er geglaubt hatte.
    „Habt ihr was dagegen, wenn ich Aida morgen Nachmittag abhole?“, fragte er die beiden. Andrea ahnte schon, wer diese Idee gehabt hatte.
    „Aida, will morgen nicht mit. Ich habe ja Lilly schon deswegen zu meinen Eltern gebracht. Wenn es dir nichts ausmacht Ben, gerne!“ beantwortete sie die Frage.
    Während Andrea die Küche aufräumte und putzte, saßen die beiden Polizisten noch im Wohnzimmer zusammen und sprachen über die Massenkarambolage auf der Autobahn. Jeder der beiden versuchte so ein bisschen die Ereignisse des Tages zu verarbeiten. Zu vorgerückter Stunde verabschiedete sich Ben von den Gerkans an der Haustür.
    „Komm gut nach Hause Ben! Du hast es ja schön, du hast morgen frei und ich darf Alleinunterhalter für die Schrankmann spielen!“ maulte Semir rum.
    „Sorry Partner! Das ist Schicksal. Nee, ich gehe noch nicht heim. Kann eh nicht schlafen, nach dem was heute passiert ist. Werde noch in einer der Kneipen in der Innenstadt, dem Club 99, abhängen, wo um die Zeit noch Livemusik gespielt wird.“


    Beim Einsteigen ins Auto winkte er den beiden nochmals zu und verschwand im Dunkel der Nacht.


    ***********


    …. Am nächsten Morgen


    Semir hatte die Dienststelle der PAST noch nicht richtig betreten, als er bereits von einer aufgeregten Susanne abgefangen wurde.
    „Guten Morgen Semir! Du sollst sofort zur Chefin kommen!“
    „Ist was passiert? ... Mit Ben?“

  • „Ja, es ist was passiert, aber nicht Ben … sondern Hartmut! … Frau Krüger wartet auf dich!“, gab die Sekretärin kurz angebunden zurück.


    Beim Gang zum Büro der Dienststellenleiterin beschlich Semir ein mulmiges Gefühl. Die Tür stand offen und Frau Krüger saß mit sehr angespannter Miene hinter ihrem Schreibtisch. Aufmerksam las sie in einem Bericht, der vor ihr lag. Als Semir das Zimmer betrat, blickte sie auf und schob das Papier zur Seite.


    „Guten Morgen Herr Gerkan. Setzen Sie sich bitte!“ Der Kommissar nahm auf dem Besucherstuhl vor dem Schreibtisch Platz und studierte dabei eingehend seine Vorgesetzte. Sofort fielen ihm die dunklen Ringe unter ihren Augen auf. Seine Chefin sah aus, als hätte sie die vergangene Nacht durchgefeiert.
    „Guten Morgen, Frau Krüger. Susanne sagte, ich solle sofort zu ihnen kommen! Es sei etwas mit Hartmut passiert?“
    „Die KTU wurde überfallen!“, beantwortete sie seine Frage.
    „Bitte was?“ erwiderte er total überrascht. „Was ist passiert?“
    „Sie haben schon richtig gehört. Jemand ist gestern Abend in die Räume der KTU eingedrungen. Die komplette Fahrzeughalle und die angrenzenden Räumlichkeiten wurden durch einen Sprengsatz oder mehrere Sprengsätze und ein daraus entstandenes Feuer zerstört und mit ihr alle darin befindlichen Fahrzeuge.“
    Semir blieb für einen Moment die Luft weg. Er schluckte und brachte mit einer belegten Stimme hervor: „Und Harmut? …. Was ist mit Hartmut? …. Ist ihm was passiert? … So reden sie doch Frau Krüger!“
    „Herr Freund hat Überstunden gemacht, um die Fingerabdrücke und sonstige Beweise aus dem beschlagnahmten Audi zu sichern. Dabei wurde er von den Tätern überrascht. Man hat ihn niedergeschlagen. Es grenzt schon an ein Wunder, dass er es in seinem angeschlagenen Zustand gelungen ist, aus der Halle zu kriechen.“ Kim Krüger atmete mehrmals tief durch. „Ich war bis vor einer Stunde im Krankenhaus. Herrn Freund geht es den Umständen entsprechend, um einmal die Worte des Arztes zu zitieren. Neben einer Platzwunde, die genäht werden musste, hat er noch eine Gehirnerschütterung davongetragen. Wegen des eingeatmeten Rauches liegt er für die nächsten vierundzwanzig Stunden zur Überwachung auf der Intensivstation.“ Es herrschte ein kurzer Moment der Stille. „Frau Dorn ist auf dem Weg ins Krankenhaus, um Herrn Freund ein paar persönliche Dinge vorbeizubringen. Sie bleibt dort und hält uns auf den Laufenden, falls sich was an seinem Zustand ändert.“ Kim Krüger blickte auf ihre verschränkten Finger, die auf der Schreibtischplatte ruhten. Düster murmelte sie: „Leider konnte Hartmut die Einbrecher nicht an ihren Plänen hindern... Alle Beweismittel, die zu diesem Zeitpunkt in der KTU gelagert waren, sind unwiederbringlich vernichtet.“


    Der Kommissar schnaufte erst mal durch und musste den nüchternen Bericht seiner Vorgesetzten verarbeiten. „Warum haben sie Ben und mich nicht verständigt? Schließlich geht es um Hartmut!“, blaffte er sie im Tonfall schärfer an, als beabsichtigt.
    „Warum? … Warum?“ Kim Krüger erhob sich aus ihrem Stuhl. Nervös ging sie zum Bürofenster und lehnte sich mit dem Rücken dagegen und verschränkte ihre Arme vor der Brust. „Damit Sie sich wie ich, die Nacht um die Ohren schlagen und der Feuerwehr beim Löschen zuschauen können!“, verteidigte sie sich mit einem ironischen Unterton und schüttelte unwillig den Kopf. Ihr Pferdeschwanz wippte dabei hin und her. „Wir haben keinen blassen Schimmer, wer hinter dem Anschlag stecken könnte. … Und damit wir uns verstehen, hätte es nur den Hauch eines Hinweises auf die Attentäter gegeben, hätte ich keine Sekunde gezögert, Sie und Herrn Jäger aus dem Bett zu klingeln.“ Sie schob ihre Unterlippe vor und legte ihre Stirn in Falten. „ Nachdem Sprengstoff mit im Spiel war, sind die Kollegen des LKAs mit deren Spurensicherung in der KTU betraut. Fahren Sie einfach hin und verschaffen Sie sich einen Überblick. Vielleicht haben die Kollegen ja mittlerweile einen Anhaltspunkt, in welche Richtung wir ermitteln können.“


    „Soll ich Ben anrufen?“


    „Nein lassen Sie mal. Um zur KTU zu fahren, brauchen Sie doch die Begleitung von Herrn Jäger nicht, oder? Gönnen Sie ihren Partner seinen freien Tag. Wenn Sie Verstärkung brauchen, nehmen Sie sich Bonrath mit. … Ach ja, bevor ich es vergesse. Der Termin für die Haftprüfung wurde auf 14.00 h festgelegt. Seien Sie also bitte pünktlich am Landgericht Köln!“


    Gleich im Anschluss an die Besprechung mit Frau Krüger telefonierte Semir auf dem Weg zu seinem BMW mit Jenny. Erst als er von ihr bestätigt bekam, dass es Hartmut soweit gut gehe, fuhr der Türke vorerst beruhigt zur KTU.
    Ein Teil der Feuerwehrautos rückten ab und kamen ihm auf der Zufahrt entgegen. Der Türke parkte seinen BMW vor dem Tor und stieg aus. Beißender Brandgeruch schlug ihm entgegen. Es roch nach verschmortem Gummi. Auf dem Hof vor der KTU lagen verkohlte und verschmorte Teile herum, über deren Ursprung man nur raten konnte. Zwischendrin wimmelte es von den Kollegen der Spurensicherung, die in ihren weißen Overalls herausstachen. Es dauerte ein bisschen, bis er den Leiter der Spurensicherung, Lars Schmidt, gefunden hatte.


    „Hallo Lars, wie sieht es aus? Hast du schon was für mich?“ erkundigte sich der Kommissar bei seinem Kollegen.


    „Genaues kann ich dir noch nicht sagen Semir. Außer einem, hier waren waschechte Vollprofis am Werk. Die Zünder, der Sprengstoff … alles deutet auf eine militärische Ausbildung der Täter hin. Auf dem ersten Blick würde ich auf eine angeheuerte Söldnertruppe tippen.“


    „Söldner? Wollten die die ganze KTU zerstören?“, meinte Semir nachdenklich, während er weiter die Kollegen der Spusi bei ihrer Arbeit beobachtete. Der Löschschaum behinderte zusätzlich die Spurensicherung. Auf Lars Handzeichen hin, folgte ihm der Kommissar. Vor der dunklen Lücke im Mauerwerk, in der früher einmal das Tor mit der Eingangstür zur KTU gewesen war, blieben die beiden Männer stehen.


    „Die hatten es in der Hauptsache auf diesen Bereich der KTU abgesehen, in dem die gesicherten Fahrzeuge abgestellt waren“, dabei deutete er auf die zerstörte Einrichtung der Werkstatt und auf die ausgebrannten Fahrzeugwracks. „Habt ihr schon was von Hartmut gehört, wie geht es ihm? Ein Wunder, dass er noch lebend rausgekommen ist, wenn man sich die Zerstörungen anschaut.“


    „Ich habe vorhin mit Jenny telefoniert. Wahrscheinlich muss Einstein einige Tage zur Beobachtung im Krankenhaus bleiben, vorausgesetzt, es gibt keine Komplikationen. Ich fahr auf jeden Fall nach dem Gerichtstermin nachher noch mal in der Uni-Klinik vorbei und besuche ihn.“


    Der Kommissar unterhielt sich noch mit einigen Kollegen, konnte aber keine neuen Erkenntnisse gewinnen. Es gab einfach keine Anhaltspunkte gegen wen ermittelt werden konnte. So langsam verstand er die Entscheidung seiner Chefin. Ein Blick zur Uhr sagte ihm, dass es Zeit war, sich in Richtung Landgericht auf den Weg zu machen, wenn er dort pünktlich eintreffen wollte. Bedingt durch den dichten Stadtverkehr kam er erst zehn Minuten vor dem angesetzten Termin am Justizgebäude an. Gerade als er die Treppen hochsprinten wollte, klingelte sein Handy in der Hosentasche. Auf dem Display konnte er erkennen, dass Andrea versuchte, ihn zu erreichen. Er unterdrückte seinen ersten Impuls das Gespräch wegzudrücken. Eine innere Stimme ermahnte ihn, es könnte wichtig sein. Seine Frau würde um diese Tageszeit nicht grundlos anrufen und er nahm das Gespräch an.


    „Hallo Andrea mein Schatz, was ist los?“ begrüßte er seine Frau. Die nachfolgenden Worte, die er vom Ende der Leitung hörte, ließen den Kommissar leichenblass werden. Er hatte das Gefühl, der Boden unter seinen Füßen schwankte … er war fassungslos … Bevor er zu einer Erwiderung ansetzen konnte, wurde der Anruf beendet.
    Sein Herzschlag raste. Er versuchte Ben auf seinem Handy zu erreichen. Doch stattdessen Stimme kam nur die automatische Nachricht, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Als nächstes probierte er den Festnetzanschluss … mit dem Ergebnis, dass sich dort nur der Anrufbeantworter meldete. Semir hinterließ Ben sowohl auf dem Anrufbeantworter als auch auf der Mailbox seines Smartphones eine Nachricht.


    „Ben ruf mich bitte sofort an! Es ist dringend!“

  • Der Türke betrat das Gerichtsgebäude. Im Eingangsbereich fand wie üblich eine Sicherheitskontrolle statt. Neben dem Wachpersonal, das für die Kontrollen verantwortlich war, saß dort in einem Glaskasten der Pförtner, Herr Müllender, der Semir persönlich kannte.
    Während der Polizist seine Dienstwaffe und alle Gegenstände, die sich in seinen Taschen befanden, in das bereitliegende Fach legte und der Wachmann ihn mit dem Metalldetektor scannte, kam der Pförtner um die Ecke. Hinter der Sicherheitsschleuse wartete er auf den Türken, der seine Sachen wieder sorgfältig verstaute.
    „Hallo, Herr Gerkhan! … Einen Moment mal bitte! …!“, begrüßte ihn Herr Müllender, der nur noch wenige Monate bis zu seiner Rente zu arbeiten hatte. In seiner Rechten hielt er ein Blatt Papier und wedelte damit herum. „Ich habe eine Nachricht für Sie! Sie sollen unbedingt noch ihre Frau anrufen, bevor sie in die Gerichtsverhandlung gehen.“
    „Danke, Herr Müllender! Ich habe bereits mit ihr telefoniert.“, seufzte der Türke und weckte damit das Interesse des Pförtners, der ihn eingehend musterte.
    „Schlechte Nachrichten? … Sie sehen aus, als hätten Sie ein Gespenst gesehen!“, erwiderte der weißhaarige Mann mitfühlend.
    „So kann man es nennen.“ Semirs Blick fiel auf die Uhr im Eingangsbereich. „Wer hat ihnen die Nachricht gegeben?“, forschte der Türke nach.
    „Kann ich ihnen nicht sagen.“, gab er als Antwort zurück und zuckte mit den Achseln. „Die Nachricht lag nach der Mittagspause auf meinen Platz mit dem Vermerk eilig. Den kann praktisch jeder reingelegt haben, der in dem Zeitraum Post geholt oder abgeliefert hat. Günter hast du was gesehen?“, wandte sich der Pförtner an den Sicherheitsbeamten, der nur den Kopf schüttelte. „Wäre das wichtig gewesen, Herr Gerkhan?“ Dieser winkte ab, die Zeit drängte. „Ich muss weiter. Danke!“, murmelte er und huschte die Treppenstufen hoch ins erste Obergeschoss, wo sich der Sitzungssaal befand. Noch einmal probierte er seinen Partner auf dem Handy zu erreichen. Diesmal kam die Ansage, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar sei. Lautlos fluchte der Türke vor sich hin. An der Hinweistafel zum Gerichtssaal leuchtete die Aufschrift, dass die Verhandlung bereits begonnen hatte. Ehe sich Semir weitere Gedanken zu Andreas Anruf machen konnte, kam über dem Lautsprecher die Aufforderung, dass er als Zeuge den Sitzungssaal betreten sollte.
    Er wurde vom Richter Schmidt aufgefordert auf dem Zeugenstuhl Platz zu nehmen. Nachdem seine Personalien festgestellt worden waren, belehrte ihn der Richter über seine Rechte und Pflichten als Zeuge, die Folgen einer Falschaussage und dass er unter Eid gestellt werden könnte.


    Selbstsicher begann die Staatsanwältin mit ihrer Befragung zum Unfallhergang bis es zur entscheidenden Stelle der Aussage kam.
    „Ist Herr Schneider der Fahrer des schwarzen Audi TT, das Fahrzeug, das den Unfall verursacht hat Herr Hauptkommissar Gerkhan?“
    „Das kann ich leider nicht mit absoluter Sicherheit sagen. Ich habe am Rastplatz nur einen jungen Mann am Steuer erkannt.“
    In den Augen der Staatsanwältin blitzte es auf und sie schnappte förmlich nach Luft. Ihre Blicke schienen Semir förmlich zu hypnotisieren und zu durchbohren. Man konnte spüren, wie ihr Groll über die gerade getroffene Aussage wuchs.
    „Herr Gerkhan, das widerspricht komplett dem, was Sie gestern zu Protokoll gegeben haben! Also nochmal: Ist Herr Schneider der Fahrer des Wagens gewesen, ja oder nein?“, kam es sehr energisch von der erbosten Staatsanwältin.
    „Ich bin mir nicht sicher Frau Staatsanwältin. Tut mir leid!“
    Sie erhob sich von ihrem Stuhl und stampfte auf den Zeugen zu. Ihre Gesichtsfarbe hatte vor Zorn auf dunkelrot gewechselt. Ihr Körper bebte vor Erregung, so wie ihre Stimme als sie fortfuhr: „Herr Gerkhan, ich warne Sie!“ Geräuschvoll atmete sie mehrmals ein und aus. „Überlegen Sie sich das genau! … Sie wissen, was das heißt, Herr Hauptkommissar! Sie widerrufen somit Ihre Aussage im Protokoll von gestern.“
    „Oh ja Frau Staatsanwältin!“, kam es leise von Semirs Lippen. Sein Blick wanderte rüber zur Anklagebank. Durch die Zuschauerreihen hinter ihm ging ein Raunen.
    Über das Gesicht des Angeklagten huschte ein hämisches Grinsen. Die Zeugenaussage des Kommissars bedeutete nämlich seinen Freispruch. Der junge Mann wusste bereits durch seinen Anwalt, dass es in der KTU ein Feuer gegeben hatte und somit alle sonstigen Spuren vernichtet worden waren. Es konnten keine Fingerabdrücke im beschlagnahmten Audi TT sichergestellt werden. Semirs Zeugenaussage war zum dem Zeitpunkt der Haftprüfung das einzige Beweismittel für seine Schuld, der einzige Grund ihn weiter in Untersuchungshaft zu behalten.
    Erst jetzt registrierte der Kommissar, dass neben dem Angeklagten ein stadtbekannter Strafverteidiger saß, Dr. Hans-Heinrich Hinrichsen. In Semir kam die Frage hoch, wie konnte sich ein Nicolas Schneider einen solch sündhaft teuren Strafverteidiger leisten?


    Der sicher geglaubte Fall zerrann der Staatsanwältin zwischen den Fingern. Ihr Stolz war verletzt. Ihre Wut richtete sich gegen ihren Hauptbelastungszeugen.
    „Wir sprechen uns noch Herr Hauptkommissar Gerkhan! Gerichtsdiener führen Sie Herrn Gerkhan ab in mein Büro. So nicht … nicht mit mir! Das wird Konsequenzen für Sie haben!“, drohte sie Semir noch im Gerichtssaal.
    Schweigend und mit hängenden Schultern ließ der Türke sich abführen. Als er an der Anklagebank vorbeilief, lehnte sich der Angeklagte lässig in seinen Stuhl zurück und grinste ihn hinterhältig an, während sich sein Anwalt erhob und eine Erklärung seines Mandanten vorlas. Semir bekam noch den größten Teil der Erklärung mit, bei der sich teilweise seine Nackenhärchen aufstellten.


    „Mein Mandant möchte zu Protokoll geben, er sei nur ein willkürliches Opfer der Autobahnpolizei gewesen, die für den Unfall einen Schuldigen gesucht hatten. Er sei vom Unfall so geschockt gewesen, dass er orientierungslos umhergeirrt sei. Als die beiden Polizisten mit gezückter Waffe auf ihn zugestürmt sind, bekam er es mit der Angst zu tun und ist davongerannt. Es ist ja offensichtlich, dass es sich hier wieder mal ein klarer Fall von Justizirrtum vorliegt. Ich beantrage hiermit, Herrn Nickolas Schneider in allen Punkten der Anklage frei zu sprechen.“


    Semir kochte innerlich vor Wut. Justizirrtum, schon allein dieser Begriff! Doch was sollte er tun? Die beiden Sicherheitsbeamten begleiteten den Polizisten zum Büro der Staatsanwältin. Auf dem Steinboden hallten die Schritte. Niemand sprach ein Wort. Die Zimmertür wurde geschlossen und die beiden Sicherheitsbeamten stellten sich davor, als wollten sie jeglichen Fluchtversuch des Polizisten verhindern. Der Türke war sich darüber im Klaren, dass seine Aussage ein Disziplinarverfahren und Ermittlungen der Internen Abteilung nach sich ziehen würde. Unruhig wanderte er im Büro der Staatsanwältin hin und her. Hilflos musste Semir durch eines der großen Fenster, die einen direkten Blick auf den Vorplatz des Landgerichts erlaubten, mit ansehen, wie Nicholas Schneider in einen dunklen Audi Q7 einstieg. Es war für ihn offensichtlich, dass der junge Mann erwartet wurde. Er fühlte sich schuldig, denn letztendlich hatte seine Aussage dazu beigetragen, dass dieser Mann, der für den Tod von vier Unschuldigen verantwortlich war, vom Richter frei gesprochen wurde. In ihm brannte der Wunsch, den Verdächtigen zu verfolgen. Aber in seinem Kopf hallten die Worte des Telefongesprächs mit Andrea nach.

  • „Schalten Sie die Polizei ein, stirbt ihre Familie! Widerrufen Sie ihre Aussage nicht, stirbt ihre Familie! Irgendwelche Tricks, dann stirbt ihre Familie. Ich hoffe, wir haben uns verstanden, Herr Gerkhan! Überlegen Sie sich genau, was ihnen wichtig ist!“ Gleich einer CD auf Dauerschleife, beschallten die bedrohlichen Worte der weiblichen Stimme sein Gehirn. Semir stützte sich mit seinen Handflächen auf eines der Fensterbänke ab und rang darum, seine Fassung nicht zu verlieren. Im Raum war nur das Ticken der großen Wanduhr zu hören. Zäh verrannen die Minuten … wurden zu einer Stunde … zu einer gefühlten Ewigkeit. … Je mehr Zeit verstrich und der versprochene Anruf von Andrea ausblieb, desto nervöser wurde Semir. Die Angst um seine Familie trieb ihn an den Rand des Wahnsinns. Unruhig knetete er seine Hände und fuhr sich zwischendurch durch das kurzgeschorene Haar, tigerte wie ein eingesperrtes Tier im Zimmer herum. Seine Gedankenwelt fuhr Achterbahn. Er hielt die Anspannung einfach nicht mehr aus, brauchte endlich Gewissheit und so fragte er den Älteren der beiden Beamten, die ihn bewachten: „Darf ich telefonieren?“
    „Tut mir Leid, Herr Gerkhan, Die Anweisung von Frau Dr. Schrankmann lautet eindeutig: Kein Kontakt zu Dritten, solange sie nicht mit ihnen gesprochen hat!“
    Der Türke fiel fast in sich zusammen. Einige Minuten später vibrierte in seiner Hosentasche sein Handy, das er vor der Verhandlung auf lautlos gestellt hatte. In dem Türken keimte die Hoffnung auf, dass sich Andrea oder Ben endlich melden würden. Während er das Handy aus der Hosentasche zog, blickte er den Beamten Müllender an. „Darf ich wenigstens rangehen?“ Gleichzeitig erkannte er zu seiner Enttäuschung auf dem Display die Nummer von Frau Krüger.
    „Nein!“, befahl Klaus Schlossnagel, schritt auf den Türken zu und entwand ihm in einem kleinen Handgemenge das Smartphone. Von einer Sekunde zur anderen verwandelte sich Semirs Niedergeschlagenheit in eine grenzenlose Wut. Aufbrausend brüllte er den Beamten an: „Das ist meine Chefin. Dann gehen wenigstens Sie ran! Es könnte wichtig sein!“ Semir schalt sich in dem Augenblick einen Narren. Was sollte seine Chefin schon wissen? Oder hatte sich Ben bei ihr gemeldet?
    Im ersten Moment wusste der Beamte nicht so recht, wie er sich verhalten sollte. „Na gut!“, brummte er missmutig, strich über das Display und nahm das Gespräch an. Nachdem er sich gemeldet hatte, kam die Frage von Kim Krüger: „Wo ist Herr Gerkhan?“
    „Auf Anweisung von Frau Schrankmann darf Herr Gerkhan mit niemanden sprechen!“, erklärte der Justizbeamte in einem herablassenden Tonfall. Daraufhin herrschte am anderen Ende der Leitung ein Augenblick des Schweigens.
    „Reichen Sie das Handy an Herrn Gerkhan weiter! Ich will mit ihm sprechen!“, forderte die Chefin den Justizbeamten auf. Als sich Klaus Schlossnagel erneut weigerte, der Aufforderung nachzukommen, flippte Kim Krüger regelrecht aus.
    „Jetzt hören Sie mir genau zu! Mir ist scheißegal, was Frau Schrankmann angeordnet hat!“, fauchte es durchs Telefon. Selbst Semir, der direkt vor dem Beamten stand, hörte den Groll aus der Stimme seiner Chefin heraus. „Herr Gerkhan ist mein Mitarbeiter und wenn ich ihn nicht innerhalb von einer Minute am anderen Ende der Leitung habe, komme ich höchst persönlich bei ihnen vorbei und reiße ihnen den Arsch auf, davor bewahrt sie nicht mal die Staatsanwältin. Wenn der was nicht passt, soll sie sich an mich wenden. Verstanden!“
    Eingeschüchtert reichte der sichtlich erblasste Justizbeamte das Smartphone an den Autobahnpolizisten weiter. „Ihre Chefin will Sie sprechen!“


    „Gerkhan!“, meldete sich der Kommissar mit einer gewissen Resignation in der Stimme.
    „Krüger hier! Was soll dieses Affentheater mit der Staatsanwaltschaft? Haben Sie die Schrankmann wieder einmal zur Weißglut getrieben? Wie ist der Haftprüfungstermin gelaufen?“, blaffte sie ihn vom anderen Ende der Leitung an.
    „Wahrscheinlich ist die Staatsanwältin schon vor Wut geplatzt!“, gab der Türke erklärend zurück. „Der Verdächtige wurde freigesprochen.“
    Für einige Sekunden herrschte Schweigen in der Leitung. „Wollen Sie mich auf den Arm nehmen Herr Gerkhan? Das ist doch nicht ihr Ernst! Bei der Beweislage!“ Hier stockte sie erst einmal und überlegte. Ihr wurde bewusst … Beweise, es gab ja keine Beweise mehr … keine Fingerabdrücke, keine DNA-Spuren … alles war verbrannt oder zerstört ... nur noch Semirs Zeugenaussage war ein Indiz dafür, dass der junge Nicolas Schneider der Unfallverursacher war. Nur der Türke konnte einwandfrei den jungen Mann als Verdächtigen identifizieren. Die Aussage seines Partner Ben Jäger hätte jeder Anwalt sofort in der Luft zerpflückt. Die Zeugenaussagen der anderen Unfallbeteiligten waren widersprüchlich. Keiner der Befragten hatte Nicolas Schneider eindeutig als den Fahrer des Audis erkannt. Mit einer belegten Stimme und sehr stockend fuhr Semir mit seinem Bericht fort.
    „Ich musste meine Aussage widerrufen … Frau Krüger!“
    „Sie mussten was?“, unterbrach sie ihn völlig ungläubig, „habe ich gerade richtig gehört? Verarschen Sie mich Herr Gerkhan? … Haben Sie getrunken?“
    „Frau Krüger! Sie haben richtig gehört, ich musste meine Aussage widerrufen!“ Semir seufzte abgrundtief auf und flehte seine Chefin an: „Bitte, … bitte … ich brauche ihre Hilfe! Bitte … Frau Krüger …. Die Schweine haben Andrea und Aida in ihrer Gewalt. Sie haben mich erpresst, mir gedroht, sie wollen Andrea und Aida umbringen. … Dieser Nicholas Schneider ist seit einer Stunde weg, doch der versprochene Anruf von Andrea, dass sie wieder frei ist, kam nicht.“ Er konnte nicht aussprechen, was er fühlte und dachte. „Bitte helfen Sie mir … Schicken Sie jemanden bei mir zu Hause vorbei! … Ich werde hier bei der Staatsanwaltschaft festgehalten. … Bitte!“ Als Semir geendet hatte, hörte er, wie seine Chefin am anderen Ende der Leitung aufstöhnte.
    „Oh Gott! … Ok, ich fahre selbst mit den Kollegen der Dienststelle bei ihnen zu Hause vorbei Herr Gerkhan. Und das mit der Staatsanwaltschaft regle ich auch, keine Sorge. Zuerst einmal kümmern wir uns um ihre Familie!“, versuchte sie beruhigend auf Semir einzureden.
    „Da ist noch was, Frau Krüger! Ben! … Ich kann ihn nicht erreichen. Er wollte heute Nachmittag mit meiner Tochter ins Freizeitland!“
    Geräuschvoll entwich ihr die Atemluft. „Wir treffen uns an ihrem Haus!“ Damit war das Gespräch beendet.


    Ohne das Semir es bemerkt hatte, war die Staatsanwältin in ihr Büro getreten und hatte den Großteil des Telefongesprächs mitangehört. Sie räusperte sich. Ihr Gesicht wirkte wie versteinert … keine Gefühlsregung. In diesem Augenblick wurden sie ihrem Spitznamen, eiserne Lady, gerecht.
    „Warum sind Sie nicht vorher zu mir gekommen Herr Gerkhan?“, forschte sie nach.
    „Und dann? … Was hätte es gebracht? … Nichts … Gar nichts … Was hätten Sie gemacht? … Ein SEK-Kommando geschickt? … Verstehen Sie nicht, es geht hier um meine Familie, Frau Staatsanwältin! Die haben mir gedroht meine Familie umzubringen, wenn ich die Aussage nicht widerrufe! Ist das bei ihnen da oben angekommen!“ brüllte Semir, der an die Grenze seiner Selbstbeherrschung angelangt war, sie an. Wild gestikulierend war er auf die Staatsanwältin zugegangen und deutete bei seiner letzten Bemerkung mit seinem rechten Zeigefinger auf seinen Kopf. „Denken Sie mal nach Frau Staatsanwältin! Woher wussten die Schweine alles? Warum leidet diese Frau, die gestern noch angegeben hat, ein Mann mit dunklen Haaren hat den Audi gefahren, plötzlich an Gedächtnisschwund? Warum ist die nicht zur Gegenüberstellung gekommen, sondern hat ihre Aussage zurückgezogen? … Warum? … Na, geht ihnen langsam ein Licht auf? Die hätten Andrea und Ayda in der Sekunde umgebracht, wenn das SEK-Kommando den Einsatzbefehl erhalten hätte!“


    Semir konnte deutlich erkennen, wie es im Gesicht von Frau Schrankmann arbeitete. Oh, sie hatte genau begriffen, auf was der Kommissar anspielte. Er schnaubte mal kurz durch, bevor er sie noch einmal erbost anfuhr. „Oder glauben sie allen Ernstes, ich wäre in dieser Situation zuerst zu ihnen oder einen ihrer Mitarbeiter gegangen. Da hätte ich meine Familie ja gleich umbringen können!“ Beim letzten Satz überschlug sich seine Stimme.
    „Jetzt beruhigen Sie sich erst mal.“, lenkte Frau Schrankmann ein und legte die Akten, die sie auf dem Arm hielt, auf ihren Schreibtisch ab. „Ok … Fahren Sie nach Hause Herr Gerkhan. Unter diesen Umständen werden wir Herrn Schneider wohl zur Fahndung ausschreiben!“ Sie wandte sich an einen der Gerichtsdiener und befahl „Kümmern Sie sich darum Herr Schlossnagel!“


    Die vorwurfsvollen Worte des Kommissars hatten die Staatsanwältin nachdenklich gemacht. Sie ließ sich in ihren Bürostuhl nieder und starrte auf die Tür, die sich hinter dem Türken geschlossen hatte. Gab es tatsächlich jemanden in ihrem Büro der vertrauliche Informationen zu diesem Fall weitergegeben hatte? Ein ungeheuerlicher Verdacht, der angesichts der Tatsachen aber nicht von der Hand zu weisen war.


    Beim Verlassen des Gerichtsgebäudes rief Semir Andrea auf ihrem Handy und den Festnetzanschluss bei sich zu Hause an. Niemand nahm das Gespräch entgegen. Anschließend versuchte Semir wiederholt Ben auf seinem Handy zu erreichen. Statt der Stimme seines Partners hörte er nach wie vor die Ansage, der Teilnehmer ist vorübergehend nicht erreichbar.

  • Bei den Gerkans


    Mit einer fast nicht mehr zu verantwortenden Geschwindigkeit, unter Einsatz von Blaulicht und Sirene fuhr Semir in Rekordzeit vom Landgericht zu seinem Haus. Er schaffte es trotz des einsetzenden Berufsverkehrs noch vor dem Team der PAST dort anzukommen. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn, als er Bens Porsche am Straßenrand parken sah. „Scheiße … scheiße!“, murmelte er lautlos vor sich hin und noch eine Auswahl an nicht jugendfreien Flüchen folgte.
    Wilde Gedanken durchstürmten sein Gehirn, als er auf dem Weg zur Haustür Blutstropfen auf den Pflastersteinen der Zufahrt entdeckte. Er ging in die Hocke, tauchte eine Fingerkuppe in einen der Blutstropfen und verrieb ihn. Etwas schnürte ihn dabei förmlich die Kehle zu und seine Eingeweide zogen sich krampfhaft zusammen. Semir richtete sich auf und sondierte mit seinen Blicken in Sekundenbruchteilen den Grundstücksbereich. Eine Schleifspur, die aus dem angrenzenden Garten kam, endete auf dem grauen Betonpflaster. Krümel verstreuter Gartenerde lagen neben den abgebrochenen Blüten und Blättern von Andreas Blumenbeet. Ihm wurde gleichzeitig warm und kalt.
    Während er der Spur in den Garten folgte, schrie er laut den Namen seiner Frau, seiner Tochter und den seines Partners. Vor dem großen Terrassenfenster bemerkte er eine riesige Lache aus angetrocknetem Blut, um die Fliegen herumschwirrten.
    Semir fiel vor der Blutlache, die noch nicht völlig getrocknet war, auf die Knie und stöhnte gequält auf. Gleich daneben lagen Bens Polizeiausweis, der Inhalt seiner Geldbörse, sein Schlüsselbund mit dem kleinen Gitarrenanhänger und ein zerstörtes Handy. Beim näheren Hinschauen erkannte er es war Bens Handy.
    Semir merkte, wie langsam Panik in ihm aufstieg und sein Pulsschlag sich in ungeahnte Dimensionen beschleunigte. Er stand auf und rannte ins Haus … durchsuchte alle Räume … rief nach seiner Frau … seiner Tochter … nach Ben. Nichts … keine Spur … kein Lebenszeichen von den Dreien.
    Er kehrte zurück in den großen Wohnbereich und drehte sich im Kreis. Die Erpresser hatten ihr Versprechen nicht gehalten. Andrea und Ayda saßen nicht gefesselt im Wohnzimmer sondern waren verschwunden. Entführt? Er brüllte seine Wut und Not heraus. Schalt sich einen Narren, dass er den Zusicherungen der Verbrecher geglaubt hatte. Wie hatte er als erfahrener Polizist nur so naiv sein können? Und Ben? Wo war sein Freund und Partner abgeblieben? War er schuld daran, dass sein Freund in eine vielleicht tödliche Falle gelaufen war, weil er ihn nicht rechtzeitig erreicht hatte? Er zermarterte sich das Gehirn, wie er das Unglück hätte aufhalten können.
    Die Bilder des gestrigen Abends zogen an seinem inneren Auge vorbei. Von einem Tag zum anderen war plötzlich alles so anders, so verändert … Das konnte doch alles nicht wahr sein! … Konnte das Schicksal so grausam sein? Semir vermochte nicht zu sagen, wann er sich das letzte Mal so elendig und machtlos gefühlt hatte. Mit feucht schimmernden Augen stand er wie verloren in der Mitte seines Wohnzimmers, als die Kollegen der PAST unter der Führung von Frau Krüger eintrafen. Regungslos beobachtete er durch das große Terrassenfenster, wie die Polizisten ausschwärmten und ihre Tätigkeit aufnahmen. Mitfühlend legte Frau Krüger ihren Arm um Semirs Schulter.
    „Kommen Sie Herr Gerkhan, hier können wir eh nichts mehr machen. Wir fahren zurück zur Dienststelle. Vielleicht hat Susanne mittlerweile ein paar Hinweise für uns! Die Kollegen haben alles im Griff.“
    „Ich kann hier nicht weg! Ich muss die Nachbarn befragen!“, murmelte Semir und versuchte die Hand seiner Chefin wegzudrücken.
    „Bitte … Lassen Sie das die Kollegen machen! Sie sind persönlich zu befangen!“
    Zu ihrer Überraschung gab der Türke seinen Widerstand relativ schnell auf und ließ sich nach draußen führen. Vor dem Grundstück parkten ein halbes Dutzend Streifenwagen. Die Kollegen in den weißen Overalls der Spurensicherung waren auf dem Grundstück unterwegs.
    Kim Krüger war innerlich sehr aufgewühlt, von dem was Semir und seiner Familie passiert war. Und Ben, sie machte sich große Sorgen um ihren Mitarbeiter. Die Blutlache lies das Schlimmste befürchten. Ein Schnelltest hatte ergeben, dass das Blut tatsächlich von dem jungen Kommissar stammte. Aber nach außen hin versuchte sie wie immer kühl und sachlich zu bleiben. Ihr Blick schweifte vom Grundstück zurück in das Gesicht ihres besten Mitarbeiters, der sich mit seinen Handflächen am Autodach abstützte. Der war am Boden zerstört.
    „Wo ist eigentlich ihre zweite Tochter Herr Gerkhan?“ Diese Worte holten Semir wieder in die Gegenwart zurück. Er überlegte einen Moment … dachte nach … Frau Krüger hatte schon Zweifel daran, ob er die Frage überhaupt verstanden hatte, er wirkte wie die Minuten vorher geistig abwesend. Einige Sekunden verstrichen, bevor er mehr automatisch antwortete: „Bei meinen Schwiegereltern!“ Ihm wurde bewusst, dass er die ganze Zeit nicht an Lilly gedacht hatte aus Sorge um den Rest der Familie.
    „Ok, wir werden das Haus Ihrer Schwiegereltern vorsichtshalber unter Polizeischutz stellen!“, ordnete Frau Krüger an und erteilte gleich entsprechende Anweisungen.
    In getrennten Fahrzeugen fuhren sie zurück zur Dienststelle. Semir hatte eine gemeinsame Fahrt abgelehnt. Er wollte einfach nur allein sein …. nachdenken … einen Ausweg finden … seine Familie wieder haben … und Ben? Was war mit Ben passiert?

  • Einige Zeit vorher … im Haus der Familie Gerkhan
    Nach dem Telefongespräch mit Semir forderten die Erpresser Andrea und ihre Tochter auf, sich auf das Sofa zu setzen. Aida drückte sich nahe an ihre Mutter heran. In ihren dunklen Augen schimmerte Angst. „Es wird alles wieder gut, mein Schatz! Papa wird machen, was diese bösen Menschen von ihm verlangen.“, wisperte sie ihrer Tochter zu und strich ihr beruhigend über die Haare. Diese nickte ihr zu und kuschelte sich noch näher an ihre linke Seite heran. Sie hörte, dass einer der Gangster ein kurzes Telefongespräch in einer fremden Sprache führte. Das erklärte in ihren Augen auch den südländischen Akzent, den der Mann in seiner Sprache hatte.


    Durch die Zeitanzeige auf dem Receiver, der genau in Andreas Blickrichtung lag, wusste sie, dass seit ihrem Gespräch mit Semir ungefähr fünfzehn Minuten vergangen waren. Sie hatte die letzten Minuten dazu genutzt, die beiden Erpresser ein wenig näher zu mustern. Die Verbrecher trugen schwarze einteilige Kampfanzüge, die die Konturen ihrer Körper perfekt kaschierten. Die schwarzen Lederhandschuhe und die schwarzen Sturmmasken mit Sehschlitzen über dem Gesicht machten die beiden Personen nahezu unkenntlich. Keine Auffälligkeiten mit Hilfe derer man später die Personen wieder eindeutig identifizieren könnte. Außer vielleicht die Augen, diese grauen eiskalten Augen der kleineren Person … ja da war Andrea sich sicher, die würde sie sofort und überall wiedererkennen. Der Größere, der bisher gesprochen hatte, war ungefähr einen Kopf größer als Andrea. Er stand vor dem Sofa, die Waffe im Anschlag und ließ sie keine Sekunde aus den Augen. Der Kleinere hatte bisher geschwiegen und tigerte nervös hin und her. Ab und an warf er einen Blick durch das Küchenfenster nach draußen zur Auffahrt. Ein Motorengeräusch kam näher und näher und verstummte, was ihm ein erleichtertes Ausatmen entlockte.


    „Los, aufstehen! Zieht euch eine Jacke an!“, forderte der Größere in einem barschen Befehlston. Andrea und Aida erhoben sich und liefen in Richtung der Diele. Durch das Küchenfenster konnte Andrea einen schwarzen Lieferwagen eines bekannten Unternehmens für Paketzustellungen erkennen, der direkt in der Auffahrt parkte. Insgeheim hatte sie gehofft, dass die Erpresser ihr Versprechen halten und sie nach einiger Zeit gefesselt im Haus zurücklassen würden. Doch der Anblick des Lieferwagens in der Zufahrt belehrte sie eines Besseren. In dem Augenblick wurde ihr endgültig klar, man würde sie und ihre Tochter entführen.
    „Mama, ich muss mal auf Toilette!“, quengelte ihre Tochter, als sie vor der Gästetoilette standen, die sich direkt neben der Garderobe befand. Der Große sandte einen fragenden Blick zu seinem Kumpan, der zustimmend nickte. Während es hinter der Tür plätscherte, klingelte ein Handy. Zu Andreas Überraschung verbarg sich hinter der Maske des Kleineren eine weibliche Stimme. Die Frau nahm das Gespräch an, das ebenfalls in einer ihr fremden Sprache geführt wurde. Eine unterdrückte Wut ließ sich deutlich aus dem Tonfall heraushören. Sie blaffte ihren Kumpan oder Gesprächspartner am anderen Ende der Leitung an.
    Daraufhin ging alles sehr schnell. Nachdem Andrea und Aida sich ihre Jacken übergestreift hatten, verband man ihnen im Flur die Augen und befahl ihnen zu warten.
    Angestrengt lauschte Andrea und versuchte an Hand der Geräusche herauszufinden, was um sie herum geschah. Sie hörte Schritte, die Terrassentür wurde geöffnet und nach einigen Minuten wieder geschlossen. Sie konnte sich keinen Reim darauf machen, was die Entführer damit bezweckten. Mit verbundenen Augen führte man sie zu dem Lieferwagen und zwang sie auf die Ladefläche des Lieferwagens einzusteigen. Unter ihren Handflächen fühlte sie das kalte Metall. Der Form nach zu urteilen, befand sich hier einer der Radkästen. Ihre Hände wurden mit Kabelbinder an eine vorhandene Öse gefesselt. Der männliche Entführer hatte mit seiner barschen Art Aida so eingeschüchtert, dass diese keinen Ton mehr von sich gab. Das Mädchen wurde neben seine Mutter gesetzt und ebenfalls gefesselt. Die Hecktüren des Lieferwagens schlossen sich mit einem lauten Knall und kurze Zeit später setzte sich der Wagen schaukelnd in Bewegung.


    Andrea hörte das leise Wimmern und Schluchzen ihrer Tochter. Beruhigend sprach sie auf das weinende Mädchen ein und machte ihr Mut. „Pssst …. Beruhige dich! … Alles wird wieder gut! … Papa wird die Forderungen der Entführer erfüllen und du wirst sehen, heute Abend sind wir wieder zu Hause.“ Fast schon stereotyp wiederholte Andrea diese und weitere Sätze, bis ihre Tochter aufhörte zu weinen. „Komm! Kuschle dich noch ein wenig zu mir heran!“


    Allerdings hatte sie lange genug als Sekretärin auf der PAST gearbeitet um zu wissen, in welch gefährlichen Situation ihre Tochter und sie sich befanden. An Hand des Motorengeräusches versuchte sich Andrea zu orientieren, wohin die unfreiwillige Reise ging. Sie war sich sicher, dass sie eine längere Strecke über eine Autobahn oder Schnellstraße fuhren. Die Fahrt verlangsamte sich und kurze Zeit später ging es über unbefestigte Wege weiter. Sie wurden kräftig durchgeschüttelt. Sie hatte jedes Gefühl für Zeit verloren. Der Wagen hielt an und die Hintertüren wurden aufgerissen. Jemand betrat die Ladefläche und löste ihre Handfesseln. Ihre Finger kribbelten, als das Blut wieder frei zirkulieren konnte. „Los, rauskommen!“ befahl die rüde Stimme des Entführers. „Stellt euch nicht so dämlich an! Oder sollen wir ein wenig nachhelfen?“
    Vorsichtig rutschten Andrea und ihre Tochter über die Ladefläche in Richtung der Stimme. Zu ihrer Überraschung wurden ihnen, als sie im Freien waren und festen Boden unter den Füßen spürten, auch die Augenbinden abgenommen. Es dauerte ein paar Sekunden, bis Andrea wieder klar sehen konnte. Das Erste was sie wahrnahm, eine männliche Person, die regungslos auf dem vorderen Teil der Ladefläche lag. Im einfallenden Lichtschein erkannte sie, dass sich um die dunklen Haare und den Kopf herum ein dunkler Fleck befand. Bei genauerem Hinsehen begriff sie, dass es sich um eine Blutlache handelte. Ihr Blick schweifte über die Gestalt. Die karierte Shirt-Jacke kam ihr so vertraut vor. Ein eisiger Schreck durchfuhr sie. Der Mann, der da regungslos in seinem Blut lag, war BEN.
    Nur mühsam konnte sie einen Aufschrei unterdrücken und versuchte den Blick ihrer Tochter so zu lenken, dass diese Ben nicht erspähen konnte.


    „Geht da rüber zum Schuppen!“ wurden sie vom dritten Entführer aufgefordert.


    Auf dem Weg zum Schuppen musterte Andrea eingehend die Umgebung. Sie befanden sich auf einen dieser alten verlassenen Einödhöfe mitten in der Wildnis. Die Lichtung wurde ringsum von Bäumen eingerahmt. Das frische Grün der sprießenden Blätter erlaubte keinen Blick ins Innere des Waldes. Die weiß blühenden Hecken am Waldrand bildeten ein undurchdringliches Dickicht. Außer dem Gezwitscher der Vögel war nichts zu hören. Die Zufahrt war ein holpriger Feldweg, der von dichtem Gras bewachsen war und nur die Fahrspuren waren zu erkennen.


    Am Horizont waren ringsum nur bewaldete Berganhöhen zu sehen, die von saftigen grünen Wiesen durchzogen wurden. Kein Haus … kein Gebäude … keine Straße waren zu erkennen … nur Einsamkeit. Neben dem Holzschuppen stand ein großes gemauertes Gebäude, das wahrscheinlich früher einmal ein Wohngebäude und Stall in einem gewesen war. Der hintere Teil war inzwischen total verfallen, das Dach in das Innere des Anwesens gekracht.


    Als die Tür des Holzschuppens geöffnet wurde, schlug ihnen eine modrige Luft entgegen. Auf dem gestampften Lehmboden lag noch jede Menge altes Stroh verteilt herum. Der Raum wurde durch einen Bretterverschlag geteilt. Das einzige Fenster war von außen mit Brettern vernagelt worden, so dass nur kleine Lichtstrahlen zwischen den Ritzen in den Raum fielen und ein bisschen Helligkeit spendeten.


    „Los da rein mit euch und keine Zicken!“, befahl die weibliche Stimme. Ohne weiteren Kommentar wurde das Tor sorgsam verschlossen. Andrea war mit ihrer Tochter allein. Doch was war mit Ben? Lebte er überhaupt noch? Sein Anblick ging ihr einfach nicht aus dem Kopf.

  • Irgendwo ….


    Langsam lichtete sich die Dunkelheit. Sein Kopf … oaaaaah … sein Kopf, er fühlte sich so furchtbar an. Der Schmerz glich einem Presslufthammer, der sich darin befand und ständig ratterte. Es pochte … es klopfte … jedes Pochen verpasste ihm viele tausend kleine Nadelstiche. Alles war so schwammig. Wie durch Watte drangen vertraute Geräusche an sein Ohr. …. Motorengeräusche …. Erinnerungsfetzen durchschwirrten Bens Gehirn. Er versuchte in die einzelnen Bilder und Szenen, die aufblitzten, eine Ordnung zu bekommen.
    Da war der Nachtclub … die tanzenden Körper der jungen Menschen, die sich im Rhythmus der Musik bewegten … Nebel hüllte sie ein … dann tauchten Andrea und Aida im Wohnzimmer der Familie Gerkhan auf … die Männer in den schwarzen Kampfanzügen, deren Anblick wirkte auf seinen Geist völlig verzerrt, wie die Ungeheuer die bedrohlich in einer Geisterbahn den Fahrgästen Furcht einflößten, … auf einmal war da Aida … eine Achterbahn … ein dunkler Abgrund tat sich auf, in den er abtauchte.
    Beim nächsten Auftauchen aus dem Nebelschleier setzte schlagartig die Erinnerung des dunkelhaarigen Polizisten wieder ein. Die Puzzleteilchen, die vorher noch wie in einem wilden Durcheinander in seinen Gehirnwindungen herumgeschwirrt waren, formten sich zu einem Bild.
    Aida … er hatte das Mädchen zu einem Ausflug ins Phantasia Land abholen wollen. In der Hoffnung noch einen Nachschlag des leckeren Abendessens von Andrea zu bekommen, war er früher als verabredet, zum Haus seiner Freunde gefahren. … Sein Handy, der entgangene Anruf von Semir … er hatte vor sich hin geschmunzelt. … Der Über-Papa Semir wollte ihn doch allen Ernstes daran erinnern, dass er die Verabredung mit Aida nicht vergaß. Er hatte sich auf den Nachmittag gefreut, als würde er so ein Versprechen vergessen, was dachte nur sein Freund von ihm.
    Ben hatte über den Seiteneingang den Garten betreten und war Richtung Terrasse gelaufen. Gut gelaunt hatte er den neuesten Song seiner Band vor sich hin gepfiffen und überhaupt nicht auf seine Umgebung geachtet. Zu seinem Leidwesen war die Terrassentür verschlossen gewesen. In dem Moment als er gegen die Fensterscheibe neben der Terrassentür klopfen wollte, verstummte er augenblicklich und drückte sich gegen die Außenmauer. Mehrmals atmete er tief durch und überlegte. Da drinnen standen zwei Männer in Kampfanzügen, die Gesichter getarnt durch Sturmmasken und bedrohten mit ihren Waffen Andrea und Aida.
    Gewohnheitsgemäß griff er zum Holster am Gürtel, in dem sich normalerweise seine Schusswaffe befand. Oh Fuck … Fuck entfuhr es ihm lautlos, die lag ja zu Hause in dem kleinen Safe. Dem jungen Polizisten war sofort klar, dass er Unterstützung brauchte und nur als stiller Beobachter fungieren konnte. Er fischte sein Handy aus der Hosentasche, entsperrte das Display und suchte nach Susannes Rufnummer auf der Dienststelle. Zu spät hörte er das schabende Geräusch hinter sich. Bevor er reagieren konnte, bekam er einen harten Schlag auf den Hinterkopf. Lauthals stöhnte er auf und versuchte sich gegen den Angreifer und die drohende Bewusstlosigkeit zu wehren. Doch der Schläger kannte keine Gnade. Ben hatte das Gefühl, als würde ihm der Schädel zertrümmert werden, als er den nächsten Hieb einstecken musste und in die Dunkelheit der Ohnmacht endgültig abtauchte. Er merkte nicht mehr, wie er an der Hauswand entlang zu Boden rutschte und mit der Stirn aufschlug.


    Ben horchte weiter in seinen Körper hinein. Außer dem Gefühl, dass sein Schädel mindestens doppelt so groß wie normal war und jeden Moment platzen konnte, fühlte er keine weiteren Schmerzen … Seine anderen Sinne nahmen, wenn auch ein wenig verlangsamt, so nach und nach ihre Tätigkeit auf. Doch wo befand er sich jetzt? Noch auf der Terrasse von Semirs Haus? Nein, fiel seine erste Analyse aus. Da war doch noch das Motorengeräusch gewesen und der Untergrund, auf dem er mit dem Gesicht nach unten lag, fühlte sich kalt und glatt an. Metall? Vorsichtig probierte er seine Finger zu bewegen … seine Hände. Zu seinem Erstaunen stellte er fest, dass die nicht gefesselt waren. Behutsam tastete er mit den Fingerkuppen seiner Rechten den Hinterkopf ab. Sein ganzes Haar war verklebt und stellenweise ein wenig feucht … er rieb seine Fingerkuppen aneinander … Blut? Er befühlte die beiden Schwellungen, in deren Mitte sich Platzwunden befanden und stöhnte auf, als er die Wundränder berührte. Vorsichtig drehte er sich auf die Seite. Ben musste sich förmlich zwingen, seine Augenlider zu öffnen. Nur auf der linken Seite klappte es nicht. Mit seiner Handfläche wischte er darüber. Getrocknetes Blut, es verklebte sein Augenlid. Auf seiner Stirn spürte er eine weitere Schwellung. Unscharf konnte er erkennen, dass er sich wohl im Inneren eines Lieferwagens befand. Über seinen linken Unterarm stützte er sich ab, versuchte sich weiter aufzurichten und den Oberkörper in die Höhe zu drücken. Auf einmal überfiel ein Schwindelgefühl und alles fing an sich zu drehen, schlimmer als bei einer wilden Fahrt auf der Achterbahn … ihm wurde übel … er würgte … und schwallartig übergab er sich. Zurück blieb ein bitterer Geschmack nach Galle in seinem Mund. Ein gequältes Stöhnen verließ seine Kehle, bevor er erschöpft in sich zusammenfiel und gegen die anfliegende Ohnmacht kämpfte.
    Die herrschende Stille wurde von menschlichen Stimmen durchbrochen. Er hörte wie sich die Entführer näherten … kleine Äste barsten unter dem Gewicht ihrer Schritte, das Rascheln des Grases. Nach und nach unterschied er ihre Stimmen ... zwei Männer und eine Frau, die scheinbar mit einer weiteren Person telefonierte. Auffälig war der leichte Akzent in der Stimme… ihr Gespräch, welches sie scheinbar mit dem Auftraggeber der Bande führte, der Inhalt ergab für ihn keinen Sinn. Plötzlich stockte ihm der Atem, als er vernahm, welches Schicksal man ihm und Andrea zugedacht hatte. Adrenalin raste durch seine Blutbahnen.

  • Ben wagte kaum zu atmen und beschloss erst einmal kein Lebenszeichen von sich zu geben. Er wusste, dass er beobachtet wurde. Die Blicke seiner Entführer konnte er fast körperlich spüren.
    „Oh verdammt! … Verdammt!“, fluchte eine tiefe männliche Stimme drauf los „Schaut euch nur die Sauerei an! Jetzt hat der Kerl uns auch noch die gesamte Ladefläche voll gekotzt. Fuck! … Wer putzt die Schweinerei wieder weg, Gabriela? Bäääh …. Und wie das stinkt! Warum haben wir den Kerl nicht gleich kalt gemacht?“, brüllte der Große der drei Entführer wutentbrannt weiter, der als erstes die Heckseite des Sprinters erreicht hatte und einen Blick in das Innere des Fahrzeugs werfen konnte.


    „Pech gehabt Mario! Nachdem ich den Wagen nachher nochmal wegen der Waffenübergabe an den Russen brauche, wird es wohl dein Job werden! … Los, schafft den Kerl aus dem Lieferwagen raus!“, kam es befehlsgewohnt und mit einer Spur von Ungeduld von der weiblichen Stimme. Daraus schloss Ben, dass sie die bestimmende Person in der Gruppe der Entführer war. „Dann weckt ihn auf! Ich will dem Kerl ein paar Fragen stellen. Mein Bedarf an Überraschungen ist für den heutigen Tag gedeckt!“


    Die Ladefläche schaukelte kurz. Rücksichtslos fing jemand an, an den Beinen des Dunkelhaarigen zu zerren und zu ziehen. Unwillkürlich bewegte Ben seine Arme, um seinen malträtierten Kopf zu schützen.
    „Boah! … Verdammt noch mal, der Bulle scheint wach zu sein. Das Schwein hat uns garantiert belauscht!“, blaffte die dunkle Stimme erbost drauf los. Mario Kilic war die schützende Bewegung des Polizisten nicht entgangen. Sie stachelte dessen Wut noch an. Brutal zog er den Körper des Verletzten über die Ladefläche. Der Polizist schrie vor Schmerz auf, als sein Kopf gegen den Radkasten der Ladefläche knallte.
    Mit dem Gesicht nach unten schlug Ben auf dem weichen Waldboden auf. Sterne blitzen vor seinen Augen auf. Er konnte einen leisen Aufschrei nicht unterdrücken. Die feuchte Erde des Waldbodens weckte ein wenig seine Lebensgeister. Grashalme kitzelten seine Haut und ein leicht modriger Geruch stieg in seiner Nase hoch. Doch das alles überdeckte nicht das Hämmern zwischen seinen Schläfen. Der stechende Schmerz war einfach nur die Hölle. Aber es sollte noch schlimmer kommen. Brutal wurden ihm seine Arme nach hinten gerissen und er wurde daran in die Höhe gezogen und auf die Beine gestellt. Ohne den rücksichtslosen Griff des Entführers wäre der dunkelhaarige Polizist sofort wieder in sich zusammengesackt. Seine Knie waren butterweich. Sein Gleichgewichtssinn fuhr kurzzeitig Achterbahn. Sein Magen rebellierte erneut … er fing an zu würgen … zu husten … aber es war nichts mehr drin. … Es kam nichts mehr raus.


    Ben nahm alle Konzentration, die er aufbringen konnte zusammen. Wider Erwarten gehorchten ihm seine Augen. Sein rechtes Augenlid besiegte die Schwerkraft, hob sich an und er blinzelte. Die Nebelschwaden lichteten sich langsam und seine Umwelt nahm Formen an. Direkt vor ihm stand von Gestalt her der Kleinere der beiden Geiselnehmer aus Andreas Wohnzimmer.
    „Hallo Herr Hauptkommissar Ben Jäger! Schön dass sie uns ihre Aufmerksamkeit schenken“, begrüßte ihn eine weibliche Stimme unter der Maske. Die Stimme der Entführerin drang wie durch Watte gedämpft zu ihm durch. „Nachdem ich davon ausgehe, dass sie uns belauscht haben, können wir uns ja das Versteckspiel und den Rest des Theaters sparen! Spielen wir mit offenen Karten!“, eröffnete sie ihm weiter.


    Bei diesen Worten streifte sie sich die Sturmmaske vom Kopf. Ben kämpfte weiter gegen die Schwerkraft und seine Schwäche an und bemühte sich, dass sein Kinn nicht wieder auf die Brust sackte. Als es ihm gelang, blickte er in zwei eiskalte rauchgraue Augen, die ihn zornig anfunkelten. Seine Widersacherin hatte ein hübsches, ebenmäßig geschnittenes Gesicht, welches durch ihre dunklen schulterlangen Haare, die wild verstrubbelt waren, unterstrichen wurde. Ihr Alter ließ sich schlecht schätzen. Ben nahm an, dass sie so Mitte bis Ende dreißig sei. Seitlich versetzt zu ihr stand der Dritte im Bunde. Der junge Polizist vermutete, dass er der Verursacher seiner Kopfschmerzen war. Von der Statur her war er kleiner als die Frau, ein bisschen untersetzt und in dem schwarzen Kampfanzug wirkte er noch fülliger und unbeweglicher, als er wahrscheinlich war. Verdammt, so einen Fleischklops vernaschte er normalerweise vorm Frühstück auf nüchternen Magen. Ok, der Überraschungsmoment hatte wohl auf der Seite seines Gegners gelegen und der Angriff von hinten war ja voll fies gewesen. Also hielt ihn dieser wandelnde Schrank fest.
    „Wie geht es ihnen denn?“, mit einem süffisanten Unterton kam die Frage von ihr und gleich hinterher „Wie Sie unschwer erkennen können, genießen Sie unsere Gastfreundschaft!“


    „Auf diese charmante Einladung hätte ich gut verzichten können!“, entgegnete ihr Ben. Worauf sich der Griff in seinem Rücken verstärkte. Er konnte ein leises Stöhnen nicht unterdrücken. In ihm regte sich Widerstand gegen diese rüde Behandlung.


    „Ich habe ein paar Fragen an Sie. Das ist der einzige Grund warum sie überhaupt noch am Leben sind!“, eröffnete sie ihm unverblümt und trat näher an den jungen Polizisten heran. „Entweder sie beantworten diese zu meiner Zufriedenheit, … oder nun ja sie werden schon merken, was es bedeutet, mich zu ärgern!“


    „Sie können mich mal“, entfuhr es Ben trotzig und er schaffte es trotz seiner Kopfschmerzen, ein freches Grinsen aufzusetzen. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten. Ansatzlos schlug die Dunkelhaarige zu und eine knallharte Faust landete an seinem Unterkiefer. Seine Lippe platzte auf. Blut sammelte sich in seinem Mundwinkel, welches er ausspuckte und genau ihre Stiefelspitze traf. In ihrer Mimik arbeitete es. In ihren Augen blitzte es gefährlich auf.


    „Kommen wir mal zu meinen Fragen!“, zischelte sie ihn an. Die Feuchtigkeit ihrer Aussprache traf sein Gesicht. Mit einem groben Klammergriff umfasste sie seinen Unterkiefer und zwang Ben ihr in die Augen zu blicken. „Wer hat uns verpfiffen? Was weiß die Polizei über Nicolas Schneider? Was hat dieser kleine türkische Wichtigtuer vor? Wieso hat er Sie geschickt?“


    Er versuchte die Bedeutung ihrer Fragen zu erfassen. Was wollte diese Frau von ihm? Ihm war einfach nur übel und sein Kopf hämmerte und dröhnte unaufhörlich. Seine Gehirnzellen hatten nach dem erneuten Schlag gegen den Kopf ihren Betrieb auf Sparflamme gestellt. Boah, konnte diese Hexe ihn nicht einfach in Ruhe lassen. Er konnte jetzt einfach nicht mehr denken. Entsprechend schlicht fiel seine Antwort aus. „Kein Ahnung!“


    Sie griff in eine der Taschen des Kampfanzuges und holte einen glitzernden Gegenstand heraus. Drohend hielt sie ihm einen Schlagring entgegen. „Also, letzte Chance! Wer hat uns bei der Polizei verpfiffen?“
    Ben schaute sie verständnislos an. Die Frage machte überhaupt keinen Sinn, also zog er es vor, diesmal zu schweigen.
    „Nun gut! Wer nicht hören will, muss fühlen!“, warnte sie ihn vor.
    Der erste Schlag traf ihn voll in den Magen. Er würgte erneut … Die nächsten Attacken trafen seinen Oberkörper … seine kurze Rippen … unterhalb des Rippenbogens … pressten die Luft aus seinen Lungen. Er fing an zu japsen. Eine Woge aus Schmerzen überflutete seinen Körper. Ben versuchte sich zu krümmen, zu wehren aber der eiserne Griff des Großen hielt ihn gnadenlos fest. Die Frau wusste genau, wo sie treffen musste, um ihren Opfer Schmerzen zu zufügen. Er hätte nicht erwartet, dass eine Frau so hart zu schlagen konnte. Der Schlagring auf ihrer rechten Hand verstärkte noch die Wirkung der Treffer.


    Sie hielt inne und wartete bis Ben wieder ansprechbar war. Luft … Luft … er schnappte nach Luft … ächzte und stöhnte. In seinem Magen brannte es. Jede Körperstelle, die von ihren Schlägen getroffen worden war, brannte. Erneut hatte sich Blut in seinem Mundwinkel angesammelt, welches er ausspuckte. Wie aus weiter Ferne hörte er ihre Stimme. Mit dem Zeigefinger ihrer linken Hand hob sie sein Kinn an, so dass er ihr direkt in die Augen schauen konnte.


    „Also noch Mal Herr Jäger! Was hat ihr übermotivierte Kollege vor? Sie können sich einiges ersparen, wenn Sie mit uns kooperieren!“, fauchte sie ihn an.


    Ben keuchte … Er zermarterte sich sein Gehirn, fluchte innerlich vor sich hin, weil er immer noch nicht den Zusammenhang verstand. … Plötzlich dämmerte ihm, Nicolas Schneider war der Unfallfahrer von gestern auf der Autobahn. Was wollte diese Frau deswegen von ihm? War sie die Unbekannte, die vom Unfallort geflohen war?
    Eine dumpfe Ahnung stieg in ihm auf, dass das diese Prügel erst ein Vorgeschmack von dem waren, was ihn in den nächsten Stunden erwarten würde.

  • „Wo sind Andrea und Aida?“, ächzte Ben, um ein wenig von sich abzulenken.
    Die Antwort der Entführerin bestand in einem Tiefschlag in die Magengegend. Er stöhnte gequält auf.
    „Diese Auskunft war falsch!“, klärte sie ihn gleich auf „Aber wenn es Sie beruhigt, es geht den beiden gut und sie genießen ebenfalls meine Gastfreundschaft. Also noch mal! Wer hat der Polizei den Tipp mit dem Parkplatz gegeben? Welche Pläne hat der Türke? Überlegen sie sich es gut, was Sie darauf antworten!“, belehrte sie den jungen Kommissar mit einer vor falschen Freundlichkeit triefenden Stimme.
    Semirs Pläne? Welche Pläne? Er verstand nach wie vor nur „Bahnhof“.
    „Ich weiß nichts!“, presste er hervor und spannte so gut es ging seine Muskeln an, um den kommenden Schlägen etwas von ihrer Wirkung zu nehmen. Wie erwartet, ließ ihre Antwort nicht lange auf sich warten. Wieder fing sie an, ihn mit ihren gezielten Schlägen zu malträtieren. Die Art und Weise wie und wo sie ihre Treffer platzierte, überzeugte Ben endgültig davon, dass die Frau eine Kampfsportausbildung genossen hatte. Es wurde die Hölle auf Erden für ihn. Immer wieder schrie er laut auf vor Schmerzen, spürte förmlich, wie sich ein Abgrund vor ihm auftat, bis ihn endlich eine erlösende Ohnmacht aufnahm. Er sackte in sich zusammen und sein Peiniger, der ihn bisher festgehalten hatte, ließ ihn achtlos auf den Waldboden fallen.


    „Harter Bursche!“, meinte die Geiselnehmerin anerkennend. „Schafft ihn erst mal rüber zu den Weibern! Der Boss will, dass er noch eine Weile am Leben bleibt, um im Notfall ein weiteres Faustpfand zu haben!“, klärte sie ihre beiden Kumpels auf, „Mit dem beschäftige ich mich morgen noch eingehend mal. Momentan wissen wir immer noch nicht, ob Nico im sicheren Versteck angekommen ist und was dieser verdammte Türke noch angezettelt hat.“


    Darüber hinaus hätte die Dunkelhaarige gerne Gewissheit gehabt, dass Nicolas Schneider während der Verhöre geschwiegen hatte, nichts von ihren Plänen Preis gegeben hatte. Aus eigener Erfahrung wusste sie, in den Protokollen der Ermittlungsbehörden stand nicht immer alles drinnen. Hatten die Behörden Nico vielleicht eine Wanze untergeschoben? Nachdem was sie über Semir Gerkhan aus ihren sicheren Quellen erfahren hatte, traute sie dem Türken so einige Tricks zu. Und noch etwas interessierte sie brennend, welcher Spitzel hatte es gewagt, der Polizei die Verabredung mit dem Kunden aus Osteuropa auf dem Parkplatz am gestrigen Morgen zu verraten? Fragen über Fragen … aber ihr Blick fiel wieder auf den bewusstlosen Polizisten. Der würde sie ihr momentan nicht beantworten können.


    Sie konnte es sich nicht verkneifen und trat mit einem gezielten Tritt auf den Oberkörper des bewusstlosen Opfers ein. Doch von dem kam keine Regung mehr. Die beiden männlichen Entführer packten sich jeweils einen Arm des verletzten Polizisten. Rücksichtlos zogen sie den ohnmächtigen Ben teils über den ausgetretenen Pfad, teils über den bewachsenen Waldboden zum Schuppen, öffneten die Türe und ließen ihn drinnen achtlos auf den Lehmboden fallen. Der Polizist merkte dank seiner Bewusstlosigkeit nichts von der rohen Behandlung.


    Sowohl Andrea, als auch Aida stießen beim Anblick von Ben einen gellenden Schrei: „Beeeeen!“ aus. Andrea hielt sich vor Entsetzen die Hand vor den Mund und unterdrückte ihre weiteren eigenen Emotionen. Ihre Tochter drückte sich vor Angst bebend an sie heran. Dies entlockte der Anführerin der Bande, die das Ganze als stille Zuschauerin an der Schuppentür beobachtete, nur ein diabolisches Lachen. Auf ein Zeichen ihrer Anführerin hin drehten sich die zwei Männer, die noch ihre Masken trugen, um und verließen den Schuppen. Die Tür wurde verschlossen und ein Riegel vorgelegt.


    Aus weit aufgerissenen Augen schaute Aida ihre Mutter an. Ihr Blick wanderte von dem schlimm zugerichteten Polizisten, ihren geliebten Ben, wieder zurück zu Andrea. Ihre Augen spiegelten ihre Ängste wieder. Sie kämpfte mit ihren Tränen. „Mama? …. Mama, was ist mit Ben? …. Was haben diese bösen Menschen mit ihm gemacht?“, fragte sie mit einem Aufschluchzen ihre Mutter. Andrea kniete sich vor Aida hin, umfasste ihre Schultern und versuchte Ruhe und Zuversicht auszustrahlen. In einem beruhigenden Tonfall sprach sie auf ihre Tochter ein.


    „Es wird alles wieder gut, mein Schatz! Papa macht, was diese Leute von ihm fordern. … Ja!“, sie strich ihr über die Haare und trocknete mit ihren Daumen die Tränen des Mädchen auf den Wangen. Andrea richtete sich auf. „Ich muss jetzt nach Ben schauen. Ok!“ Das kleine Mädchen nickte ganz tapfer. „Gut! … Setze dich einfach hier auf das Stroh und warte!“ Sie drückte Aida in eine Ecke des Holzverschlages und nahm ihr somit auch ein wenig die Sicht auf Ben.


    Nachdem sich Andrea sicher war, dass sich ihre Tochter beruhigt hatte, seufzte sie innerlich auf und ging zu dem verletzten Polizisten. Sie hatte vorhin seine qualvollen Schmerzensschreie gehört. Bei der Erinnerung daran rann ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Vor dem jungen Mann fiel sie auf die Knie und schluckte schwer, als sie Ben auf den Rücken drehte und näher untersuchte.
    Das Gesicht war durch Blut und Erde verschmutzt, die Lippe angeschwollen. Sein T-Shirt war ebenfalls an manchen Stellen zerrissen und blutverschmiert und durch Dreck und Gras befleckt. Es roch säuerlich nach Erbrochenen. Aus seinem Mundwinkel rann ein kleiner Blutfaden. Am Hinterkopf befanden sich mehrere Schwellungen und eine Platzwunde an der Stirn oberhalb des linken Auges, die durch die rüde Behandlung wieder aufgebrochen war. In einem dünnen Rinnsal sickerte das Blut in das dunkle Haar des Polizisten und von dort auf den Boden.


    Der junge Polizist schien von ihren Berührungen nichts zu spüren, kein Laut kam über seine Lippen. Vorsichtig tastete sie an der Halsvene nach seinem Puls. Schwach … aber regelmäßig … na wenigstens etwas. Im spärlichen Licht untersuchte Andrea ihn auf weitere Verletzungen. Momentan konnte sie äußerlich nicht viel erkennen, ob auch etwas gebrochen war … sein Oberkörper war übersät mit rotunterlaufenen Stellen, Schürfwunden und kleinen Risswunden, aus denen Blut sickerte und sein Shirt tränkten. Viel konnte sie im Moment an diesem Ort nicht für ihn tun. Das Beste war, ihn einfach in Ruhe liegen zu lassen, bis er von selbst wieder wach wurde. Vorsichtig brachte Andrea den Bewusstlosen in eine stabile Seitenlage, deckte ihn mit ihrer Jacke zu und kroch zurück zu ihrer Tochter.


    „Mama, wie geht es Ben? Was ist mit ihm?“, fragte das Mädchen besorgt bei ihrer Mutter nach. Andrea suchte nach den richtigen Worten. Sie konnte ihrer Tochter doch nicht die Wahrheit sagen, dass man ihren geliebten Ben brutal zusammengeschlagen hatte. Ein Blick in ihre dunklen Augen erzählten ihr mehr als Worte, wie sehr sie litt.


    „Du Aida, weißt du noch, wie sich Lilly den Kopf angestoßen hat und geblutet hat? Als wir mit ihr ein paar Tage im Krankenhaus waren? Ich denke, auch Ben hat sich auch ganz arg den Kopf angestoßen. Deshalb ist bei ihm auch alles voller Blut. Lilly hat damals auch viel geschlafen und ich denke, das macht Ben jetzt auch.“, versuchte sie mit ihren Erklärungen ihre Tochter zu beruhigen. Sie selbst war sich sicher, dass Ben dringend ärztliche Hilfe benötigt hätte.
    Nach einige Minuten der Stille fing Aida an zu quengeln: „Mama, ich habe Hunger und Durst!“
    „Schatz, die Männer werden uns bestimmt gleich was bringen. Komm, kuschle dich ein bisschen zu mir her und ich erzähle dir eine Geschichte.“


    Innerlich hoffte sie nur, dass ihr Mann die Forderungen der Entführer erfüllt hatte und sie bald wieder frei gelassen würden, so wie man es ihr anfangs versprochen hatte.
    Doch beim Anblick des zusammengeschlagenen Polizisten stiegen andere Bedenken in ihr auf. Die Geiselnehmerin war ohne Maskierung in den Verschlag gekommen. Sie und ihre Tochter waren auf einmal Zeugen. Eine entsetzliche Angst breitete sich in ihr aus.

  • Auf der PAST am späten Nachmittag


    Semir vermochte nicht zu sagen, wie er es geschafft hatte, unfallfrei bis zur Dienststelle zu kommen. Als er seinen BMW auf dem gewohnten Parkplatz abstellte, blieb er noch einige Minuten sitzen. Er lehnte sich im Sitz zurück und drückte seinen Kopf gegen die Kopfstütze. Seine innere Stimme machte ihm unaufhörlich schwere Vorwürfe. Immer wieder stellte er sich die Frage, hätte er im Büro der Schrankmann besser über die Erpressung geschwiegen? Wer weiß, vielleicht wären Andrea und seine Tochter bereits wieder frei? War mit der Fahndung nach diesem Nicholas Schneider eine Lawine ins Rollen gebracht worden, die sich nicht mehr aufhalten ließ?
    Einer seiner Kollegen vom Streifendienst klopfte besorgt gegen die Scheibe der Fahrertür und riss ihn aus seinen düsteren Gedanken. „Semir? … Alles in Ordnung bei dir?“
    Der kleine Türke winkte ab und öffnete die Fahrertür. „Alles in Ordnung, Günter!“, wiegelte er ein wenig ab, als er dessen besorgte Miene sah. Er stieg aus, ging mit schleppenden Schritten zur Eingangstür der Dienststelle und steuerte Susannes Schreibtisch an.


    „Hallo Susanne!“ begrüßte er die Sekretärin mit belegter Stimme. „Hast du schon ein paar Informationen? Hat die Fahndung nach Nicolas Schneider irgendwas ergeben?“
    „Tut mir leid Semir. Nichts … absolut nichts … es ist so als wäre der Typ vom Erdboden verschwunden. Aber die Kollegen und ich bleiben dran. Wir haben alle Verkehrsüberwachungskameras in der Umgebung des Gerichts ausgewertet. … Nur weißt du, etwas ist merkwürdig! Die Kamera, die den Eingangsbereich des Gerichts aufzeichnet, war heute Nachmittag ausgeschaltet! Sprich wir wissen nicht mal, welches Kennzeichen der dunkle Audi hatte, in welches der Kerl eingestiegen ist.“


    Bei dieser Bemerkung fuhr Semir zusammen. Nachdenklich runzelte er die Stirn. War das eine Spur? „Das ist doch kein Zufall! Das war doch Absicht. Kannst du herausfinden, wer Zugang zur Überwachungsanlage hatte?“


    „Schon dabei Kollege! Frau Krüger hat deswegen auch schon mit der Schrankmann Kontakt aufgenommen. Und du wirst es nicht glauben, die hat uns ihre volle Unterstützung zugesichert.“, meinte Susanne mit einem leichten ironischen Unterton.


    „Das ist ja das Mindeste was sie tun kann … Hätte die mich nicht in ihrem Büro festgehalten …!“ Er sprach seine Gedankengänge nicht aus. Es half ja nichts … was wäre wenn…. Er konnte es eh nichts mehr an den Tatsachen ändern. Der Türke steuerte schon den Weg zu seinem Büro an und stoppte abrupt bei Susannes nächsten Satz. Die hielt einen Kugelschreiber in der Hand und deutete mit dessen Spitze auf einen ihrer Bildschirme. „Ach ja, und noch was ist komisch Semir! Ich habe in der JVA wegen des Anwalts angerufen, weil doch dieser Herr Schneider bei dem Verhör nach keinem verlangt hatte. Der Typ hat auch aus dem Gefängnis niemanden angerufen. Dieser Anwalt kam einfach gestern Abend zu ihm.“


    Semir drehte sich praktisch auf dem Absatz um und wandte sich ihr zu. Die Überraschung stand ihm ins Gesicht geschrieben. „Bitte was? Was hast du gesagt? Der Anwalt ist einfach so aufgetaucht.“ Hörbar entwich ihm seine Atemluft und er lehnte sich gegen die Kante des Büroschrankes hinter dem Schreibtisch der Sekretärin. Nachdenklich fuhr er sich durch sein kurz geschorenes Haar. Laut sprach er aus, was ihm durch den Kopf ging. „Siehst du Susanne, genau das verstehe ich nicht! Was kann der Kerl oder für wen ist der so wertvoll, dass man einen solchen Aufwand betreibt, um ihn aus der Untersuchungshaft zu holen? Solch ein Risiko eingeht! Meine Familie entführt! Einen Polizisten entführt! Man schickt ihm einen solch teuren Staranwalt! Was Susanne, was? Ich verstehe es nicht!“ Fast verzweifelt kamen diese Worte aus Semirs Mund.


    Von den beiden unbemerkt war Kim Krüger hinzugetreten und mischte sich in das Gespräch ein. „Ihre Fragen passen zu den Informationen, die ich von Herrn Bonrath bekommen habe.“ Mit vor der Brust verschränkten Armen stellte sie sich vor ihre Mitarbeiter. „Einige ihrer Nachbarn, Herr Gerkhan, haben ausgesagt, dass in der fraglichen Zeit heute Nachmittag in ihrer Einfahrt ein Lieferfahrzeug von der Firma Express Parcel Service gestanden war. Ich habe gerade selbst mit dem Disponenten der Firma für den Großraum Köln gesprochen. Für die Straße, in der sie wohnen, gab es heute keine Auslieferung. Ihr Nachbar, Herr Höfer, hatte sich das Kennzeichen notiert.“ Ihr Blick wanderte zu Boden, als würde der eine Antwort liefern und zurück zu ihrem Kommissar, „Das Kennzeichen ist gefälscht.“
    „Oh Fuck!“, entfuhr es dem kleinen Türken. „Das heißt wir stehen vor dem Nichts!“
    Kim Krüger nickte ihm zu. „Es gibt wohl keinen Zweifel darüber, das waren keine Amateure. Keine Zufälle, sondern das war alles durchdacht und geplant. Wir können nur hoffen, dass sich die Entführer melden und neue Forderungen stellen oder man ihre Familie wie versprochen frei lässt!“ Doch die Tatsachen sprachen eine andere Sprache. Das, was Kim Krüger dachte, wollte sie lieber nicht aussprechen.


    So sehr sich in den kommenden Stunden alle Mitarbeiter der Dienststelle bemühten, es gab keine Hinweise, keine Spuren auf dem Verbleib von Nickolas Schneider und die Entführten. Es war als würde man eine Stecknadel im Heuhaufen suchen. Auch Semir stürzte sich wie ein wilder in die Ermittlungsarbeit. So sehr er es auch versuchte, er konnte diese eine Frage nicht aus seinen Kopf verdrängen. Hatte er richtig gehandelt hatte, als er seiner Chefin von der Entführung seiner Familie berichtete? Hatte er einen für seine Familie tödlichen Fehler begangen?

  • Zurück im Nirgendwo


    Kurz vor Einbruch der Dunkelheit öffnete sich die Tür des Schuppens unter einem leisen Quietschen. Andrea schrecke hoch und starrte in Richtung der Öffnung. Das Stroh raschelte, als sie sich erhob. Mit einem Handzeichen gab sie ihrer Tochter zu verstehen, ruhig sitzen zu bleiben. Der kleinere der Entführer betrat den Schuppen. Zu ihrem Entsetzen: ohne Maskierung. Sein hinterhältiger Blick wanderte zu Ben, der immer noch regungslos da lag. Mit seiner Stiefelspitze stieß er den Dunkelhaarigen an.
    „Lebt der überhaupt noch?“, erkundigte er sich.
    „Lassen Sie ihn Frieden!“, fauchte Andrea den Entführer an. „Ihr habt ihn schließlich schon schrecklich genug zugerichtet.“ Sie ging ihm einige Schritte entgegen. Der Dicke antwortete mit einem hinterhältigen Lachen. Vor Andrea stellte er einen Six-Pack Mineralwasserflaschen und eine befüllte Stofftasche auf den Lehmboden. „Teilen Sie sich die Lebensmittel gut ein! So schnell gibt es nichts mehr!“, herrschte er die Gefangenen mit seiner piepsigen Stimme an. „Und hier eine Decke für die Kleine! Könnte ein bisschen kalt werden heute Nacht!“, zischelte er hämisch hinterher und warf ihr eine Steppdecke zu, die er unter dem Arm getragen hatte.
    „Dann noch eine angenehme Nachtruhe!“, sprach es und verschwand.
    Andrea nickte automatisch und sah zu, wie sich die Schuppentür wieder verschloss. Angesichts von so viel Kaltblütigkeit fehlten ihr einfach nur die Worte.
    Durch die Schlitze im zugenagelten Fenster fiel nur noch ein spärliches Licht in das Innere des Schuppens. Bevor sie das Essen und Trinken in die Ecke schaffte, in der Aida saß, kümmerte sich Andrea noch mal um Ben. Mehr als einmal hatte sie in der vergangenen Stunde seinen Pulsschlag und seine Atmung kontrolliert. Sie war sich mittlerweile nicht sicher, ob er noch bewusstlos war oder in einen Schlaf gefallen war. Langsam machte sie sich ernste Sorgen um ihn, weil so gar keine Regung von ihm kam.
    Anschließend versorgte sie ihre Tochter. Die Steppdecke war alt und zerschlissen aber wenigstens würde sie wärmen. Die Nächte Ende April konnten immer noch empfindlich kalt werden. Auch im Schuppen hatte es schon merklich abgekühlt, seit die Sonne hinter dem Horizont verschwunden war. Die Zeitspanne zwischen Abenddämmerung und bis zum Einbruch der Nacht dauerte nicht lange an und Andrea war klar, sie sollte das letzte schummrige Tageslicht ausnutzen, um die Vorbereitungen für die Nacht abzuschließen. Denn im Moment ging es hier nur noch um das nackte Überleben. … überleben … Ben. Irgendwie musste sie es schaffen, ihn in die hintere Ecke des Schuppens zu ziehen. Dort hatte sie bereits alles alte Stroh, das über dem Boden verteilt gelegen war, im Laufe des Nachmittags zusammengeschoben, um für Aida und sich eine wärmenden Unterlage zu haben. Sie packte Ben an den Armen und schleifte ihn über den Boden. Dabei stellte sie fest, dass der junge Mann wesentlich schwerer war, als sie vermutet hatte.


    „Soll ich dir helfen Mama? Ich kann einen Fuß nehmen“, bot sich Aida hilfsbereit an, die die Bemühungen ihrer Mutter neugierig beobachtete.
    „Ja, mach das Aida!“
    Mit vereinten Kräften erreichten sie ihr Ziel und der verletzte Polizist befand sich auf dem provisorischen Schlafplatz. Andrea war nicht entgangen, dass Ben dabei mehrmals geregt und aufgestöhnt hatte. Auch wenn der Entführer ihr empfohlen hatte, mit den Vorräten zu haushalten, beschloss Andrea ein bisschen Wasser zu opfern, um zumindest Bens Gesicht vom Schmutz und Blut zu säubern. Schon allein Aidas wegen. In einer ihrer Jackentasche befand sich Päckchen Zellstofftaschentücher. Sie entnahm eines nach dem anderen, benetzte es mit ein wenig Wasser und begann behutsam ihre Arbeit.


    Angenehme Kühle, die über sein Gesicht strich, weckte Ben und holte ihn zurück in die Gegenwart. Sein Mund fühlte sich so ausgetrocknet an. Er bewegte die Lippen, um etwas von der Feuchtigkeit aufzunehmen.
    „Ben?“, sprach ihn eine vertraute Stimme an. „Ben, hörst du mich? Bist du wach?“
    Er brachte einfach keinen Ton heraus und versuchte zu nicken. Das hätte er besser nicht getan. Diese einfache Bewegung weckte die kleinen Teufelchen auf, die mit ihrem Hämmern und Klopfen ihm das Gefühl gaben, sein Kopf würde gleich zerspringen. Er stöhnte furchtbar auf.
    „Möchtest du etwas trinken!“ – Es war mehr Hauch als ein gesprochenes Wort, als er ein leises ja krächzte. Mit äußerster Vorsicht schob Andrea ihre Hand unter Bens Nacken und vermied es die Schwellungen und Platzwunden am Hinterkopf zu berühren. Durch ihre stützende Hand, gelang es Ben den Kopf leicht anzuheben. Andrea setzte die Wasserflasche an seine Lippen an und ließ langsam ein wenig Flüssigkeit in seinen Mund rinnen. Seine Kehle war wie ausgedörrt, durstig begann er zu schlucken. Als Andrea die Flasche absetzte, brachte er mühsam hervor: „Mehr …!“ Abermals hielt sie Ben die Mineralwasserflasche an die Lippen, der sogleich gierig zu schlucken begann.
    „Trink langsam! … Bitte, nicht dass du dich verschluckst!“, ermahnte sie ihn.


    Als Andrea die Flasche wegnahm, zwang er sich die Augen zu öffnen. Im ersten Moment erschrak Ben, weil alles um ihn herum dunkel war. Doch als er sich ein bisschen an die düsteren Lichtverhältnisse gewöhnt hatte, nahm er die Umrisse der Gestalt von Andrea und Aida wahr.
    „Hallo ihr beiden!“ krächzte da jemand … war das seine Stimme?
    „Hallo wie geht es dir? Warum haben die dich so furchtbar verprügelt? Und vor allem, was macht dein Kopf?“, erkundigte sich Andrea mitfühlend bei Ben und bettete seine lädierten Schädel vorsichtig auf der weichen Strohunterlage. Behutsam wischte sie ihm die letzten Blutreste von seinem linken Auge und der Stirn. Er schaute sie mit einem gequälten Ausdruck aus seinen dunklen Augen an.
    „Ging schon mal besser. … Keine Sorge, die Beulen und blauen Flecke heilen schon wieder. Du weißt doch, Unkraut vergeht nicht.“ Er hielt einen Moment inne, „Du hast nicht zufällig zwei Aspirin für mich gegen Kopfschmerzen?“, versuchte er zu scherzen, obwohl ihm in diesem Moment gar nicht danach zu Mute war. Von überall her sendete sein gepeinigter Körper Schmerzsignale aus, jeder Atemzug peinigte ihn, er fühlte sich einfach nur elend. Ben schloss wieder die Augen, weil so der Schmerz leichter zu ertragen war. „Wie geht es euch?“
    Andrea nahm ein weiteres Taschentuch, befeuchtete es mit Wasser und legte es auf die Schwellung von Bens linkem Auge. „Bei uns ist alles ok. Soweit man in solch einer Umgebung und Situation davon reden kann!“, beruhigte sie ihn. Dem Dunkelhaarigen entwich zischend die Atemluft zwischen den Zähnen, als er sich ein wenig bequemer hinlegte und sich sammelte.
    „Andrea? … Was wollen die Entführer? In … was sind wir hier … hineingeraten? Weißt … du es?“, fragte er mit schwacher Stimme nach. In kurzen Sätzen erklärte sie ihm, was sich seit dem Eintreffen der Entführer in ihrem Wohnzimmer zugetragen hatte und welche Forderungen die Geiselnehmer am Handy Semir gegenüber gestellt hatten. Dabei strich sie ihm eine seiner widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht. „Ich habe so die Befürchtung, dass dein plötzliches Auftauchen sie komplett aus dem Konzept gebracht hat.“


    „Oh, verdammt … jaaaaah!“, hauchte er, zur falschen Zeit am falschen Ort dachte er bei sich selbst ironisch. Der Spruch bekam für ihn eine neue äußerst schmerzhafte Definition. Er dachte über das, was ihm Andrea erzählt hatte nach, die Fragen, die die dunkelhaarige Frau ihm gestellt hatte und so langsam verstand er einige Zusammenhänge. Das Denken strengte ihn an und er hatte das Gefühl, sein Kopf würde jeden Moment zerplatzen. Andrea hielt ihm nochmal die Wasserflasche hin, um ihn daraus trinken zu lassen. Sie machte eine kurze Pause, bevor sie ihn fragte: „Möchtest du was essen?“
    „Nein danke. … Ich habe keinen Hunger. … Lass mich … einfach nur so liegen.“ Kurze Zeit später dämmerte er in einen Schlaf hinüber.
    Ben und keinen Hunger … das zeigte Andrea mehr als deutlich, wie schlecht es dem jungen Polizisten tatsächlich ging.

  • Zurück auf der PAST
    Zu später Stunde kam Frau Krüger zu Semir ins Büro. Sie sah, wie ihr Mitarbeiter unter der Situation litt. „Fahren Sie nach Hause Herr Gerkhan! Versuchen Sie wenigstens ein paar Stunden zu schlafen!“
    „Verdammt noch mal Frau Krüger! Ich kann nicht einfach nach Hause gehen. … Wir haben nichts … überhaupt nichts!“, brüllte er seine Chefin an, fuhr senkrecht in die Höhe und wischte mit einer ungeduldigen Armbewegung die Akten von seinem Schreibtisch. „Scheiße!“, murmelte er mehr für sich und ließ sich völlig entmutigt in seinen Stuhl fallen.
    Es gab einen lauten Knall, als die Akten auf dem Boden aufschlugen. Die Köpfe der anderen Mitarbeiter im Großraumbüro fuhren erschrocken herum und starrten in Richtung seines Büros. Doch Semir nahm das überhaupt nicht wahr. Sein Blick ging ins Leere. Die Buchstaben auf dem Bildschirm verschwammen vor seinen Augen.
    „Herr Gerkhan, bitte! … Fahren Sie nach Hause! … Versuchen Sie, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Frau Schrankmann hat uns ihre volle Unterstützung zugesagt. Wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, damit sie ihre Familie heil wieder bekommen.“, beschwor ihn Kim Krüger. Dabei dachte sie daran, wie oft sie diese Floskel schon Angehörigen von Opfern gesagt hatte. In diesem Augenblick klang sie irgendwie hohl, ohne jeden Sinn, wenn sie bedachte, wie aussichtslos die Lage war, die Entführten zu finden. Trotzdem versprach sie ihm: „Wenn sich irgendwas ändert oder wir was herausfinden, werden Sie sofort informiert.“ Eigensinnig schüttelte Semir den Kopf und nuschelte dabei: „Ich kann jetzt nicht einfach nach Hause fahren!“ Er stützte seine Ellbogen auf die Schreibtischplatte und vergrub sein Gesicht in seine Hände. „Ich kann nicht! … Ich kann einfach nicht!“
    Kim verharrte noch einige Sekunden in der Tür. Aber auch ihr fehlten weitere Worte. Ihre Gedanken waren bei ihrem jungen Kommissar. Lebte der überhaupt noch? Sie löste sich aus ihrer Erstarrung und wandte sich an Susanne. „Probieren Sie nachher noch einmal ihr Glück! Vielleicht schaffen Sie es, Herrn Gerkhan dazu zu bewegen, zumindest für ein paar Stunden nach Hause zu fahren, um zu schlafen.“ Kim blickte auf ihre Armbanduhr und seufzte auf. „Ich treffe mich in einer halben Stunde mit dem Leiter der Spurensicherung des LKAs Herrn Schmidt in Düsseldorf. Anschließend fahre ich nach Hause. Falls sich etwas ergibt, ich bin auch auf meinem Handy jederzeit erreichbar.“ Mit diesen Worten verabschiedete sich Kim Krüger, schnappte sich ihre Autoschlüssel und ihre Tasche vom Schreibtisch und verließ die Dienststelle.


    Einige Zeit später gelang es Susanne, den Türken davon zu überzeugen, dass man zu so vorgerückter Stunde in der Nacht nichts mehr erreichen könnte. Als auch sie ihre Sachen zusammenpackte, um zumindest ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, trottete er hinter ihr her und fuhr ebenfalls nach Hause. Er parkte seinen silbernen BMW gewohnheitsgemäß in der Zufahrt. Als er ausstieg musterte er die Fassade seines Hauses, das dunkel und verlassen wirkte. Beim Betreten der Diele empfing Semir eine merkwürdige Stille. Kein fröhliches Kinderlachen erklang aus den Kinderzimmern im ersten Stock. Keine Andrea, die ihm einen Kuss auf die Lippen hauchte, keine Aida, die ihm ein selbst gemaltes Kunstwerk zur Bewunderung vor die Augen hielt. Es war, als wäre das Leben aus dem Haus verschwunden. Er knipste das Licht an und ließ seinen Blick in die Runde schweifen. Die Kollegen der Spurensicherung hatten schon vor Stunden ihre Arbeit beendet. Überall waren noch die Rückstände des feinen weißen Puders auf den Möbelstücken, auf den Türen und den Fenstern zu sehen, mit dem sie nach Fingerabdrücken gesucht hatten.


    Sein erster Gang führte ihn zum Kühlschrank, aus dem er sich eine Flasche Bier nahm. Er begab sich zurück in sein Wohnzimmer. Ratlos blieb er stehen und blickte sich im Raum um. Durch das Terrassenfenster konnte er im fahlen Licht des Mondes den Blutfleck auf den Steinplatten der Terrasse erkennen. Er stöhnte gequält auf und trank die Flasche in einem Zug leer. Nachdenklich hielt er sie in der Hand und betrachtete sie. Schwer atmend, seufzte er auf … und in einem Anfall voller Zorn und gleichzeitiger Hilflosigkeit warf er sie mit voller Wucht auf den Boden des Wohnzimmers, wo sie vor der Terrassentür in unzählige Scherben zersprang. Ein Scherbenhaufen … ja so fühlte sich gerade sein Leben an … ein Scherbenhaufen … ein Trümmerhaufen. Die Menschen, die ihn am wichtigsten waren, befanden sich in Lebensgefahr und er konnte nichts, absolut nichts tun, um sie zu retten. Wieder überfiel ihn die Frage, war er schuldig?


    Mit einem verzweifelten Aufschrei fiel Semir in der Mitte des Wohnzimmers vor dem Sofa auf die Knie. Wieder tanzten die fröhlichen Bilder des vergangenen Abends vor seinen inneren Augen herum. Tränen liefen ihm über das Gesicht. Wie konnte das Schicksal nur so grausam sein? Er lehnte sich mit dem Rücken an das Sofa an. Seine Gedanken fingen an, sich im Kreis zu drehen. Er hatte doch die Forderungen der Entführer erfüllt … seine Aussage widerrufen … der Unglücksfahrer war frei … untergetaucht … spurlos verschwunden. Was wollten diese Kerle noch von ihm? Was nur? Er wollte doch nur seine Familie wieder haben. Ben! Irgendwann dämmerte er in seiner sitzenden Haltung in einen unruhigen Schlaf hinüber.


    … irgendwo im Dunkel der Nacht …


    Aida hatte sich nahe an Ben herangekuschelt und ihre Mutter deckte die beiden zu. Andrea legte sich neben ihre Tochter. Durch die körperliche Nähe wärmten sie sich gegenseitig. Andrea kam einfach nicht zur Ruhe, zu viele Gedanken schwirrten in ihrem Kopf herum. An den gleichmäßigen Atemzügen ihrer Tochter war zu hören, dass sie eingeschlafen war. Von Ben war ein ums andere Mal ein schmerzvolles Aufstöhnen zu hören.


    „Wie geht es dir wirklich Ben? Sag mir die Wahrheit! Warum haben die dich so zugerichtet?“ flüsterte Andrea leise, in der Annahme, dass der junge Mann vielleicht ihre Worte hören könnte. Aber es kam keine Antwort. Von draußen drangen die Geräusche des Waldes bei Nacht zu ihr durch. Das Zirpen der Grillen, Holz knackte und knarzte. Dürres Laub, das den Waldboden bedeckte, raschelte. Der Wind rauschte durch die noch zarten Blätter der Bäume. Es schien, als wäre der Wald mitten in der Nacht zu Leben erwacht und erzeugte hunderte verschiedener Laute. Ein Grunzen und Quieken näherte sich der hinteren Schuppenwand. Sie lauschte der Rotte Wildschweine, die scheinbar in der Nähe des Schuppens auf Futtersuche gingen. Irgendwann übermannte sie die Müdigkeit dann doch und sie fiel in einen traumlosen Schlaf hinein.


    …Zurück im Haus der Gerkans


    Alpträume plagten Semir … Wilde und verzerrte Bilder tanzten vor seinem inneren Auge herum … Er fuhr mit seinem silbernen BMW an der Grenze des Erlaubten … Regen und die Gischt der anderen Fahrzeuge behinderten seine Sicht … ließen die Welt um ihn herum im Gegenlicht der entgegenkommenden Scheinwerfer unwirklich erscheinen … vor seiner Garage parkte er den BMW und stürmte ins Haus … rannte in sein Wohnzimmer …. Schrie ihre Namen: Andrea, Aida, Ben … und da lagen ihre Leiber vor ihm … seltsam verkrümmt … erschossen … ihr Blut tränkte den Teppich … er rannte zu ihnen hin … fiel auf die Knie … berührte ihre leblosen Körper … rüttelte daran … schrie ihre Namen voller Verzweiflung heraus … seine Hände wurde vom Blut der Getöteten benetzt … sie atmeten nicht mehr … aus und vorbei … sie waren alle drei tot. Einfach tot.
    Schweißgebadet schreckte er hoch und schrie die Namen der Getöteten lauthals heraus. Mit weit aufgerissenen Augen saß er da. Die Deckenlampe in der Diele brannte noch. Ihr Lichtkegel spendete genügend Helligkeit, dass es bis zum Terrassenfenster reichte. Laut keuchend atmete er vor sich hin und betrachtete seine zitternden Hände. Die sahen aus wie immer. Er schloss die Augen und überlegte … was war geschehen? … Was war Wahrheit? … Was war ein Traum gewesen?


    Semir öffnete wieder seine Augenlider und ließ seinen Blick durch den Raum schweifen. Er erkannte sein Wohnzimmer … die Möbel … den Teppich, auf dem er saß. Schlagartig wurde ihm bewusst, es war ein Alptraum gewesen. Und trotzdem, er konnte nicht gegen seine Emotionen ankämpfen. Seine innerliche Verzweiflung und seine Schuldgefühle überwältigten ihn. In seinen Augen schimmerte es feucht. Er focht mit sich einen inneren Kampf aus. Die Stille des Hauses, die ihn fast erdrückte, wurde nur von dem monotonen Ticken der Küchenuhr durchbrochen. Der Kühlschrank brummte fast lautlos vor sich hin. Sein Blick wanderte zum großen Terrassenfenster. Am Horizont erschien ein schmaler Lichtstreif, der in die Morgendämmerung überging. Die Natur zauberte ein faszinierendes Farbenspiel an den Himmel. Der neue Tag kündigte sich an. Bedeutete es für ihn neue Hoffnung seine Familie zurückzubekommen? Vielleicht gab es ja endlich einen Hinweis?
    Semir warf einen Blick auf die Uhr des Receivers. Es war zwanzig vor sechs. Er konnte sowieso nicht mehr schlafen. Mühsam erhob er sich aus seiner sitzenden Haltung. Seine Glieder und Muskeln waren völlig steif von der ungewohnten Schlafstellung. Zuerst ging er ins Obergeschoss um zu duschen. Anschließend beseitigte er den Scherbenhaufen vor der Terrassentür und bereitete sich in der Küche eine Tasse Kaffee zu. Hunger verspürte er keinen, obwohl der Kühlschrank gut gefüllt war. Selbst der Kaffee schmeckte bitter und so schüttete er den Inhalt der Tasse angewidert in den Ausguss und machte sich auf dem Weg zur Dienststelle.


    Irgendwo am nächsten Morgen ….


    Das Motorengeräusch eines sich nähernden Autos weckte Andrea am nächsten Morgen. Vorsichtig erhob sie sich und ging in Richtung des vernagelten Fensters. In der Hoffnung durch einen der Schlitze etwas beobachten zu können, presste sie sich nahe an die Holzbretter heran.


    Die dunkelhaarige Frau entstieg dem dunklen Sprinter, mit dem sie gestern entführt worden waren. Die verräterische Aufschrift war entfernt worden. Das Fahrzeug sah aus, wie unzählige andere, die auf den Straßen des Rheinlandes herumfuhren. Die Dunkelhaarige warf einen prüfenden Blick in Richtung des Schuppens und begab sich mit einigen Taschen bepackt zum Wohnhaus.
    Hinter Andrea erklang ein schmerzerfüllter Aufschrei.

  • auf der Dienststelle


    Semir war nicht der einzige Frühaufsteher an diesem Morgen. Neben den Kollegen der Frühschicht befanden sich Susanne und Frau Krüger ebenfalls schon im Büro. Durch die Glasscheiben erkannte er, dass sie den Telefonhörer in der Hand hielt. Ihrer Gestik und Mimik nach zu urteilen, führte seine Chefin ein sehr emotionales Telefongespräch. Susanne kam ihm entgegen, denn sie befand sich auf dem Weg von ihrem Schreibtisch zur Teeküche.
    „Guten Morgen Semir! Wie geht es dir?“, erkundigte sich Susanne mitfühlend und gleichzeitig hätte sie sich für die Frage ohrfeigen können. Der Anblick des kleinen Türken sprach für sich allein. Sein Gesicht wirkte aschfahl und um seine Augen lagen dunkle Ringe. „Ich habe frischen Kaffee gekocht. Möchtest du auch einen?“


    „Guten Morgen Susanne … ja gerne … Habt ihr schon was Neues? Eine Spur? Irgendwas?“ Seine Frage wirkte so erschreckend tonlos wie leblos. Das war nicht der Kommissar, den sie normalerweise kannte, energiegeladen … voller Tatendrang. Sondern eher am Boden zerstört, verzweifelt. So wie sie sich selbst ebenfalls fühlte. Bis jetzt endete jede Spur in einer Sackgasse.
    „Tut mir leid Semir. Die Kollegen haben sich die ganze Nacht um die Ohren geschlagen, um die Verkehrsüberwachungskameras im fraglichen Zeitraum um das Landgericht auszuwerten!“ Sie zuckte hilflos mit den Achseln. „Aber ohne Kennzeichen des Audis ist da einfach nichts zu machen.!
    „Verdammt! … Verdammt!“, fluchte er vor sich hin und hämmerte mit seiner Faust gegen den Türrahmen. Aus dem Augenwinkel sah Susanne wie er mit hängenden Schultern in sein Büro ging und sich in seinen Stuhl fallen ließ. Als sie die Kaffeetasse auf Semirs Schreibtisch abstellte, zwei Päckchen Zucker und einen Löffel dazu legte, sah sie seinen bedrückten Blick.


    „Mensch Semir, Andrea ist meine beste Freundin … Aida ist für mich wie ein Patenkind … und ja, ich mache mir auch große Sorgen um die drei. Um Ben! … Doch wir sollten die Nerven behalten.“ Sie versuchte ein wenig Zuversicht auszustrahlen, während ihr Kollege die Zuckertütchen aufriss und der Zucker langsam in dem dunklen Getränk verschwand. „Ich habe dir alle Ermittlungsergebnisse von der KTU, dem Unfall und dem Überfall auf euer Haus auf den Server gelegt.“ Sie stellte sich seitlich neben Semir, zog die Tastatur und die Maus zu sich heran. Mit einigen gezielten Klicks öffnete sie die fraglichen Dateien, die am Bildschirm an der Wand aufflackerten. Susanne richtete sich auf, setzte sich auf die Schreibtischkante und nippte an ihrem Kaffee. Der Türke hatte sich mittlerweile beruhigt und lass konzentriert in den Dateien. Dabei rührte er gedankenverloren mit dem Löffel in der Kaffeetasse. Nach einigen Minuten lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und deutete mit dem Mauszeiger auf eine Datei. Es war die Strafakte von Nicholas Schneider. Ohne Aufforderung erklärte ihm Susanne. „Ich warte momentan drauf, dass mich jemand aus dem Jugendknast anruft und sein damaliger gesetzlicher Betreuer. Vielleicht ergibt sich da eine Spur für uns über einen möglichen Aufenthaltsort, Freunde oder uns!“


    Es herrschte ein Moment des Schweigens, bevor der Türke wieder das Wort ergriff. „Du hättest die Miene von diesem Nicholas Schneider während der Gesichtsverhandlung sehen sollen! Der Kerl wusste Bescheid. Dem war klar, dass er als freier Mann den Gerichtssaal verlassen wird. Und dann der Anwalt!“ Semir lachte ironisch auf. „Was sagt dieser Staranwalt Dr. Hinrichsen dazu, dass sein Mandant frei gepresst wurde?“
    „Der Kerl ist glatter wie ein Aal. Du kennst ihn doch aus früheren Fällen. Der beruft sich auf Datenschutz und dem üblichen Blah ... Blah und als Anwalt muss er ja nichts aussagen“, erläuterte ihm die Sekretärin.
    „Vielleicht habe ich da eine passende Erklärung!“, erklang es hinter Semir, der den Kopf wendete und drehte seinen Stuhl. Die Chefin räusperte sich und ein wütender Ausdruck überzog ihr Gesicht. Sie hatte von den beiden unbemerkt das Büro betreten und stellte sich neben die Sekretärin. Sie schürzte kurz ihre Lippen und fuhr mit ihren Ausführungen fort. „Ich hatte gerade ein nettes Telefongespräch mit einem Staatssekretär aus dem Innenministerium. Wie unsere Dienststelle und die Staatsanwaltschaft dazu kommen, einen solch angesehenen Anwalt wie Herrn Dr. Hinrichsen zu verdächtigen mit einem seiner Mandanten gemeinsame Sache zu machen und zu befragen. Laut Herrn Weigel aus dem Innenministerium vertritt unser Staranwalt aus sozialem Engagement unentgeltlich Mandanten, denen nur ein Pflichtverteidiger zu steht! Ein solcher Mandant sei unser Nicholas Schneider gewesen.“
    Ungläubig schüttelte Semir wie wild seinen Kopf hin und her und lachte gequält auf. „Deswegen ruft jemand aus dem Ministerium an? … Wollen die uns verarschen Chefin? … Da steckt mehr dahinter, viel mehr. Dieser Nicholas Schneider ist kein so unbeschriebenes Blatt, der nur zufällig eine Massenkarambolage verursacht hat! Niemals!“
    „Dann sind wir schon zu zweit, Herr Gerkhan!“, pflichtete sie ihm bei. „Nur welche Leiche hat dieser Nicholas Schneider vergraben?“ Sie schaute von Semir zu Susanne und wieder zurück. „Hat jemand eine Idee?“ Zu dritt beratschlagten sie die weitere Vorgehensweise. Kim verließ als erste das Büro und steuerte die Teeküche an. Susanne verharrte noch einen Moment hinter Semir, der mit hängenden Schultern in seinem Stuhl saß und den ersten Aktendeckel aufschlug. Mitfühlend legte sie ihm die Hand auf die Schulter und nuschelte: „Wir finden die Drei!“ Kaum sichtbar nickte der Türke.


    Die Sekretärin wollte zuerst ihre geleerte Tasse in der Teeküche erneut füllen, bevor sie sich ebenfalls in die Ermittlungsarbeit stürzte. In der Küche stand Kim Krüger und schien auf sie gewartet zu haben.
    „Wie geht es ihm?“ Ihr besorgter Blick wanderte dabei in Semirs Richtung.
    „Nicht gut! Gar nicht gut! Ich weiß ja, wie ich mich fühle … aber für Semir muss es die Hölle sein, die er gerade durchlebt.“
    „Sagen Sie mir sofort Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt! Und kümmern Sie sich um Herrn Gerkhan!“
    Nachdenklich ruhten ihre Blicke auf ihrem Mitarbeiter, bevor sie sich entschloss zurück in ihr Büro zu gehen. … Minuten vergingen … wurden zu Stunden …

  • Zurück im Irgendwo ….


    Andrea fuhr erschrocken zusammen und drehte sich um. Ihre Tochter stand total erschrocken in der Ecke. Das Mädchen schaute voller Entsetzen auf den sich am Boden vor Schmerzen windenden Ben. Der hatte seine rechte Hand schützend auf die kurzen Rippen seiner linken Seite gelegt. Seine linke Hand hatte er zu einer Faust geballt und hieb damit auf dem Boden ein. Die Steppdecke lag seitlich neben Aida auf dem provisorischen Strohbett.


    „Ich habe doch gar nichts gemacht Mama, ehrlich! Ich wollte doch Ben nur wecken, ich habe seinen Kopf nicht berührt!“, verteidigte sich das Mädchen völlig verängstigt und wich noch ein paar Schritte rückwärts bis zur Hüttenwand zurück.
    „Schon gut Aida … schon gut! Wo hast du denn Ben berührt Kleines?“, forschte sie nach.
    „An seiner Brust …ich wollte ihn nur ein bisschen kitzeln und wachrütteln, so wie sonst zu Hause auch, wenn er bei uns schläft. Ich wollte ihm doch nicht wehtun!“ Tränen füllten die Augen des Mädchens, sie schluchzte auf, während im Hintergrund Bens schmerzvolles Keuchen zu hören war. „Ehrlich Mama, ich wollte Ben doch nicht weh tun!“
    „Schon gut Aida! Schscht … Schscht … Das weiß ich doch und Ben auch. Nicht mehr weinen Kleines, es wird alles wieder gut!“, mit einem aufmunternden Lächeln streichelte sie ihrer Tochter über die Haare. „Nicht mehr weinen mein Schatz!“ Sie hauchte ihrer Tochter einen Kuss auf die Stirn und wandte sich Ben zu, der auf seiner rechten Seite mit dem Gesicht nach unten auf dem Lehmboden lag.


    Dem dunkelhaarigen Polizisten tat in diesem Moment Aida nur so unendlich leid. Wie durch Watte gedämpft, hörte er ihr Schluchzen und Andreas Stimme. Er hatte das Mädchen mit seinen Schrei nicht so schrecken wollen. Aber der Schmerz, der durch seinen Körper getobt hatte, als sie den Bereich um seine geprellten Rippen berührte, war einfach die Hölle gewesen. Langsam ebbte er ab und Ben bekam sich wieder unter Kontrolle. Er drehte sich zurück auf den Rücken und versuchte kontrolliert und flach zu atmen.


    Andrea kniete sich neben dem verletzten jungen Mann hin. Kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Sein schmerzverzerrtes Gesicht war kreidebleich, was durch Schwellungen und Blutergüsse noch verstärkt wurde. Seine zusammengekniffenen Lippen waren schmal wie ein Strich. Der gequälte Ausdruck seiner dunklen Augen erzählte ihr mehr als alles andere. „Ben, Ben …! Lass mich mal schauen!“, sprach Andrea beruhigend auf den jungen Mann ein und versuchte währenddessen, seine Hände zur Seite zu drücken, um sein T-Shirt hochzuschieben. Er umklammerte Andreas Handgelenk und hielt sie fest.
    Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass der junge Kommissar Prügel einstecken musste. Nachdem die Frau ihn gestern mit einem Schlagring bearbeitet hatte, hatte er gewisse eine Vorstellung davon, wie sein Oberkörper vermutlich aussah. Den Schmerz, den seine geprellten Rippen und die anderen Prellungen aussandten, sprachen Bände. Er wollte Aida den schaurigen Anblick der Blutergüsse ersparen.


    „Alles gut Andrea … alles gut!“, wisperte der junge Polizist leise und seine Augen richteten sich auf Aida, die ängstlich und ein wenig verstört die Szene beobachtete. „Hallo Prinzessin … alles ist gut! Keine Angst …du hast keine Schuld!“, sprach er in Richtung des Mädchens beruhigend. Das daraufhin mit dem Handrücken seine Tränen von den Wangen wischte.
    „Nein! Nichts ist in Ordnung Ben! Nichts ist gut! Was haben die mit dir gemacht?“, widersprach ihm Andrea energisch. „Und warum?“
    „Diese dunkelhaarige Hexe … war … glaube ich … ein bisschen … sauer auf … mich. Sie hat geglaubt, … dass Semir… mich geschickt hat … Semir sie reingelegt hat …. Und … als ich gestern ihre Fragen … nicht beantworten konnte, … hat sie mich wohl mit einem Sandsack verwechselt, als sie mich mit einem Schlagring bearbeitet hat …“, brachte er gequält hervor. Jetzt verstand Andrea auch seinen warnenden Blick in Richtung ihrer Tochter. „Es sieht wahrscheinlich schlimmer aus, als es ist.“, versuchte er seine Verletzungen herunter zu spielen. „Nur die Rippen haben ein wenig mehr abbekommen!“
    „Hier trink mal!“ Vorsichtig schob sie ihre Hand unter seinem Kopf, stützte seinen Oberkörper und half ihm dabei sich aufzurichten. Dabei hielt sie ihm die geöffnete Wasserflasche hin. Dankbar nahm er die Flasche in die Hand und trank gierig einige Schlucke, was mit seiner angeschwollenen Lippe gar nicht so einfach war.
    Mit Andreas Hilfe gelang es ihm endgültig, in eine sitzende Position zu kommen. So konnte er leichter atmen, allerdings spielte dafür sein Kopf verrückt. Er rutschte in seiner sitzenden Haltung rückwärts und lehnte sich an die Holzwand des Schuppens. Mit geschlossenen Augen wartete er darauf, dass das Schwindelgefühl nachließ und die Schmerzen sich in seinem geschundenen Körper beruhigten.
    Von draußen näherten sich Schritte und Stimmen dem Schuppen. Nach den Äußerungen der Geiselnehmer von gestern stieg eine böse Ahnung in Ben hoch.

  • Obwohl der Himmel wolkenverhangen war, fiel grelles Tageslicht herein, als die Holztür unter leisen Quietschen geöffnet wurden. Im ersten Moment wurde Ben davon geblendet. Schützend legte er seinen rechten Arm vor die Augen und blinzelte. Die Geiselnehmer standen vor ihnen und diesmal alle ohne die Tarnung der Sturmmasken über dem Gesicht. Nach wie vor trugen die beiden Männer ihre schwarzen Kampfanzüge. Ben nutzte die Gelegenheit bei gutem Licht das Innere ihres provisorischen Gefängnisses zu mustern. Die Entführer hatten ganze Arbeit geleistet. Man konnte deutlich erkennen, dass schadhafte Bretter der Außenwand ausgetauscht worden waren bzw. frische darüber genagelt worden waren. Verflucht, die hatten scheinbar an alles gedacht, ging es Ben durch den Kopf. So leicht würde eine Flucht aus diesem Gefängnis nicht werden. Das Fenster … ja das vernagelte Fenster war die einzige Schwachstelle, die eine Flucht ermöglichen würde. Sie mussten hier raus. Das Gespräch, das die drei Kidnapper gestern geführt hatten, war eindeutig gewesen. Die wollten Andrea und ihn, sobald sie als Geiseln nicht mehr nützlich waren, beseitigen. Er wollte sich gar nicht ausmalen, welches Schicksal sie Aida zugedacht hatten. Seine Gegner taxierte er eingehend und versuchte seine Chancen einzuschätzen. Angesichts seines angeschlagenen Zustandes war das Ergebnis eher vernichtend.


    Der größere der beiden Männer, er bezeichnete ihn als Schrank, blieb direkt am Eingang stehen und konnte sich ein hämisches Grinsen nicht verkneifen, als er das schmerzverzerrte Gesicht des dunkelhaarigen Polizisten betrachtete. Nee … die Aussicht, gegen den in einem Kampf zu bestehen, konnte er sich gleich abschminken. Schon gestern war ihm aufgefallen, dass der Dritte im Bunde irgendwie überhaupt nicht zum dem Trio passte. Seine füllige Figur stand im krassen Gegensatz zu den sportlich durchtrainierten Körpern der beiden anderen. Sein Auftreten wirkte nicht so dominant, ja fast unscheinbar, ein wenig unterwürfig. Trotzdem war auch er ein ernst zu nehmender Gegner für Ben in seiner jetzigen körperlichen Verfassung. Noch was fiel Ben auf. Die Farbe seiner Augen, dieses eisgrau war das Gleiche wie bei der Frau. Je näher er die beiden in Augenschein nahm, desto mehr Ähnlichkeiten bzw. Gemeinsamkeiten entdeckte er in den Gesichtszügen zwischen den beiden. Er hegte den Verdacht, nein er war sich absolut sicher, dass die beiden Geschwister sein könnten, ja sein mussten. Dies würde auch erklären, warum er Mitglied dieser Bande war. Er war der einzige Schwachpunkt in der Gruppe der Entführer. Zum Schluss betrachtete er die Dunkelhaarige. Wozu diese Frau fähig war, hatte er gestern am eigenen Leib erfahren müssen. In seiner kompletten beruflichen Laufbahn war er noch nie einer Frau begegnet, die so erbarmungslos und eiskalt war.


    „Guten Morgen! Ausgeschlafen? Na, wie war denn die erste Nacht in unserem Luxushotel?“ begrüßte die Dunkelhaarige ihre Gefangenen. „Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Nachtruhe. Na und ihnen, geht es ihnen gut?“, fuhr sie zynisch fort, als sie dabei auf den verletzten Polizisten schaute.
    „Sparen Sie sich ihr dummes Gequatsche!“, knurrte Ben als Antwort, er konnte sich einfach nicht zurückhalten.


    „Oh, wer ist denn da so wütend? Ts … ts … ts … Na dann wird euch bestimmt gefallen, dass ihr noch ein paar Tage unsere Gastfreundschaft genießen dürft!“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus. „Außerdem schulden sie mir noch ein paar Antworten, Herr Hauptkommissar Jäger!“, kam sie auf den Punkt, der ihr am wichtigsten war.
    Antworten, ja Antworten auf ihre verdammten Fragen. Zwar verstand Ben mittlerweile einige Zusammenhänge, doch sein Gefühl sagte ihm, diese Frau würde ihm die Wahrheit nicht glauben. Fieberhaft dachte er darüber nach, wie mit welchen Argumenten er sie überzeugen könnte. Panik stieg in ihm hoch, vor dem, was sie ihm oder den beiden Mädels antun würde, wenn ihm dies nicht gelang. Sein Magen zog sich bei der Vorstellung krampfhaft zusammen. Er musste sich so beherrschen, dass man ihm seine Furcht nicht anmerkte.
    Langsam trat Gabriela Kilic näher an Ben heran. In ihren manikürten Linken hielt sie eine Zigarillo, das sie in gewissen Abständen an ihren Mund führte und genüsslich daran zog. Der Geruch der Zigarillo wurde noch von etwas anderem überlagert, etwas süßlichem … die Dame bevorzugte ein Parfum mit einer völlig eigenartigen Duftnote. Sie musterte den angeschlagenen Polizisten eingehend. Neigte den Kopf ein bisschen zur Seite und Ben war klar, die Frau plante offensichtlich eine kleine Teufelei. Er entdeckte dieses diabolische Aufblitzen in ihren Augen, als sie noch näher an ihn herantrat. Er ahnte bereits, dass dies nichts Gutes verhieß.


    „Du kommst wohl auf dumme Gedanken mein kleiner Bulle! Falls du gerade an Flucht gedacht hast, vergiss es!“, zischte sie ihn an.
    Oh verdammt, konnte diese Hexe Gedanken lesen.
    Ihr waren Bens suchende und musternde Blicke nicht entgangen. Sie ging vor dem am Boden sitzenden jungen Mann in die Hocke. Aus dem Augenwinkel registrierte der junge Kommissar, dass Andrea sich mit Aida in die hintere Ecke der provisorischen Schlafstätte zurückgezogen hatte. Die Frau zog genussvoll an ihrer Zigarillo und blies ihm die Rauchkringel langsam ins Gesicht. Ben konnte den Hustenreiz nicht unterdrücken und stöhnte qualvoll auf, als seine Bronchien mit einem Hustenanfall auf den Rauch reagierten. Seine Rippen auf der linke Seite explodierten förmlich und vermittelten ihm das Gefühl seine Lunge würde gleich beim nächsten Atemzug zerbersten. Der Schmerz trieb ihm das Wasser in die Augen. Er presste seinen Oberkörper gegen die Holzwand des Schuppens. Nur mit Mühe konnte er einen Aufschrei unterdrücken. Pustend und wild schnaufend versuchte Ben mit zusammengebissenen Zähnen Herr über die Schmerzen zu werden. Dies entlockte ihr ein spöttisches Lächeln, während er verzweifelt versuchte, seine Atmung wieder unter Kontrolle zu bringen.


    Der kleine Dicke stand nur wenige Schritte von seiner Schwester entfernt und lachte niederträchtig auf. „Mehr … mehr … noch mal Gabriela! Gib es ihm! Mach ihn fertig!“ ermunterte er seine Schwester Ben weiter zu quälen. Dabei klatschte er wie ein kleines Kind in die Hände.


    Das Stechen in seiner linken Lungenhälfte ließ langsam nach und er bekam wieder Luft. Ben hob den Kopf und blickte ihr direkt in die Augen. Erneut erspähte er dieses verräterische Aufblitzen in ihren Augen. Ohne dass er den Ansatz einer Bewegung gesehen hatte, hielt sie ein Klappmesser in der Hand. Die Klinge funkelte im Sonnenlicht. Was kam jetzt? Wollte sie ihn gleich umbringen? Er konnte seinen Gedanken nicht zu Ende führen, als ihm Gabriela die Messerklinge bis zum Anschlag in seinen rechten Oberschenkel stach. Im ersten Moment blieb ihm vor Schreck die Luft weg. Zuerst fühlte er nichts, dann setzte der Schmerz ein. Er hatte das Gefühl, als wäre ein Stück glühendes Eisen tief in seinen Muskel eingedrungen. Der Polizist brüllte voll Schmerz laut auf und als Gabriela die Stichwaffe wieder raus zog, sah er nur noch Sterne vor seinen Augen tanzen. Er war kurz davor die Besinnung zu verlieren. Mit seiner ganzen Willenskraft kämpfte er dagegen an. Sein rechter Oberschenkel brannte … pochte … drohte zu zerspringen … einen Augenblick lang hatte er Angst, dass auch sein Knochen verletzt worden sei. Ihre nächsten Worte drangen zu ihm durch, wie aus einer anderen Welt.


    „So, mein kleiner dummer Polizist, jetzt kommst du nicht mehr auf alberne Ideen! Von wegen Flucht und so!“, säuselte sie und dabei lachte sie tückisch vor sich hin. Im Hintergrund lachte ihr Bruder meckernd vor sich hin.
    Ben ächzte und keuchte, am liebsten hätte er sie angeschrien, ihr all seine Verachtung ins Gesicht geschleudert! Eine Woge aus Zorn stieg in ihm hoch gegen so viel Bösartigkeit und Hinterhältigkeit. Dort wo die Klinge ihn verletzt hatte, breitete sich die Hitze weiter aus und etwas Warmes rann ihm über die Haut, tränkte den Stoff seiner Jeanshose. Er rutschte an der Schuppenwand runter auf seine rechte Seite und versuchte verzweifelt mit seiner Rechten den Blutstrom zu stoppen. Kein Laut kam über seine zusammengepressten Lippen, die einem farblosen Strich ähnelten. Aus den Augenwinkeln beobachtete er die Dunkelhaarige weiter. Ihm war klar, das war noch nicht das Ende ihrer Vorstellung. Was plante diese Verbrecherin noch?

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