Nightmare

  • Ein schriller Signalton ertönte … ein weiterer kam hinzu … und da war sie auf einmal wieder, diese dunkle, weiche und warme Stimme … Nein, das war nicht die Stimme seiner Mutter. Wer war das? Eine unbekannte Frau? Dennoch hatte sie eine unheimlich beruhigende Wirkung auf ihn.


    „Hallo Herr Jäger … nicht aufregen … Ihnen passiert doch nichts! Hey, ganz ruhig!“
    Etwas Warmes berührte seine Wange.
    „Scht … scht … hey nicht aufregen. Sie sind im Krankenhaus. Ich heiße Anna, bin Krankenschwester und kümmere mich heute um sie. …. Sehr gut .. Langsam und gleichmäßig atmen! So ist es gut! Nicht dagegen ankämpfen!“
    Eine Hand strich ihm über die Stirn, streifte durch seine Haare. Die Haut fühlte sich so weich und warm an.
    „Auweia, da ist ja alles verklebt! Puuh … da werden wir wohl mit ein bisschen Wasser ran müssen. Aber heute nicht mehr, sie hatten schon genug Stress mit all den Untersuchungen.“ Ihre Finger tasteten vorsichtig über die Schwellung und die Verkrustungen. „Wer war dann nur so brutal und gemein zu ihnen und hat ihnen all das angetan?“


    Ben wollte sich bemerkbar machen. Seine krampfhaften Versuche die Augenlider zu öffnen, scheiterten kläglich. Sie gehorchten ihm einfach nicht. Zu der ruhigen Frauenstimme kam eine hektische dazu. Es war diese Stimme, die Ben Angst einflößte, dieser Akzent, der ihm nur eines suggerierte: Schmerz und Qualen.


    „Soll ich den Arzt holen? Brauchst du Hilfe Anna?“
    „Nein … alles ok Natascha. Ich habe alles unter Kontrolle. Kannst du mir einen Gefallen tun, sein Vater sitzt draußen vor der Eingangstür. Holst du ihn bitte rein? Ich glaube, es wäre gut für Herrn Jäger, wenn er jetzt bei ihm wäre!“, sprach die angenehme Stimme.
    Bens von Medikamenten vernebeltes Gehirn begriff nur eines: Sein Vater war da. Aber wo war Semir? Er brauchte doch Semir.
    „Ihr Vater war die ganze an ihrem Bett gesessen.“ Den Rest ihrer Worte verstand Ben nicht mehr. Seine Seele schrie nach seinem Freund.


    Minuten später ….


    „Tut mir leid Anna. Sein Vater ist nicht mehr da. Nur ein anderer Mann, ein Herr Gerkhan, der behauptet sein Freund zu sein und er wolle unbedingt zu ihm! Aber das geht doch nicht. Hier dürfen nur Angehörige rein!“, empörte sich die blonde Krankenschwester und rümpfte auch vor ihrer Kollegin die Nase. Natascha, die Krankenschwester, empfand Angehörige und Besucher auf der Intensivstation, die sie bei der Arbeit beobachteten, als lästig.


    In Bens Bewusstsein drang nur eine Information durch … sein Freund war da … Semir war da und durfte nicht zu ihm. Sein Unterbewusstsein rebellierte dagegen. Alarmtöne erklangen …
    „Hol ihn rein Natascha … nun mach schon! Das geht in Ordnung! Professor Kraus hat es selbst angeordnet. Schau in die Krankenakte, wenn du mir nicht glaubst! Ein Herr Gerkhan darf jederzeit Herrn Jäger besuchen!“


    Schwester Anna sprach wieder beruhigend auf ihren Patienten ein, während sich ihre Kollegin nur widerwillig auf den Weg zum Eingang der Intensivstation machte und den kleinen Türken reinholte.
    Dieser blieb wie versteinert an der Schiebetür stehen und betrachtete seinen Freund.
    Die Beschreibung seiner Verletzungen durch den Arzt heute Morgen war eine Sache. Augenblicklich traf ihn mit voller Wucht die Erkenntnis, an welch seidenen Faden Bens Leben hing. Ein Gewirr aus Schläuchen und Kabeln umgaben sein Bett. Die Leitungen führten zu den verschiedensten Monitoren, auf denen Messwerte blinkten, seinen Herzschlag abbildeten und für ihn als Laien nur noch mehr furchteinflößend waren. Semirs Blick wanderte weiter zum Gesicht seines Freundes. Die zahlreichen blutunterlaufenen, kleinen Risswunden, die mit kleinen Klammerpflastern versorgt worden waren und die daraus resultierenden Schwellungen waren wohl noch die harmlosesten Verletzungen. Sein Drei-Tage-Bart war verschwunden, sein dunkles Haar war verklebt und hatte nichts mit seiner normalen wuscheligen Haarpracht mehr zu tun. Semir hätte auf den ersten Blick seinen Freund fast nicht erkannt. Abgrundtief seufzte er auf und dachte an ihren letzten gemeinsamen Abend am Montag.


    Nur ein Teil seines Oberkörpers war zu sehen, der Rest war durch die Bettdecke verborgen. Bens Brust war übersäht mit Hämatomen, die in allen Regenbogenfarben schimmerten, blutunterlaufene Schwellungen. Die Schusswunde an der linken Brustseite und die Wunden an der rechten Seite wurden durch Verbände geschützt. Weiße Pflaster bedeckten die verschiedenen Operationswunden und ließen ihn das wahre Ausmaß der inneren Verletzungen nur erahnen.


    „Oh mein Gott Ben!“, murmelte der Polizist entsetzt vor sich hin.


    „Hallo Sie müssen Herr Gerkhan sein? Professor Kraus hat mir schon von ihnen erzählt! Ich bin Schwester Anna und betreue den jungen Mann während des Frühdienstes!“, wurde er von der hübschen Krankenschwester an Bens Seite begrüßt. Sie hatte ihre schwarz-gelockte Haarpracht zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Ein paar widerspenstige Haarsträhnen hatten sich wie ein Pony auf ihre Stirn verirrt. Darunter lag ein ebenmäßig geschnittenes Gesicht mit zwei warmherzig blickenden dunklen Augen.


    „Hallo, ja der bin ich. Wie geht es Ben“ Dabei wanderte sein besorgter Blick zu den Beuteln, die teilweise mit blutrot gefärbter Flüssigkeit gefüllt waren, die rund um das Bett sichtbar waren und wieder zurück zu seinem Freund. In jedem Beutel steckte ein Schlauch, der unter der Bettdecke hervorkam und scheinbar mit Bens Körper verbunden war. Mit schleppenden Schritten ging er an das Krankenbett.


    „Wie heißt es so schön, den Umständen entsprechend. Kommen sie doch näher! Jetzt müssen wir einfach abwarten!“, erklärte sie weiter und strahlte dabei eine unheimliche menschliche Wärme und Verständnis aus.


    Plötzlich gab der Herzmonitor wieder an ein Alarmsignal von sich. Die Herzfrequenz war nach oben geschnellt. Erneut strich Anna dem Schwerverletzten beruhigend über die Haare von Ben und sprach auf ihn ein.


    „Hallo Herr Jäger … ganz ruhig … nicht aufregen … sie haben Besuch … ihr Freund ist da…“ Sie löste ihren Blick von Ben und schaute Semir an: „Reden Sie mit ihm Herr Gerkhan! Ich weiß nicht wieso, aber meine weibliche Intuition sagt mir, Herr Jäger wartet auf Sie!“ Sie sah seinen fragenden Blick. „Ich bin überzeugt, er versteht sie. Man hat ihn nur leicht sediert.“


    „Hallo Ben …!“ seine Stimme klang belegt „hörst Du mich?“ Er griff vorsichtig die fixierte Hand seines verletzten Freundes und hielt sie fest umschlungen. „Andrea und Aida sind in Sicherheit, verstehst du? Ihr habt es tatsächlich geschafft, diesen Monstern zu entkommen. Was würde ich für ein kleines Lebenszeichen von dir geben.“ Der kleine Autobahnkommissar verstummte für einen Moment, betrachtete erneut eingehend das eingefallene Gesicht seines Freundes, suchte die Spur einer Regung. Ganz still lag der Verletzte da. Nichts deutete darauf hin, dass er bemerkte, wer neben seinem Bett saß und mit ihm redete.
    Im Gegensatz dazu stellte Anna schon nach den ersten Worten von Semir fest, dass sich der Herzschlag des verletzten Polizisten stabilisierte. Die Ausschläge nach oben verschwanden, die Zacken der grünen Kurve wurden gleichmäßig. Nach einigen Minuten beschloss die Krankenschwester die beiden Freunde allein zu lassen. „Hey! Schauen Sie mich an Herr Gerkhan, alles wird wieder gut werden. Ihr Freund wird wieder gesund, glauben Sie mir! Ich lass Sie ein bisschen alleine mit ihrem Freund.“
    Leise schloss sie hinter sich die Schiebetür, verharrte dahinter und beobachtete durch das Fenster weiter die Reaktion ihres Patienten auf seinen Besucher.

  • Bei den letzten Worten der Krankenschwester füllten sich die Augen des Kommissars mit Tränen. Als er alleine mit Ben im Zimmer war, wisperte er leise: „Die Nachricht gestern…. Du bist tot … weißt du wie das für mich war … ich bin mit dir gestorben … mein Freund tue mir das nicht an … tue mir das nie wieder an … sondern kämpfe … ja kämpfe um dein Leben …ich brauche dich …. Nein, wir brauchen DICH … wir vermissen dich … und denke dran, du schuldest Aida noch einen Besuch im Phantasia-Land!“
    Der Rest seiner Worte ging in einem Aufschluchzen unter. Er konnte einfach nicht mehr, er konnte nicht länger dagegen ankämpfen. Seine Emotionen überwältigten ihn einfach. Seine Schultern bebten und ein Strom von Tränen floss über seine Wangen.


    Endlich vernahm Ben die Stimme, auf die er so sehnsüchtig die ganze Zeit gewartet hatte. Sein Freund war da … Semir war da … endlich … endlich war er bei ihm, war an seiner Seite, gemeinsam waren sie stark … zusammen waren sie ein unschlagbares Team. Semir würde auf ihn aufpassen, Ben hatte die Gewissheit, er war in Sicherheit. Das war so beruhigend für ihn und er merkte nicht mal wie er langsam wegdämmerte, während sein bester Freund an seinem Krankenbett weinte.


    Nachdenklich und ein bisschen verwirrt blickte Anna in das Krankenzimmer von Ben Jäger. Was war nur mit ihr los? So kannte sie sich selbst nicht? Warum nahm sie das Schicksal dieses jungen Polizisten so mit? Es blieb ihr nicht verborgen, dass der ältere Polizist am Bett seines Freundes weinte. War es das? Das Beben seiner Schultern war deutlich zu erkennen. In ihrem Beruf als Krankenschwester hatte Anna immer wieder sehr emotionale Momente zwischen Patienten und deren Angehörigen erlebt, nicht nur hier auf der Intensivstation, sondern auch auf den Pflegestationen, auf denen sie schon gearbeitet hatte. Was war hier anders? Lag es an der besonderen Freundschaft, die diese beiden Männer verband, von der ihr der Chefarzt erzählt hatte oder daran, dass der Professor den Patienten kannte? Es hatte sie selbst erstaunt, wie schnell sich der kritische Zustand ihres Patienten stabilisiert hatte, als der scheinbar die Anwesenheit seines Freundes gespürt hatte.


    Gedankenverloren ging sie zurück zum Stationsstützpunkt. Dort traf sie auf den Chefarzt Dr. Kraus, der sich eingehend über den aktuellen den Zustand von Ben Jäger erkundigte. Am meisten überraschte ihn ihre Aussage über den positiven Einfluss, den die Anwesenheit von Herrn Gerkhan auf den schwerverletzten Patienten ausgeübt hatte. Professor Kraus versicherte der Schwester, dass der Freund von Ben Jäger uneingeschränkte Besuchszeiten bei dem Patienten eingeräumt bekommen würde. „Ich glaube, das ist eine gute Entscheidung, Chef. Lachen Sie mich bitte nicht aus, als ich daneben stand, hatte ich das Gefühl, der schwerverletzte Polizist hatte förmlich auf seinen Freund gewartet!“, bestärkte sie den Arzt mit seiner Anweisung. „Ich weiß, das hört sich für sie jetzt dämlich an! Aber schauen Sie sich selbst den Verlauf der Werte an … Man kann genau erkennen, wann sein Freund das Zimmer betrat und anfing mit ihm zu sprechen!“


    „Behalten Sie den jungen Mann weiter gut im Auge. Herr Jäger ist noch nicht über den Berg. Er macht mir noch große Sorgen. Die Blutungen haben wir zum Stillstand bekommen. Aber …“ Sorgenfalten waren auf seiner Stirn deutlich sichtbar und er schaute die Krankenschwester nachdenklich an. „Ich denke, wir werden ihn für die nächsten Stunden weiter leicht sediert halten. Je nachdem wie der weitere Verlauf ist, entscheiden Dr. Volkerts und ich am Nachmittag endgültig, ob wir damit anfangen, ihn langsam wach werden zu lassen!“ Der Arzt stand auf und verließ den Stationsstützpunkt in Richtung der Patientenzimmer.


    Während Anna einen weiteren Patienten in einem Nachbarzimmer versorgte, wanderte ihr Blick immer wieder ins Zimmer zwölf. Es zog sie magisch an. Sie konnte förmlich sehen, wie der dienstältere Kommissar am Bett seines Kollegen litt. Die junge Krankenschwester schnaufte einmal tief durch und traf für sich eine Entscheidung. Schließlich hatte sie nichts zu verlieren. Es war mittlerweile kurz vor Schichtende. Sie erledigte ihre übrigen Aufgaben, erledigte ihre Übergabe am Stationsstützpunkt. Zusammen mit ihrem Kollegen Marco ging sie zuerst zu ihrem anderen Patienten ans Bett bevor sie vor der Schiebetür vor Zimmer zwölf stoppten. „Bist du damit einverstanden, wenn wir hier Übergabe machen Marco? Ich möchte Herrn Gerkhan nicht unbedingt rausschicken.“ Sie erklärte ihrem erfahrenen Kollegen ihre Beweggründe und dieser nickte zustimmend. Der Krankenpfleger besaß auch eine gehörige Portion Menschenkenntnis und Beobachtungsgabe.
    Nachdem Anna ihre letzte Pflicht erledigt hatte, begab sie sich in die kleine Teeküche und schenkte sich zwei Tassen Kaffee ein. Damit ging sie in Richtung von Bens Zimmer. Beim Betreten des Raumes galt ihr erster kritischer Blick ihrem Patienten und den Werten auf den vielen Monitoren. Zufrieden nickte sie.


    Der Freund ihres Patienten hatte sich zwischenzeitlich auf den Besucherstuhl an der rechten Bettseite hingesetzt. Sein linker Unterarm lag auf dem Unterarm des Verletzten. Sie konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, als versuche er seine Kraft und Willen auf seinen kranken Freund zu übertragen. Den anderen Arm hatte er auf der Bettkante abgelegt und seine Stirn ruhte darauf. Im ersten Moment dachte Anna, der Besucher sei eingeschlafen. Sie täuschte sich. Er hatte ihr Eintreten bemerkt, richtete sich langsam auf und blickte sie aus müden Augen an.


    „Ich glaube, ich habe das richtige für Sie, Herr Gerkhan!“ Auffordernd hielt sie ihm eine Tasse dampfenden Kaffee hin. „Hoffentlich mögen Sie schwarzen Kaffee? Ansonsten hole ich ihnen auch gerne Milch und Zucker!“


    Dankbar nahm der kleine Türke die Tasse mit schwarzem Getränk an. Die Sorge um seinen Freund stand ihm ins Gesicht geschrieben. Dunkle Ringe lagen um seine Augen. Er war fast genauso bleich, wie der Verletzte, der neben ihm im Bett lag.


    „Wie geht es denn ihnen Herr Gerkhan? Sie sehen sehr mitgenommen aus?“ fragte sie mitfühlend nach und wartete auf seine Reaktion.


    „Wie es mir geht?“ Semir schaute verwundert auf die Krankenschwester und seufzte abgrundtief auf. Sein Blick richtete sich auf seinen verletzten Freund und anschließend auf die junge Frau. „Viel wichtiger ist doch, wie es ihm geht.“ Beantwortete er ihre Frage mit einem bangen Unterton, „Da bin ich doch nicht wichtig!“ Der letzte Satz hörte sich fast ein bisschen verzagend an.


    „Wirklich Herr Gerkhan? … Was ist passiert? Erzählen Sie mir einfach ein bisschen? Es tut ihm gut, wenn er ihre Stimme hört! Oder möchten Sie das nicht!“ Dabei schenkte sie dem Polizisten ein aufmunterndes Lächeln. „Dann gehe ich selbstverständlich.“ Das Letzte, was Schwester Anna sein wollte, war aufdringlich zu sein. Aber sie konnte fühlen, wie auch der Besucher ein wenig menschliche Zuwendung benötigte.

  • „Kriegen Sie keinen Ärger, wenn Sie hier bei mir sitzen?“, erkundigte er sich.
    „Nein, keine Sorge! Ich habe seit zehn Minuten Feierabend. Also wie steht es? Ich habe ein bisschen Zeit und bin eine gute Zuhörerin!“ Ihre dunkle Stimme klang dabei so einfühlsam und ehrlich. Sie holte sich einen weiteren Stuhl und setzte sich an die andere Seite von Bens Krankenbett, fasste nach dessen Hand und blickte Semir erwartungsvoll mit ihren dunklen Augen an.


    Ganz langsam, anfangs mit noch stockender Stimme erzählte Semir von den Ereignissen der letzten Tage. Als er beim gestrigen Nachmittag angelangte, füllten sich seine Augen mit Tränen. Seine Emotionen kochten einfach über, als er von der glücklichen Rettung seiner Familie berichtete und gleichzeitig vom Tod seines besten Freundes erfahren hatte.


    „Und dann heute Morgen … die Nachricht, dass Ben doch noch lebt … er immer noch in Lebensgefahr schwebt … Wissen Sie, das ist, wie ein nicht endenden wollender Alptraum … wie eine Lotterie … und sein Leben ist der Preis.“
    Er stöhnte auf, schüttelte den Kopf und blickte die junge Schwester mit einem schmerzerfüllten Blick an, der ihr durch und durch ging. Mittlerweile hatte sie ihre rechte Hand auf seine gelegt und spürte das leichte Zittern seiner Hand. Nach einigen Minuten der Ruhe, in denen nur das monotone Summe der Perfusoren und Infusionsautomaten zu vernehmen war, das Blubbern der Thorax-Drainage … die Beatmungsmaschine … durchbrach der Türke das Schweigen.
    „Wie haben Sie das gemacht?“ Semir schüttelte ungläubig den Kopf „Wie haben Sie es geschafft, dass ich Ihnen das alles erzählt habe?“
    „Ich hatte einfach das Empfinden, dass sie jemanden brauchen, der sich ein bisschen Zeit für Sie nimmt.“ Dabei schenkte sie ihm wieder ihr warmherziges Lächeln
    „Sie sind unglaublich! … Danke! … Es hat wirklich gut getan!“ Semirs Gesichtszüge hatten sich etwas entkrampft.
    Ihr Blick wanderte zur Uhr. In einer halben Stunde würde ihre Vorlesung an der Uni beginnen. Es wurde Zeit für sie, sich auf den Weg zu machen. Sie erhob sich von ihrem Stuhl und reichte dem Polizisten die Hand.
    „Ich muss gehen, passen Sie gut auf ihren Freund auf!“ Mit diesen Worten verabschiedete sie sich.


    Semir saß gedankenverloren da und betrachtete Ben, wie sich sein Brustkorb bei jedem Atemzug hob und senkte. Sein Blick wanderte rüber zu den einzelnen Monitore und Infusionsautomaten, so viele Maschinen um einen Menschen am Leben zu halten. Verglichen damit kam er sich so hilflos und klein vor. Das schrille Alarmsignal eines Monitors schreckte ihn auf und riss ihn aus seinen Überlegungen. Marco, der Krankenpfleger, betrat das Zimmer und bemerkte den verängstigten Blick des Polizisten, der auf die blinkenden Kontrollleuchten fixiert war.


    „Hallo, ich bin Marco. Keine Angst Herr Gerkhan, die Infusion ist durchgelaufen und muss gewechselt werden. Sonst ist nichts passiert!“ Er hielt erklärend den neuen Infusionsbeutel hoch. „Allerdings würde ich Sie bitten, den Raum zu verlassen und draußen vor der Station zu warten.“
    „Ist doch was mit Ben?“, fragte Semir aufgeregt nach.
    Lächelnd schüttelte der Pfleger den Kopf. „Ähm, nicht falsch verstehen. Ich möchte ihren Kollegen versorgen, umlagern und ihm ein bisschen Körperpflege zukommen lassen!“, erläuterte er seine Absichten, während er mit routinierten Handgriffen die Infusion wechselte. „Außerdem steht auch die Nachmittagsvisite noch an. Es kann schon ein wenig dauern!“
    Semir verstand, verließ nachdenklich das Patientenzimmer und begab sich nach draußen vor die Intensivstation. Schon wieder hieß es, einfach nur warten.


    Der Kommissar hatte sich noch nicht richtig auf einen der unbequemen Plastikstühle gesetzt, als Konrad Jäger den Krankenhausflur entlang auf ihn zu gehetzt kam.
    „Hallo Gerkhan! Wie geht es meinem Sohn? Ist etwas passiert?“, fragte er gleich beunruhigt nach. „Wieso sitzen Sie vor der Intensivstation?“ Sein Gesichtsausdruck veränderte sich, wurde aschfahl und spiegelte seine Sorgen wieder.
    „Bens Zustand ist unverändert, Herr Jäger. Nur keine Aufregung. Der Krankenpfleger ist nur gerade bei ihm und versorgt ihn. Anschließend ist Visite und nur deshalb wurde rausgeschickt!“
    „Gut! Gut! Ich dachte schon …“ Den Rest des Satzes behielt er für sich und atmete erleichtert auf. „Frau Krüger hat mich angerufen, nachdem Sie auf ihrem Handy nicht erreichbar waren.“
    Semir hatte gar nicht daran gedacht, dass er telefonisch nicht erreichbar war, weil er gemäß den Hinweisschildern an der Eingangstür der Intensivstation sein Handy ausgeschaltet hatte. Nur mit halben Ohr hörte er, wie Konrad Jäger ihm mitteilte: „Ich soll Ihnen ausrichten, ihre Chefin holt Sie gegen 18.00 h am Haupteingang ab!“


    Bens Vater setzte sich auf den leeren Stuhl neben Semir. Der Türke merkte, dass dieser innerlich total aufgewühlt zu sein schien. Kaum verständlich nuschelte Konrad Jäger vor sich hin: „Ich war noch mal bei Peter.“ Der Polizist runzelte verwundert die Stirn und blickte fragend den Vater seines Freundes an. „Bei Professor Dr. Kraus, dem Chefarzt! Er bleibt bei seiner Aussage. Bedingt durch die schweren inneren Verletzungen kann er noch nicht sagen, ob Ben über den Berg ist oder nicht. Es kann jederzeit zu Komplikationen kommen und auch dieser andere Professor von der Urologie gab nur ausweichende Antworten.“


    Konrad Jäger ächzte gequält auf und fuhr sich mit gespreizten Fingern durch seine grauen Haare. Man sah ihm an, wie ihn die Angst innerlich auffraß. Semir konnte so mit ihm fühlen, erging es ihm doch letztendlich nicht anders. Leise nuschelte der Grauhaarige fast unhörbar vor sich hin: „Hoffentlich hat es Julia geschafft, rechtzeitig ihren Rückflug nach Deutschland zu bekommen, wenn sie Ben noch mal lebend sehen will.“ Er schlug sich die Hände vor sein Gesicht, schüttelte seinen Kopf und schwieg.


    Die Versorgung von Ben durch den Krankenpfleger zog sich doch länger hin, als Semir erwartet hatte. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhaltsam in Richtung 18.00 h. Schweren Herzens stand er auf und verabschiedete sich von Konrad Jäger. Während er die langen Krankenhausflure entlang schritt, überfiel ihm das schlechte Gewissen seiner Familie gegenüber. Ihm wurde bewusst, wieviel Zeit er in der Uniklinik verbracht hatte und dabei hätten ihn Andrea und Aida ebenfalls gebraucht. Er war für seine Familie wie der Fels in der Brandung, der ihnen Schutz und Kraft verlieh und dennoch hatte er sie fast den kompletten Tag alleine im Marienhospital zurückgelassen.

  • Wie vereinbart, holte ihn Frau Krüger am Haupteingang des Klinikgebäudes ab. Auch ihre ersten Fragen galten dem Gesundheitszustand von Ben. Die Enttäuschung stand ihr ins Gesicht geschrieben, als der kleine Türke ihr nichts Neues mitteilen konnte. Die Nachricht, dass der junge Kommissar noch in Lebensgefahr schwebte, machte ihr sichtlich zu schaffen.


    Um auf andere Gedanken zu kommen, erkundigte sich Semir bei seiner Chefin nach dem aktuellen Stand der Ermittlungen und wie die Besprechung bei der Staatsanwaltschaft gelaufen sei. Frau Krüger fing an, mit knappen Worten zu berichten „Auf dem ausgebrannten Bauernhof hat man keine verwertbaren Spuren mehr gefunden. In den Brandruinen war keine weitere Leiche entdeckt worden und die Mordkommission geht davon aus, dass Gabriela Kilic mit ihrem anderen Begleiter fliehen konnte und sich ins Ausland abgesetzt hat. Vor allem der Kollege Brauer vom BKA zeigte sich bei dem Thema Gabriela Kilic sehr merkwürdig und verschlossen. Er behauptet, es würden aktuell Ermittlungen laufen, die sich mit internationalen Waffenhandel und Waffenschiebereien beschäftigen. Diese würden mit Geldern aus dem Drogenhandel finanziert. Kopf dieser Waffenschieberbanden sind Kosovo-Albaner. Und die Dame, die übrigens aus Kroatien stammt, scheint eine wichtige Rolle als Informantin für das BKA bei diesen illegalen Geschäften zu spielen. Keine Chance, an die Unterlagen über diese Frau kommen wir nicht ran!“ Die Chefin hielt einen Moment inne und ließ die Worte erst mal bei dem Kommissar sacken. Vor einer roten Ampel stoppte sie das Fahrzeug und schaute zu ihrem Beifahrer, der seinen Kopf gegen die Nackenstütze drückte und starr gerade ausblickte. Sie schürzte kurz ihre Lippen, bevor sie fortfuhr: „Aber es kommt noch besser. Halten Sie sich fest: Herr Brauer fragte, welche Beweise wir hätten, dass Gabriela Kilic tatsächlich an der Entführung ihrer Familie und von Ben beteiligt war? Schließlich konnte Hartmut nur verwertbare Spuren im schwarzen Audi sichern!“
    Semir richtete sich in seinem Autositz auf und schnaubte durch die Nase „Das ist doch nicht ihr Ernst Frau Krüger!“
    „Doch!“ und sie setzte noch einen drauf „Ihre Frau hat gestern nur eine Frau erwähnt, die Gabriela heißt. Ich habe noch mal mit Frau Schrankmann gesprochen, wir brauchen unbedingt die Aussage ihrer Frau, um gegen Gabriela Kilic ermitteln zu können bzw. einen Haftbefehl zu beantragen. Herr Brauer hat seinen ganzen Einfluss bei Gericht geltend gemacht und bewirkt, dass die bloße Anwesenheit der Verdächtigen im Unfallfahrzeug am Montag nicht für eine Fahndung wegen der Entführung ausreicht! In diesem Fall sei Gabriele Kilic nur eine Zeugin und nicht die Unfallverursacherin. Nach dem aktuellem Stand der Untersuchungen des LKAs kann Gabriela Kilic keine Beteiligung beim Einbruch in Düsseldorf nachgewiesen werden.“
    Sie erklärte Semir weiter, dass sie bereits mit dem behandelnden Arzt von Andrea Gerkhan Kontakt hatte. Dieser hätte gegen eine Befragung, die mit etwas Fingerspitzengefühl durchgeführt wird, nichts einzuwenden. Deshalb würde sie gerne zusammen mit Susanne die Aussage von Semirs Frau offiziell protokollieren.
    Der Türke schloss für einen Moment die Augen und dachte nach. Auch wenn er sich innerlich dagegen sträubte, er musste Frau Krüger Recht geben. Welche Beweise gab es gegen Gabriela Kilic? Nur die Aussage seiner Frau mit einer eindeutigen Identifizierung der Verdächtigen konnte den Stein ins Rollen bringen, die Fahndung nach dieser Kroatin.
    Kim Krüger seufzte auf, während sie den schwarzen Mercedes geschickt durch den Feierabendverkehr steuerte. „Alle Untersuchungen, die den Einbruch und den Diebstahl in Düsseldorf betreffen, führt das LKA, ein Herr Leppelmann. Es sind in dem betroffenen Gebäude irgendwelche Forschungsinstitute untergebracht, die mit Fördermitteln des Bundes arbeiten. Sprich, alles außerhalb unserer Zuständigkeit. Um es mit einem Satz zu sagen Herr Gerkhan, wir sind komplett raus aus den Ermittlungen für den Fall“


    „Bitte was? Wir sind raus!“, unterbrach er seine Chefin voller Empörung. Wenn ihn der Sicherheitsgurt nicht im Sitz zurückgehalten hätte, wäre Semir wahrscheinlich vor Empörung durch die Windschutzscheibe des Autos gesprungen. Sein Gesicht war bei den letzten Worten seiner Chefin vor Erregung rot angelaufen. Mehr entwich ihm deutlich hörbar die Atemluft. Seine Hände hatten sich zu Fäusten geballt.


    „Ja, Sie haben richtig gehört. Die Herrschaften vom LKA und BKA haben sich den Fall unter die Nägel gerissen! Selbst die Ermittlungen im Fuchsbachgrund führt federführend das LKA Düsseldorf weiter.“ Sie lachte ironisch auf „Es kommt noch dicker. Nicholas Schneider, der Unfallverursacher vom Montag, ist tot. Auf Drängen des BKA gilt dessen Akte als abgeschlossen. Es werden keine weiteren Ermittlungen mehr gegen seine Person durchgeführt“


    „Das ist doch nicht Ihr Ernst! Nach allem was geschehen ist! Wie wollen die an die Hintermänner ran kommen? Irgendjemand muss diesen Einbruch beauftragt haben?“ empört schleuderte der Kommissar dies seiner Chefin entgegen. „Nee, nee, nicht mit mir Frau Krüger! Diese Schweine haben meine Familie entführt, sind in mein Haus eingedrungen, haben meinen besten Freund fast umgebracht und Sie wollen mir erklären, dass ich bei den Ermittlungen außen vor bin!“, wild gestikulierend saß er auf dem Beifahrersitz und spuckte Gift und Galle und fluchte ungehalten vor sich hin.


    „Jetzt beruhigen Sie sich doch erst mal. … Was hätte ich denn in ihren Augen machen sollen? Betrachten Sie doch mal die Fakten! Oder glauben Sie wirklich, dass ich mich einfach so kampflos vom Acker mache!“, wütend blitzten ihre Augen in Richtung des Beifahrers. „Bevor Sie sich weiter aufregen, denken Sie mal nach. Wer von uns hätte denn aktiv die Ermittlungen leiten sollen? Herr Jäger liegt im Krankenhaus. Und Sie, Sie sind persönlich so involviert und auch angeschlagen!“ Kim bemerkte, wie der Kommissar nach Luft schnappte bei dieser Feststellung und wiederholte es noch mal mit einem gewissen Unterton in der Stimme. „Denken Sie mal nach Herr Gerkhan! … Ihre Frau und Tochter sind immer noch lebende Augenzeugen, die dieser Gabriela Kilic gefährlich werden können. Diese Frau ist nicht zu unterschätzen.“
    Semir wollte sie erneut unterbrechen, ein Blick in das Gesicht von Frau Krüger ließ ihn aber lieber verstummen. Innerlich musste er seiner Chefin ja Recht geben. Daran hatte er aus lauter Sorge um Ben noch gar nicht gedacht. Seine Familie befand sich in Gefahr, solange diese Irre draußen rum lief. Und Ben!


    „Wir haben noch ein viel größeres Problem! Dieser Idiot vom BKA und auch das LKA sind der Meinung, dass ein Polizeischutz für ihre Familie und auch Ben nicht mehr notwendig sind.“ Sie lachte sarkastisch auf „Der tote Entführer konnte bisher noch nicht identifiziert werden. Er ist vermutlich osteuropäischer Abstammung. Ob eine Gabriela Kilic beteiligt war, ist ja aus Sicht der Herren nicht belegt. Und wenn, dann hat die sich ja wahrscheinlich schon ins Ausland abgesetzt.“ Deutlich hörbar schnaufte Semir aus. „Ich denke, Herr Jäger ist auf der Intensivstation ziemlich sicher. Da kommt keiner unbemerkt rein. Ich habe mit seinem Vater und einem Professor Kraus gesprochen, dass nur namentlich benannte Personen zu Ben dürfen. Das sollte vorläufig der beste Schutz für ihn sein.“ Kim seufzte auf. „Für ihre Familie hätte ich folgenden Vorschlag, dass Herr Bonrath und Frau Dorn abwechselnd vor dem Zimmer Wache schieben bzw. ihre Frau begleiten. Und nachts schlafen sie ja bei ihrer Familie. Der behandelnde Arzt ist damit einverstanden und begrüßt es auch, gerade im Hinblick auf die psychische Verfassung ihrer Tochter. Ein paar Tage kann ich das verantworten. Vielleicht wissen wir bis dahin, wo diese Kilic und ihr Partner tatsächlich abgeblieben sind.“
    Sofort brach der alte Semir wieder in ihm durch.
    „Ein Grund mehr Frau Krüger, sich in die Ermittlungen einzuschalten. Sie sagen es, es geht um die Sicherheit meiner Familie, um den Schutz von Ben. Diese Frau bringe ich in den Knast, wo sie hingehört!“ Es klang wie ein Versprechen.
    „Und damit wir uns richtig verstehen Herr Gerkhan, mir ist es egal, wer offiziell mit den Ermittlungen betraut ist. Ich habe auch meine Beziehungen und Martin Hillenbrand, von der Mordkommission Köln Nord, der am Tatort im Fuchsbachgrund leitender Ermittler war, lässt uns eine Kopie seiner Akte zukommen. Außerdem haben wir Hartmut. Es hat noch nie geschadet, wenn sich unser Einstein gewisse Beweise und Spuren noch mal angeschaut hat. Zusätzlich durchstöbert Susanne alle Datenbanken nach verwertbaren Hinweisen.“ Demonstrativ und ein wenig trotzig hieb sie auf das Lenkrad ein. „Und was das LKA und BKA betrifft, ist noch nicht das letzte Wort gesprochen, vor allem wenn wir die Aussage ihrer Frau haben und diese Gabriela Kilic als Entführerin identifiziert hat. Dann werden die Karten neu gemischt!“
    „Das ist aber dann nicht ganz legal Frau Krüger!“ meinte er mit einem süffisanten Unterton.
    „Legal … illegal … ganz ehrlich ist mir doch scheiß egal!“
    Semir hob überrascht seine Augenbrauen. Das waren völlig unerwartete Seiten seiner Chefin. Der Rest der Fahrt zum Marienhospital verlief ziemlich schweigend. Der Türke blickte gedankenverloren zum Beifahrerfenster hinaus und versuchte den Inhalt des Gesprächs mit seiner Chefin zu verarbeiten.

  • Beim Betreten des Marienhospitals überfiel Semir sein schlechtes Gewissen. Vor lauter Sorge um Ben hatte er die derzeitige psychische Verfassung seiner Frau und seiner Tochter total vernachlässigt. Schuldgefühle wallten in ihm hoch. War er wirklich ein so schlechter Vater und Ehemann? Er wurde sehr nachdenklich, während er den Krankenhausfluren entlang zu seiner Familie eilte. Sie hatten ein Familienzimmer auf der Kinderstation im ersten Stock erhalten. Leise klopfte er an und öffnete die Tür. Andrea und Aida hatten gerade ihr Abendessen bekommen und saßen gemeinsam an einem Tisch und speisten. Die Augen des Mädchens leuchteten auf und ein kleines Lächeln der Freude huschte über ihr Gesicht, als sie bemerkte, wer das Zimmer betrat.


    „Papa, Papa … endlich bist du da! … Ich habe dich so vermisst!“ Bei diesen Worten hatte sie sich von ihrem Stuhl erhoben und war ihrem Vater die wenigen Schritte entgegengeeilt. Semir kniete sich vor einer Tochter hin und drückte sie ganz fest an sich und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. „Hallo Aida, mein Schatz!“


    Das Mädchen klammerte sich förmlich an ihren Vater fest und es blieb Semir nichts anderes übrig, als sie auf den Arm zu nehmen, während er sich erhob, um seine Frau mit einem Kuss zu begrüßen. Sein Blick wanderte auf die Tabletts mit dem Abendessen.


    „Glaubt ihr ein hungriger Mann bekommt hier auch noch etwas zu essen?“, meinte er mit einem Lächeln auf den Lippen. Sein Magen machte sich mit einem leisen Knurren bemerkbar und ihm war bewusst geworden, dass er seit dem Frühstück außer Kaffee nichts mehr zu sich genommen hatte. Andrea verließ das Zimmer und kümmerte sich darum. Semir widmete seine Aufmerksamkeit Aida, die sich immer noch krampfhaft an ihm festhielt, wie eine Ertrinkende an einem Rettungsanker.
    „Hey, was ist denn los mit dir mein Schatz?“, fragte er sanft nach und strich ihr über die Wangen. Dabei murmelte er beruhigende Worte, küsste sie zärtlich auf ihr Haar und ließ sie all seine Liebe spüren, versuchte ihr ein Gefühl von Sicherheit zu vermitteln. Beim Frühstück war seine Tochter sehr schweigsam gewesen. Normalerweise plapperte Aida ohne Punkt und Komma. Die Entführung hatte tiefe Wunden in der Kinderseele hinterlassen. Semir wusste natürlich, was seine Tochter am meisten bedrückte und kämpfte mit sich, ob er ihr die Wahrheit über Ben sagen sollte. Doch wie würde sie den neuerlichen Schock verkraften, wenn ihr Lieblingsonkel seine Verletzungen nicht überleben sollte. Doch so wie sie sich Aida jetzt verhielt, konnte er als Vater förmlich spüren, dass seiner Tochter etwas Angst einflößte. Sein schlechtes Gewissen gegenüber seiner Familie verstärkte sich noch mehr.


    „Bleibst du jetzt da? Bitte … bitte, geh nicht mehr weg!“, stammelte sie und der flehende Unterton in ihrer Stimme war unüberhörbar. Hilfesuchend blickte Semir seine Frau an, die zwischenzeitlich ins Krankenzimmer zurückgekehrt war. Mit ihrer Mimik gab sie ihrem Mann zu verstehen, dass sie mit ihm auf der angrenzenden Terrasse zum Krankenzimmer reden wollte. ‚Was war nur im Laufe des Tages geschehen?‘, fragte er sich. Einfühlsam widmete sich der Türke einige Minuten seiner Tochter. Es gelang ihm, dass sie sich von ihm löste und sich zurück an den Tisch setzte. Das belegte Käsebrot auf ihrem Teller beachtete sie nicht. Entgegen den Gewohnheiten zu Hause schaltete er den Fernseher an, um sie ein bisschen abzulenken und damit Gelegenheit zu haben, mit Andrea ein paar Minuten ungestört zu sprechen.


    Draußen angelangt, nahm Semir seine Frau erst Mal in den Arm. Ihre erste Frage galt Bens Zustand. „Keine guten Nachrichten Andrea! Bens Zustand ist nach wie vor kritisch. Wir müssen einfach abwarten, wie die kommende Nacht verläuft.“
    Bei den Worten ihres Mannes konnte sie nur mühsam ein Aufschluchzen unterdrücken. Schockiert strich sie sich mit ihren Händen über das Gesicht. Von ihrem Platz auf der Terrasse konnten die Eltern ihre Tochter beobachten, wie diese ganz gebannt, einen Disney-Film anschaute. Dies bewirkte bei Andrea und auch Semir, sich mit dem vordringlichsten Problem zu befassen. Was war mit Aida los? Was hatte sie im Laufe des Tages im Krankenhaus so eingeschüchtert und dieses ängstliche Verhalten hervorgerufen. Semir erinnerte sich an die Abschiedsszene vom Morgen, als Aida ihn mit den Worten verabschiedete: „Papa gehst Du diese böse Frau jagen, damit keinem mehr weh tun kann?“ Und er hatte darauf einfach nur genickt.
    Andrea schilderte ihrem Mann, dass das Mädchen während des Frühstücks und den darauffolgenden Untersuchungen sich relativ normal verhalten hatte.
    „Bis zum Mittagessen hat sie gemalt, zwar kaum geredet aber sie wirkte nicht so ängstlich und verschüchtert wie jetzt. Gegen 13.00 h kam Susanne vorbei und wir beide sind, so wie du und ich, kurz hier auf die Terrasse gegangen, um zu reden. Aida spielte drinnen am Tisch Puzzle. Währenddessen kam die Kinderpsychologin des Krankenhauses, Frau Dr. Krämer, ins Zimmer. Sie begrüßte Aida, nickte mir kurz zu und setzte sich zu ihr an den Tisch, um mit ihr alleine zu sprechen. Wir hatten dies vorher auch so abgesprochen.“ Andrea schluchzte auf. „und dann plötzlich … Semir ich weiß nicht warum …!“ Sie zuckte hilflos mit den Schultern „Aida saß wie versteinert da, starrte Frau Krämer an, als hätte sie ein Gespenst gesehen. Semir … du hättest sehen müssen, wie unsere Kleine gezittert hat. Sie flüchtete regelrecht zu mir und Susanne auf die Terrasse, versteckte sich hinter uns und fing an zu weinen.“ Andrea hielt kurz inne, presste die Lippen aufeinander und murmelte mit einer bedrückten Stimme weiter „Ich weiß seitdem nicht mehr, was ich machen soll. Sie hat komplett dicht gemacht, ich komme überhaupt nicht mehr an sie ran. Sie redet außer ja und nein nichts mit mir! Semir … ich bin völlig ratlos!“
    Semirs erster Gedanken war natürlich, ob diese Frau in irgendeiner Form Ähnlichkeit mit Gabriela Kilic hatte. Andrea schüttelte den Kopf „Nein, Semir. Die Psychologin hat überhaupt nichts mit dieser Frau gemeinsam. Sie ist eher das Gegenteil, ein bisschen füllig. Ich schätze sie vom Alter her mindestens über fünfzig, dabei wirkt sie sehr gepflegt und modern gekleidet. Das passt nicht.“


    Der Kommissar dachte kurz über das Gesagte nach. Spontan hatte er auch keine Antwort. Noch etwas anderes lag ihm auf dem Herzen, das Gespräch mit Frau Krüger und die anstehende Befragung seiner Frau. Andrea wollte unbedingt bei Aida bleiben. Ihr Mann redete mit Engelszungen auf sie ein, um sie von der Notwendigkeit ihrer Aussage zu überzeugen.
    „Schatz ich bin bei unserer Tochter! Lass mich mal mit Aida alleine. Ihre Reaktion vorhin als ich kam, zeigt doch, dass sie mir vertraut. Hm … und wer weiß, vielleicht erzählt sie mir, wenn wir alleine sind, was sie bedrückt! Schließlich hat sie früher schon lieber mir gebeichtet, wenn sie etwas angestellt hatte. Du brauchst dir also keine Sorgen machen. Versprochen, ich bleibe bei Aida.“ Semir hielt kurz inne „Versteh doch! Alles steht und fällt mit deiner Aussage! Die Fahndung nach der Kilic … der Polizeischutz für euch!“ Nur widerwillig lenkte Andrea ein. Als die Krankenschwester das Tablett mit Semirs Abendbrot ins Zimmer brachte, gingen beide zurück zu ihrer Tochter und aßen gemeinsam zu Abend. Die Anwesenheit ihres Vaters bewirkte auch bei Aida, dass sie zumindest die Hälfte des Brotes aß.
    Anschließend fuhr Andrea mit Frau Krüger, die in der Cafeteria auf sie gewartet hatte, zur PAST, um die Zeugenaussage zu protokollieren.

  • Als die beiden alleine im Krankenzimmer waren, machte Semir Aida bettfertig und zog sich selbst auch nach dem Duschen eine gemütliche Jogginghose mit einem T-Shirt an. Danach legten die beiden sich auf Aidas Bett. Das Mädchen kuschelte sich eng an ihren Papa heran, als suche sie bei ihm Schutz.


    Behutsam begann Semir mit seiner Tochter zu reden. Allerdings wurde er enttäuscht, denn Aida beantwortete seine Fragen recht einsilbig und das fröhliche Strahlen, das bei der Begrüßung ihr Gesicht überzogen hatte, war längst verschwunden. Ihre Augen blickten ihn fragend und hilferufend an. Es tat ihm in der Seele weh, seine Tochter so leiden zu sehen.


    Sein Bauchgefühl riet ihm, nicht tiefer in sie zu drängen. Sondern dass sie einfach nur seine Nähe brauchte, die Sicherheit, die er für sie ausstrahlte und so schwieg auch er. Er dachte bei sich, vielleicht ist es am besten, wenn Aida selbst entscheidet, wann sie mit ihm sprechen wollte. Auch wenn er selbst nicht viel von Psycho-Klempnern hielt, war er doch der Meinung, dass seine Tochter nur alle erdenkliche Hilfe bekommen sollte, um das Erlebte so schnell wie möglich zu vergessen und zu verarbeiten. Mit jeder Minute die verstrich und die er zusammen mit Aida verbrachte, bestätigte sich seine Ahnung, die Ereignisse der letzten Tage hatten in der Kinderseele deutliche Spuren hinterlassen. Ihm war auch klar, für die ablehnende Haltung seiner Tochter gegenüber der Psychologin musste es eine Ursache geben. Nur wie sollte er es ihr entlocken?


    Nach einigen Minuten des Schweigens versuchte er erneut Aida in ein belangloses Gespräch zu verwickeln. Er erkundigte sich nach den Schwestern, ob es hier im Krankenhaus ein Spielzimmer gab usw. Und das Wunder geschah. Langsam begann sich Aida zu öffnen und sie plapperte ein bisschen mehr, über das was am heutigen Tag passiert war, den Besuch von Susanne, das Essen, das Spielzimmer nur den Termin mit der Psychologin erwähnte sie überhaupt nicht. Es half nichts, er musste sie direkt fragen.


    „Wow, war ganz schön was los bei euch heute. Aber sag mal, warum wolltest du denn nicht mit der Ärztin reden?“ Bewusst vermied er den Begriff Psychologin. Er richtete sich ein wenig auf und blickte seine Tochter bei der Frage genau an. Wollte in ihrem Gesicht lesen, was sie bewegte.
    Aida löste sich aus seiner Umarmung, richtete sich ebenfalls ein wenig auf und stützte sich auf ihren Unterarm ab. „Aber wieso Papa, Frau Dr. Lichtlein, die mich untersucht war doch nett. Ihr habe ich auch alle Fragen beantwortet!“, erwiderte sie spontan. Es war einer der längsten Sätze, den sie an einem Stück an diesem Abend sprach.
    „Nur die andere Frau, die mochte ich nicht! Mit der rede ich nicht! Niemals!“ Das kam so energisch und wütend, dass ihm klar war, hier steckte mehr dahinter. Semir setzte sich auf und umschlang sanft den Unterarm von Aida. Mit der anderen Hand strich er ihr zärtlich eine Haarsträhne aus der Stirn. Fast schon beschwörend blickte er seine Tochter an.
    „Aida! Schatz, erzähl mir warum!“, ging er in die Offensive. Jetzt sah er etwas, was ihn bestürzte, ihm einen schmerzhaften Stich ins Herz versetzte. Die Augen seiner Tochter füllten sich mit Tränen. Angst spiegelte sich in ihrer Mimik wieder. Langsam und stockend kamen nur ein paar Worte über ihre Lippen.


    „Die riecht so komisch, so wie die böse Frau, die Ben so furchtbar wehgetan hat!“ Der kleine Körper begann zu beben. Seine Tochter weinte bitterliche Tränen. Semir zog Aida an sich heran und hielt sie fest, fuhr ihr tröstend durchs Haar und sprach beruhigend auf sie ein. Sanft wiegte er sie. „Schatz … Aida … Schatz! Scht … Scht ….Ich bin bei dir ja, keiner wird dir etwas tun. Papa passt auf dich auf! Die böse Frau kommt nie mehr in deine Nähe! Beruhige dich! Ich bin doch da.“ Fast schon stereotyp wiederholte er seine beruhigenden Worte. Das Schluchzen verstummte langsam. Das Mädchen hatte ihren Kopf auf seiner Brust abgelegt und ihn mit ihren Armen umklammert. Irgendwann verrieten ihre gleichmäßigen Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Vorsichtig ließ er sich zurück auf das Kopfkissen sinken und zog die Zudecke über Aida. Dabei hielt er sie weiter im Arm, so dass ihr Kopf auf seiner Brust lag und das Mädchen seinen Herzschlag selbst im Schlaf noch hören konnte. Semir lag wach und überlegte, was seine Tochter mit dieser Aussage gemeint hatte. Ohne dass es ihm bewusst wurde, dämmerte er ebenfalls ins Reich der Träume. Die letzten Tage und Nächte forderten ihren Tribut und sein Körper nahm sich die Auszeit, die er brauchte.


    Ein klägliches Wimmern riss ihn wieder zurück in die Realität. Semir versuchte sich zu orientieren, wo war er? Wer jammerte da? Im Zimmer war es mittlerweile dunkel. Draußen was es Nacht geworden. Mit einem Schlag war er hellwach. Aida wälzte sich schweißüberströmt hin und her und versuchte sich aus seinen Armen zu befreien. Sie träumte, langsam verstand er den Sinn der Worte, die so gequält aus ihrem Mund kamen. „Ben … Ben … nicht schlagen … aufhören … nicht … Nein … nicht mehr wehtun!“ Mit seiner freien rechten Hand tastete Semir nach dem Lichtschalter und knipste das Licht an. Beruhigend fuhr er Aida durch die Haare, tätschelte sanft ihre Wangen „Hey Schatz, aufwachen! … Scht … Scht … Ganz ruhig … alles ist gut … alles ist in Ordnung! Du bist bei Papa!“ Völlig verstört blickte das Mädchen ihren Vater an. Langsam wurde auch ihr Blick klarer und dem Mädchen wurde bewusst, wo sie war und dass sie geträumt hatte.


    „Papa? Papa? Ben? … Was ist mit Ben?“ Diese Frage schreckte ihn auf. Eigentlich hatte Andrea am Abend erst mal beschlossen, Aida nichts davon zu sagen, dass Ben noch am Leben war, solange keiner wusste, ob er seine Verletzungen überleben würde. Was sollte er ihr nur antworten? Sie anlügen? Tränen der Verzweiflung kullerten über ihre Wangen, während sie ihren Vater fragte, was sie schon den ganzen Nachmittag bedrückte. Sie war nicht in der Lage, die Frage zusammenhängend zu formulieren und stammelte „Papa? …. Papa? … Warst du heute … den ganzen Tag … bei Ben … im Krankenhaus?“
    Sein Herzschlag begann zu rasen, wie sollte er reagieren? Seine Kehle wurde ganz trocken. Woher wusste sie es? Ein Blick in ihre braunen Augen ließ ihn ihre Not erkennen, in denen sich die kleine Kinderseele befand.
    „Mama und Susanne … haben sich über Ben … unterhalten und dachten … ich höre es nicht. Bitte Papa … sag mir … die Wahrheit!“ bettelte sie schluchzend förmlich ihren Vater an.
    „Ja Aida, ich war bei Ben!“ Jetzt rang er um seine Fassung, er konnte seine Tochter nicht anlügen. „Ben lebt noch Schatz! …Und ja, er ist im Krankenhaus, aber es geht ihm nicht besonders gut! … Es geht ihm gar nicht gut! … Ich weiß auch nicht, ob er wieder gesund wird! Der Arzt kann es einfach …!“ Der Rest seiner Worte blieb ihm förmlich in der Kehle stecken.
    Das Mädchen weinte, drückte ihren Kuschelbären ganz dicht an sich heran und setzte sich ein bisschen auf. Sie schaute ihren Vater in die Augen und sah, wie diese sich mit Tränen gefüllt hatten, die sich ihren Weg über seine Wangen bahnten.
    „Dann … dann … hat …. Ben … doch … einen Schutzengel, … der …der … auf ihn … aufpasst Papa! Ja? … Der macht ihn auch wieder gesund.“

  • Eine Stunde vor Mitternacht kehrte Andrea ins Krankenhaus zurück. Semir lag wach auf dem Bett und grübelte über die Worte seiner Tochter nach. Nachdem er Aida mitgeteilt hatte, das Ben noch lebte, war sie wie verwandelt gewesen. Er hatte ihre Erleichterung spüren können, welche Zentnerlast von seiner Tochter abgefallen war. Innerlich bereute er die Entscheidung, dass Andrea und er ihre Tochter im Ungewissen über Bens Schicksal gelassen hatten. Gegenwärtig schlief sie wider Erwarten seelenruhig neben ihm in ihrem Bett. Um den Schlaf ihrer Tochter nicht zu stören, gingen die Beiden raus auf die Terrasse. Die Außenbeleuchtung des Krankenhauses spendete ein spärliches Licht und Semir berichtete seiner Frau, was er in Bezug auf Aidas Verhalten raus gefunden hatte.


    „Oh mein Gott Semir!“ blankes Entsetzen stand in Andreas Gesicht geschrieben. Sie presste ihre Handflächen gegen die Schläfen, als könne sie ihre nächsten Gedanken aus ihrem Kopf pressen. „Ich bin auch noch selbst schuld. Sie hatte mich beim Mittagessen nach Ben gefragt und ich … ich habe Aida angelogen. Ich habe ihr nicht die Wahrheit gesagt, dass Ben noch lebt. Das verzeihe ich mir nie. Dabei habe ich es doch nur gut gemeint.“ Sie kniff ihre Lippen zusammen, bevor sie weitersprach „Was habe ich ihr nur angetan, und dann spreche ich mit Susanne über Ben … und sie hört es. Dann wundere ich dämliche Kuh mich auch noch, dass sie mir nicht mehr vertraut hat!“ Tröstend nahm Semir seine Frau in den Arm, die kaum hörbar murmelte: „Ob mir Aida das jemals verzeiht? … Oh Schatz? Hilf mir, was habe ich nur getan?“
    „Andrea, wir reden mit unserer Tochter … gemeinsam …. und diesmal bleiben wir bei der Wahrheit. Du wirst sehen, alles wird wieder gut!“, meinte er voller Zuversicht und nahm sie einfach nochmals in den Arm und hielt sie fest.
    Nachdem sich seine Frau wieder ein wenig beruhigt hatte, erzählte Semir weiter, was geschehen war. „Andrea weißt du, was sie damit gemeint haben könnte, die Frau rieche so komisch, so wie die böse Frau! Ich kann mir keinen Reim darauf machen und denke schon die ganze Zeit darüber nach. Es ist mir ein Rätsel."


    Andrea dachte angespannt nach. Leise nuschelte sie vor sich hin „Riechen … riechen … Duft … das Parfum … vielleicht meinte sie das Parfum der Kinderpsychologin. Je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr glaube ich, dass Aida recht hat.“ Die beiden beschlossen erst mal schlafen zu gehen. Morgen früh könnte man den Gedanken weiterverfolgen.


    ********


    Ein paar Sonnenstrahlen verirrten sich durch die Ritzen der Jalousien ins Zimmer und tauchten es in ein angenehmes schummriges Licht, als der Kommissar am nächsten Morgen erwachte und die Augen aufschlug. Ein Blick zur Uhr verriet ihm, dass es bereits nach 07.00 h war. Seine beiden Mädels schliefen noch. Behutsam schlich er sich aus dem Bett und ging mit seinem Handy vor die Zimmertür. Dort wählte er als erstes die Telefonnummer der Intensivstation der Uni Klinik. Er hatte Glück, der Pfleger vom gestrigen Nachmittag hatte Frühdienst und konnte sich sofort an den Kommissar erinnern. „Wie geht es Herrn Jäger?“, erkundigte sich Semir besorgt.


    Marco, der Krankenpfleger, am anderen Ende der Leitung versuchte seiner Stimme einen beruhigenden Klang zu geben. „Ich denke, ich habe eine erfreuliche Mitteilung für Sie, Herr Gerkhan. Ihr Kollege hat die Nacht gut überstanden. Es gab keine Komplikationen und seit gestern Abend wurden die Medikamente, die ihn sediert haben, ausgeschlichen. Mit anderen Worten man will Herrn Jäger langsam aufwecken.“ Semir atmete erleichtert auf und fragte gleich impulsiv hinter her „Heißt das Ben ist schon wach?“


    „Nein! Nein! Ganz ehrlich, ich bin kein Arzt und kann auch keine Prognose abgeben, wie lange es dauert, bis er aufwacht und ansprechbar ist.“ Er bat Semir sich zu gedulden, bis die Morgenvisite vorbei war. Vielleicht könnte der Arzt anschließend eine Mutmaßung äußern, wann der Tubus endgültig entfernt werden würde.


    Zum einen beruhigten die Worte des Pflegers Semir. Andererseits verstärkten sie seinen Wunsch an Bens Seite zu sein. Er konnte es fast körperlich spüren, wie sehr ihn Ben brauchte. Seine innere Zerrissenheit entfachte sich ins grenzenlose. Seine Gedanken wanderten hin und her. Hinter der Zimmertür schlief seine Tochter. Der gestrige Abend, ihre seelische Not gingen ihm nicht aus dem Sinn. Der Kampf, den sein Gewissen mit ihm ausfocht, brachte ihn fast wieder an die Grenze seiner psychischen Belastbarkeit.


    Der Türke stand in seinen Gedanken versunken am Fenster in der Besucherecke. Sein Blick richtete sich nach draußen. Der angrenzende kleine Park war in ein warmes Sonnenlicht getaucht. Ein paar Menschen saßen auf den Parkbänken und genossen die Wärme der Frühlingssonne. Es war ein Anblick, der friedliche Harmonie ausstrahlte. Ein Gefühl, das er ebenfalls gerne in diesem Augenblick empfinden wollte.


    Ein paar Arme umschlangen ihn zärtlich und jemand hauchte ein „Guten Morgen mein Schatz!“ in sein Ohr. „Komm zurück ins Zimmer, Aida ist auch schon wach und hat nach dir gefragt.“


    Semir fuhr sich nachdenklich über seine kurzgeschorenen Haare, nickte und folgte Andrea ins Krankenzimmer. Nach dem gemeinsamen Frühstück überschlugen sich fast ein bisschen die Ereignisse. Es klopfte und die Tür wurde geöffnet. Durch den Spalt blickte Dieter Bonrath ins Zimmer.


    „Guten Morgen zusammen!“ begrüßte er die Familie Gerkhan „ Schöne Grüße von Frau Krüger. Sie hat sich bei Frau Schrankmann tatsächlich durchgesetzt. Auf Grund von Andreas Aussage vergangene Nacht bin ich oder ein Kollege bis auf weiteres euer offizieller Polizeischutz und zwar rund um die Uhr.“


    Der Kollege nahm im Krankenhausflur auf einem der Stühle Platz. Eine Sorge weniger dachte sich Semir. Gleichzeitig begann die Morgenvisite und der behandelnde Arzt von Aida befürwortete den Vorschlag der Kinderpsychologin einen erneuten Versuch für ein Gespräch mit seiner Tochter zu wagen. Der Arzt verwarf Semirs Bedenken, obwohl ihm dieser von der gestrigen Unterhaltung mit seiner Tochter erzählte. Die Psychologin hatte vorgeschlagen, es im Spielzimmer zu probieren, da man dort am wenigsten das Gefühl hatte, sich in einem Krankenhaus zu befinden. Nur widerwillig stimmten die Eltern zu.

  • Zwei Stunden später … Wie erwartet, endete das Vorhaben in einem Fiasko. Frau Dr. Krämer, die Psychologin, hatte sich noch nicht richtig dem Mädchen genähert, als diese schreiend aufsprang und sich hinter der anwesenden Erzieherin versteckte. Bevor seine Frau eine Chance hatte zu reagieren, eilte Semir auf seine Tochter zu, die zitternd und weinend da stand. Währenddessen brüllte er die Psychologin erbost an „Raus! Gehen Sie raus! Das bringt doch nichts!“ Sein Gesicht hatte sich vor Zorn gerötet. Er nahm seine Tochter auf den Arm, fuhr ihr beruhigend durchs Haar und sprach sanft auf sie ein. „Scht …. Scht … mein Schatz … Alles ist gut … Papa ist da! … Alles wird wieder gut!“


    Andrea begleitete die Psychologin, die völlig bestürzt von der Reaktion des Mädchens war, vor die Tür. Die fassungslose Frau konnte sich das Verhalten von Aida einfach nicht erklären.


    „Ich versteh das nicht Frau Gerkhan, ich versteh das einfach nicht! So etwas ist mir in meiner langjährigen Praxis noch nie passiert“, murmelte sie schon fast stereotyp vor sich hin. Als ihr Andrea von ihrer Vermutung im Zusammenhang mit Gabriela Kilic berichtete, brach für die Frau endgültig eine Welt zusammen. „Oh mein Gott! Wenn ich das vorher gewusst hätte, hätte ich doch nie auf diesen Termin bestanden!“ gab sie kleinlaut zu. Fahrig rieb sie ihre Hände aneinander.
    Andrea konnte während des Gesprächs durch den Lichtausschnitt in der Zimmertür Semir und Aida beobachten. Diese hatte sich mittlerweile beruhigt und saß zusammen mit ihrem Vater und der Erzieherin an einem der Spieltische und spielte Karten.


    „Vielleicht können Sie uns ja doch helfen Frau Krämer! Welches Parfum verwenden Sie? Ist das etwas Besonderes?“, forschte Andrea nach.


    „Naja“, dabei wirkte die ältere Dame schon fast ein bisschen verlegen, „wissen Sie, Frau Gerkhan, das ist so ein kleiner Luxus, den ich mir gönne. Es gibt da eine kleine Apotheke mit einem Reformhaus in der Eifel. Das Hobby des Apothekers ist es Parfums nach alt hergebrachter Art herzustellen. Ist was Besonderes, nicht ganz billig verstehen Sie? Wenn es ihnen weiterhilft, gebe ich ihnen natürlich gerne die Adresse.“


    Die Frau des Kommissars nickte zustimmend. Während sich die Psychologin entfernte, betrachtete sie die Drei im Spielzimmer. Ein richtiges Gefühl des Glücks durchströmte sie, als sie erkannte, dass Aida lächelte. Der Kleinen tat die Anwesenheit ihres Vaters richtig gut. Andrea versank in ihren Gedanken. Was half in Bezug auf Aida weiter? Sie konnte ihre Tochter ja so gut verstehen, wurde sie doch selbst, sobald sie die Augen schloss, von den Bildern ihrer Gefangenschaft verfolgt und der darauffolgenden Flucht gequält. All das hatte sich unauslöschlich in ihren Erinnerungen eingebrannt. Zwei Menschen rückten in den Focus ihrer Gedankengänge: Aida und Ben! Wie sollte man so schnell einen Kinderpsychologen für ihre Tochter finden? Sie seufzte abgrundtief auf. Da war noch etwas anderes. Sie wollte, nein sie musste den verletzten Polizisten sehen, ihn im Krankenhaus besuchen. Vielleicht würde sie dadurch etwas ihre innere Ruhe wiederfinden. Ihr schlechtes Gewissen und ihre Schuldgefühle, dass sie Ben so hilflos im Wald zurückgelassen hatte, fraßen sie innerlich fast auf. Ob Semir und auch Aida dafür Verständnis haben würden, dass sie heute noch zu Ben wollte?

  • Aida blieb noch ein wenig im Spielzimmer. Der Kontakt mit den anderen Kindern tat ihr sichtlich gut. Die Erzieherin hatte den besorgten Eltern signalisiert, dass ihre Tochter gut aufgehoben sei und Andrea und ihr Mann nutzten die Gelegenheit, um einen Abstecher in die Cafeteria des Krankenhauses zu machen. Sie setzten sich auf die Terrasse ein wenig abseits von den anderen Gästen an einen kleinen Tisch und genossen die warme Frühlingssonne. Vor Andrea stand ein Glas mit Latte Macchiato und Semir trank wie immer Kaffee schwarz. Die beiden unterhielten sich nochmals eingehend über ihre Tochter und beratschlagten, wie man Aida am besten helfen könnte.
    Letztendlich hatte keiner von ihnen eine passende Lösung parat. Am Nachmittag sollte nochmals ein Gespräch mit der behandelnden Kinderärztin stattfinden. Vielleicht hatte die Ärztin einen rettenden Vorschlag, wie man Aida am besten helfen konnte, das erlittene Trauma zu verarbeiten. Für einige Minuten starrten sich die Eheleute schweigend an, nippten an ihrem heißen Getränk und hingen ihren Gedanken nach.
    Semir musterte seine Frau und konnte erahnen, das Andrea sich nicht nur Sorgen um ihre Tochter machte. Er konnte es fast körperlich fühlen, was seine Frau noch bewegte und innerlich zerriss. Die Selbstvorwürfe, weil sie Ben hilflos im Wald zurückgelassen hatte. Er umschlang mit seinen Händen die ihren, die sich eisig kalt anfühlten, drückte sie mitfühlend und blickte ihr besorgt in die Augen.
    „Was ist los mit dir Andrea? … Vor mir brauchst du nicht die starke Frau zu spielen. Wie geht es dir wirklich mein Schatz?“- „Mir? … Mir geht es gut!“ – Semir schüttelte den Kopf und kniff kurz die Lippen zusammen. „Das glaube ich dir nicht! … Es sind nicht nur die Sorgen wegen Aida! … Sondern es geht auch um Ben? … Richtig!“
    In ihren Augenwinkeln schimmerte es verdächtig. Er sah, wie sich auf die Unterlippe biss und darum kämpfte, nicht ihre Fassung zu verlieren. Sie nickte und murmelte mit einem heißer belegten Tonfall: „Semir, ich möchte zu ihm … ich möchte Ben sehen, mich mit meinen eigenen Augen vergewissern, dass er noch lebt. Ich … !“
    Andrea verstummte, verdrehte die Augen leicht nach oben und versuchte krampfhaft ihre Tränen wegzublinzeln. Mit einem Mal überfiel sie die Erinnerung, dieser schreckliche Anblick von Ben, als sie ihn alleine im Wald zurück lassen musste. Diese Schüsse auf der Anhöhe … ihre Hilflosigkeit. Ihr wurde nicht bewusst, dass sie leicht zitterte. Semir erhob sich von seinem Stuhl, umrundete den Tisch und nahm seine Frau in den Arm. Er hielt sie einfach fest und versuchte für sie wie ein kleiner Fels in der Brandung zu sein und etwas von seiner Kraft und Stärke auf seine Frau zu übertragen. Er murmelte ihr beruhigende Worte ins Ohr, streichelte ihr dabei sanft über den Rücken und störte sich auch nicht daran, dass der eine oder andere Blick der anwesenden Besucher der Cafeteria an ihnen haften blieb.
    „Ich verstehe dich mein Schatz. …. Bitte beruhige ich und mir einfach ein paar Minuten und lass mich telefonieren!“ Dabei drückte er seine Frau sanft auf einen der Bistro-Stühle und zog eine der Papierservierten aus dem Ständer. Dankend nahm Andrea die Servierte an, trocknete ihre Tränen und schnäuzte sich. Währenddessen fischte der Türke sein Handy aus der Hosentasche, telefonierte mit Konrad Jäger. Dieser hatte keine Neuigkeiten aus der Klinik, versprach Semir aber, alles Nötige zu veranlassen, dass auch Andrea außerhalb der Besuchszeiten zu Ben durfte.
    Am liebsten hätte sich der kleine Türke in seinen silbernen BMW gesetzt und in Richtung Uni-Klinik gefahren. Seine Gedanken rasten. Der Gewissenskonflikt wallte in ihm auf. Auf der einen Seite waren da seine Frau und seine Tochter und auf der anderen Seite war da sein bester Freund Ben. Jeder rief auf seine Art um Hilfe … seine Hilfe.
    Auch wenn er den Wunsch seiner Frau verstand, da war diese Ungewissheit, wie es Ben gesundheitlich ging. Er atmete mehrmals tief durch. Semir musste einfach wissen, wie es um seinen Freund stand, um für Aida in den nächsten Stunden der Vater zu sein, den sie dringend benötigte. Ein Blick auf die Uhrzeit, die auf dem Handy-Display angezeigt wurde, verriet ihm, die Morgenvisite musste längst vorbei sein. Kurz entschlossen, tippte er auf die eingespeicherte Telefonnummer der Intensivstation und hatte Glück. Nach einer Minute Wartezeit war Marco, der Krankenpfleger, am anderen Ende der Leitung.
    Der Pfleger hatte gute Nachrichten für den Polizisten. „Herr Jäger wird nicht mehr beatmet. Er war vor einer Stunde kurzzeitig wach und ansprechbar, hat auf Fragen reagiert und schläft momentan.“ Grenzenlose Erleichterung machte sich in Semir breit. Die Anspannung löste sich ein wenig und der seelische Druck, unbedingt Ben zur Seite stehen zu wollen ließ ein wenig nach. Auch auf seine Frau wirkten die Neuigkeiten aus der Uni-Klinik wie eine Erlösung.


    Nach dem Mittagessen blieb Semir mit seiner Tochter in der Marienklinik. Dieter Bonrath begleitete Andrea zur Kölner Uni-Klinik. Allerdings wurde ihm der Zutritt zur Intensivstation verwehrt. Konrad Jäger hatte nur veranlasst, dass Andrea zu Ben durchgelassen wurde. Also blieb dem schlaksigen Polizisten nichts anderes übrig, als sich auf den unbequemen Stühlen im Wartebereich hinzusetzen und zu warten.


    Minutenlang verharrte Andrea am Fußende des Bettes und betrachtete Ben. Wie verändert er aussah, seit dem Augenblick als sie ihn im Wald zurücklassen musste. Wie ein Film zogen die Szenen ihrer gemeinsamen Gefangenschaft, der Flucht und der Misshandlungen, die man den dunkelhaarigen Polizisten angetan hatte, an ihrem inneren Auge vorbei. Es war so wie in den vergangenen Stunden, sobald sie die Augen schloss, verfolgten sie diese Bilder, nicht nur in ihren Träumen, sein schmerzverzerrtes Gesichts, der flehende Ausdruck seiner Augen, seine Schmerzensschreie, sein Körper, der sich unter den erlittenen Qualen aufbäumte.


    Wenn sie die kleinen Verletzungen an der Wange und der Stirn, die bereits abheilten, ausblendete, ebenso die übrigen Wunden seines gepeinigten Körpers, erinnerte sie der entspannte Ausdruck seines Gesichtes, an etwas ganz anderes. So friedlich hatte Ben ausgesehen, wenn er bei ihnen übernachtet und im Gästezimmer geschlafen hatte. Sie schwelgte in ihren Erinnerungen. Dachte daran, wie es gewesen war, wenn die Kinder ihn morgens geweckt und anschließend mit ihm rumgetobt hatten.
    Das Alarmsignal eines Überwachungsmonitors holte sie zurück in die Gegenwart. Bildete sie sich das nur ein oder hatten sich seine Augenlider bewegt. Verwirrt schüttelte Andrea den Kopf und trat näher ans Bett heran und setzte sich auf den Besucherstuhl. Sie ergriff seinen rechten Arm und streichelte sanft darüber. Der andere Arm sah eher aus wie ein Nadelkissen. Urplötzlich brach es aus ihr heraus, was sich für andere verborgen, in ihrem Inneren abgespielt hatte.
    „Oh Gott, Ben, sag mir doch was ich machen soll. Wenn ich die Augen schließe habe ich ständig dieses Bild vor Augen, wie du im Wald schwer verletzt vor mir lagst. Ich frage mich immerzu, war ich schuld daran, dass du den Abhang hinuntergestürzt bist?“ Andrea schluchzte auf … Tränen liefen ihr über das Gesicht „Ich konnte dich doch nicht zurücklassen auf dem verfallenen Bauernhof! Verstehst du! Ich konnte doch nicht! Die Dunkelhaarige hätte dich doch umgebracht! Du hättest doch nie im Leben eine Chance gegen sie gehabt!“ Sie rang darum, ihre Fassung wieder zu gewinnen. Zärtlich strich sie ihn über die Wangen und über die Stirn. „Ben, bitte … werde wieder gesund! Bitte! … Semir … die Kinder und auch ich, wir brauchen dich!“

  • Ihr war überhaupt nicht bewusst geworden, dass sich auf dem EKG- Monitor die Wellen, die den Herzschlag anzeigten, verändert hatten. Leise murmelte sie vor sich hin, im Gespräch mit sich selbst vertieft. Ihre Umwelt hatte sie ausgeblendet.


    Ben spürte die Wärme einer Hand, die auf seinem Arm lag. Sanft strich ihm jemand über die Wangen und das Gesicht. Es war einfach nur angenehm, und noch etwas war wieder da: die Schmerzen … diese furchtbaren Schmerzen. Das Gefühl innerlich zu verbrennen, wütete wieder in seinem Rücken und seiner rechten Seite. Der Dunkelhaarige wollte wieder schlafen, einfach weiter schlafen und nichts spüren. Aber da war noch etwas, diese Stimme, in der so viel Sorgen und Flehen lag. Jemand redete mit ihm, die Worte drangen zu Ben durch wie aus weiter Ferne. Zuerst verstand er den Sinn nicht. Auf einmal wurde ihm bewusst, wer da neben seinem Krankenbett saß: Andrea. Seine Augenlider fühlten sich so unsagbar schwer an, selbst unter Aufbietung seiner ganzen Kräfte gelang es ihm nicht, seine Augen zu öffnen. Eine neue Welle voller Qual überrollte ihn. Ohne dass es Ben bewusst war, stöhnte er leise vor Schmerz vor sich hin.


    Am EKG-Monitor schrillte ein akustische Warnsignal auf. Erschrocken fuhr Andrea zusammen, als sie gleichzeitig das leise Stöhnen von Ben hörte. „Ben! … Ben! hörst du mich?“, fragte sie völlig aufgeregt. Sein Gesichtsausdruck hatte sich verändert, in seiner Mimik arbeitete es. Seine Stirn legte sich in Falten, sein schmerzhaftes Stöhnen wurde lauter. Sie hatte erneut das Gefühl, seine Augenlider flatterten. Im selben Augenblick ertönte von einem weiteren Überwachungsgerät ein Alarmsignal. Die schrillen Töne hallten von den Zimmerwänden wider. Verwirrt blickte sich Semirs Frau um. Schwester Anja kam in Bens Zimmer geeilt, gefolgt von einer weiteren Schwester und einem jüngeren Arzt. In Blickrichtung zu Andrea ordnete dieser in einem recht taktlosen Ton an: „Verlassen Sie sofort das Zimmer und die Station! … Raus!“ Mit einer Geste seiner Rechten unterstrich er noch einmal seinen Befehl.
    Andrea warf noch mal einen traurigen Blick zurück über die Schulter, als sie Bens Zimmer verlassen hatte. Ihr entging nicht der rüde Tonfall, mit dem der blonde Arzt die Krankenschwester anblaffte: „Was sucht um diese Uhrzeit eine Besucherin im Krankenzimmer? Das nächste Mal fragen sie mich gefälligst vorher um Erlaubnis!“ Der Arzt und die Schwestern waren um das Bett verteilt und kümmerten sich um den Patienten.
    Mit hängenden Schultern schlich Andrea aus der Intensivstation. Tränen schimmerten in ihren Augen. Dieter Bonrath blickte verdutzt hoch, als Semirs Frau völlig aufgelöst auf ihn zugestürmt kam.
    „Andrea! Was ist denn passiert? … Ist was mit Ben?“, erkundigte sich der Polizist besorgt. Er nahm Andrea in den Arm und hielt sie tröstend fest, während sie mit knappen Worten über das berichtete, was sich vor wenigen Minuten in Bens Zimmer abgespielt hatte. Mit ihrem Ärmel wischte sie sich ihre Tränen aus dem Gesicht.


    „Na komm! Setz dich erst mal her zu mir! So schlimm wird es schon nicht sein. Warten wir einfach mal ab, was der Arzt gleich zu berichten hat!“, beruhigte Bonrath mit seiner unvergleichlichen Art die Frau seines Kollegen.


    *******


    Nachdem der Assistenzarzt das Intensivzimmer verlassen hatte, betrachtete Anja, die leitende Stationsschwester, den Patienten, der mittlerweile wieder völlig ruhig dalag. Der junge Arzt hatte ihn erneut sediert. Marco, der Krankenpfleger, war zwischenzeitlich ebenfalls im Zimmer anwesend. Mit knappen Sätzen informierte ihn Anja darüber, was passiert war. Der Pfleger schüttelte ungläubig den Kopf und murmelte leise: „So ein Arsch, das wäre doch nicht nötig gewesen Herrn Jäger so abzuschießen!“ Zusammen mit der erfahrenen Schwester lagerte er seinen Patienten neu und nutzte die Gelegenheit sich mit ihr zu unterhalten.
    „Einfühlungsvermögen sieht definitiv anders aus Marco. Allein schon wie er mit Frau Gerkhan umgesprungen ist, die Frau hat mir so Leid getan. Er hat die Ärmste mehr oder weniger rausgeschmissen.“ Ungläubig schüttelte die altgediente Schwester ihren Kopf. „Der Ruf, der unserm Herrn von Zadelhoff voraus eilt, wird ihm voll gerecht. Ich gebe ja in der Regel nichts auf das Geschwätz von anderen und bilde mir stattdessen eine eigene Meinung. Nur in dem Fall scheint sich das Gerede zu bestätigen. Am liebsten würde ich dem arroganten Schnösel die Meinung sagen“, empörte sich die erfahrene Krankenschwester und schnaubte mal durch. „Aber keine Sorge, dass Früchtchen ziehe ich mir noch!“
    „Lass das mal lieber Anja! Leg dich nicht mit dem Typen an! Das ist kein Teamplayer, sondern eher das Gegenteil. Der geht ohne mit der Wimper zu zucken über Leichen und hat Vitamin B bis ganz oben zur Klinikleitung. Laut meinen Quellen, ist er auf ausdrücklichen Wunsch des Klinikdirektors eingestellt worden, um seine Facharztausbildung an einer Uni-Klinik abzuschließen. Wenn es stimmt, was man munkelt, ist er sogar mit unserem ach so korrekten Verwaltungsdirektor verwandt. Martina, die auf der chirurgischen Station B arbeitet, wo er vorher tätig war, hat wegen dem Idioten sogar eine Abmahnung bekommen“, warnte er die Schwester vor, um anschließend ironisch aufzulachen „die haben vor einigen Tagen eine Flasche Sekt geköpft, als es hieß, dass er eine Woche früher als geplant, auf unsere Station versetzt wird!“


    „Na Klasse! Du machst mir Hoffnung. So was wie den, können wir hier gerade auf Station gebrauchen.“ Anja atmete tief durch. „Haben die in der Verwaltung nichts Besseres als Ersatz für unsere Frau Dr. Stolz gefunden? Warum musste die Gute ausgerechnet jetzt schwanger werden? Das scheint momentan eine Seuche zu sein. Erst wird Isabella schwanger, Anna ist nicht mehr lange hier und ich sehe schon kommen, dass wir alten Hasen das wieder mit Überstunden auffangen müssen.“
    Die nächsten Minuten arbeiteten die beiden Pflegekräfte schweigend Hand in Hand. Zum Schluss warf Anja einen prüfenden Blick den Patienten und seufzte auf: „Ich gebe dir Recht Marco, ob das notwendig war, den armen Kerl so schlafen zu legen.“ Sie wandte sich wieder ihrem Kollegen zu und meinte mit einer Spur von Optimismus: „Warten wir mal ab, was geschieht, wenn der Chefarzt ab Dienstag wieder da ist. Professor Kraus legt großen Wert darauf, dass wir als Pflegepersonal mit den Ärzten zusammen arbeiten und auch umgekehrt. Wie sagt er immer: Zum Wohle des Patienten! Das wäre nicht der erste Arzt, dem wir Manieren beibringen!“ Als sie das Krankenzimmer verließen und raus auf den Gang traten, schaute sich Anja suchend um. „Ist er wenigstens raus, zu der Ärmsten und hat sie darüber informiert, wie es Herrn Jäger geht?“ Sie stand mit dem Rücken zur Eingangstür des Intensivzimmers. Marco tippte ihr auf die Schulter und bewegte den Kopf in Richtung des Stationsstützpunktes.
    „Nein, er ist vorne und telefoniert.“ Anja schnaubte wütend durch und dem Pfleger schwante schon, dass die Stationsschwester das Verhalten des Arztes nicht einfach so billigen würde. „Was hast du vor Anja? Mach bloß keinen Blödsinn! … Bitte, warte wenigstens bis du die Rückendeckung vom Chef hast!“
    „Keine Sorge, ich gehe raus zu Frau Gerkhan!“ Sie warf einen prüfenden Blick über die Schulter in das Krankenzimmer, auf den Patienten und die Monitore. „Bleibst du noch einen Moment bei Herrn Jäger, sieht ja alles soweit stabil aus.“


    Mit einem leisen Surren öffnete sich die Eingangstür zur Intensivstation und eine ältere Schwester kam direkt auf die beiden Wartenden zu. Sie wirkte wie so ein mütterlicher Typ auf Andrea. Ihr Gesicht umspielte ein sanftmütiges Lächeln. Innerlich kochte Anja, als sie die verweinten und verquollenen Augen der Frau sah.
    „Hallo Frau Gerkhan! Herrn Jäger geht es gut. Also keine Aufregung!“
    Andrea und Dieter hatten sich von ihren Stühlen erhoben. „Aber was war das gerade eben?“, fragte sie verwirrt nach. „Was ist mit Ben? Ich hätte wetten können, dass er am Aufwachen war? Stimmt doch Schwester Anja!“, äußerte sie sich hoffnungsvoll.
    Es widerstrebte der Krankenschwester die besorgte Frau anzulügen. „Frau Gerkhan, ich bin kein Arzt …!“ Andrea fiel der Schwester energisch ins Wort „Aber sie haben doch ein bisschen Berufserfahrung oder?“
    „Ja, sie haben Recht. Ich denke, Herr Jäger war am Aufwachen und hatte vermutlich starke Schmerzen.“ Sie holte tief Luft und suchte nach einer diplomatischen Antwort: „Der Arzt hat ihn nochmals leicht sediert, um ihn die Schmerzen zu nehmen. Er wird die nächsten Stunden wieder schlafen. Mehr kann ich ihnen nicht sagen“, schloss sie die Unterhaltung ab. Andrea und Dieter verabschiedeten sich dankbar und fuhren zurück zur Marienklinik.

  • Bei ihrer Rückkehr erwartete sie bereits Bonraths Ablösung. Es war ein Kollege vom Innenstadtrevier, Hubert Möller, der die nächste Wache übernahm. Semir kannte ihn flüchtig von dem einen oder anderen Einsatz und schätzte ihn als zuverlässig ein. Andrea schilderte ihrem Mann ihre Erlebnisse in der Uni-Klinik. Mit jedem weiteren Satz, den sie von sich gab, konnte sie erkennen, wie sein Unmut anstieg und sein türkisches Temperament zum Vorschein kam. Bevor er endgültig explodieren konnte, kam seine Tochter mit zwei weiteren Kindern und der Erzieherin den Gang entlang auf sie zugelaufen.


    „Aida, gehst du schon mal mit deinen neuen Freundinnen in dein Zimmer! Zeig ihnen doch mal eure tolle Terrasse! Ich muss noch mal kurz mit deinen Eltern sprechen“, dabei schob die Erzieherin Jutta Eberlein die Mädchen, die alle im gleichen Alter waren, in Richtung der Zimmertür und blickte Andrea und Semir fragend an „falls sie eine Minute Zeit für mich haben. Ich hätte einen Vorschlag, in Bezug auf Aida, den ich ihnen gerne unterbreiten möchte.“ Sie deute auf die Besucherecke und die freien Stühle dort. „Wollen wir uns nicht einen Moment hinsetzen!“ forderte sie die Gerkhans auf, ihr zu folgen. „Entschuldigung, wenn ich so überfalle. Nur das, was ich heute Morgen im Spielzimmer miterleben musste, ging mir einfach nicht mehr aus dem Kopf. Ich hoffe, sie sind mir nicht böse. In meiner Mittagspause habe ich die Geschichte meinem Vater geschildert, der in einer niedergelassenen Praxis als Psychologe arbeitet.“ Sie erklärte den Eltern von Aida weiter, dass Kinder zwar nicht das Spezialgebiet ihres Vaters seien, aber da Aida ja so furchtbare Angst vor einer Frau hatte, vielleicht ein Mann weiter kommen würde. Wenn die beiden einverstanden wären, würde er heute Nachmittag noch vorbeikommen und ein erstes Gespräch mit ihrer Tochter führen.


    Andrea und Semir schauten sich nur kurz an und die Entscheidung war getroffen. Bereitwillig nahmen sie das Angebot der Erzieherin an. Eine Stunde später kam der Psychologe tatsächlich ins Marienhospital. Der grauhaarige Mann strahlte eine unheimliche Ruhe aus und erinnerte eher an Aidas Opa als an einen Psychologen. Schon eine Minute nachdem er das Zimmer betreten hatte, war der Bann zwischen ihm und Aida gebrochen. Er hatte ein paar Scherze auf den Lippen und sein Lachen war herzlich und ehrlich. Zur Überraschung der beiden nutzte Dr. Eberlein die Gelegenheit auch mit Andrea zu sprechen. Er sagte zu, Mutter und Tochter gemeinsam psychologisch zu betreuen und zu therapieren. Semir fiel ein Stein vom Herzen, denn seine nächste Sorge galt Ben. Er hatte die Worte seiner Frau nicht vergessen und wollte so schnell wie möglich zu seinem Freund ins Krankenhaus.


    Doch daraus wurde nichts. Frau Krüger fing ihn an der Eingangstür des Marienhospitals ab. Selbst der Hinweis, er müsse dringend zu Ben, half Semir nicht. Die Chefin bestand darauf, vorher mit ihm reden zu wollen. Nur ungern folgte er ihr in die Cafeteria. Etwas abseits von den anderen Gästen suchten sich die beiden Polizisten einen Tisch, um ungestört sprechen zu können. Ihre ersten Fragen galten natürlich der aktuellen Verfassung von Aida und Andrea. Als die Sprache auf Ben kam, erntete sie eine patzige Antwort des Türken. „Was glauben Sie wohl, wo ich gerade hinwollte!“ Er trommelte dabei nervös mit seinen Fingerkuppen auf der Tischplatte und schilderte in kurzen Worten, was sich heute Mittag in der Uni-Klinik zugetragen hatte.


    „Ok, ich verstehe Sie ja, am liebsten würde ich sogar selbst mitkommen.“, lenkte sie ein, „ich will mich kurz fassen Herr Gerkhan!“ führte Kim Krüger das Gespräch weiter fort und nippte dabei von ihrem Kaffee, „ich komme direkt von Frau Schrankmann und wollte sie auf den neuesten Stand der Ermittlungen bringen. Die Staatsanwältin hat beim LKA so viel Druck gemacht und darauf gedrängt, dass Hartmut mit in die Untersuchungen der Spuren einbezogen wird. Der Tote im Wald konnte immer noch nicht identifiziert werden!“


    „Aber Andrea sagte doch aus, dass der Typ Mario heißt und mit der Kilic verwandt ist!“
    „Was nützt uns diese Information, wenn er in keiner Datenbank registriert ist!“, konterte seine Chefin. „Die Fingerabdrücke des Toten wurden an das BKA und Interpol weitergegeben. Mal schauen, ob die seine Identität lüften können. Es bleibt uns in diesem Fall nichts anderes übrig, als zu warten!“
    „Und was ist mit dieser Kilic, Frau Krüger?“, fiel ihr Semir ins Wort, „wohin ist die untergetaucht?“ Er hielt sich mittlerweile krampfhaft an seiner Kaffeetasse fest, um seine Nervosität zu überspielen. Die Chefin schüttelte andeutungsweise mit dem Kopf und kniff die Lippen zusammen.


    „Nichts! Absolut nichts! Ich befürchte, der Typ vom BKA hat Recht und die hat sich ins Ausland abgesetzt. Auf jeden Fall wird sie deswegen seit heute Mittag mit internationalem Haftbefehl gesucht. Frau Schrankmann hat sich dafür mächtig ins Zeug gelegt. Denken Sie, dass Sie am Montag wieder ihren Dienst aufnehmen können?“ …
    Der Kommissar schien tief in seinen Gedanken versunken vor ihr am Tisch zu sitzen und blickte erst hoch, als ihn seine Chefin nochmals ansprach. „Herr Gerkhan? … Haben sie meine Frage verstanden?“
    Semir dachte an Ben und seine Familie. Langsam hob er den Kopf und schaute Kim Krüger in die Augen. „Ja, ich denke, das wird schon gehen. Andrea und Aida sollen auf Anraten des Psychologen morgen aus der Klinik entlassen werden. Ich werde die beiden zu Andreas Eltern bringen. Dort ist ja auch Lilly!“ Beim Namen seiner jüngeren Tochter bekam er einen sehnsüchtigen Ausdruck in den Augen. „Ich hätte Sie deswegen sowieso noch angerufen. Es geht ja um den Polizeischutz! Und … ja, noch eine Bedingung habe ich. Gewähren sie mir ausreichend Zeit, dass ich Ben im Krankenhaus besuchen kann!“
    Kim Krüger nickte zustimmend. „Einigen wir uns darauf, dass sie ihre Dienstzeit flexibel gestalten können.“ Für einen Moment schwieg sie. „Frau Schrankmann gehen ihren Anschuldigungen bezüglich eines Maulwurfs in ihrer Behörde nicht aus dem Kopf. Das LKA hat angeblich nichts gefunden. Sie möchte inoffiziell und ohne dass es jemand mitbekommt, dass sie und Hartmut das Ganze nochmal durchleuchten. Susanne wird sie dabei nach besten Kräften unterstützen.“


    Der Kommissar rutschte ungeduldig auf seinen Stuhl hin und her, als er den Ausführungen seiner Chefin lauschte. Er drängte förmlich auf ein Ende des Gesprächs und zum Schluss versprach Frau Krüger sich um alles zu kümmern, was den Schutz von Semirs Familie betraf. Semir hatte nur noch einen Wunsch: Er wollte zu Ben. Wenn der Türke an seinen Freund dachte, zog sich vor Sorgen sein Magen zusammen.

  • Im Laufe des späten Nachmittags schaffte es Semir tatsächlich noch die Uni-Klinik zu kommen, um Ben zu besuchen. Der Oberarzt, Dr. Vollmers, hatte Dienst und somit hatte der Türke kein Problem zu seinem Freund durchgelassen zu werden, obwohl die offizielle Besuchszeit schon zu Ende war. Nach einem kurzen Gespräch im Arztzimmer, das den Blutdruck des Türken etwas sinken ließ, machte er sich auf dem Weg zu Bens Zimmer. Dabei suchte er mit seinen Blicken nach einem Arzt, Anfang dreißig mit schulterlangen brünetten Haaren. Obwohl Andrea ihm den jungen Mann eingehend beschrieben hatte, konnte er ihn nirgends auf der Intensivstation entdecken. Gerne hätte er dem Typen die Meinung gesagt. War wohl besser so, dachte er insgeheim für sich.
    Beim Betreten des Zimmers auf der Intensivstation erwartete ihn eine Überraschung. Der Besucherstuhl war bereits durch eine junge Frau besetzt, die sich beim Öffnen der Tür umdrehte. Julia, Bens Schwester, saß da an dessen Seite und hielt die Hand ihres Bruders fest und sprach leise mit ihm. Ein freudiges Lächeln huschte über ihr Gesicht, als sie Semir erkannte. Nach einer kurzen aber herzlichen Begrüßung wurde Julia wieder ernst.


    „Semir, was ist denn passiert? Mein Vater hat etwas von einer Entführung erzählt. Vor allem, wie geht es Andrea und Aida?“, fragte sie besorgt nach. Der Kommissar holte sich einen weiteren Stuhl und setzte sich an die andere Seite von Bens Bett. Für einen Moment schloss er die Augen, um sich innerlich zu sammeln, bevor er Julia die Ereignisse der vergangenen Tage schilderte. Sein Blick wanderte zwischen Julia und dem schlafenden Ben hin und her. Die Worte der jungen Krankenschwester kamen ihm wieder in den Sinn, dass es für seinen Freund gut wäre, seine Stimme zu hören.
    Julia wurde immer blasser, als sie das ganze Ausmaß des Dramas erfuhr. Bei der Nachricht über Bens mutmaßlichen Tod schüttelte sie ihren Kopf hin und her und fing hemmungslos an zu weinen.
    Semir erhob sich von seinem Stuhl, umrundete das Krankenbett und nahm Julia tröstend in den Arm. Ihre Tränen benetzten sein Shirt. Als sie sich beruhigt hatte, drückte sie der Türke wieder sanft auf ihre Sitzgelegenheit. Mit einer monotonen Stimme berichtete er weiter und blieb dabei hinter ihr stehen. Seine Hände legte er beruhigend auf ihre Schultern. Aus der Perspektive konnte er seinen Freund genauer betrachten, der wie regungslos dalag. Nur das Heben und Senken des Brustkorbs beim Atmen zeigte, dass Leben in ihm war. Man hatte das Kopfteil des Bettes etwas höher gestellt. So konnte Semir Bens Gesicht bewusst mustern. Seine fahle Gesichtsfarbe glich der des Kopfkissens. Im krassen Gegensatz standen dazu die Schwellungen, die leicht zurückgegangen waren. Die ersten Hämatome veränderten ihre Färbung von dunklen lila-rot in hellere Farbtöne an. An seinen Wangen schimmerte es dunkel. Der Türke hatte gestern dem Krankenpfleger erklärt, wie stolz Ben auf seinen Drei-Tage-Bart war. Marco hatte verständnisvoll genickt und Semir versichert, dass man Ben nicht mehr rasieren würde. Der Tubus, der gestern noch aus seinem Mund geragt hatte, und der Plastikschlauch waren verschwunden. Stattdessen lag eine Sauerstoffbrille vor seinen Nasenlöchern. Der sichtbare Teil seines Oberkörpers war durch eines dieser Krankenhaushemdchen verdeckt. In seinem Unterbewusstsein registrierte Semir all diese kleinen Details und jedes für sich, signalisierte ihm, Ben lebte.
    Als der Kommissar seinen Bericht beendet hatte, schluckte Julia tapfer ihre Tränen hinunter, drehte sich um und blickte hoch.
    Die junge Frau atmete tief durch: „Ich bin so froh, dass du da bist Semir. Als ich heute Nachmittag ankam, hatte ich ein Gespräch mit einem jüngeren Arzt … der hatte im Namen so ein … von …, ich kann dir beim besten Willen nicht mehr sagen, wie der hieß. Dieser Arzt hat mir einem Fachvortrag über Bens Verletzungen gehalten.“ Sie zuckte hilflos mit ihren Schultern, „von dem ich beim besten Willen nichts verstanden habe. Wenn ich nachfragte, wurde er so richtig herablassend. Als ich darauf bestand mit dem Oberarzt oder mit Onkel Peter zu reden, wurde er ungehalten und patzig. Meinte er könne ja schließlich nichts für meine mangelnden medizinischen Kenntnisse und der Oberarzt hätte keine Zeit, ich müsse mit ihm vorlieb nehmen. Der Kerl war einfach nur arrogant.“ Julia stand ihre Verärgerung ins Gesicht geschrieben.


    Semir überlegte, sollte er ihr etwas davon erzählen, was sich hier am späten Vormittag aus Sicht von Andrea abgespielt hatte. Er entschied sich dafür. Schließlich war Julia eine direkte Angehörige von Ben und hatte ein Recht darauf zu wissen, was man mit ihrem Bruder und auch Andrea gemacht hatte. Pures Entsetzen spiegelte sich auf ihrem Gesicht wieder. „Hey Julia! Beruhige dich wieder! Ich habe gerade auf dem Gang vor der Intensivstation Dr. Vollmers, den Oberarzt, getroffen und mit ihm in Arztzimmer ein Gespräch über Bens aktuellen Zustand gehabt. … Der gibt sich optimistisch und meinte, als ich ihn darauf ansprach, Ben würde in den nächsten Stunden bestimmt wacher werden. Also heißte es für uns einfach: Abwarten und Tee trinken!“, versuchte er sie aufzumuntern. Um sie auf andere Gedanken zu bringen, lenkte er das Gespräch in eine andere Richtung.


    „Wo ist denn dein Vater, Julia?“ Er war verwundert darüber, ihn nicht hier anzutreffen.


    „Zu Hause! Er hatte heute Morgen einen kleinen Schwächeanfall und unser Hausarzt hat ihm einen Tag strikte Bettruhe verordnet. Keine Aufregung und das in dieser Situation mit Ben!“ Julia lachte ironisch auf, „Übrigens du siehst auch müde aus Semir!“, stellte sie fest. Er versuchte abzuwiegeln, was ihm nicht so richtig gelang. Er sah es an Julias skeptischen Blick. „Was hältst du davon, wenn wir uns absprechen und abwechselnd bei Ben am Krankenbett sitzen. Dann hast du noch ein bisschen mehr Zeit für deine Familie, die brauchen dich bestimmt auch!“, schlug sie ihm vor. Er zögerte einen Atemzug lang und begrüßte ihren Vorschlag. „Du hast Recht Julia!“


    Einige Zeit später wurden die beiden Besucher von Schwester Anna aufgefordert das Zimmer und die Intensivstation zu verlassen. Der Kommissar kannte das Prozedere ja schon vom vergangen Tag und klärte seine Begleiterin auf dem Weg nach draußen vor die Intensivstation auf. Nachdem sich die Eingangstür mit einem leisen Surren geschlossen hatte, kicherte Bens Schwester urplötzlich vor sich hin.
    „Julia, was ist denn auf einmal so lustig?“, forschte der Kommissar nach, um den Grund für ihren Heiterkeitsausbruch zu erfahren und warf der jungen Frau einen verwunderten Blick zu.
    „Tut mir leid Semir!“ Sie fuhr sich mit ihrer Hand über den Mund und gluckste weiter vor sich hin. „Da wird Ben von solch einer hübschen Schwester versorgt ... Die junge Frau entspricht doch voll seinem Geschmack und er kriegt es überhaupt nicht mit. Ich stell mir gerade sein Gesicht vor, wenn ich es ihn später einmal erzähle und ihn damit aufziehen werde!“
    Bei dieser Äußerung fing der Türke ebenfalls an zu Grinsen. Ja Ben und die Frauen … und die beiden ließen sich auf den unbequemen Plastikstühlen, die vor der Intensivstation standen, nieder.

  • Wie am gestrigen Abend zog sich die Versorgung des Patienten länger hin, als erwartet. Julia beschloss deshalb nach Hause zu gehen, um nach ihren Vater zu sehen, um den sie sich ebenfalls Sorgen machte. Sie wollte am morgigen Nachmittag wieder zu Ben ins Krankenhaus kommen und fragte Semir, ob ihm dies etwas ausmachen würde.


    Dieser schüttelte den Kopf. Das passte dem Türken gut, denn Andrea und Aida sollten auf Anraten des Psychologen morgen Mittag aus dem Krankenhaus entlassen werden. Dr. Eberlein hatte empfohlen, dass Aida so schnell wie möglich in eine vertraute Umgebung gebracht werden sollte, um so das Trauma besser verarbeiten zu können. Andrea und er hatten beschlossen, dass sie die nächsten Tage erst mal bei Andreas Eltern verbringen würde. Nicht nur seine Frau sondern auch Semir hatte Sehnsucht nach ihrer kleinen Tochter Lilly, die sie seit fast einer Woche nicht mehr gesehen hatten. Insofern passten Julias Planungen gut zu seinen eigenen Plänen, seine Familie selbst zu seinen Schwiegereltern zu fahren. Etliche Minuten später, nachdem sich Julia verabschiedet hatte, wurde Semir von der Krankenschwester zurück auf die Intensivstation geholt.


    Semir stellte verwundert fest, dass sich zwischenzeitlich selbst auf dieser hektischen Station so etwas wie eine Ruhe einstellte. In einigen Patientenzimmern war bereits die Nachtbeleuchtung eingeschaltet worden. Als er Bens Zimmer betrat, fiel ihm augenblicklich auf, dass sich auch hier etwas anders war als vorher. Die Kurve des EKG Monitors hatte sich verändert. Und noch etwas fiel ihm auf, er glaubte im ersten Moment er sähe ein Trugbild. Alarmiert rief er nach der Krankenschwester, die sofort zur Stelle war. „Schwester Anna! Schnell kommen Sie!“


    Kurz vorher …..


    Der dunkle Schleier, der ihn umgab, lichtete sich. Die Frauenstimme, die mit ihm redete, klang mittlerweile irgendwie vertraut in seine Ohren. Ben versuchte sich zu orientieren, spürte die warmen Hände, die seinen Körper berührten. Jede Bewegung löste unterschiedliche Empfindungen in ihm aus. Zum einem verspürte er Schmerz, zum anderen fühlte sich das Auftragen der Creme im Gesicht einfach nur angenehm an. Er dämmerte vor sich hin, zwischen wach und Schlaf und versuchte erneut, sich orientieren. Wo war er nur? … Krankenhaus! ‚Du bist im Krankenhaus, merkst du das nicht?‘, erinnerte ihn seine innere Stimme. Seine Sinne und Erinnerungen schienen irgendwie vernebelt zu sein. Lag es an den Medikamenten, die man ihm am Morgen nochmals gegeben hatte? Ben versuchte Ordnung in das Chaos seiner Gedanken zu bringen. Der Dunkelhaarige lag wie in einem Halbschlaf da und lauschte in seinen Körper. Die Schmerzen, die ihn beim letzten Erwachen gequält hatten, schienen sich verflüchtigt zu haben, zumindest verspürte er im Augenblick keine. Ben wurde mutiger und versuchte seine rechte Hand zu bewegen. Vorsichtig erforschte er mit den Fingerspitzen seine rechte Seite. Aus einem Verband auf Höhe der Rippen führte ein Schlauch heraus, ein Stückchen weiter unten war ein weiterer Plastikschlauch. Ben versuchte ein bisschen seine Lage zu verändern, was er aber augenblicklich bereute, als ein bekannter stechender Schmerz seine rechte Seite durchzog. Auch die gebrochenen Rippen meldeten sich sofort wieder. Unwillkürlich stöhnte Ben leise auf. Er war so mit sich beschäftigt, dass er gar nicht merkte, dass jemand sein Zimmer betreten hatte. Ein Mann und eine Frau sprachen miteinander. Die Stimme des Mannes hätte der junge Polizist unter tausenden herauserkannt. Semir! Er zwang sich die Augen zu öffnen. Das Licht des Zimmers blendete ihn, es schmerzte in den Augen. Völlig verschwommen nahm er die Umrisse einer Gestalt wahr, die sich zu ihm herabbeugte. Langsam wurde die Sicht klarer. Es war wirklich Semir. Mit seiner Zunge befeuchtete Ben seine spröden Lippen. Sein Mund fühlte sich furchtbar trocken an. Außer einem heißeren Krächzen, das mehr einem gequälten Stöhnen glich, konnte er seiner Kehle keinen Laut entlocken.


    „Oh mein Gott! Ich glaube es nicht! Ben! … Ben, du bist wach!“ Grenzenlose Erleichterung sprach aus den Worten seines Partners.


    Auf der anderen Seite seines Bettes erschien eine weitere Person. Ein Paar wunderschöne ausdrucksstarke braune Augen blickten ihn an. Es war eine junge Krankenschwester. Als sie Ben ansprach, kam ihm ihre Stimme merkwürdig vertraut vor.


    „Hallo Herr Jäger!“ Anna hielt eine Schnabeltasse mit stillem Wasser in der Hand. „Wie vorhin versprochen, habe ich erst mal einen Schluck zu trinken für sie! Der Kollege hat das ja das Trinken heute Mittag bereits erfolgreich mit ihnen geübt!“ Ein aufmunterndes Lächeln umspielte ihre Lippen. Vorsichtig schob sie ihre Hand unter seinem Kopf, um ihn abzustützen und hielt ihm die Tasse an die Lippen. Als er versuchte mit gierigen Schlucken zu trinken, ermahnte sie ihn „Langsam! … Schön Schluck für Schluck! … Wir wollen uns doch nicht verschlucken!“ An seinem getrübten Blick erkannte sie, dass er noch sehr stark unter dem Einfluss der verabreichten Medikamente stand. Zu ihrer Überraschung brachte er es tatsächlich fertig, ein paar leise geflüsterte Worte von sich zu geben.


    „Semir … Semir … Du … bist … da! Was … ist … mit … Aida …und … Andrea ….?“


    Die letzten Worte ließen sich mehr erahnen und von den Lippen ablesen. Semir konnte es nicht fassen. Sein Freund, der so schwer verletzt in seinem Krankenbett lag, um sein Leben rang, machte sich Sorgen um seine Familie.


    „Sie sind in Sicherheit Ben! Aida und Andrea geht es soweit gut!“


    „Gut!“ …hauchte er. Ben war so unendlich müde und konnte einfach seine Augen nicht mehr offen halten.


    „Andrea war heute schon bei dir …!“


    „Lassen Sie es Herr Gerkhan!“, fiel ihm die Krankenschwester ins Wort und berührte dabei Semirs Unterarm. „Schauen Sie, er schläft schon wieder! Wenn sie möchten, können sie noch ein paar Minuten bei ihm bleiben, bevor die Nachtschicht ihren Dienst beginnt und wir die Übergabe am Bett machen!“


    Der Türke zog sein Handy aus der Hosentasche. „Nein, ich gehe gleich! Ich will nur schnell meiner Frau eine Nachricht schicken, die sich ebenfalls große Sorgen um Ben macht!“, erklärte er der Schwester. „und werde anschließend zu meiner Familie ins Marienhospital fahren.“ Dabei hatte er sein Handys angeschaltet. Auf der Startseite erschien das Bild seiner Familie. Als er das Display freigeschaltet hatte, um an seine Frau eine Whatsapp Nachricht zu tippen, erschien ein Foto, das ihn und Ben vor der PAST zeigte, als sie sich an dem silbernen BMW lehnten.
    Anna konnte einen Blick auf dieses Foto erhaschen. Von einer Sekunde zu anderen war ihr klar, wer der junge Mann war, der vor ihr in dem Intensivbett lag. Fluchtartig verließ sie das Zimmer. Draußen lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die kalte Tür und versuchte erst einmal ihre Fassung wieder zu gewinnen, bevor sie zurück zum Schwesternstützpunkt ging.

  • Am nächsten Morgen … irgendwo in Düsseldorf
    Er lag in einem bequemen Liegestuhl auf der Dachterrasse in seiner Penthouse Wohnung über den Dächern von Düsseldorf und blickte in die wärmenden Strahlen der Morgensonne. Die Stadt war ruhig … kein Berufsverkehr am Sonntagmorgen. Neben ihm stand eine Tasse Kaffee, an der er ab und an nippte, während er an seiner Zigarre zog. Genüsslich blies er den Rauch in kleinen Kringeln in die Luft und blickte ihnen nach, wie sie sich verflüchtigten. Wie so oft in den letzten Tagen versuchte er über das Handy Gabriela Kilic zu erreichen. Diesmal hatte er Erfolg. Irgendwo auf einer Autobahn im Süden Europas klingelte ein Handy.


    „Wo warst du Gabriela? Ich versuche dich seit Tagen zu erreichen?“
    „Zu Hause! Ich war zu Hause Christian!“ Wie immer sprach sie seinen Namen in englischer Form aus.
    „Ich habe dich doch in Bern angerufen? Da war nur dein Anrufbeantworter dran.“ die Stimme des Sprechers klang ungehalten.
    „Ich war in unserem Dorf bei Mostar. Ich habe meinen Bruder nach Hause gebracht! Er ist tot!“
    Er schwieg kurz, dachte nach, bevor er antwortete.
    „Das tut mir unendlich Leid für dich Gabriela. … Das wusste ich nicht. Was ist passiert? Warum hast du dich nicht gleich am Donnerstag gemeldet? Ich warte seit Tagen auf deinen Anruf! … So musste ich von Justin erfahren, dass etwas schief gegangen ist!“
    Die Sprecherin am anderen Ende der Leitung holte deutlich Luft und zischte: „Schief gegangen?“ Sie lachte in einer Art und Weise auf, die Christian einen Schauer über den Rücken jagte. „Nennt man das jetzt so! … Hast du gerade vergessen, dass ich dir gesagt habe, mein Bruder ist tot!“ Sie schnaubte deutlich hörbar durch die Nase, das in ein wütendes Fauchen überging.
    „Beruhige dich Gabriela! Was ist passiert dort draußen in der Eifel? … Auf diesem Einödhof? … Mario ist auch nicht erreichbar. Wo ist er? Was ist mit dem Rest deiner Leute? … Sind sie wieder zurück in ihrer Heimat.“


    Er zog etwas hektischer an seiner Zigarre und trank einen großen Schluck Cognac aus dem Glas, in welches er sich zwischenzeitlich die bernsteinfarbene Flüssigkeit eingeschenkt hatte. Die Antwort, die er erhielt, hörte sich nach einer wildgewordenen Raubkatze an, der man ihr Junges weggenommen hatte.


    „Was passiert ist? Ist die Frage dein Ernst? Hast du sie noch alle? … Du hast doch die tollen Kontakte zur Polizei. Sag du mir doch, was schief gelaufen ist! Ich habe meinen Teil unserer Abmachung erfüllt. Du wolltest, dass wir die Geiseln noch am Leben lassen, bis der Überfall in Düsseldorf erfolgreich durchgeführt worden ist. Du kanntest meine Regeln … keine Zeugen. Ich wollte sie gleich beseitigen, nachdem Nicolas frei war. … Kein Risiko … und jetzt … Jetzt ist mein Bruder tot!“ zum Schluss überschlug sich fast ihre fauchende Stimme, die voller Hass war.


    „Christian!“ Ihr Tonfall bekam einen seltsamen warnenden Unterton, „Du hast die Ware bekommen! … Du hast alles bekommen, was du wolltest! Und ich, was habe ich? Nichts! … Mein Bruder ist tot. Verstehst du das?“, schrie sie zornerfüllt ins Telefon. „Tot!“ Das Wort hallte in seinen Ohren nach. Er glaubte sie aufschluchzen zu hören. Oh ja, er kannte die besondere Bindung, die zwischen ihr und ihrem Bruder geherrscht hatte. Sie hatte den schwachsinnigen Typen immer beschützt, wie eine Löwin ihr Junges.


    „Ok … ist gut.“, lenkte er ein, „Wann bist du wieder im Rheinland? Und was brauchst du?“


    „Ich bin in den nächsten Tagen wieder zurück. Treffpunkt wie üblich, ich melde mich vorher. Und was ich will? Ich will den Tod meines Bruders rächen. Ich will wissen, wer dafür verantwortlich? Der halbtote Bulle? Oder diese Polizistenfrau, die ihr Kind beschützt hat! Beschaff mir alle Informationen Christian! Alle! Und Mario? Dachte die Bullen haben ihn geschnappt! Hilf ihm!“
    Ihm fröstelte bei dem eiskalten Klang von Gabrielas Stimme.


    ******


    Intensivstation Uni-Klinik Köln
    Ben lag seit der Morgenvisite in einer Art Dämmerschlaf und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Der Oberarzt hatte nochmals seine Medikation geändert, was bewirkte, dass er seine Umgebung nicht mehr wie durch einen Wattebausch wahrnahm und auch langsam strukturierter denken konnte. Mit knappen Worten hatte er ihm das Ausmaß seiner Verletzungen erklärt und dass er noch etliche Tage hier im Krankenhaus und speziell auf der Intensivstation verbringen würde. Solange er keine unbedachte Bewegung machte, waren die Schmerzen für ihn erträglich. Vorsichtig lupfte er mit seiner linken Hand die Bettdecke hoch und schob den Krankenhauskittel, den er seit heute Morgen trug, etwas zur Seite. Soweit es ihm möglich war, betrachtete er seine Verletzungen, tastete sie behutsam mit seinen Fingerkuppen ab. Der junge Mann versuchte die schrecklichen Bilder, die dabei in ihm hochkamen, zu verdrängen.


    Stattdessen probierte er sich abzulenken und beschäftigte sich in seiner Gedankenwelt mit der jungen Krankenschwester Anna, die ihn auch heute Morgen versorgt hatte. Nachdem er die Tortur der Wundversorgung überstanden hatte, hatte er bis zur Visite mehr oder weniger geschlafen. Anschließend hatte sie ihm ein kleines, leichtes Frühstück gebracht, wie sie es nannte. Ohne ihre Unterstützung hätte er keinen Schluck Tee und auch keinen Bissen zu sich nehmen können. Wenn er es bis zu diesem Zeitpunkt nicht wusste, so war ihm spätestens da klar, in welch schlechten Zustand er sich befand. Ben grübelte nach, irgendwo hatte er diese hübsche Frau schon einmal gesehen. Nur wo? Ohne dass er es merkte fiel er in einen tiefen Erholungsschlaf.


    Während er schlief, betrat ein Besucher sein Krankenzimmer, Semir. Wie gewohnt, nahm der Kommissar auf dem Besucherstuhl Platz und ergriff die rechte Hand seines Freundes. Er hatte beim Betreten der Intensivstation Glück gehabt, dass der Oberarzt ein paar Minuten Zeit für ihn hatte. Der Arzt klang im Gegensatz zu den vergangenen Tagen richtig optimistisch und machte ihm Hoffnung, dass Ben über den Berg sei, sprich keine akute Lebensgefahr mehr bestand. Das beruhigte den Türken ungemein. Er begrüßte seinen kranken Partner. „Guten Morgen Schlafmütze! Wie geht es dir heute?“ dabei achtete er darauf, ob eine Regung in Bens Gesicht sichtbar wurde und darauf hindeutete, dass er ihn hören würde. Wie bei seinen letzten Besuchen fing er an von Aida und Andrea zu erzählen. Fast schon gewohnheitsgemäß beobachtete er dabei die verschiedenen Monitore, als er in seinem Monolog unterbrochen wurde.


    Es war Semirs vertraute Stimme, die zu Ben durchdrang und ihn erwachen ließ. Er spürte die Wärme der Hand, die auf seiner lag. Er öffnete die Augen und blinzelte. Es dauerte einen Augenblick, bis der junge Kommissar völlig klar sehen konnte. „Hey, Partner!“, wisperte er leise und Semir blickte völlig überrascht auf Ben. „Warum weckst du mich so früh am Morgen?“


    „Ben, Ben …!“ der Rest seines Satzes ging unter. Im Gesicht des Kommissars arbeitete es. Er kämpfte darum seine Fassung nicht zu verlieren. Dieser Ausspruch von seinem jungen Partner zeigte ihm mehr als deutlich, dass dieser auf dem Weg der Besserung war. Er konnte es nicht verhindern, seine Augen wurden feucht und eine vereinzelte Träne rann die Wange entlang. Semir schluchzte auf: „Oh Scheiße! Jetzt hocke ich hier am Krankenbett von meinem besten Freund und fang an zu heulen!“
    „So schlimm Semir, war es so schlimm um mich gestanden?“, flüsterte der leise.
    Es dauerte einen Moment, bis sich der kleine Türke wieder so weit in der Gewalt hatte, dass er antworten konnte.
    „Schlimm … schlimm … ist kein Ausdruck!“ … er schniefte auf, kämpfte darum, nicht erneut seine Fassung zu verlieren, bevor er fortfuhr. „Du warst tot …verstehst du Ben … du warst tot!“ Weitere Tränen bahnten sich ihren über seine Wangen, Semir konnte es einfach nicht verhindern und wischte diese mit dem Handrücken der freien Hand weg. „Diese Meldung, dass man deine Leiche gefunden hatte … weißt du, wie sich das in diesem Moment angefühlt hatte … ich bin mit dir gestorben! ... Oh mein Gott Ben, tue mir das nie wieder an!“ Er war einfach nicht mehr in der Lage weiterzusprechen. Zu sehr hatten ihn seine Emotionen im Griff. Er kniff seine Lippen zusammen und versuchte den Kloß, der in seinem Hals steckte, hinunterzuschlucken. Es tat gut den sanften Druck von Bens Fingern an seinem Arm zu spüren.


    „Du weißt doch, so leicht bin ich nicht umzubringen!“ Ben schaffte es sogar im Ansatz sein schelmisches Lächeln aufzusetzen. Der Türke wollte gerade zu einer energischen Erwiderung ansetzen, als er erkannte, dass sein Freund schlagartig ernst wurde und seine Augen, dass wieder spiegelten, was er mit seinen Worten ausdrückte. „Ich hatte Angst Semir! … Furchtbare Angst, dass die uns drei einfach umbringen werden!“ Augenblicklich kämpfte der junge Mann um seine Selbstbeherrschung, als die Erinnerungen an die dramatischen Stunden der Gefangenschaft und der Flucht ihn überfielen. Die Warnleuchte am EKG-Monitor blinkte auf. Ben kniff seine Lippen zusammen und suchte die richtigen Worte: „Diese Frau, die war so unglaublich brutal, so kaltblütig, ich hatte ehrlich gesagt keine Chance, aus dieser Geschichte lebend raus zu kommen. Nur der Wunsch, Andrea und Aida die Flucht zu ermöglichen, haben mich vorwärts getrieben.“ Sein Körper zitterte und seine Augenwinkel schimmerten feucht. „Als ich da im Wald lag, hatte ich schon aufgegeben ... Vielleicht war es die Vorstellung, dass du irgendwann kommen würdest, die mich am Leben gehalten hat!“ Mit jedem weiteren Satz fiel ihm das Sprechen schwerer. Er hielt einen Moment inne und sammelte neue Kräfte. „Semir, was ist mit Aida und Andrea?“


    „Den beiden geht es mittlerweile wieder besser Ben! Mach dir keine Sorgen um die beiden. Aida und Andrea sind in Sicherheit und packen gerade ein paar Sachen zu Hause zusammen. Heute Nachmittag werde ich sie zu Andreas Eltern bringen!“
    „Wie lange bin … ich denn schon hier?“, fragte er stammelnd nach.
    „Den vierten Tag!“ in Gedanken fügte er hinzu, vier Tage lang nur Hoffen und Bangen. Er sah seinem Freund an, wie erschöpft dieser war und nur noch mit Mühe die Augen offen halten konnte. Semir beschloss den Besuch zu beenden. Er erklärte seinem Freund, dass Julia heute Nachmittag noch vorbeischauen würde und er sich auf den Weg zu seinen Schwiegereltern machen würde. Der kleine Türke blickte seinen Freund an und stellte fest, dass dieser schon längst wieder ins Reich der Träume abgewandert war.
    „Bis morgen Partner!“ verabschiedete er sich leise. „Schlaf gut!“

  • Am nächsten Morgen …
    Semir befand sich in seinem Wagen auf der Rückfahrt nach Köln. Seine Gedanken wanderten zurück zu seiner Familie. Die kleine Lilly hatte vor Freude gejuchzt, als ihre Eltern und ihre große Schwester am gestrigen Nachmittag im Garten der Großeltern plötzlich auftaucht waren. Trotz der Sorge um Ben, hatte der Türke beschlossen, den Rest des Tages und die Nacht zusammen mit seiner Familie zu verbringen. Jede Minute mit mit Andrea und den beiden Mädchen hatte er intensiv genossen. Nach dem Frühstück fuhr er los, da er von Frau Krüger auf der Dienststelle erwartet wurde. Wie er es mit Julia abgesprochen hatte, wollte er erst am späten Nachmittag zu Ben ins Krankenhaus. Vorher fuhr er an seinem Haus vorbei, um sich frisch einzukleiden.


    Was er zu diesem Zeitpunkt nicht ahnte, er wurde dort bereits erwartet. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu seinem Anwesen stand ein dunkler Audi A3, dessen Scheiben getönt waren. Das Kennzeichen des unbekannten Fahrzeugs begann mit „K“ für Köln und so schenkte der Türke ihm keine weitere Beachtung. In ihm saß eine Frau, Gabriela Kilic, die vor Hass nur so glühte. In der Morgendämmerung hatte sich die Kroatin auf die Lauer gelegt. Als es in den frühen Morgenstunden im Haus der Gerkhans still blieb, sich nichts regte, musste sie ihre ganze Beherrschung aufbringen, um nicht vor Enttäuschung auszuflippen. Jedoch, mit jeder weiteren Minute, die verstrich, kam die eiskalte Killerin in ihr wieder zu Tage, die gleich einem Raubtier stundenlang regungslos auf der Lauer liegen konnte, bis die Beute in die Falle ging. Na warte, dachte sie sich, ich kriege schon raus, wo du deine Alte mit der Göre versteckt hast. Unauffällig folgte sie seinem BMW und überwachte jeden seiner Schritte. Die Kroatin stellte es geschickt an, so dass dem Kommissar seine Verfolgerin nicht auffiel.


    Auf der Fahrt zur Dienststelle klingelte sein Handy. Er aktivierte die Freisprecheinrichtung im Auto. Hartmut war in der Leitung und legte gleich los.


    „Guten Morgen Semir“, begrüßte ihn der KTUler. Natürlich stellte auch er die Frage nach dem Befinden von Semirs Familie und von Ben. „Also weswegen ich eigentlich anrufe, ich sollte doch noch mal die Server der Staatsanwaltschaft durchleuchten, wer auf die Akte von Nicholas Schneider Zugriff genommen hatte. War gar nicht so einfach. Zuerst habe ich …!“


    „Hartmut bitte“, unterbrach ihn der Kommissar genervt, „Kein Vortag über deine Arbeit! … Was hast du rausgefunden?“


    Der Kollege der KTU schnaufte deutlich hörbar durch und antwortete „Es kommen fünf Personen dafür in Frage!“


    „Ja, und weiter? Hast du die Namen? Ist der Gerichtsdiener, dieser Müllender auch dabei? Konntest du die Telefonanrufe, die letzte Woche am Dienstag im Gerichtsgebäude ankamen nachverfolgen?“


    „Welche Frage soll ich dir zuerst beantworten?“ kam kurz angebunden und in einem leicht beleidigten Unterton zurück. „Nein, dieser Müllender war nicht dabei. Aber ich mache momentan noch ein paar Datenabgleiche, ist alles ziemlich kompliziert … ja ich weiß …!“ den Rest verkniff er sich „Susanne hat von mir die Namen bekommen und versucht einmal rauszufinden, ob es auffällige Kontenbewegungen oder sonst etwas Besonderes bei den einzelnen Personen gab, was sie verdächtig machen würde. Am besten du sprichst mit ihr direkt. Ansonsten habe ich dir alles per Mail geschickt.“ Er zögerte noch einen Augenblick. Ihm war noch etwas aufgefallen und er hegte einen bestimmten Verdacht. Sollte er den schon Preis geben? Der Kommissar kannte Hartmut schon lange genug, um zu bemerken, dass dieser noch etwas auf Lager hatte und hakte nach: „Sonst noch was Einstein, was ich wissen sollte? Also was ist kompliziert?“


    „Hmmm, ja also … ähm …!“, druckste der Rothaarige rum „ich bin mir nicht sicher, ob auf dem Server der Staatsanwaltschaft ein Trojaner hinterlegt ist?“


    „Bitte was? Hartmut … In Deutsch und für Erstklässler! Und so dass ich es verstehe!“


    „Anders ausgedrückt, ein Programm, um die Akten und ich meine wirklich alle Akten, die auf den Servern der Staatsanwaltschaft abgelegt sind, auszuspionieren! Aber wie gesagt, ich bin mir noch nicht sicher und ich habe auch noch keine Beweise dafür!“, ruderte Hartmut ein wenig zurück.


    Der Kommissar brauchte ein paar Sekunden um sich der Tragweiter von Hartmuts Aussage bewusst zu werden. „Ok Einstein! Kein Ton zu irgendeiner Person über das, was du mir gerade erzählt hast. Und wenn du Beweise hast, reden wir zuerst mit der Krüger!“


    Zwischenzeitlich hatte er das Gelände der PAST erreicht und parkte seinen BMW am gewohnten Platz. Fast ein wenig wehmütig blickte er auf den freien Parkplatz rechts neben sich, auf dem normalerweise Bens grauer Mercedes stand. Als er die PAST betrat, brodelten die Erinnerungen vom vergangen Donnerstag in ihm hoch. Der Deutsch-Türke hielt einen Augenblick inne, bevor er endgültig durch die Eingangstür trat. Susanne saß mit einem aufmunternden Lächeln hinter ihrem Schreibtisch.


    „Guten Morgen Semir! Wie geht es Aida und Andrea? Und der Kleinen, wie geht es Lilly? Hast du was von Ben erhört?“, stürmte sie gleich mit ihren Fragen auf ihn ein. Er blieb vor dem Schreibtisch der Sekretärin stehen und setzte sich ganz legere auf dessen Kante. Jenny drehte ihren Bürostuhl in Richtung von Susanne und auch der Rest der anwesenden Kollegen hörte interessiert zu.


    „Den Dreien geht es gut. Die Entscheidung, erst mal zu Andreas Eltern zu fahren, war wohl die Richtige. Und Ben … ich habe gestern Abend noch mal mit Julia telefoniert. Er war auch nachmittags kurz wach und hat mit ihr gesprochen. Es geht aufwärts.“ Semir hielt seinen rechten Daumen in die Höhe und Susanne konnte die Erleichterung sehen, die ihm ins Gesicht geschrieben stand, ihr ging es nicht viel anders. „Seine Schwester ist heute Morgen bei ihm und sobald ich hier fertig bin, werde ich früher Feierabend machen und ihn besuchen!“


    Im Hintergrund hörte er laute Stimmen, die heftig miteinander stritten. Verwundert blickte Semir über die Schulter und suchte die betreffenden Personen. Auch die anderen anwesenden Kollegen verfolgten mehr oder weniger versteckt, was sich da in Frau Krügers Büro abspielte. Die Tür war geschlossen. Auch wenn man nur Wortfetzen verstehen konnte, ließen die Mimik und Gestik ihrer Chefin darauf schließen, dass sie kochte.

  • „Wow, mit wem hat sich denn die Krüger da gerade in den Haaren?“, fragte der Kommissar neugierig nach. Er stand auf, stellte sich hinter Susanne, um einen besseren Blick zum Büro seiner Chefin zu haben. Die Sichtschutzblenden waren nach oben gezogen und so war ein voller Einblick möglich.
    „Darf ich vorstellen Kollege: der Herr im blauen Anzug mit dieser hässlichen bunt bemalten Seidenkrawatte ist Herr Leppelmann vom LKA Düsseldorf mit seinem Assistenten.“
    „Da drinnen geht es aber richtig zur Sache. Weißt du warum sich der Typ so aufspielt?“ erkundigte er sich. Nachdenklich streifte sich Susanne eine Haarsträhne hinter ihr Ohr.
    „Ich glaube, der Herr Wichtigtuer ist der Meinung, die Chefin hätte ihm bewusst einige Informationen vorenthalten, die für seine Ermittlungen wichtig sind! Dabei stimmt das überhaupt nicht!“
    Sie stand auf und holte für sich und Semir einen Kaffee aus der Küche. Währenddessen kramte der Kommissar aus seiner Jackentasche einen Zettel, auf dem die Adresse der Apotheke stand, bei der die Psychologin ihr Parfum herstellen ließ und reichte ihn mit ein paar erklärenden Worten an die Sekretärin weiter.
    „Verstanden! Ich kümmere mich darum, Semir!“


    „Um was kümmern Sie sich Frau König?“, erklang eine recht arrogante Männerstimme aus dem Hintergrund.


    Von den beiden unbemerkt, hatten die Besucher das Büro von Frau Krüger verlassen. Die Hände in die Hosentasche gesteckt, auf den Füßen wippend, stellte sich Herr Hauptkommissar Leppelmann vor Susannes Schreibtisch. Ihr Blick fiel auf die handgemalte Seidenkrawatte, die als Motiv die Landkarte von Australien trug, in deren Mitte ein Känguru abgebildet war. Der Typ sah damit einfach nur albern aus, fast hätte sie deswegen lauthals aufgelacht. Susanne räusperte sich, um diesen Impuls zu unterdrücken und suchte mit ihren Blicken einen imaginären Punkt hinter dem Hauptkommissar.
    „Also ich warte auf ihre Antwort?“
    „Herr Gerkhan möchte seiner Frau ein Parfum schenken und hat mich um meinen weiblichen Rat gefragt!“, säuselte ihm Susanne süffisant entgegen.
    „Diese Antwort glauben sie doch selbst nicht, Frau König. Aber wie Sie wollen, ich kann auch anders! Wir können die Befragung gerne im LKA unter anderen Voraussetzungen fortsetzen!“
    „Jetzt reicht es Herr Leppelmann! Sie sprechen schon wieder Drohungen gegenüber meinen Mitarbeitern aus. Auch ich kann anders!“ Die Schärfe im Tonfall von Frau Krügers Stimme war eindeutig. Sie war geladen und glich einem Vulkan, kurz vor dem Ausbruch. Der Begleiter von Hauptkommissar Leppelmann, der von der Statur her Semir sehr ähnlich war, wurde noch eine Spur blasser und schien zu schrumpfen. Er versteckte sich halber hinter dem Rücken seines Chefs, nur um aus dem Blickfeld von Frau Krüger zu geraten.


    „Und jetzt verlassen sie bitte diese Polizeistation. Wenn sie noch was von mir oder einen meiner Mitarbeiter wissen wollen, dann wenden sie sich an Frau Schrankmann. Habe ich mich klar und deutlich ausgedrückt, meine Herren!“ Bei ihren letzten Worten zeigte sie mit ihrem ausgestreckten Arm in Richtung Ausgang. Die Geste war unmissverständlich. „Falls sie es vergessen haben, da geht es raus!“ Als die beiden Kollegen des LKAs die PAST verlassen hatten, seufzte Frau Krüger erleichtert auf. Sie wandte sich wieder ihren beiden Mitarbeitern zu.


    „Guten Morgen Frau Krüger, um was ging es diesem Sesselfurzer aus dem LKA?“, erkundigte sich Semir bei seiner Chefin, obwohl ihm ein Blick zur Uhr zeigte, dass es schon fast Zeit für die Mittagspause wäre.


    „Hallo, Herr Gerkhan, es ging um die Aussage ihrer Frau. Der Idiot behauptet doch glatt, die Befragung wäre nicht professionell durchgeführt worden und lückenhaft! Er hatte die Absicht, ihre Tochter heute noch vorzuladen und zu befragen. Das konnte ich gerade noch verhindern!“


    Der kleine Türke war innerhalb von einer Sekunde von null auf hundert und explodierte. „Bitte was? … Was wollte der? Sagen Sie das noch mal? Der wollte meine Tochter befragen! Nur über meine Leiche!“


    „Nur weil er bei den Ermittlungen nicht weiter kommt, unterstellt er uns, wir hätten bewusst Informationen zurückgehalten …!“, sie schnaubte vor Wut. Ihr Gesicht spiegelte ihren Unmut über diese Unterstellung wieder. Sie zog sich einen der Bürostühle zu Susannes Schreibtisch, setzte sich hin und fuhr mit ihren Erklärungen fort. „Was kann ich dafür, dass der Typ in meinen Augen einfach nur die Unfähigkeit in Person ist.“


    „Und wie sieht es jetzt tatsächlich aus? Wie weit sind denn die Ermittlungen gediehen? Wo ist diese Gabriela Kilic denn abgeblieben?“, forschte Semir nach.
    Er hatte sich wieder auf die Kante von Susannes Schreibtisch gesetzt und saß Frau Krüger genau gegenüber.
    „Im Prinzip sind wir so weit wie vor zwei Tagen.“ Während die Chefin ihren Mitarbeiter auf den neuesten Stand der Ermittlungen brachte, saß sie fast regungslos auf ihrem Stuhl. Susanne war zwischendrin aufgestanden, um Frau Krüger ebenfalls eine Tasse Kaffee anzubieten, die diese dankbar annahm.
    „Martin Hillenbrand hat mir versprochen noch heute, den Autopsie-Bericht von unserem unbekannten Toten zu schicken, mit allen Daten, die sie über ihn rausgefunden haben. Zu dem Überfall in Düsseldorf, der wahrscheinlich der Auslöser der ganzen Geschichte ist, habe ich noch nichts neues Dank unseres Herrn Leppelmann!“ Bei der Nennung des Namens verzog sie verächtlich den Mundwinkel nach unten. „Susanne, schauen Sie sich mal alle Firmen an, die überfallen wurden! … Vielleicht gibt es ja einen Zusammenhang? Und was war das mit dem Parfum?“, erkundigte sie sich bei Semir.
    Der erläuterte seiner Chefin seine Mutmaßungen.
    „Gut dann gehen Sie der Sache mal nach! Und denken Sie daran, offiziell sind wir bei diesen Teil der Ermittlungen außen vor!“, ermahnte Kim ihre Mitarbeiter vorsichtig zu sein. Wobei ihr jetzt schon klar war, dass das Ganze noch ein unangenehmes Nachspiel haben wird. Dennoch war ihr das in diesem Moment egal. Ihre weiteren Ausführungen wurden durch das Klingeln von Semirs Handy unterbrochen. Der schaute kurz auf das Display und ging sofort ran.


    „Ok, Julia, ganz langsam. Was ist passiert?“ Während des Gesprächs wurde er immer blasser. „Okay … okay … beruhige dich! Ich komme so schnell ich kann!“ Semir beendete das Gespräch und ließ sein Smartphone in die Hosentasche gleiten. Zu seiner Chefin gewandt, nuschelte er: „Es geht um Ben … ich muss … zu ihm …!“


    Ohne auf eine Antwort von Susanne oder Frau Krüger zu warten, schnappte er sich seine Lederjacke und stürmte raus auf den Parkplatz zu seinem silbernen BMW. Mit durchdrehenden Reifen fuhr er vom Parkplatz in Richtung Autobahn. Zurück blieben zwei entsetzte Frauen.

  • Im Laufschritt rannte Semir die Strecke vom Parkplatz über die Krankenhausflure entlang zur Intensivstation. Im Wartebereich vor der Eingangstür stand ein kreidebleicher Konrad Jäger und telefonierte angespannt mit seinem Handy. Seine Tochter stand daneben und kämpfte mit ihren Tränen.


    „Hallo Semir, gut dass du da bist!“, fast schon erleichtert hörte sich das aus Julias Mund an, als sie den Hauptkommissar erblickte.


    „Was ist denn los? Gestern Mittag war doch noch alles in bester Ordnung mit Ben, als ich weggegangen bin?“, fragte er besorgt nach. Sein Blick fiel auf Konrad Jäger, der wild rumgestikulierte. „Ok, beruhige dich erst einmal Julia und dann erzählst du mir, was passiert ist!“ Semir hielt sie dabei an den Oberarmen fest.


    „Gestern … gestern Abend“, schluchzte sie, „hatte Ben leichtes Fieber, als ich ging. Der diensthabende Arzt meinte nur, das sei schon ok und gibt sich wieder. Als ich heute Morgen nach der Visite zu ihm durfte“, sie schnäuzte sich in das angebotene Taschentuch, bevor sie weiter berichtete „war das Fieber weiterangestiegen. Ben jammerte auch, dass er starke Schmerzen habe und es ihm nicht überhaupt nicht gut gehe.“


    „Und was sagte der Arzt dazu?“ unterbrach sie Semir besorgt. Er kannte seinen Partner lange genug, wenn der sich über Schmerzen beklagte, sprach das Bände.


    „Das ist es ja Semir! Der gab mir nur irgendwelche ausweichenden Antworten, das sei normal nach solch schweren Verletzungen.“


    Semir fiel ihr ins Wort. „Lass mich raten Julia, es war der blonde Arzt von vorgestern?“ Julia nickte zustimmend. Zwischenzeitlich war auch Bens Vater hinzugetreten und verfolgte das Ende der Unterhaltung. „Gegen Mittag kam auch Paps. Der verlangte den diensthabenden Oberarzt zu sprechen. Das schien dem anderen Arzt, diesem Herrn von Zadelhoff, überhaupt nicht gepasst zu haben.“ Erneut schluchzte sie auf „nur Ben, geht es von Stunde zu Stunde schlechter, er wirkte verwirrt, hat gar nicht mehr gemerkt, dass Paps gekommen ist. Und … und als Paps energischer wurde, hat der Arzt uns einfach unter dem Vorwand, der Patient braucht absolute Ruhe, aus der Station rausgeschmissen!“
    Dieses Verhalten des Arztes kam Semir sehr bekannt vor.


    „Keine Chance! Peter ist nicht zu erreichen, er ist auf einer Fachtagung und kommt voraussichtlich im Laufe des Nachmittags wieder in Köln an.“, erläuterte er den beiden, dass seine Bemühungen den Chefarzt zu erreichen, gescheitert waren. Auf der Stirn von Herrn Jäger hatten sich Schweißperlen gebildet, die im Kunstlicht des Krankenhausflures glitzerten. Seine Gesichtsfarbe war aschfahl. Es war ihm deutlich anzumerken, dass er schlecht Luft bekam. Mit seiner rechten Hand zog er fieberhaft an seiner Krawatte und versuchte den Krawattenknoten zu lockern. Krampfhaft bemühte sich Konrad Jäger den darunterliegenden Knopf des Hemdes zu öffnen. Er fing an zu röcheln und wankte wie eine Tanne im Herbststurm. Seine Tochter blickte ihn erschrocken an. In letzter Sekunde konnte Semir verhindern, dass Konrad Jäger unkontrolliert zu Boden stürzte. Vorsichtig half er ihm, sich auf einen der Stühle zu setzen. Nach Luft japsend, hielt er sich die linke Brustseite. Julia stand wie erstarrt daneben.


    „Julia!“ schrie Semir sie an … „Schnell er braucht Hilfe! Na los klingele dort drüben!“ Dabei zeigte er auf die Anmeldeglocke zur Intensivstation.


    Eine leicht genervte weibliche Stimme antwortete aus der Gegensprechanlage. Als Julia der Krankenschwester klar gemacht hatte, dass ihr Vater zusammengebrochen sei und bereits früher einmal einen Herzinfarkt gehabt hatte, ging alles rasend schnell. Aus der Eingangstür kamen der Oberarzt und eine Krankenschwester, bepackt mit einer Notfallausrüstung herausgestürmt und erfassten sofort die Situation. Dr. Vollmers kniete sich vor Konrad Jäger hin und sprach beruhigend auf seinen Patienten ein, während er gleichzeitig der Schwester Anweisungen erteilte. Mit Semirs Hilfe wurde Herr Jäger in einen Rollstuhl gesetzt und auf die Intensivstation gebracht.


    Julia wurde der Zutritt verweigert. Einem Nervenzusammenbruch nahe, lag sie weinend in Semirs Armen, der beruhigend auf sie einsprach. Die kommenden Minuten waren der reinste Horror. Ein älterer Arzt und ein Pfleger eilten gehetzt an den Wartenden vorbei auf die Station. Nach einer endlos erscheinenden Wartezeit summte der Elektromotor der Tür auf und die beiden Flügel öffneten sich. Konrad Jäger lag halb sitzend kreidebleich in seinem Krankenbett, eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht, auf der Brust unzählige Elektroden und im rechten Arm lag ein Zugang, über den Infusionsflüssigkeit tropfte. Der ältere Arzt stellte sich als Dr. Bremer vor und teilte Julia mit, dass man ihren Vater vorerst stabilisiert habe und nun auf die kardiologische Intensivstation verlege.
    „Geh ruhig mit deinem Vater Julia, ich bleibe hier und kümmere mich um Ben. Sobald sich etwas an seinem Zustand ändert oder ich etwas Neues erfahre, sage ich dir Bescheid.“
    Der Tross um Konrad Jäger verschwand in Richtung Aufzug. Semir blieb alleine zurück und wartete darauf, dass der Oberarzt Zeit finden würde, um ihn mitzuteilen, wie es um Ben stand. Er hatte die Arme auf die Knie abgestützt und das Gesicht in seinen Händen verborgen. Seine Gedanken rasten, drehten sich im Kreis … liefen ins Leere hinein. Die Ungewissheit war der reinste Horror für ihn. Eine bekannte weibliche Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

  • Er schaute hoch und sah in ein Gesicht, das von einem strahlenden Lächeln überzogen war. Anna stand vor ihm. Im Gegensatz zu den vergangenen Tagen trug sie nicht die blaue Dienstkleidung der Intensivstation. Über ihrem Arm hing lässig eine dunkelrote Strickjacke, deren Farbe gut zu ihrer schwarzen Jeanshose und ihrem knallig-bunten Shirt passte. Ihr schwante bei Semirs Anblick, dass mit ihrem besonderen Patienten etwas geschehen sein musste. Unwillkürlich beschleunigte sich ihr Herzschlag. Mühsam gelang es ihr, ihre Gefühle unter Kontrolle zu behalten und vor dem Kommissar zu verbergen.


    „Können Sie mir bitte sagen, wie es Ben geht?“, flehte er förmlich die dunkelhaarige Schwester an. Mit wenigen Worten erklärte er ihr, was sich auf der Intensivstation zu getragen hatte.


    „Ok! Ich habe heute zwar keinen Dienst. Jedoch habe ich gestern Abend etwas vergessen und muss zu den Kollegen rein. Mal schauen, was ich in Erfahrung bringen kann, allerdings versprechen kann ich ihnen nichts!“, beschwichtigte sie ihn.


    Anna betrat über eine Seitentür für das Personal die Intensivstation. Hier empfing sie eine selbst für diese Station ungewohnte Hektik. Am Stationsstützpunkt erblickte sie ihre Freundin Anja, die gerade den Telefonhörer auflegte.


    „Dich schickt der Himmel Anna!“, wurde sie von ihrer Freundin begrüßt.


    „Was ist denn hier los?“, erkundigte sich die junge Krankenschwester verwundert und runzelte dabei ihre Stirn, während ihr Blick umherschweifte. An den Überwachungsmonitoren blieb er hängen. Speziell die Anzeige der Werte von Zimmer 12 interessierten sie. Die sahen alles andere als beruhigend aus.


    „Die Hölle ist hier los, Anna! Erster Mai, Feiertag und ich weiß auch nicht warum, hier kommt ein Notfall nach dem anderen rein … vom durchgebrochenen Blinddarm, über Autounfall … alles was das Herz begehrt! Theresa musste vor einer Stunde nach Hause gehen. Ihre Mutter, die auf ihren Kleinen aufpasst, ist schwer gestürzt. Seit dem versuche ich verzweifelt einen Ersatz zu bekommen! Doch alle Kolleginnen haben wegen des Feiertags etwas vor oder sind nicht zu erreichen! Es ist aussichtslos!“ Hilflos zuckte sie mit den Schultern.


    „Hey, ich wollte nur meine Konzertkarten für heute Abend holen, die ich gestern von Basti bekommen habe und in meinem Fach vergessen hatte!“


    In diesem Augenblick kam auch der Oberarzt Dr. Vollmers an den Stationsstützpunkt hinzu.


    „Anna, sind Sie der Ersatz für Theresa, sie kommen wie gerufen!“ Die Aussage und der Tonfall des Oberarztes zeigten der dunkelhaarigen Schwester mehr als deutlich, dass auf der Intensivstation wirklich der Ausnahmezustand und akute Personalnot herrschte.


    „Ok, aber maximal bis 19.00 h!“ Dabei hielt sie ihre Konzertkarten demonstrativ hoch, die sie sich zwischenzeitlich geholt hatte. Aufatmend nickte der Oberarzt ihr zu, dessen Pager schon wieder ein Alarmsignal sendete und er entnervt die Augen rollte. „Hört das heute denn nie auf?“ Schon schnappte er sich den Telefonhörer und rief die Notaufnahme zurück.


    Auf dem Weg zum Umkleideraum beruhigte sie zuerst mal den Polizisten, der vor der Eingangstür saß und wartete. Sie schimpfte mit sich selbst, was sie für eine Närrin sei. Das hast du wieder mal davon, weil du nie „nein“ sagen kannst. Zurück auf der Intensivstation wurde sie von ihrer Kollegin am Stationsstückpunkte über den aktuellen Zustand ihrer Patienten informiert wobei sie ganz besonders an Zimmer 12 interessiert war.


    „Ach ja, bevor ich es vergesse Anna, der Neue, Dr. von Zadelhoff, ist behandelnder Arzt von deinen Lieblingspatienten!“


    „Ich höre da einen gewissen Unterton heraus Anja. Sollte ich das was wissen?“, horchte sie auf.
    „Du weißt ja, der Kerl ist ein wenig eigen. Du hattest ja bereits das zweifelhafte Vergnügen mit ihm zusammen zu arbeiten. Nimm dich vor Mister Kotzbrocken in Acht! Der Kerl ist heute übelst gelaunt, weil er einspringen und am Feiertag arbeiten muss.“
    Mit diesen warnenden Worten drückte sie ihr die neuen Infusionen für das Zimmer 12 in die Hand und begleitete ihre Freundin ans Krankenbett, um dort die Übergabe zu beenden. Anja kannte ja das Temperament ihrer jungen Kollegin. Die dunkelhaarige Schwester betrat Bens Zimmer. Das Infusionsgerät piepste hektisch vor sich hin. Während sie die Infusion wechselte, betrachtete sie den verletzten Polizisten eingehend. Um seine Sauerstoffversorgung zu verbessern, hatte man Ben eine Sauerstoffmaske aufgesetzt. Seine Atmung war beschleunigt und ganz flach. Auf seiner Stirn glitzerten kleine Schweißperlen. Als sie diese berührte, konnte sie spüren, dass er vor Fieber glühte. Anna lauschte den Worten ihrer Kollegin. Anschließend machten die Intensivschwestern noch die Übergabe der anderen beiden Patienten. Die Dunkelhaarige versorgte zuerst die ältere Frau und danach den Mann. Danach kehrte Anna in Bens Zimmer zurück. Eingehend studierte sie die Krankenakte, die am Fußende des Bettes aufgeklappt lag und schüttelte verwundert den Kopf. Kurz entschlossen ging sie zum Eingangsbereich und holte Semir zu Ben. Der Türke brauchte kein Arzt zu sein, um zu erkennen, dass sich der Zustand seines Freundes gegenüber gestern Morgen dramatisch verschlechtert hatte.


    „Anna, was ist mit ihm? Was ist passiert? Es ging ihm doch gestern schon so viel besser! Warum ist kein Arzt da? Warum hilft ihm denn keiner?“, sprudelten die Fragen nur so aus ihm heraus. Suchend blickte er sich durch die Glasscheiben um, ob ein Arzt auf dem Weg zu seinem Freund ist.


    „Der Arzt kommt gleich Herr Gerkhan. Ich habe ihn schon informiert!“, versuchte sie beruhigend auf den Polizisten einzureden.


    Sie hatte sich eine Waschschüssel geholt. Vorsichtig begann sie das Gesicht und den Oberkörper des fiebernden Patienten abzutupfen. Dieser war völlig in seinen Fieberträumen gefangen und nahm überhaupt nicht wahr, was um ihn herum passierte.


    „Oh Gott Ben! Was machst du nur? Komm bloß nicht auf die Idee und mach dich vom Acker!“ Seine Stimme vibrierte vor Sorge und Semir ergriff Bens Hand, umschlang diese und sprach weiter beruhigend auf seinen Freund ein. Dessen abgehackte Atmung beruhigte sich etwas …. wurde gleichmäßiger. Sein Herzschlag raste jedoch unter dem Einfluss des Fiebers weiter. Dieses schien die letzten Kräfte aus seinen ausgemergelten Körper zu ziehen. Von Semir unbemerkt, betrat ein blonder Arzt das Krankenzimmer. Obwohl zurzeit noch offizielle Besuchszeit auf der Station herrschte, passte es dem Blondschopf überhaupt nicht, am Bett von Ben Jäger einen Besucher vorzufinden. Er verzog sein Gesicht, um seinen Unwillen deutlich zu machen.


    „Guten Tag, ich bin Dr. von Zadelhoff, der behandelnde Arzt von Herrn Jäger am heutigen Tag. Wir hatten bisher noch nicht das Vergnügen. Und Sie sind?“, mit diesen Worten stellte sich der diensthabende Assistenzarzt vor.


    „Semir Gerkhan, ich bin der Freund und Partner von Herrn Jäger.“


    Anna konnte deutlich sehen, wie der Arzt sein Stupsnäschen rümpfte, als er das Wort Freund hörte. Semir wich an das Fußende des Bettes zurück. Nicht nur er beobachte den Arzt, während dieser den Patienten oberflächlich untersuchte, sondern auch die Krankenschwester. Eine Strähne seines sorgsam gescheitelten Haares fiel ihm ständig ins Gesicht und er streifte diese genervt hinter sein Ohr.
    Anna schätzte ihn einige Jahre älter als sie selbst war … so Anfang bis Mitte Dreißig. Sie hatte über den Arzt in Erfahrung gebracht, dass er seine Facharztausbildung im Bereich der Inneren Medizin so gut wie abgeschlossen hatte und somit über eine gewisse Berufserfahrung verfügen sollte. Anna entging nicht die Unsicherheit des Arztes. Er strahlte nicht solch eine Ruhe und Souveränität aus wie die anderen Fachärzte der Station oder der Oberarzt Dr. Vollmers, sondern er wirkte eher wie das Gegenteil: angespannt oder überfordert und kaschierte es mit seiner Überheblichkeit.
    Wie richtig sie mit ihrer Einschätzung lag, wurde ihr kurz darauf vorgeführt. Die Schwester wagte einen Vorstoß. „Sollten wir nicht den Oberarzt zu Rate ziehen?“, schlug sie ihm vor. Der Blondschopf ignorierte den Einwand der Schwester.


    „Herr Gerkhan, ich darf sie bitten, das Krankenzimmer zu verlassen. Sie sehen ja wie schlecht es Herrn Jäger geht. Er braucht absolute Ruhe … also gehen sie bitte … Gleich! Und übrigens, sie brauchen auch vor dem Eingang nicht zu warten, denn so lange ich Dienst habe, und ich habe heute Nachtbereitschaft, wird dieser Patient keine Besucher mehr empfangen!“, forderte er Semir unmissverständlich auf, die Intensivstation und das Krankenhaus zu verlassen.
    Der Türke war Anna einen hilfesuchenden Blick zu. Doch auch die Krankenschwester, der es schier das Herz zerriss, konnte nur mit einem leichten Kopf schütteln ihm signalisieren, dass sie sich nicht über die Anweisung des Arztes hinweg setzen konnte. Mit hängenden Schultern verließ der Kommissar das Zimmer und hielt an der Schiebetür einen Moment inne und warf noch mal einen sehnsuchtsvollen Blick in Richtung seines fiebernden Freundes.
    „Raus jetzt aus meiner Station!“, maulte ihn der Arzt mit Nachdruck an, als er sah, wie der Türke an der Schiebetür zögerte. Mit müden Schritten schlurfte der Kommissar in Richtung Ausgang.


    Die Krankenschwester war erschüttert, mit wieviel menschlicher Kälte der Arzt mit dem Besucher umgegangen war. Allerdings war dies erst der Anfang, es kam noch dicker.
    „So und jetzt zu ihnen Schwester … ach wie heißen Sie nochmal?“

  • Anna wusste genau, dass er ihren Namen noch kennen musste. Seine blauen Augen wirkten eiskalt, als er ihr Namensschild fixierte. Dabei runzelte er angespannt die Stirn, als müsse er, ihren Vornamen entziffern.
    „…. Anna, so heißen sie doch! Wie kommen Sie dazu, in dieses Zimmer einen Besucher herein zu holen? Ich hatte ein absolutes Besuchsverbot erteilt. Lesen Sie keine Krankenakten oder was sind das für nachlässige Übergaben auf der Station? Herr Jäger braucht Ruhe! Absolute Ruhe!“, blaffte er sie energisch an. Mit einer abfälligen Handbewegung deutete er auf den Nachttisch „Und was soll dieser Unsinn mit der Waschschüssel? Der Patient bekommt Medikamente gegen das Fieber. Was soll diese Zeitverschwendung? Haben Sie nichts Besseres zu tun?“
    Anna, die normalerweise sehr schlagfertig war, fiel erst mal gar nichts ein, was sie darauf erwidern sollte. Der junge Arzt fühlte sich überlegen und wollte die Situation so richtig auskosten. So schnauzte er die Krankenschwester weiter an: „Und wieso holen Sie mich überhaupt hierher? Herr Jäger hat Fieber. Ja, und? … Eine normale Komplikation nach solchen Verletzungen! Was wollen Sie von mir? …“ Auf einmal glühten seine blauen Augen wütend auf. „Sich in meine Arbeit einmischen? Es sind alle angeordneten therapeutischen Maßnahmen eingeleitet. Was kann ich dafür“, dabei deutete er auf Ben und meinte abfällig, „dass der Patient noch nicht darauf anspricht!“


    Der Arzt war schon im Begriff, das Krankenzimmer wieder zu verlassen, als Anna den ersten Schock überwunden hatte und von Zadelhoff in den Gang hinausfolgte. Mit solch einem Arzt hatte sie bisher noch nicht zusammengearbeitet. Speziell auf der Intensivstation herrschte normalerweise Teamarbeit zwischen Arzt und Pflegekräften. Dazu gehörte auch, dass die Ärzte großen Wert auf die Beobachtungsgabe der Schwestern oder Pfleger über den Krankheitsverlauf des Patienten legten und deren Hinweise beachteten. So einfach gab sie sich nicht geschlagen und entschloss sich, zur Gegenoffensive überzugehen.


    „Herr Dr. von Zadelhoff, haben sie sich den Verlauf der Fieberkurve und die letzten Blutwerte angeschaut? Wollen Sie nicht die Medikation nochmals überdenken oder den Oberarzt verständigen? Zumindest dessen medizinischen Rat einholen?“


    Der Assistenzarzt, der im Begriff war sich zu entfernen, machte auf dem Absatz kehrt. Er schnaubte vor Wut durch die Nase und ließ seinen Ärger über die Äußerung von Anna seinem freien Lauf.
    „Habe ich das soeben richtig verstanden?“, brüllte er sie an und verzog seine Mundwinkel nach unten, dass es fast wie angewidert aussah. Seine Gesichtsfarbe wechselte auf rot vor Zorn. Mit einem unheimlich arroganten Unterton, von oben herab, maßregelte er die junge Schwester vor dem Rest des anwesenden Personals und den Besuchern. Sie standen dabei in der Eingangstür zu Bens Zimmer. „Sie sind Krankenschwester! Richtig! …. Ich bin der Arzt! Oder irre ich mich?“ Bei dem Wort Krankenschwester machte er eine abfällige Handbewegung und zeigte mit seinem ausgestreckten Zeigefinger der rechten Hand in die Richtung von Anna „Habe ich mich gerade eben nicht klar und deutlich ausgedrückt? Sie … werden mir doch keine Vorschriften machen wollen, wie ich einen Patienten behandeln soll? Oder doch? ... Ich habe studiert!“ Als er das Wort „ich“ so betonte, hätte ihm Anna am liebsten eine geknallt. „Vielleicht sollten Sie ihrer Kollegin nebenan helfen den Patienten zu säubern, der sein Bett nach dem Abführmittel versaut hat, wenn es ihnen langweilig ist … Machen Sie das, wofür Sie eingestellt wurden und hören Sie auf, sich in Dinge einzumischen, von denen sowieso keine Ahnung haben. Ist das bei ihnen endlich da oben angekommen?“ Dabei klopfte er sich mit der flachten Hand leicht an die Stirn. „Übrigens, diese Vorstellung, die Sie hier abgezogen haben Schwester Anna, gegen ärztliche Anweisungen gehandelt zu haben, wird für sie sowieso noch ein Nachspiel haben.“, drohte er ihr mit einem boshaften Grinsen an.


    Anna war angesichts von so viel Arroganz und Überheblichkeit nur noch sprachlos. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihre Gesichtsfarbe, die anfangs dunkelrot war, während der Standpauke des Arztes in kreidebleich wechselte. Nur mit Mühe konnte sie ihre Selbstbeherrschung wahren. Ihre Kolleginnen und die jungen Assistenzärzte unterhielten sich leise nuschelnd im Hintergrund. Mittlerweile hatten schon alle mit der unangenehmen Art des Herrn Doktor von Zadelhoff Bekanntschaft gemacht. Niemand wollte mit ihm freiwillig zusammenarbeiten. Verzweifelt suchte Anna mit ihren Blicken nach einem erfahrenen Arzt. Was sie nicht wusste, Dr. Vollmers übernahm an der Schleuse zum OP Bereich mit dem Pfleger Mario eine neue Patientin in einem kritischen Zustand.


    „Und bevor wir hier weiter diskutieren, die offizielle Vertretung von Schwester Theresa ist in einigen Minuten da. Helfen Sie ihrer Kollegin dabei die Sauerei weg zu machen!“ Er deutete dabei auf Schwester Verena, die den älteren Mann säuberte. „Wenn Sie anschließend ihre Übergabe an ihre Nachfolgerin Schwester Natascha gemacht haben, werden ihre Dienste nicht mehr gebraucht. Packen Sie ihre Sachen zusammen und schaffen sie vorher dieses Zeug hier raus!“ dabei zeigte er in Richtung der Waschschüssel. Anna stand wie angewurzelt da und rührte sich nicht. „Bewegen Sie sich! Sofort!“, forderte er sie in einem rüden Ton auf, das Patientenzimmer zu verlassen und schloss die einseitige Diskussion endgültig ab. Ohne sie eines weiteren Blickes zu würdigen, drehte er sich um und verschwand in einem Patientenzimmer. Schwester Verena gab ihr durch Handzeichen zu verstehen, dass sie alleine klar kommen würde. „Arrogantes Arschloch!“ entfuhr es Anna laut und deutlich, dass es alle Umstehenden hören konnten, als sie in Richtung des Stationsstützpunktes ging, um ihre persönlichen Sachen abzuholen und die Übergabe an die Kollegin zu machen.


    Was der Friedrich von Zadelhoff nicht wusste, Anna hatte nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester begonnen, Medizin zu studieren. In drei Wochen würde sie ihr drittes Staatsexamen ablegen. Nach bestandener Prüfung wurde ihr an der Uni-Klinik ein Job als Ärztin in Aussicht gestellt. Die vergangenen Jahre arbeitete sie stundenweise, bevorzugt an Wochenenden und Feiertagen als Krankenschwester, um sich ihr Studium zu finanzieren.


    Anna hatte während der Übergabe an ihre Kollegin Natascha, die für den Nachtdienst eingeplant war und etwas früher mit ihrem Dienst anfing, den Patienten beobachtet. Sein Körper hatte angefangen zu zittern. Schüttelfrost! Der Vorbote für einen neuen Fieberschub? In ihr hegte sich ein gewisser Verdacht. Nur mit diesem Idioten von Zadelhoff brauchte sie nicht mehr zu diskutieren. Hilfesuchend schaute sie sich auf der Station um. Der einzige Arzt, der ihr noch helfen konnte, war Dr. Vollmers. Doch der Oberarzt war nirgends zu sehen. Auf Nachfrage teilte ihr die Stationsschwester Anja mit, dass dieser erneut einen Notfallpatienten an Schleuse zum OP-Bereich übernehmen würde. Wann er auf Station zurückkommen würde, Anja zuckte hilflos mit den Schultern. Der andere Assistenzarzt, der die Auseinandersetzung am Rande mitbekommen hatte, schüttelte ablehnend den Kopf. Er hatte nicht die nötige fachliche Kompetenz, um sich dem angehenden Facharzt von Zadelhoff entgegen zu stellen.
    Die schwarzhaarige Krankenschwester hatte Angst um das Leben von Ben. Wenn sie mit ihrer Vermutung und Diagnose richtig lag, zählte jede Minute. Deshalb fasste sie einen folgenschweren Entschluss. Wutentbrannt schnappte sie sich ihre Tasche und verließ die Intensivstation durch den Haupteingang, in der Hoffnung dort noch den Freund von Ben Jäger vorzufinden. Abermals wurde sie wurde enttäuscht, der war weg. Nochmals überdachte sie ihre Entscheidung. Ihr war klar, wenn sie diesen Telefonanruf tätigen würde, hatte sie richtig Ärger am Hals, riskierte ihre zukünftige Stelle. Doch um was ging es, um ein Menschenleben. Waren da ihre persönlichen Gefühle im Spiel? Übernahmen diese ihr Denken und Handeln? Anna war sich nicht sicher, aber wahrscheinlich gaben die den Ausschlag. Sie schnaufte mehrmals tief durch, zückte ihr Handy aus der Handtasche und wählte die Privatnummer vom Chefarzt Dr. Peter Kraus.


    „Guten Abend Anna, was verschafft mir die Ehre ihres Anrufes?“, klang es erstaunt aus dem Lautsprecher des Handys.


    „Guten Abend Dr. Kraus, haben Sie ein paar Minuten Zeit für mich? Ich weiß, ich handle mir diesem Anruf eine Menge Ärger ein, aber es geht um den Patienten Ben Jäger!“ sie stand an einen der Klinikfenster im Gang und schaute hinunter auf den kleinen Park vor der Klinik, während sie den Chefarzt über den aktuellen Zustand von Ben Jäger informierte und über ihren Verdacht, was für die Verschlechterung verantwortlich war. Dieser war alarmiert durch die Aussagen der Krankenschwester und forderte sie auf, ihn im Eingangsbereich der Intensivstation zu erwarten. Er wollte in spätestens 30 Minuten dort sein. Ihr war noch nie bewusst gewesen, wie endlos lange sich die Minuten einer Wartezeit hinziehen konnten.

  • Währenddessen irgendwo in Düsseldorf ….


    „Brauer! Was kann ich für Sie tun?“ er hatte bereits an der Telefonnummer im Display erkannt, wer der Anrufer war.


    „Keine Namen! Sicher ist sicher!“ forderte ihn eine männliche Stimme auf, bevor sie fortfuhr „Ich brauche alle Informationen, Protokolle und was es sonst noch gibt zum Fall Fuchsbachsgrund … dem Einbruch in Düsseldorf… und ich meine alle!“


    „Ich habe schon auf ihren Anruf gewartet. Die Leiche, die offiziell nicht identifiziert werden konnte, ist der Cousin von unserer Informantin. Ich habe ihn sofort auf den Fotos erkannt. Ist die Psycho Tante wieder aufgetaucht?“, kam seine Gegenfrage.


    „Uff …. Da wird sie noch wütender sein, wenn sie das hört. Ja, ich habe gestern mit ihr telefoniert. Sie ist auf dem Weg zurück nach Köln.“


    *****


    Zurück bei Semir… einige Zeit später ….


    Semir hatte es fast das Herz gebrochen, als er seinen Freund verlassen musste. Es hatte sich für ihn so angefühlt, als würde er Ben im Stich lassen, als dieser ihn am dringendsten gebraucht hätte. Doch was sollte er gegen die Entscheidung des Arztes machen? Nichts … er war machtlos, letztendlich saß der am längeren Hebel. Schließlich konnte er ja nicht diesem Idioten von einem Arzt die Pistole auf die Brust setzen und seinen Aufenthalt auf der Intensivstation erzwingen, auch wenn der dieses Bedürfnis durchaus hegte.


    Der Türke dachte darüber nach, was er als nächstes tun sollte. Warten, aber wo? ... Kurz entschlossen machte er sich auf dem Weg zur kardiologischen Intensivstation, um mit Bens Schwester zu sprechen und sich nach Konrad Jäger zu erkundigen. Julia saß neben dem Bett ihres Vaters, der schlafend in seinem Bett lag und hielt dessen Hand umschlungen. Semir zog sich einen Stuhl heran und leise flüsternd unterhielten sich die beiden.
    Zur Abwechslung gab es erfreuliche Neuigkeiten. Bens Vater hatte nur einen leichten Infarkt erlitten und befand sich nicht mehr in Lebensgefahr. Außerdem hatte Julia zwischenzeitlich den Chefarzt und Freund ihres Vaters telefonisch erreicht und ihm die Situation um Ben geschildert. Professor Kraus war bereits durch eine Krankenschwester alarmiert worden und auf dem Weg zum Uni-Klinikum. Dr. Kraus versicherte Julia, dass er sich sobald wie möglich bei ihr melden würde, wenn er Klarheit über Bens Zustand habe und bat sie und Semir nichts weiter zu unternehmen, sondern im Zimmer von Konrad Jäger auf ihn zu warten.
    Nach einigen Minuten hielt der kleine Türke die Enge des Krankenzimmers nicht mehr aus. Das ständige Piepsen der Überwachungsgeräte aus den benachbarten Zimmern, die Unruhe auf dieser Station, die Ungewissheit, verbunden mit dem erneuten Bangen um Bens Leben, trieben ihn an den Rand des Wahnsinns. Er musste raus, nur noch raus und für sich allein sein. Er entschuldigte sich bei Bens Schwester und verließ die Intensivstation.

    Der Kommissar irrte ein bisschen orientierungslos durch die Gänge des Krankenhauses. Als er wieder einigermaßen klar denken konnte, fand er sich vor dem Eingangsbereich der Uni-Klinik wieder. Gewohnheitsgemäß zückte er sein Handy aus der Hosentasche und schaltete es ein. Fünf Anrufe in Abwesenheit und zwei SMS Nachrichten las er auf dem Display. Die Anrufe waren von Susanne und Andrea gewesen, die Nachrichten von seiner Frau. Mit ihnen konnte er Moment nicht sprechen, mit niemandem so aufgewühlt, wie er innerlich war. Mit kurzen Sätzen beschrieb er seiner Frau per SMS die neue bedrohliche Situation um Ben. Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit bis er die Nachricht mit seinen Fingern getippt hatte. Mit ein bisschen Wehmut dachte er an seinen jungen Partner, wie geschickt dieser in solchen Dingen war.


    Er grübelte darüber nach, wie und wo er die Wartezeit überbrücken könnte? Welche Möglichkeiten boten sich? Das Krankenzimmer von Konrad Jäger schied aus, dort kam er sich wie eingesperrt vor. Die Cafeteria würde in einer Stunde schließen. Da fiel ihm ein, dass der Aachener Weiher mit dem daran anschließenden Stadtpark keine zehn Gehminuten von der Uni-Klinik entfernt lag. Er schnaufte tief durch. Vielleicht war das die richtige Entscheidung, einfach abschalten und nur die Natur auf sich wirken lassen. Überall in dem kleinen Park war die Natur zum Leben erwacht und zeugten davon, dass der Frühling Einzug gehalten hatte. Ja Leben, seine Gedanken wanderten zu seinem schwer kranken Freund. Halte durch Partner und kämpfe.


    ******


    Zurück in die Uni-Klinik Köln ….


    Eine bizarre Finsternis hüllte Ben ein. Eine Frauenstimme redete unaufhörlich auf ihn ein. Ihr Klang, dieser fremdländisch klingende Akzent, flößte ihm Angst ein, verhieß für ihn Schmerzen und Qualen. Sein Körper, er fühlte, wie er innerlich verbrannte, als wenn ein Strom glutheißer Lava durch ihn hindurchströmen würde. Sein Herz raste wie verrückt … Der Pulsschlag hämmerte in seinen Schläfen. Der Schmerz in seinem Kopf brachte diesen fast zum Platzen. Dieses Druckgefühl machte ihn irre, er wollte all dem entfliehen. Er driftete ab und fand sich in einer anderen Realität wieder. „Komm, lauf schneller Ben, renne!“, forderte ihn seine innere Stimme auf. Der junge Polizist rannte um sein Leben quer durch den Wald. Äste peitschten ihn ins Gesicht. … Da war sie wieder diese Stimme, die ihn verfolgte. Sie rief seinen Namen … und er empfand nur Furcht … er versteckte sich hinter einem dicken Baumstamm und schaute sich suchend um. Da hinten im Gebüsch zwischen den Ästen blickten ihn ein Paar eiskalte Augen an … „Flieh doch endlich! … Renn weg, du Narr!“, forderte seine innere Stimme auf! In seiner Panik übersah er eine Wurzel … er stolperte und stürzte auf den Waldboden. Hinter ihm knackten die Äste, als sie unter den stampfenden Schritten des Verfolgers zerbrachen. Dieser Dämon gab nicht auf. Sein Körper war wie gelähmt, er drehte sich um und blickte auf, vor ihm erschien das Gesicht von Gabriela, verzerrt vor Hass. In ihrer Hand hielt sie ein Messer. Die Klinge funkelte im Sonnenlicht und sauste auf ihn herab … auf einmal war da nur noch grenzenloser Schmerz, der sich über seine rechte Seite ausbreitete, jede Zelle seines Körpers durchdrang … Sein wirrer Geist gaukelte Ben Bilder vor, die so real waren und er befand sich in einer Scheinwelt, war darin gefangen … mitten drinnen im Geschehen und war das Opfer, der all dem nicht entfliehen konnte.


    Der Chefarzt kam im Laufschritt die langen Krankenhausflure zur Intensivstation gerannt. Zwischenzeitlich hatte er auch einen alarmierenden Anruf von Julia Jäger erhalten, die ihm aus ihrer Sicht über die Vorgänge vor und auf der chirurgischen Intensivstation berichtet hatte. Professor Kraus war richtig gehend geschockt, als er hörte, dass sein Freund Konrad Jäger auf Grund der Aufregungen einen erneuten Herzinfarkt erlitten hatte. Innerlich völlig aufgewühlt und etwas außer Atem stand er schon fünfundzwanzig Minuten später vor der Krankenschwester, die immer noch ihre Dienstkleidung trug. Gemeinsam mit dem Arzt betrat Anna die Intensivstation über den Seiteneingang. Ohne zu zögern, eilte Dr. Kraus sofort in das Zimmer von Ben Jäger.


    Die Situation, die er dort vorfand, verschlug sogar dem erfahrenen Arzt die Sprache.


    „Ben, Mensch … Junge! … Was machst du nur für Sachen?“ Professor Kraus blickte auf die Anzeigen der Monitore. „Verdammt, was ist hier los?“, brüllte er lauthals los.
    Dieser emotionale Ausbruch des Chefarztes sprach Bände, kannte ihn doch sein Personal normalerweise als die Ruhe in Person. Er benötigte kein Fieberthermometer um zu erkennen, dass der Patient sehr hoch fieberte und halluzinierte. Unruhig versuchte Ben sich hin und her zu wälzen. Seine Hände waren ans Bett fixiert, damit er sich in seinen Alpträumen nicht bewegen konnte und um ihn vor sich selbst zu schützen. Die Schwester Natascha, die als Ersatz für Theresa gekommen war, kümmerte sich um den Patienten und redete verzweifelt auf ihn ein, um ihn zu beruhigen. Die Hilflosigkeit stand ihr ins Gesicht geschrieben. Die junge Krankenschwester hatte das Gefühl, dass jedes ihrer Worte die Unruhe ihres Patienten noch verstärkte.
    Die Monitore überschlugen sich mit Alarmmeldungen. Umso mehr war Dr. Kraus verwundert, keinen Arzt sondern nur eine offensichtlich hoffnungslos überforderte Krankenschwester an Bens Bett vorzufinden. So etwas hatte er auf seiner Station in der Vergangenheit noch nicht erlebt. Egal, wer dafür verantwortlich war, dies würde ein Nachspiel haben.

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