Nightmare

  • Semir saß vornübergebeugt da. Die Unterarme ruhten auf seinen Oberschenkeln. Mit einem leeren Blick starrte er vor sich hin auf diesen Bildschirm und sah doch nichts … hörte nichts.
    Seine Welt war zerbrochen.
    Ein energisches Zupfen an seinem Hemd riss den Türken zurück in die Realität. Er runzelte die Stirn, schaute zur Seite und blickte in Aidas Gesicht. Erst jetzt verstand er, dass seine Tochter mit ihm redete und was sie zu ihm sagte.
    „Papa! … Papa! … Hörst du mir überhaupt zu?“, maulte sie ihn energisch an.
    „Ja, Schatz!“ antwortete er mehr automatisch „Was ist denn los?“
    „Papa! Du musst doch los! Du musst Ben helfen! Er wartet auf dich! Mama hat ihm versprochen, dass du kommst, um ihn zu retten!“
    Mit einem Schlag war es aus und vorbei. Bei den Worten seiner Tochter legte sich ein unsichtbares Band um seine Kehle, würgte ihn und schnürte ihm die Luft ab. Tränen schossen ihm in die Augen und er biss die Lippen krampfhaft zusammen, um nicht lauthals loszuschreien. Sein getrübter Blick war auf Aidas Gesicht gerichtet. An ihrer Mimik konnte er erkennen, auch seine Tochter hatte begriffen, dass etwas Schreckliches mit Ben passiert sein musste. Ihr Körper bebte und sie krabbelte auf seinen Schoß. Mit ihren Armen umschlang sie seinen Nacken und wisperte mit ihm aufschluchzend ins Ohr: „Papa … Papa? Ist was mit … Ben? …. Ihr … seid ….“, sie schniefte … „alle so furchtbar traurig!“ … wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus den Augen. „Papa … Papa … ist … ist … Ben … tot?“
    Semir konnte ihr nicht antworten … nur noch nicken und seine Tochter an sich drücken. Weinend vergrub sie ihr Gesicht an seiner Schulter. Ihre Tränen durchtränkten sein Hemd … Mehr mechanisch strich er ihr über das Haar. Wie sollte er Aida denn trösten? Semir verstand es doch selbst nicht. War das der Preis, den er zahlen musste, damit seine Familie gerettet worden war? Das Schicksal war einfach nur grausam und dieses Wissen raubte ihn fast den Verstand. Neben dem Verlust seiner Familie war das, das Schlimmste, was man den Türken antun konnte. Ein Schauder nach dem anderen jagte durch seinen Körper. Seine Gedanken fingen an sich im Kreis zu drehen. Der Türke war innerlich völlig zerrissen. Er spürte den zierlichen Körper seiner Tochter, der von einem Weinkrampf nach dem anderen geschüttelt wurde. Seine Seele, sein Herz fochten einen inneren Kampf aus. Auf der einen Seite war er der Familienvater, der die Not seiner Tochter und seiner Frau wahrnahm. Gerade in diesem Moment brauchten sie ihn als einen Fels in der Brandung, der ihnen Halt gab, der ihnen Trost spendete, wo er doch selbst Trost gebraucht hätte. Sein letztes bisschen Verstand, das ihm unter dem Eindruck der Erlebnisse der letzten Tage, Stunden, Minuten geblieben war, wollte den endgültigen Beweis, dass sein Freund Ben tot war. Es fühlte sich für ihn so an, als rief die Seele seines verstorbenen Freundes Ben nach ihm. War es Einbildung oder Magie? Wurde er verrückt? Oder einfach nur der Wunsch nach dem letzten Beweis, dass Ben tot war. Wie an einen Strohhalm klammerte sich seine Seele an diesen letzten Hoffnungsschimmer. Doch dann nahm sein Verstand wieder die tränenerstickte Stimme seiner Tochter war. Es war ein einziger Hilfeschrei, der ihm zeigte wie sehr das Mädchen litt, wie sehr seine Tochter ihren Vater brauchte.


    Semir wusste nicht wieviel Zeit verstrichen war, in der er völlig verzweifelt mit Aida im Arm dagesessen hatte und seinen schlimmsten Kampf ausfocht. Irgendwann legte sich eine Hand auf seine Schulter. Der Türke schaute auf und blickte in das Gesicht von Kim Krüger. Es war zu einer eisernen Maske erstarrt. Ihre Augen waren gerötet und total verquollen. Sie sah elend und mitgenommen aus. Man sah ihr an, wie sie darum kämpfte, nicht ihre Fassung zu verlieren. Mit einer dumpfen, fast schon monotonen Stimme an sprach sie ihren Kommissar an und riss ihn endgültig aus seiner Lethargie.
    „Semir! … Herr Gerkhan, hören sie mich? Ich habe gerade mit der Einsatzleitung im Fuchstalgrund gesprochen.“ Sie räusperte sich. „Ich … ich … habe denen ein Foto von Ben Jäger per Handy geschickt. Einer der Toten …“ Sie schwieg für einige Sekunden, sammelte sich erneut und biss sich auf die Lippe, bevor sie stockend weiterredete „… einer der Toten ist der Beschreibung nach Ben Jäger. … Er trägt eine rot-karierte Jacke … und … und der Zeuge behauptet … ihn … nach dem Foto … erkannt zu haben!“ In den Augenwinkeln von Kim Krüger schimmerte es feucht und sie rang krampfhaft darum, nicht wieder ihre Fassung zu verlieren.


    Hinter ihm erklang ein herzzerreißender Aufschrei „Neeeiiiiinnnn!“. Ohne dass Semir sich umblickte, wusste er, der Schrei war von Andrea gekommen. Der Schrei ging über in ein haltloses Aufschluchzen. Wie im Zeitlupentempo kam der Sinn der Worte seiner Chefin im Gehirn des Türken an. Das letzte Fünkchen Hoffnung war zerstört. Sein Herzschlag beschleunigte sich in ungeahnte Dimensionen. Semir fing an zu zittern und gleichzeitig brach ihm der Schweiß aus. Von seinen Händen ausgehend, breitete sich eine Eiseskälte in seinem Körper aus. Immer wieder murmelte der Kommissar ein paar Worte vor sich hin „Nein …Ben …. nein …Ben bitte nicht Ben … nein …!“ Es war wie der Wunsch, einen Zauberspruch auszusprechen und der Spuk war vorbei. Das was geschehen war, würde wieder rückgängig gemacht werden. Jedoch da war noch eine andere Stimme in seinem Kopf, die ihm klar machte … es ist aus und vorbei … Ben, sein Freund … sein Partner … er lebte nicht mehr … diesmal gab es keine Rettung für seinen Partner. Semir schmeckte den salzigen Geschmack der Tränen auf seinen Lippen, die unaufhaltsam rannen. Wie in Trance drangen die nächsten Sätze von Frau Krüger zu ihm durch.


    „Herr Gerkhan … ! Es ist ein Rettungswagen hierher unterwegs. Er sollte jeden Moment hier eintreffen. Er wird Sie und ihre Familie ins Krankenhaus bringen!“ Er schüttelte den Kopf und protestierte: „Nein …. Nein … ich muss zu Ben!“


    Kim Krüger ging leicht in die Hocke, um auf einer Blickhöhe mit ihrem Kommissar zu sein. „Denken Sie nicht die Lebenden brauchen sie mehr wie …!“ Sie konnte es einfach nicht aussprechen.


    Semirs Blick wanderte von der Meldung auf dem Bildschirm zu von seiner Tochter, die sich wie eine Ertrinkende an ihn klammerte hinüber zu seiner Frau, die von Weinkrämpfen geschüttelt, in Susannes Armen lag. Der Anblick seiner Liebsten schockte den Türken endgültig. In diesem Moment wurde Semir klar, es machte keinen Sinn, die Wahrheit zu verdrängen. Sein bester Freund und Partner Ben Jäger war tot.
    Irgendwann standen ein Notarzt und die Sanitäter neben ihm, sprachen ihn und Aida an und hängten ihm eine Decke zum Wärmen um. Zuerst kümmerte sich der Arzt um seine Tochter, die aber um nichts in der Welt ihren Vater los ließ. Er spürte einen kleinen Stich am Arm, als der Notarzt ihm etwas spritzte. Dies alles ließ er widerstandslos über sich ergehen. Aida, auf den Armen tragend, wurde er von einem der Sanitäter zum Rettungswagen geführt.

  • Kim Krüger wusste, dass das Drama, das sich in den vergangenen Minuten vor ihren Augen und den Mitarbeitern der Dienststelle abgespielt hatte, sich unauslöschlich in ihr Gedächtnis eingebrannt hatte. Noch nie in ihrem Leben hatte Kim einen Menschen, der ihr Nahe stand, so am Boden zerstört und zerbrochen erlebt wie den türkischen Kommissar in der vergangenen Stunde.
    Gleich nach seiner Ankunft hatte der Notarzt Andrea Gerkhan versorgt, die mit einer Rolltrage zum RTW transportiert worden war. Anschließend kümmerte der Arzt sich um Aida und ihren Vater. Der Notarzt und der Sanitäter führten den Türken zum Rettungswagen. Der Kommissar selbst trug seine Tochter, die unter dem Einfluss des Beruhigungsmittels halb schlafend auf seinem Arm hing. Die Hecktüren des Rettungswagens wurden geschlossen und langsam rollte er mit eingeschaltetem Blaulicht vom Hof.


    Eine gefühlte Ewigkeit stand Kim am Fenster und starrte dem Rettungswagen und Notarztwagen hinterher. Ihr Blick war durch ihre Tränen verschleiert. Mit ihren Handflächen hatte sie sich leicht vornübergebeugt auf dem Fensterbrett abgestützt und kämpfte darum ihre Fassung wieder zu gewinnen. Für einen Moment schloss sie die Augen und sah vor ihrem inneren Auge Bilder der Vergangenheit vorüberziehen. Ihre erste Begegnung mit Ben Jäger hier auf der Dienststelle, als er mit seinem Kollegen feixend unter ihrer Bürotür stand, … sein schelmisches Grinsen, das an einen Lausbuben erinnerte, der wieder einmal einen Streich erfolgreich durchgeführt hatte oder im Falle des jungen Polizisten den Dienstwagen geschrottet hatte … seine draufgängerische Art, seine kecken Sprüche, die sie manchmal wahnsinnig machten. Der junge Polizist hatte nur so vor Lebenslust und Tatendrang gestrotzt und das sollte alles der Vergangenheit angehören. In ihr wallte ein Gefühlschaos aus Trauer und Hoffnungslosigkeit auf. Kim Krüger konnte es einfach nicht begreifen und ihr Verstand weigerte sich krampfhaft dies als Wahrheit zu akzeptieren. Als sie für sich eine Entscheidung getroffen hatte, ging ein Ruck ging durch ihren Körper und sie drehte sich zu ihren Mitarbeitern um. Ihre Mimik war zu einer steinernen Maske erstarrt. Sie ließ ihren Blick in die Runde schweifen. In den Gesichtern ihrer Mitarbeiter las die Chefin ebenfalls tiefe Betroffenheit und Trauer. Horst Herzberger hielt die junge Jenny Dorn, die zwischenzeitlich auf die Dienststelle zurückgekehrt war, in den Armen und sprach beruhigend auf sie ein. Sein schlaksiger Kollege Dieter Bonrath saß neben ihm, aschfahl im Gesicht und wirkte wie gelähmt. Es war ein rabenschwarzer Tag für die Dienststelle, einen ihrer wertvollsten Mitarbeiter auf so tragische Weise zu verlieren.

    Susanne, die sich die ganze Zeit über rührend um ihre Freundin gekümmert hatte, war ebenfalls an die Grenzen ihrer psychischen Belastbarkeit angekommen. Die Nerven der Blonden lagen blank. Sie saß weinend an ihrem Schreibtisch, ihre Unterarme lagen auf der Schreibtischplatte und ihre Stirn darauf abgelegt. Ihr Körper bebte. Mit schlurfenden Schritten schlich ihre Chefin zu ihr hin. An ihren Füßen schien eine Zentnerlast zu hängen. Sanft legte Kim ihre Hände auf die Schultern der Sekretärin und zog sie zu sich hoch. Die beiden Frauen nahmen sich gegenseitig tröstend in den Arm und verharrten minutenlang so.
    „Susanne!“ murmelte Kim mit einer heißeren Stimme, „Susanne!“ langsam beruhigte die Sekretärin sich und löste sich leicht schluchzend von ihrer Chefin, wischte sich mit einem Taschentuch die Tränen aus dem Gesicht und schnäuzte sich lautstark. „Ja!“, nuschelte sie kaum hörbar. - „Susanne, bitte sind sie so lieb und fahren sie dem Rettungswagen zum Marienhospital hinterher. Herr Bonrath soll Sie begleiten. Kümmern Sie sich um Semir und seine Familie …. Bitte!“ Sie räusperte sich und versuchte den Kloß aus ihrer Kehle verschwinden zu lassen. „Herr Herzberger, als dienst ältester Mitarbeiter sorgen sie bitte dafür, dass die Dienststelle unter diesen Umständen so gut es geht weiterläuft!“ Die beiden erfahrenen Polizisten nickten ihrer Chefin zu.
    „Ich … ich habe den Helikopter … der Verkehrsüberwachung startklar machen lassen. Ich fliege rüber … zum Fuchsbachtalgrund! … Ich …“ Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Kim Krüger kniff die Lippen zusammen und kämpfte gegen ihre Trauer an. „Ich will Ben selbst sehen, nur dann … nur dann glaube ich es!“ Sie drehte sich um und konnte nicht mehr weiter sprechen.


    Kim Krüger war froh, dass der Hubschrauberpilot genauso schweigsam war, wie sie selbst. Vergeblich hatte sie versucht, vor dem Abflug den Vater und die Schwester von Ben Jäger telefonisch zu erreichen. Sein Vater befand sich auf einer Geschäftsreise in London und seine Schwester verbrachte zusammen mit ihrem Mann ihren Urlaub auf den Bahamas. Die Sekretärin von Konrad Jäger hatte versprochen, die beiden so schnell wie möglich zu verständigen.


    Während des Fluges tanzten wieder die Bilder der Vergangenheit vor ihrem inneren Auge herum. Sie dachte daran, wie sie damals Ben Jäger kennengelernt hatte, den Abend, an dem er mit ihr auf dem Empfang geflirtet hatte. Seine lockeren Sprüche, die sie manchmal bis zur Weißglut getrieben hatten, das sollte alles Vergangenheit sein. Nein und nochmal nein …. Ihre Trauer überwältigte sie. Abgrundtief seufzte sie auf und kämpfte gegen ihre Gefühle des Verlustes an. Sie konnte und wollte es immer noch nicht glauben, dass Ben Jäger nicht mehr unter den Lebenden weilte. Ein gequältes Stöhnen kam aus ihrem Mund. Tränen liefen ihr über die Wangen. Besorgt blickte der Pilot zu ihr rüber.


    „Ist alles ok Frau Krüger? Wir sind übrigens gleich da. Da vorne können Sie schon die Einsatzwagen der Kollegen sehen!“ Die trockenen Worte des Piloten rissen sie aus ihren Gedanken.


    „Machen Sie sich keine Sorgen, es ist alles ok.“ Sie wischte sich mit dem Handballen die Tränen von den Wangen. „Landen Sie da vorne auf der Wiese gleich unterhalb der Anhöhe. Ich laufe das kurze Stück! Sie können dann auch gleich zurückfliegen!“, wies sie den Piloten an.


    Sie blickte durch das Seitenfenster auf das Schauspiel, das sich dort unten auf den Wiesen vor dem Waldstück abspielte. Die umherlaufenden Menschen sahen wie kleine Puppen aus. Die flackernden Blaulichter der Einsatzfahrzeuge wirkten auf sie so unwirklich, spiegelten sich am Waldrand wieder. Ein Rettungswagen stand direkt am Waldrand unter einer Wildkirsche, die über und über mit weißen Blüten geschmückt war. Trügerische Idylle fiel ihr nur dazu ein.


    Je näher sie während des Sinkflugs dem Landeplatz kamen, desto besser erkannte Kim die Einzelheiten. Erneut fuhr sie sich mit ihrer Hand verzweifelt über das Gesicht und schloss ihre Augen. Der Versuch, mit dieser Geste die Bilder zu verscheuchen, scheiterte kläglich. Ihre Hoffnung, wenn sie die Augen öffnete, wäre dieser Alptraum vorbei, wurde nicht erfüllt. Die Landung des Hubschraubers erregte Aufsehen bei den umherstehenden Polizeibeamten.

  • „Kann ich ihnen weiterhelfen?“, erkundigte sich eine Beamtin bei Kim Krüger, nachdem sie aus dem Helikopter ausgestiegen war und sich orientierungslos umblickte.


    „Ich suche Herrn Hillenbrand, den Einsatzleiter. Wir haben vorhin miteinander telefoniert. Der ermordete Polizist da vorne im Wald ist vermutlich einer meiner Beamten!“, heißer und gepresst kamen die Worte über ihre Lippen.


    Die Polizistin begleitete Kim Krüger ein Stück und zeigte auf einen VW-Bus, der direkt am Waldrand neben dem Rettungswagen geparkt war, auf welchen Einsatzleitung stand. „Dort sollten Sie Herrn Hauptkommissar Hillenbrand finden!“
    Kim Krüger kannte Martin Hillenbrand aus früheren Einsätzen. Vor ihrer Zeit als Chefin auf der PAST hatten sie öfters mit ihm zusammengearbeitet und gemeinsam Fälle gelöst. Daraus hatte sich ein sehr freundschaftliches Verhältnis entwickelt, welches nach wie vor Bestand hatte. Seine imponierende Zwei-Meter-Sportlerfigur war unübersehbar. Wie immer trug er seine alte zerschlissene Jeansjacke, eine verwaschene schwarze Jeans und ein kunterbuntes Hawai-Hemd, das über dem Hosenbund hing. Bei einer anderen Gelegenheit hätte Kim darüber geschmunzelt nur heute nicht. Er kam ihr auf dem Feldweg mit schnellen Schritten entgegen.


    Der Leiter der Mordkommission erschrak, als er seine Freundin, Kim Krüger, aus der Nähe betrachtete. Die Nervenanspannung der letzten Tage hatte deutlich Spuren in ihrem Gesicht hinterlassen. Wenn er ehrlich war, hatte er Kim das letzte Mal in solch einer schlechten Verfassung gesehen, als ihr damaliger Partner und Freund erschossen worden war. Mitfühlend nahm er sie einfach in den Arm und ließ sie spüren, dass er für sie da war … dass er ihr ein Freund war.
    „Danke Martin!“, wisperte sie, als sie sich voneinander lösten.
    „Tut mir leid Kim, was da passiert ist. Keine schöne Geschichte. Sind denn wenigstens die Frau und die Tochter deines anderen Beamten in Sicherheit?“, erkundigte er sich.
    „Ja, sie sind zurzeit auf dem Weg ins Krankenhaus! Kannst du mir schon was sagen, was hier passiert ist Martin? Wer hat ihn gefunden? Hast du seine Leiche schon gesehen?“, überfiel sie ihn mit ihren Fragen. Sie schniefte einmal kurz auf und lauschte angespannt dem Bericht ihres Kollegen.


    „Ein Spaziergänger mit seinem Hund hat vor ca. einer Stunde die Meldung gemacht, dass er hier zwei Leichen mit Schussverletzungen gefunden hat. Er sitzt dort vorne im Heck des Rettungswagens. Der Anblick hat ihn anscheinend ein wenig mitgenommen!“ gerade noch rechtzeitig schluckte er den Rest seiner Worte hinunter. Fast wäre ihm rausgerutscht, dass es sich dabei hauptsächlich um die Leiche des Polizisten gehandelt hatte, die den Zeugen so geschockt hatte. „Die Sanitäter kümmern sich um ihn. Ich habe ihm auch das Foto gezeigt, welches du mir vorhin auf Whatsapp gesendet hast. Ja, er ist sich absolut sicher, dass eine der beiden Leichen dein Beamter ist!“


    Kim Krüger konnte nicht verhindern, dass sie bei dem letzten Satz aufschluchzte. „Oh, mein Gott, dann ist es wirklich wahr!“ Martin nahm sie erneut in den Arm. Für einen Moment ließ sie in seinen Armen ihren Schutzpanzer, den sie um sich herum aufgebaut hatte, fallen und ließ ihrer Trauer freien Lauf. Als Kim sich beruhigt hatte, blickte sie aus verquollenen Augen ihren Freund und Kollegen an. Ihre Stimme vibrierte als sie ihn ansprach.
    „Kann ich ihn sehen? Ich will zu ihm! Ich will mich überzeugen, dass er es wirklich ist! Bitte Martin!“
    „Momentan geht gar nichts. Die SPUSI war zuerst da und hat den gesamten Bereich abgesperrt. Wie du ja hier deutlich sehen kannst.“ Dabei deutete er auf die gelben Polizeiabsperrbänder. „Bisher habe ich erst eine der beiden Leichen gesehen und einen Teil des Tatorts in Augenschein nehmen können. Die Kollegen sind dabei die Beweise zu sichern und alles zu untersuchen. Keine Chance, die lassen da niemanden durch, Anordnung von Herrn Dr. Pfeifle höchstpersönlich. Er war mit seinem Team einer der Ersten am Tatort und hat alles abriegeln lassen. Du kennst ihn doch noch oder?“
    „Oh ja! Wer könnte diesen Giftzwerg vergessen?“, entgegnete sie mit einem ironischen Unterton, „Ich war der Meinung, der ist längst im Ruhestand!“
    „Nein! Die kommenden sechs Monate haben wir noch die Ehre mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen!“


    Kim dachte an ihre letzte Begegnung mit dem Herrn Dr. Pfeifle. Wer könnte diesen jähzornigen, kleinen fetten Mann vergessen. Seine Wutanfälle waren gefürchtet und seine Mitarbeiter wagten nicht, ihm zu widersprechen. Aber er war eine Kapazität im Bereich der Forensik. Deswegen wurde ihm in der Vergangenheit manche seiner Macken verziehen. Während des Gesprächs bewegten sie sich weiter in Richtung des Waldrandes auf den Rettungswagen zu….


    *****
    Einige Zeit vorher …. Im Wald auf der Anhöhe ….
    ‚Wollten ihn die da drüben noch nicht?‘, fragte sich Ben, als er langsam aus dem Abgrund der Dunkelheit auftauchte. Der Dunkelhaarige nahm kaum etwas wahr, nicht einmal sich selbst oder seine Umgebung. Es war, als wäre er in einer Art Zwischenwelt gelandet. Er war sich sicher, einen Blick auf die andere Seite des Daseins geworfen zu haben. Da war doch eben Laura gewesen, seine letzte große Liebe … Bildete er sich das nur alles ein? Er hatte mit ihr gesprochen. Sie war in seinem Armen gelegen und ihr wunderbares Lächeln hatte ihn angestrahlt. Ihm war als könnte er noch die Wärme ihres Körpers fühlen … Doch da war noch jemand gewesen … Ben überlegte … richtig … Semir! … Semir, sein Freund, war auf der anderen Seite des Lichtbogens gestanden. … Er hatte Lilly, sein Patenkind, auf dem Arm getragen und Aida stand neben den beiden. Sie winkten ihm Freude strahlend zu … schienen ihn erwartet zu haben, ihm etwas zuzurufen, dass er zu ihnen kommen soll … Die Bilder verschwammen ineinander.
    Das Licht, wo war dieses warme angenehme Licht hin … Ben hatte sich dort so wohl gefühlt … keine Schmerzen … alles war gut … alles war gut. Dorthin wollte er wieder zurück … Doch da waren wieder Semir … die Kinder … Es war für ihn wie Gabelung eines Weges, wo sollte er hin, für welchen Weg sollte er sich entscheiden … die Drei warteten auf ihn … und noch jemand war da … Andrea! Sie tauchte aus dem Schatten eines Baumes auf … Ben war hin und hergerissen … auf einmal war alles weg. … Es wurde dunkel um ihn herum.

  • Langsam kehrte erneut das Bewusstsein von Ben wieder zurück. … An der Stelle, wo Marios Kugel in seinem Körper eingedrungen war, verspürte er an seiner linken Brustseite unterhalb der Schulter nur ein leises Brennen. Kein Vergleich zu der Hölle, die sich in seinem Unterleib und der rechten Rückenseite abspielten. Die Schmerzen raubten ihm immer wieder die Besinnung und Ben tauchte wieder ab in seine Traumwelt … dort wollte er bleiben … keine Qualen mehr … keine Schmerzen mehr … kein Kampf mehr … nur einfach Frieden.


    Etwas Feuchtes berührte sein Gesicht. Etwas schleckte über seine rechte Hand. Ben spürte die Wärme an seiner rechten Seite … so angenehm … so wohltuend … Die Sinne des schwer Verletzten nahmen ihre Arbeit auf. Da war ein Hund bei ihm? … Ein Suchhund? Hatte man ihn endlich gefunden? Rettung? Semir, war er endlich da? Ben lauschte auf die Geräusche in seiner Umgebung, die gefiltert wie durch Watte, zu ihm durchdrangen. Er vernahm die tiefe Bassstimme eines Mannes.


    „Aus Tassilo, aus … geh da weg!“, befehlend klangen diese Worte. … Glichen einer Drohung.


    Sie galten wohl dem Hund. Nein … er sollte dableiben … nicht weggehen … flehte Ben innerlich. Er wollte sich bemerkbar machen … da war ein Mensch? Das bedeutete Hilfe …ihm fehlte einfach die Kraft … sein Körper gehorchte ihm nicht mehr … kein Laut kam über seine Lippen … mit einer letzten Energieleistung schaffte es Ben seine Finger zu bewegen … der Hund bemerkte es … fing aufgeregt an zu bellen … wollte die Aufmerksamkeit seines Herrchens auf den Verletzten lenken… Doch der andere … er tat nichts, ignorierte das Verhalten seines Hundes.


    „Aus Tassilo, ruhig jetzt! … Geh da weg! … Bist du jetzt still! Ich will telefonieren!“, ertönte die Stimme mit einem leichten Unmut im Tonfall.


    „Bist du blind?“, fragte Ben sich „Siehst du nicht, dass ich Hilfe brauche? Komme doch her zum mir! Verdammt noch mal! … Hilf mir doch!“ Ihm stockte fast der Atem, als er die nächsten Worte des Hundebesitzers vernahm. Ben kam sich vor, wie ein stummer Zuhörer eines Hörspiels, in dem er ungewollt die Hauptrolle spielte.


    „Hallo hören Sie mich … meine Name ist Herrmann Wedekind … ich bin hier mit meinem Hund spazieren gegangen … jetzt hören sie mir doch endlich mal zu und lassen mich ausreden … hier liegen zwei Leichen mit Schusswunden … wo ich bin … mitten im Wald … Können sie nicht mein Handy orten? … Ja, ich gehe zum Waldrand und warte auf die Polizei … ja ich bin mir sicher. … Ja, ich bin ausgebildeter Ersthelfer mit reichlich Erfahrung! Was denken Sie denn, wenn ich sage, dass die beiden Männer tot sind, ist das so! … Na klar, habe ich mich davon überzeugt! … Richtig! … Kein Puls, keine Atmung und eiskalt …. Bei dem einen Mann bilden sich am Rücken die ersten Leichenflecke. … Was folgern sie daraus? … Sehr gut erkannt, Herr Kollege! … Sie müssten mal den einen Kerl sehen, wie der ausschaut ... Oh Gott mir wird schlecht, wenn ich den nur anschaue! … Mir wird es ganz schwindelig!“


    „Tot? Fühlte sich so tot an? … Nein … ich lebe noch, wie kannst du behaupten, dass ich tot bin!“, durchfuhr es Ben voller Entsetzen. Er wollte sich aufbäumen, doch sein Körper versagte den Dienst. … Innerlich schrie er lauthals „Ich höre dich doch kotzen du Vollposten! … Komm endlich her zu mir! … Überzeuge dich, dass ich noch am Leben bin … ich habe so furchtbare Schmerzen … warum hilfst du mir nicht du Idiot … Komm doch endlich!“ Doch letztendlich blieb es ein stummer Hilfeschrei, den niemand vernahm, außer dem Hund, der noch immer neben ihm lag.
    Ben hörte das Rascheln der Blätter, das Knacken von Ästen, wenn man darauf tritt und das Holz bricht … die Geräusche entfernten sich von ihm … „Lauf nicht einfach wieder weg. Bleib hier bei mir.“, wollte er schreien … kein Laut kam über seine Lippen …. Er wollte seine Augen öffnen … sie gehorchten ihm nicht … Sich erneut bemerkbar machen … Nur wie! … Die rechte Hand … die Finger … war das anstrengend … aber der andere sah es nicht. Seine Schmerzen lähmten ihn förmlich. Ben stöhnte gequält auf … der andere hörte es nicht.


    „Tassilo komm jetzt endlich! … Stell dich nicht so an!“, blaffte die Stimme wütend.
    Der Hund jaulte … er bellte, doch der andere schimpfte nur mit ihm … Das Tier wurde von ihm weggezogen, obwohl es sich sträubte … Tassilo knurrte sein Herrchen an … bellte, wollte die Aufmerksamkeit seines Herrchens auf Ben lenken und wurde zum Gehorsam gezwungen, während Bens innere Stimme schrie „Bleib hier, geh nicht weg. Lass mich nicht allein!“


    Äste knackten … Laub raschelte … der Hund jaulte mehrmals schmerzhaft auf … er war endgültig weg … und Ben war wieder allein. Mit einem Male war ihm kalt … furchtbar kalt … Seine Gedanken drifteten ab … Wo blieb denn Semir nur? … Wo blieb sein Freund? … Er hatte es bisher doch immer geschafft rechtzeitig zu kommen. Ben brauchte ihn doch so sehr. … Was war wohl mit Aida und Andrea passiert? … Hatten sie es geschafft? Andreas letzte Worte fielen ihm wieder ein … Kämpfen? … „Kämpfe um dein Leben Ben! Wir brauchen dich!“ … Sollte er wirklich weiterkämpfen? … Die Rettung schien so greifbar nah und war auf einmal so unendlich weit weg. Die andere Seite war so verlockend! Keine Qualen … keine Schmerzen … Langsam schwanden dem Schwerverletzen wieder die Sinne …

  • Zurück am Waldrand … einige Zeit später


    Martin berichtete Kim weiter, dass die beiden Leichen, laut Aussage des Zeugen, ziemlich weit voneinander entfernt gelegen hatten. Die eine Leiche lag nahe am Waldrand direkt neben dem Wanderweg, weshalb wahrscheinlich auch der Hund des Spaziergängers die Witterung aufgenommen hatte. Er beschrieb ihr Mario und dass das Opfer durch eine Schussverletzung mitten in der Brust getötet worden war. Die andere Leiche lag im oberen Drittel der Anhöhe. Hier durfte er bisher noch nicht den Tatort begutachten, da Dr. Pfeifle die Befürchtung hatte, er würde wertvolle Spuren und Hinweise zerstören.


    Kim ließ sich von Martin nicht davon abbringen, sie wollte unbedingt selbst mit dem Augenzeugen reden. Die Chefin der PAST konnte ihn beim Näherkommen eingehend mustern. Auf den ersten Blick hätte sie gesagt, es handelte sich bei dem weißhaarigen älteren Herrn, um einen Verwaltungsbeamten oder einen Buchhalter im Rentenalter. Mittlerweile hatte er auch schon wieder eine gesunde Farbe im Gesicht. Zu seinen Füßen lag ein weißer Schäferhund und blickte sie aus seinen dunklen Augen an. Ein wunderschönes Tier dachte sich Kim.


    Aus dem Leichenwagen wurde ein Zinksarg in den Wald getragen. Der Weg der Träger führte direkt an Frau Krüger vorbei, die zwischenzeitlich den Rettungswagen zusammen mit Martin Hillenbrand erreicht hatte. Kim lief ein kalter Schauer bei diesem Anblick über den Rücken. Das Wissen, dass auch Ben Jäger in den nächsten Stunden in solch einen Sarg gepackt werden würde und weggebracht würde, brachte sie schier um den Verstand. Sie sammelte sich innerlich, bevor sie den Zeugen ansprach. Die Sanitäter hatten ihm eine Decke um die Schultern gelegt. Je näher sie kamen, desto mehr nahm Kim die Redseligkeit des Zeugen wahr. Na so schlecht schien es dem alten Herrn aber nicht zu gehen. Im Gegenteil, als sie den Inhalt des Gesprächs mitanhören konnte, war ihr Eindruck, das ist doch ein kleiner Wichtigtuer. Ein ungutes Gefühl beschlich sie. Direkt vor ihm blieb sie stehen. Sein Blick richtete sich nach oben und er schaute ihr direkt ins Gesicht, als sie sich vorstellte.


    „Guten Tag, mein Name ist Kim Krüger und ich bin die Vorgesetzte des Beamten, den sie dort oben im Waldstück gefunden haben. Ich hätte da noch ein paar Fragen an Sie, falls sie sich in der Lage sehen, diese zu beantworten.“


    Ein freudiges Aufleuchten trat in seine Augen und bestätigte Kim in ihrer Annahme, es handle sich um einen „Wichtigtuer“.


    „Ich bin Herrmann Wedekind, Verwaltungsbeamter im Ruhestand!“ Schon allein die Art wie er seinen Namen aussprach, sich vorstellte, weckte in ihr negative Emotionen. „Ja, ich habe die beiden Toten gefunden. Hatten sie das Foto an den Hauptkommissar geschickt?“ Dabei deutete er auf Martin, der neben Kim stand, die zustimmend auf die Frage nickte. „Ja, das ist der Mann, der da oben liegt, da bin ich mir ganz sicher!“ unterstrich er seine Aussage. Er wurde ein bisschen nervös, weil sein Hund sich erhoben hatte und ständig an der Leine zog. Der Schäferhund stellte seine Ohren, lauschte und schnupperte. Irgendetwas hatte seine Aufmerksamkeit geweckt. Tassilo wurde unruhig und fing an zu bellen. „Aus Tassilo! Wirst du wohl jetzt still sein!“, herrschte ihn sein Herrchen an und zog wie verrückt an der Leine. „Platz Tassilo! … Die Situation ist wohl auch für meinen Hund ein wenig aufregend!“, meinte Herr Wedekind ein wenig entschuldigend.


    Kims Gesicht wurde nach dieser Aussage totenbleich. Ihre Stimme vibrierte vor Erregung. „Und sie sind sich ganz sicher, dass er tot ist?“ Wusste der Typ überhaupt, wieviel Überwindung es sie gekostet hatte, diesen Satz auszusprechen.


    „Wissen sie was Frau Krüger? Ich bin ausgebildeter Ersthelfer! Ich war lange Jahre in unserer Behörde für den Sanitätsdienst zuständig. Habe regelmäßig Kurse besucht!“, verkündete er mit einem gewissen Stolz und Arroganz in der Stimme. „Wenn ich ihnen sage, dass der Mann da oben tot ist, dann ist er das auch! Sein Körper war bereits kalt, als ich versuchte einen Puls zu ertasten und ich denke mittlerweile hat die Leichenstarre bei ihm eingesetzt!“
    Kim schluckte bei dieser Äußerung, gleichzeitig entging ihr nicht die Reaktion des Rettungssanitäters mit dem glatt rasierten Schädel, der seitlich versetzt hinter dem Zeugen stand. Der ältere Mann runzelte die Stirn und verdrehte genervt die Augen nach oben. Sein Gesicht drückte nur Missfallen und Skepsis aus. Konnte man dem Zeugen wirklich glauben? Zweifel kamen in ihr auf. Wie ein elektrischer Impuls durchfuhr sie ein Gefühl …. Eine Ahnung …. und bestärkten sie in ihrer Meinung, so schnell wie möglich zu Ben zu kommen, koste es was es wolle und egal wer sich ihr in den Weg stellen würde. Nicht einmal der kleine Giftzwerg Dr. Pfeifle würde sie aufhalten können.


    Und noch was geschah …
    Herr Wedekind hatte sich erhoben und seine Ausführungen mit seinen Händen unterstreichen wollen, dabei unabsichtlich die Hundeleine losgelassen und wollte mit dem Fuß darauf treten. Tassilo, der kanadische Schäferhund, schien auf diesen Moment der Unaufmerksamkeit seines Herrchens gewartet zu haben. Der weiße Hund riss sich los und flitzte an Kim und Martin laut bellend vorbei in den Wald. Drinnen schrie jemand mit einer schrillen Stimme wütend auf „Könnt ihr denn nicht mal auf einen Köter aufpassen ihr verfluchten Idioten? Der zerstört hier doch alle Spuren! Bin ich denn nur von Nichtsnutzen umgeben! Mertens, sie haben doch eh nichts zu tun, kümmern sie sich um das Vieh! Schaffen Sie den Köter von meinem Tatort weg! Aber Pronto!“


    „Dr. Pfeifle höchst persönlich, wie er leibt und lebt!“ kommentiere Martin Hillenbrand dass lautstarke Gebrülle im Wald. Nur schemenhaft konnte man die Bewegungen der Männer der Spurensicherung in ihren weißen Overalls im Wald erahnen.


    Nach einigen Minuten wurde es innerhalb des Waldes richtig laut und hektisch.

  • Einige Zeit vorher … Auf der Anhöhe …
    Das typische Fluggeräusch eines Helikopters, der sich im Anflug befand, riss Ben aus seinen Dämmerzustand. Gebannt lauschte er auf seine Umgebung, kam da endlich seine lang ersehnte Rettung? … Kam da Semir? Völlig enttäuscht nahm er wahr wie, sich der Heli nach kurze Zeit wieder entfernte. …
    Ruhe kehrte ein, die durch ein aufgeregtes Stimmengewirr durchbrochen wurde. Da waren doch Menschen. Ein Rettungsteam? Neue Hoffnung durchströmte den Verletzten. … Ben wartete …Warum kam denn keiner zu ihm, die mussten doch mittlerweile vom Hundebesitzer wissen, dass er auf der Anhöhe mitten im Wald lag. Unbewusst stöhnte er vor Schmerzen leise vor sich hin. Wo blieb denn nur Semir? Hatte er ihn im Stich gelassen? „Du Narr!“, antwortete seine innere Stimme drauf. „Sein Freund würde ihn niemals im Stich lassen. …“


    Wie sollte er die da unten nur auf sich aufmerksam machen? Die Worte des Mannes fielen Ben siedend heiß wieder ein. Dachten die wirklich er sei tot? … Einer! …. Wenigstens einer sollte sich doch vom Gegenteil überzeugen … zu ihm kommen. Ein Polizist … ein Sanitäter … nur ein Mensch. … Pure Verzweiflung breitete sich in ihm aus und setzte einen Schub Adrenalin in ihm frei. Ok Ben, reiß dich zusammen ein letztes Mal! Motivierte er sich … Er wusste nicht wie, aber es gelang ihm tatsächlich seine Augen zu öffnen und seine Umgebung zu fixieren … mit einer letzten Kraftanstrengung hob Ben leicht seinen Kopf an und erkannte Menschen in weißen Overalls … SPUSI … fiel ihm dazu ein. Keiner blickte hoch zu ihm … Er wollte rufen … sich bemerkbar machen … kein Laut kam über seine Lippen … noch eine kleine Bewegung und dann durchströmte eine feurige Lohe von Schmerzen seinen Körper, das Gefühl innerlich zu verbrennen verstärkte sich… gequälte Laute kamen aus seinem Mund, die der Wald verschluckte … nichts passierte.
    Hoffnungslos fiel sein Kopf zurück auf den Waldboden …. Gepeinigt von Schmerzen stöhnte Ben vor sich hin … „Semir … Semir … wo bleibst du? … ich kann nicht mehr … ich bin am Ende!“ Die letzten Worte sprach er nur noch in Gedanken aus. Wieder versank sein Bewusstsein in der Dunkelheit ….


    *****


    Da war etwas, was Ben erneut in die Realität zurückgeholt hatte. Eine Bewegung … eine Berührung seines Körpers … Auf einmal lag etwas Warmes, Weiches neben seiner rechten Seite. Ben tastete vorsichtig mit seinem Daumen und spürte ein seidiges, weiches Fell. Der Hund war wieder da. Er hatte seinen Kopf auf seinen rechten Arm abgelegt. Die sachten Bewegungen des Verletzten entlockten ihm ein freudiges Winseln. Ben spürte an seinem Bein, wie der Hund freudig mit seiner Rute wedelte. In ihm erwachte abermals der Wille, um sein Leben zu kämpfen und die Hoffnung, dass es der Hund endlich schaffen würde, was ihm nicht gelungen war, die Aufmerksamkeit der anwesenden Menschen für seine hilflose Lage zu gewinnen.
    Angespannt lauschte Ben. Tatsächlich vernahm er wenige Augenblicke später stampfende Schritte, die sich ihm näherten. Das Knacken von morschen Ästen, das Rascheln von Laub, den keuchenden Atem eines Menschen, der den Berg hochgehetzt kam und eine jugendlich klingende Männerstimme redete den Hund an. Die Sprache hatte einen leichten holländischen Akzent und kam Ben merkwürdig vertraut vor. Der andere schnaufte hörbar aus.


    „Hallo Tassilo, was machst du denn nur? Du kannst doch nicht den Tatort meines Chefs verunreinigen. Der ist stink sauer auf dich und dein Herrchen!“


    Ben konnte förmlich spüren, wie der Mann abrupt stehen blieb, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Der andere stöhnte gequält auf und redete mit sich selbst weiter. Das blanke Entsetzen war aus seiner Stimme herauszuhören.


    „Oh mein Gott! … Ben! …. Ben Jäger! … Nein …Nein … Das darf nicht wahr sein. Die haben gesagt, die Leiche hier oben wäre ein Polizist. Aber doch nicht DU!“


    „Das ist deine allerletzte Chance Ben!“, motivierte sich der Verletzte selbst, „Der Kerl kennt dich und war nahe beim Hund.“ An den Bewegungen des Tieres merkte Ben, wie der Mann versuchte den Hund von ihm wegzuzerren. Das Tier weigerte sich und knurrte ihn an.
    Ben konzentrierte sich auf seinen Arm, auf seine rechte Hand und nahm eisern vor, du kraulst dem Hund das Fell. Er hätte vor Freude aufjubeln können, als seine Finger bewegten, sich in das Fell des Hundes krallten. Die Bewegungen waren kräfteraubend für den Verletzten.


    „Ich glaube, ich werde verrückt und sehe schon Halluzinationen! Ben … oh mein Gott Ben!“ keuchte der junge Mann völlig entgeistert. „Das darf ….“ Er stotterte, verschluckte den Rest des Satzes „Du …du …lebst … noch?“


    Er ließ sich neben dem Verletzten auf den Waldboden fallen. Laub raschelte. Ben merkte wie etwas Warmes seinen Hals berührte. Die Absicht des Unbekannten war klar, er wollte seinen Puls ertasten. Es war unheimlich wohltuend eine warme Hand zu spüren … menschliche Wärme zu spüren. Plötzlich wurden die Bewegungen des anderen hektisch, während er etwas in seiner Tasche suchte, schrie er lauthals los.


    „Ich brauche hier die Sanitäter! Schnell, die sollen sich beeilen! Der Mann hier lebt noch!“ Gleichzeitig hatte er sein Handy gezückt und wählte die Nummer des Notrufes. „Mein Name ist Polizeiobermeister Hendrik Mertens von der Spurensicherung Revier Köln Nord. Ich befinde mich in einem abgelegenen Waldstück namens Fuchsbachgrund. … Ja, genau da wo der Polizeieinsatz läuft … ja richtig … wir brauchen hier ganz dringend einen Notarzt und einen Rettungshubschrauber … nein keinen Notarztwagen, der braucht ja eine halbe Ewigkeit, bis er durch das unwegsame Gelände ankommt. Schauen, sie sich das mal auf der Karte an …. Ja gut … Beeilt euch! Es zählt jede Minute!“


    Hendrik nahm die linke Hand des Verletzten und umschlang sie. Mit der anderen Hand tätschelte er sanft dessen Wange.


    „Hey Ben! … Ben … hörst du mich? Ja, ich bin mir sicher, dass du mich verstehst. Wir kennen uns. Hey Kumpel, mache die Augen auf, ich bin es Hendrik Mertens! Wir waren zusammen auf der Polizeischule. Bitte, gib mir ein Lebenszeichen!“, flehte Hendrik Mertens förmlich den Verletzten an. … „Verdammt Kumpel, du machst mir jetzt nicht schlapp oder …“


    „… Schlapp? Redete der Kerl mit ihm? Wer machte hier schlapp?“, fragte sich Ben „Er wartete schon so lange … auf Hilfe … dass jemand zu ihm kam!“ Am liebsten hätte er seinem Retter an den Kopf geknallt, „Ich habe euch doch die ganze Zeit gehört, dass ihr da seid. … Warum dauerte es so lange, bis ihr zu mir gekommen wart?“ ... Doch sein Retter konnte seine lautlosen Vorwürfe und Fragen nicht verstehen. Alles war über die Lippen des Verletzten kam, war ein leises Stöhnen


    Wieder sprach er beruhigend auf den Dunkelhaarigen ein. „Ich sehe da unten schon die Sanitäter kommen. Hörst du? Da kommt Hilfe! Verstehst du mich Ben? Wir bringen dich gleich in ein Krankenhaus!“ Mehr zu sich selbst murmelte er leise weiter: „Oh Gott! … Wer hat dich denn nur so furchtbar zugerichtet.“

  • Zurück am Waldrand


    „Wir brauchen die Sanitäter! Schnell schickt sie rein!“, brüllte jemand aus dem Wald heraus „Er lebt noch!“ Ohne eine Sekunde zu verlieren, rannten die beiden Sanitäter im Vollsprint, bepackt mit ihren Notfallrucksäcken und ihrer Ausrüstung, in den Wald.


    Sofort erkundigte sich der Einsatzleiter über Funk nach dem Grund. „Das eine Opfer lebt noch Chef … der Polizist lebt noch … Mertens hat es gerade festgestellt, als er den Hund einfangen wollte und ihn untersucht hat!“, quäkte es aus dem Lautsprecher des Funkgerätes. Kim Krügers Herz fing an zu rasen, sie hatte das Gefühl alles würde sich drehen. Die Erkenntnis, dass sie recht gehabt hatte, raubte ihr fast den Verstand. Sie sackte in sich zusammen. In letzter Sekunde konnte sie Martin Hillenbrand auffangen, sonst wäre sie ins Gras gestürzt.
    „Geht’s wieder?“, fragte er besorgt nach, als sie am Auto lehnend, um ihre Fassung rang. Ihr Gesicht war leichenblass. Sie nickte zustimmend. Ihr Blick wanderte rüber zum Zeugen, der wie erstarrt da saß. Scheinbar wurde diesem bewusst, was er mit seiner Aussage angerichtet hatte. Sie machte sich los von Martin, der sie weiter festhalten wollte. Er ahnte was sie vorhatte. „Lass mich los Martin! Ich will zu Ben … Jetzt gleich!“, fauchte Kim.
    „Aber Kim! Du kannst doch nicht …!“ Den Rest seiner Worte hörte sie nicht mehr. Sie hetzte hinter den Sanitätern her in das Waldstück. Völlig außer Atem erreichte sie den Tatort auf der Anhöhe. Mertens, der Kollege der Spurensicherung, stand mit Tassilo an Bens Füßen. Die Sanitäter hatten bereits damit begonnen, Ben zu versorgen.


    Da waren auf einmal noch andere Stimmen. Eine sympathische Männerstimme sprach Ben in einem beruhigenden Tonfall an. „Hallo, ich bin Sven Falk. Herr Jäger, mein Kollege und ich sind Rettungssanitäter und wir werden ihnen helfen.“ Mühselig wandte er seinen Blick in Richtung des Sprechers, dessen Hände ihn berührten. Da waren Fragen … ein Licht, das ihn blendete … erklärende Worte … Ben versuchte deren Sinn zu erfassen … eine Schere, mit deren Hilfe die Kleidung aufgeschnitten wurde … Hände, die ihn systematisch von oben nach unten abtasteten. Die vorsichtigen Bewegungen der Helfer lösten ein Erdbeben von Schmerzen in ihm aus. Mehr als einmal stöhnte er qualvoll auf oder schrie vor Schmerzen …


    Kim Krüger blieb wie angewurzelt stehen und schluchzte auf, „Ben… oh mein Gott Ben …!“ der Rest ihrer Worte erstarb bei dem Anblick des dunkelhaarigen Polizisten. Es fröstelte seine Chefin, obwohl es gar nicht kalt war. Das Gesicht des Verletzten war bleich, ausgelaugt. Die kleinen Kratzer und Risswunden, die geblutet hatten, verstärkten noch den Eindruck. Dem Tod näher als dem Leben lag er vor ihr auf dem Waldboden. Über seinem Mund und seiner Nase war eine Maske gestülpt, die ihn mit Sauerstoff versorgte. Der ältere der beiden Sanitäter hatte sein T-Shirt mit einer Schere aufgeschnitten und untersuchten ihn. Qualvoll wimmerte er bei jeder Berührung auf. Es ging ihr durch und durch. Sein T-Shirt hatte sich mit der Schusswunde an der linken Brustseite verklebt. Die offenen Wunden an seiner linken Seite waren blutverkrustet. Sein gesamter Oberkörper war blutverschmiert, übersät mit Blutergüssen und Schwellungen. All diese sichtbaren Verletzungen gaben ihr nur den Bruchteil einer Vorstellung, welches Martyrium der junge Mann in den letzten Tagen und Stunden ertragen hatte.
    Als der glatzköpfige Sanitäter, auf dessen Namensschild Sven Falk stand, ihr auffordernd zunickte, kniete sie sich neben dem Verletzten nieder.
    Vorsichtig ergriff sie seine rechte Hand. „Ben? Ben? Verstehen Sie mich?“


    … diese Frauenstimme … da war noch jemand der ihn kannte … in ihr lag so viel Sorge … so viel Flehen … Ben überlegte … Die Krüger … hier? … Wo war Semir? … Seine Augenlider waren schwer wie Blei und dennoch sie gehorchten ihm. Er schaffte es wieder diese zu öffnen. Angestrengt kniff er seine Augen zusammen, alles war verschwommen. Wie durch einen Schleier blickte er in das entsetzte Gesicht von seiner Chefin … Sein Blick schweifte umher. Semir? … Semir? … Wo war er denn nur? Wortlos formten seine Lippen den Namen seines Freundes, den er so sehr herbeisehnte. Sein Versuch zu sprechen scheiterte kläglich. Nur ein paar armselige Laute kamen aus seiner Kehle, gedämpft durch die Sauerstoffmaske. Sie waren eher ein Ausdruck seiner Schmerzen, als der Hilferuf nach seinem Partner.


    Zu ihrer Überraschung verspürte Kim, wie sich die Finger des Verletzten bewegten, den Kontakt zu ihrer Hand suchten. Sacht streichelte sie erneut über dessen Handrücken. Sie blickte in sein Gesicht und der schmerzerfüllte und gleichzeitig flehende Ausdruck seiner dunklen Augen machte sie fast wahnsinnig. Verzweifelt versuchte er zu sprechen. Wortlos formten seine Lippen einen Namen, deutlich sichtbar unter Sauerstoffmaske: SEMIR.


    „Nicht sprechen Ben! Ich habe Sie schon verstanden. Keine Sorge, ich schicke ihnen Semir, versprochen! Aber halten Sie durch Ben, nicht aufgeben! Bitte!“ Fast flehentlich kamen die Worte aus Ihrem Mund. Ihre Hände fuhren durch sein Haar. Sie spürte die blutverkrusteten Schwellungen, das mit Blut verklebte Haar. Sie konnte es nicht verhindern, ihre Augen füllten sich mit Tränen. Das Grauen, das sie verspürte, ließ sie verstummen.


    „Reden Sie weiter mit ihm Frau Krüger!“, forderte sie der erfahrene Sanitäter auf.


    „Ben … alles wird gut! Hören sie mich? Schauen Sie mich an! Andrea und Aida sind in Sicherheit … Semir ist bei ihnen …. Nein nicht die Augen schließen … Komm bleiben Sie bei uns … Sie haben es doch gleich geschafft! Gleich ist der Arzt da!“ Vorsichtig strich Kim ihm dabei über die Stirn. „Hey lassen Sie die Augen auf … nein nicht sprechen Ben …. Alles wird gut!“


    Das Gewirr an Stimmen um ihn herum nahm zu. So sehr sich Ben auch bemühte, er konnte seine Augen nicht mehr offen halten … es ging einfach nicht mehr. Schwer atmend kam noch eine weitere Person hinzu. Jemand fluchte … Es tat einfach alles nur so furchtbar weh. Ben war an seine absolute Grenze gelangt und konnte diese unbeschreiblichen Schmerzen nicht mehr aushalten. Ohne dass er es merkte, liefen ihn die Tränen aus dem Augenwinkel, an der Wange entlang. … „Lasst mich doch! …Nicht mehr anfassen! … Ihr tut mir so furchtbar weh! … Hört auf, nicht mehr anfassen!“ Verzweifelt wollte er lauthals losschreien. … Doch seine Kehle blieb stumm … mit geschlossenen Augen hörte der Verletzte die angespannten Anweisungen des Sanitäters mit der netten Stimme, deren Sinn er nicht erfasste


    „Komm schon Ben nicht aufgeben, Du hast so lange durchgehalten …“ Es war Kim Krügers beschwörende Stimme, die noch einmal zu ihm durchdrang … Aufgeben? … Er hatte doch nicht aufgegeben … er wartete auf Semir … doch auf einmal war es irgendwie anders … Ben schwebte. Sein Körper fühlte sich schwerelos an und er driftete wieder ab in die Dunkelheit…

  • „Verdammt, wo bleibt denn nur der Notarzt? Die werden doch in der Leitstelle nicht so bescheuert gewesen sein und einen Kollegen mit PKW alarmiert haben!“, fluchte der erfahrene Sanitäter, der Bens Vitalparameter im Focus hatte. Sein Kollege und er suchten dabei krampfhaft nach einer Vene, um beim Verletzten einen Zugang zu legen.
    „Wie ich ihnen schon sagte Herr Falk, ich habe ausdrücklich einen Notarzt, der im Heli kommt, angefordert.“, kam es aus dem Hintergrund von Hendrik Mertens, der den Hund gedankenverloren zwischen den Ohren kraulte.
    Schwer schnaufend, wie ein Blasebalg, hatte auch Dr. Pfeifle den Verletzten erreicht. Nachdem er wieder genug Luft zum Reden hatte, blaffte er seinen Mitarbeiter an: „Mertens, haben Sie nichts Besseres zu tun, als einen Hund zu kraulen? Halten Sie hier nicht Maulaffen feil, sondern helfen Sie ihren Kollegen und schaffen Sie den Köter weg!“


    „Keine Chance auf meiner Seite Sven! Ich finde keine Vene!“, gab der jüngere Sanitäter, Frank Kühn, ein bisschen verzweifelt von sich und blickte seinen Kollegen hilfesuchend an, von dem er wusste, dass er auch als Krankenpfleger auf einer Intensivstation am örtlichen Provinzkrankenhaus arbeitete. Er kannte dessen Schicksal. Vor zwei Jahren hatte Sven Falk seine Arbeitszeit auf eine halbe Stelle reduziert, um seine todkranke Frau zu pflegen. Nachdem diese verstorben war, weigerte sich das Krankenhaus die Stunden wieder aufzustocken. So war er mit einer anderen halben Stelle beim Rettungsdienst gelandet, für die er vorher schon ehrenamtlich über Jahre tätig war.
    Routiniert suchte der erfahrene Mann, auf seiner Körperseite nach einer brauchbaren Vene, was bei dem schockigen Patienten gar nicht so einfach war.


    Im Hintergrund keifte der dicke Forensiker herum: „Unternehmen Sie doch endlich mal was! Wozu sind Sie denn da? Der Mann stirbt ihnen unter den Händen weg! … „Sie sind ja die Unfähigkeit in Person!“ … Diese und weiter Beschimpfungen und Beleidigungen gab Dr. Pfeifle ohne Unterbrechung von sich. „Zu dämlich um eine Infusion zu legen … Wo haben sie denn ihre Ausbildung absolviert? … Sie kriegen eine Menge Ärger, das verspreche ich ihnen! … So was an völlig überforderten Rettungspersonal wie sie, habe ich noch nicht gesehen.“


    Der Glatzkopf reagierte überhaupt nicht auf die Anschuldigungen und die Beschimpfungen des Forensikers. Sein Focus lag ausschließlich auf der Versorgung seines Patienten.
    „Ok, ich probiere es am Unterarm.“, gab Sven Falk von sich und desinfizierte die Hautpartie, unter welcher er hoffte, eine Ader zu finden und stach gefühlvoll zu. … Die Augen seines Kollegen leuchteten auf, als sich das Kunststofffenster am Venenkatheter mit dunkelroter Flüssigkeit füllte. „Du hast echt Zauberhändchen!“, kam es anerkennend von Frank Kühn, der wusste, dass ihm dieses Kunststück nicht gelungen wäre.
    Über den Zugang verabreichte man Ben Medikamente und ließ die Infusion laufen. Anschließend packte Sven Falk mit Hilfe von Frau Krüger den Patienten in Rettungsfolien, um einen weiteren Wärmeverlust zu vermeiden. Dabei brachten sie die Beine in eine leichte Schocklage. Sein Kollege presste mit Druck die Infusion in die Vene und hatte sich einen weiteren Infusionsbeutel unter die Jacke geschoben, um ihn anzuwärmen.
    Erst als sich Sven Falk sicher war, im Moment alles in seiner Macht liegende für seinen Patienten getan zu haben, um ihm am Leben zu halten, erhob sich der ältere Sanitäter vom Waldboden.


    Dr. Pfeifle hatte ihn und seine Kollegen auch weiterhin die ganze Zeit über mit seinen giftigen und beleidigenden Kommentaren beschimpft. Die Adern des Sanitäters waren an den Schläfen vor Zorn geschwollen. Er hatte in seinen Berufsleben auf der Intensivstation und auch beim Rettungsdienst schon einiges erlebt, aber dieser Mensch war die absolute Krönung.


    „Und jetzt zu ihnen Herr Dr. Pfeifle.“ Er machte eine kurze Pause und holte tief Luft bevor er weitersprach. Mit einer gewissen Schärfe im Tonfall betonte er jedes Wort: „Dies ist momentan nicht ihr Tatort sondern ein Einsatzort für Rettungskräfte! ... Sie haben hier gar nichts zu melden! … Außerdem möchte ich bezweifeln, dass es ihnen als ausgebildeten Mediziner gelungen wäre, bei diesem schockigen Patienten einen venösen Zugang zu legen.“ Seine Hände hatten sich unbewusst zu Fäusten geballt, als er zwei Schritte auf den Forensiker zu schritt. „Also, was gibt ihnen das Recht, mich und meinen Kollegen mit ihren Kommentaren zu beleidigen? Sie behindern und stören unsere Arbeit. Um es deutlich zu machen, verschwinden sie von hier!“ Die Stimme des Sanitäters vibrierte vor Zorn. „Und noch was! …“ Sven Falk entwich geräuschvoll die Atemluft: „Beten Sie darum, dass der junge Mann überlebt! Denn hätten Sie uns nicht aufgehalten …!“ Den Rest seiner Worte schluckte er runter. Dr. Pfeifle wusste auf was der Retter anspielte. Mehr als einmal hatte der Sanitäter nach seinem Eintreffen am Tatort darum gebeten, sich das zweite Opfer anschauen zu dürfen. Wie einen Schuljungen hatte ihn der dicke Forensiker von oben herab abgekanzelt und den Weg in den Wald versperren lassen. Er wechselte die Gesichtsfarbe von dunkelrot auf blass und begab sich zurück zu seinen Mitarbeitern am Fuße des Hanges.


    Gleichzeitig mit seinen schrillen Anweisungen ertönten aus weiter Ferne die Fluggeräusche eines sich nähernden Helikopters an. Das Getöse der Rotoren wurde immer lauter und selbst im Wald waren die Verwirbelungen der Luft zu spüren, die der Rettungshubschrauber bei der Landung verursachte. Wenige Minuten nachdem der Lärm der Motoren verstummt war, kamen der Notarzt und ein weitere Sanitäter den Hang hochgestürmt. „Dr. Vogel“, stellte sich der sportliche Mann mittleren Alters für die anwesenden Personen vor, die ihn noch nicht kannten, „Was haben wir hier Sven?“, fragte er den Sanitäter, den er von etlichen Einsätzen und Fortbildungen her kannte.
    Routiniert berichtete der Sanitäter über seinen Patienten. „Schweres stumpfes Bauchtrauma mit Verdacht auf Polytrauma, Rippenserienbruch rechts und vermutlich auch links, Schussverletzungen, Stichverletzung!“ Bei seinen Ausführungen deutete Sven Falk kurz auf die betroffenen Körperstellen und berichtete weiter davon, wie man den Patienten aufgefunden hatte, wie es zu der zeitlichen Verzögerung bei der Behandlung kam, die Ursache der Verletzungen und über dessen Vitalwerte, welche Medikamente und wieviel Volumen verabreicht wurde und alle wichtigen Daten für den Notarzt.


    Frau Krüger wurde vom Sanitäter, der den Notarzt begleitet hatte, zur Seite gedrängt und beobachtete wie gebannt den weiteren Verlauf der Rettungsaktion. Routiniert wurde der Schwerverletzte intubiert und weiter stabilisiert, um ihn für den Transport zum Krankenhaus vorzubereiteten.


    „Hat er Angehörige?“, fragte der Notarzt in Richtung von Frau Krüger „dann verständigen Sie diese. Wir bringen ihn in die Uni-Klinik Köln!“


    „Wie sind denn seine Chancen Dr. Vogel?“, erkundigte Kim sich. Der Arzt runzelte angespannt die Stirn und blickte Kim ernst an „Nicht gut! Er hat schwere innere Verletzungen und verliert viel Blut. Nur eine schnelle Operation kann ihn vielleicht noch retten! Sie entschuldigen bitte, es zählt jede Minute!“

  • Gabriela fuhr auf der holprigen Zufahrtsstraße zum verlassenen Einsiedlerhof. Ein zufriedenes Lächeln umspielte ihre Lippen. Der Einbruch in Düsseldorf vergangene Nacht hatte zur vollsten Zufriedenheit ihres Auftraggebers geklappt. Neben dem Diebstahl der technischen Daten und Unterlagen, der Forschungsergebnisse und der bestellten Computersoftware hatte auch der Überfall auf die Firma für Designer-Schmuck geklappt. Die gestohlenen Edelsteine waren allein ein Riesenvermögen wert.


    Die Übergabe der Ware hatte am vereinbarten Treffpunkt stattgefunden. Wahrscheinlich waren die gestohlenen Daten schon längst unterwegs an die Auftraggeber im Ausland. Der Rest ihres Überfallkommandos war auf dem Rückweg in ihre jeweiligen Heimatorte. Schöne neue Welt der Technik, die es so einfach machte, mit einem Stick oder einer Festplatte gewünschte Informationen und Baupläne zu liefern. Man brauchte nur jemand, der sich damit auskannte.


    Dabei dachte sie an Nicolas Schneider. Fast wurde die dunkelhaarige Frau ein bisschen wehmütig. Sie hatte den Jungen gemocht, ihn ausgebildet, ausgewählt, ja ihn zeitweise sogar zu ihrem Liebhaber gemacht. Aber er war zu einem unkalkulierbaren Risiko geworden. Sie hasste Risiken, die die Polizei auf ihre Spur hätte führen können. In Absprache mit ihrem Auftraggeber wurde er als Bauernopfer und mutmaßlicher Täter der Polizei dargeboten. Gabriela hatte ihn vergangene Nacht mit der Waffe von einem der Sicherheitsbeamten am Tatort erschossen. Sollten sie sich doch an dieser falschen Fährte die Zähne ausbeißen. Innerlich grinste die Diebin und Mörderin über diesen genialen Schachzug. Spätestens morgen oder übermorgen war sie wieder in ihrem Domizil in der Schweiz in Sicherheit zusammen mit ihrem Bruder und ihrem Cousin. Sobald der Erlös aus dem Verkauf der Edelsteine auf ihrem Schweizer Konto gutgeschrieben wurde, konnten sie sich alle drei endgültig irgendwo außerhalb Europas zur Ruhe setzen und ein neues Leben beginnen. Das hier sollte ihr letzter großer Coup gewesen sein.


    Dabei fielen ihr wieder die Geiseln ein und hier insbesondere der verletzte Polizist, der vor einigen Tagen Nico mit auf der Autobahn verfolgt hatte. Ihrer Ansicht nach waren er und sein türkischer Partner mit dafür verantwortlich, dass Nicolas verhaftet wurde und schließlich von ihr beseitigt werden musste. Ihr Auftraggeber hatte es letzten Endes ihr überlassen, was sie mit den Geiseln machte und wie sie diese endgültig aus dem Weg schaffte. Genüsslich leckte sie sich über ihre Lippen. Die Kidnapperin freute sich regelrecht darauf, den dunkelhaarigen Mann zu foltern, um ihn zu Tode zu quälen. Sie lachte bösartig vor sich hin. In ihren Gedanken malte sich die Schurkin schon aus, was sie mit dem Polizisten alles anstellen würde. Und der Türke, der würde seine Frau niemals wieder sehen. Einzig das Kind wollte sie irgendwo an einen Rastplatz in Frankreich frei lassen.


    In diesem Moment bog sie auf die Einfahrt zum Anwesen ein und sah augenblicklich die Holzbretter, die vor dem vernagelten Fenster des Holzschuppens auf dem Boden lagen. Eines der Bretter hing noch lose in seiner Verankerung an der Wand herunter und wackelte im Wind. Die Schuppentüre war verschlossen. Eine düstere Ahnung stieg in ihr hoch. Sie stoppte den Van vor dem Wohnhaus und hupte. Keiner kam zur Begrüßung heraus.


    Ihre Rufe nach ihrem Bruder und Mario verhallten. Keiner antwortete. Sie spürte förmlich, dass hier etwas nicht stimmte. Hatte sie den verletzten Polizisten unterschätzt? Der war doch schon halbtot gewesen! Nein, nein … wie sollte von dem Gefahr drohen? Ungläubig schüttelte sie den Kopf. Gabriela zog ihre Schusswaffe aus dem Holster, entsicherte diese und näherte sich vorsichtig dem Schuppen und öffnete die verschlossene Eingangstür. Es war ruhig, zu ruhig, keine Stimmen waren zu hören. Die Lichtstrahlen fielen ins Innere und warfen bizarre Muster an die Schuppenwand.


    Als Gabriela den Raum betrat, stockte ihr der Atem und ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr. Ihr Bruder lag leblos in einer riesigen Blutlache am Boden. Sie hatte in ihrem Leben schon viele Tote gesehen und wusste sofort, dass auch ihr Bruder nicht mehr unter den Lebenden weilte. Vor Wut und Trauer heulte sie laut auf, brüllte hysterisch vor sich hin … fast schon unmenschliche Laute entrangen sich ihrer Kehle …sie schrie ihr Leid und ihren Kummer heraus. Vor der Leiche ihres Bruders fiel die Dunkelhaarige auf die Knie, drehte ihn um und nahm Luca in den Arm. Sein Gesicht, sein Hals, seine Kleidung … alles war blutverschmiert. Die klaffende Risswunde am Hals, an der etwas die Schlagader zerfetzt hatte, war unübersehbar. Ihr Bruder war einfach verblutet. Zärtlich küsste ihn Gabriela auf die Stirn und wiegte ihn wie ein Baby in ihrem Arm sanft hin und her. Ein Tränenstrom bahnte sich seinen Weg über ihre Wangen.


    Luca war der Letzte, der aus ihrer ehemaligen Großfamilie übrig geblieben war, der das Massaker der Serben auf ihrem Gutshof überlebt hatte. Die längst versunkenen Bilder des Grauens aus ihrer Vergangenheit bahnten sich den Weg zurück in ihr Gedächtnis, die Folterungen, die Schändungen, die Morde, alles was man ihr und ihren Eltern und Großeltern, Schwestern und Brüdern damals angetan hatte. Alles kam in diesem Moment wieder in ihr hoch, schienen von ihrem Verstand Besitz zu ergreifen. Das Gefühl wahnsinnig zu werden, wurde übermächtig. Ihre Atmung rasselte, sie keuchte.


    Nach und nach legte sich der Schock über den Tod ihres Bruders.


    Langsam beruhigte sich Gabriela wieder und ihr messerscharfer Verstand, der sie und ihren Bruder damals vor den Serben gerettet hatte, gewann wieder die Oberhand. Noch etwas bahnte sich seinen Weg in ihr Gehirn: Hass, grenzenloser mörderischer Hass, auf die Personen, die ihren Bruder auf dem Gewissen hatten. Die Frau blickte sich suchend im Schuppen um, versuchte die vorhandenen Spuren zu lesen und zu begreifen, was sich hier ereignet hatte. Die Blutspuren am Boden, entlang der Schuppenwand, die rausgerissenen Bretter und das aufgebrochene Fenster erzählten ihr recht schnell, was hier passiert war. Die Geiseln hatten ihre Kidnapper überwältigt und waren geflohen. Wen hatte sie jetzt unterschätzt? Den verletzten Polizisten … nein ungläubig schüttelte sie den Kopf. Der war fertig gewesen, sie fragte sich, wie er es überhaupt geschafft hatte, den Schuppen zu verlassen. Ein Spruch ihres Ausbilders in einem Militärcamp kam ihr in den Sinn: Unterschätze niemals eine Mutter, die ihr Kind beschützt.

  • Für Gabriela war nur noch eines wichtig. Es galt den Entflohenen wieder habhaft zu werden und dann kam ihre Stunde der Rache. Ihre sonst so eiskalten Augen glühten förmlich vor Rachegelüsten auf. Ihr ursprünglicher Plan, das Kind laufen zu lassen, war längst passe. Jeder, den die Dunkelhaarige für den Tod ihres Bruders verantwortlich machte, würde ihren grenzenlosen Hass zu spüren bekommen.


    Sie verließ den Schuppen. Vor dem Eingangstor entdeckte die Dunkelhaarige auf dem sandigen Boden der Lichtung die Abdrücke des Brettes, auf das sich Ben gestützt hatte. ‚Ich glaube es nicht, der konnte tatsächlich noch laufen‘ schoss es ihr durch den Kopf. Sie schlich um den Schuppen herum. Blutige Handabdrücke zeichneten sich außen auf den Holzbrettern der Schuppenwand und dem zerstörten Fensterrahmen ab. Vor dem Fenster schimmerten ebenfalls Blutstropfen an den Grashalmen und auf dem Waldboden. Ihnen folgte Gabriela und stellte fest, dass die Spur in Richtung Wald führte. Und noch was erkannte sie. Es war scheinbar Mario gewesen, der sich hatte befreien können und bereits die Verfolgung der Flüchtigen aufgenommen.


    Immer wieder auf die Geräusche ihrer Umgebung achtend, drang die Entführerin in den Wald ein. Die Blutstropfen auf dem Waldboden, die schlurfende Spur des humpelnden Polizisten, blutige Handabdrücke an den Baumstämmen, all das legte eine deutliche Fährte für sie, der sie mühelos folgen konnte. Aus weiter Ferne hörte die dunkelhaarige Frau den Lärm eines sich nähernden Helikopters. Wenn sie die Fluggeräusche richtig deutete, war er gelandet und kurze Zeit später wieder gestartet. Ihr Blick schweifte gen Himmel aber sie konnte nichts entdecken. Gabriela vermochte nicht zu sagen, wie weit sie schon in den Wald eingedrungen war, gefühlt vielleicht zwei oder drei Kilometer, als sie ein Stimmengewirr hörte. Die Entführerin von Ben, Andrea und Aida war am Rand eines steilen Abhanges angelangt. Innerlich freute sie sich schon, dass Mario es wohl geschafft hatte, die Geflohenen zu stellen und zu überwältigen, als sie stutzte.


    Nein, nein ging denn heute alles schief. Einen riesigen Baumstamm als Deckung benutzend, ließ die Gangsterin sich auf den Waldboden nieder. Geschützt durch das Unterholz, robbte sie langsam vorwärts bis sie die Kante des Hanges erreicht und versuchte Einzelheiten zu erkennen. Sowohl ganz unten am Abhang als auch im oberen Bereich herrschte hektische Betriebsamkeit, bewegten sich mehrere Personen, von denen sie einige eindeutig als Polizisten und Rettungssanitäter identifizieren konnte. Um wen kümmerten sich die Sanitäter da unten nur wenige Meter von ihr entfernt? Gabriela konnte nur die Beine des Verletzten erkennen, eine Jeanshose und dunkle Stiefel. Der Polizist? War er tatsächlich noch so weit gelaufen? Unglaublich, schoss es ihr durch den Kopf. Doch was war mit Mario geschehen? So sehr sich die Entführerin auch bemühte, ihren Cousin konnte sie nirgends unter den Menschen erblicken. Verdammt, fluchte sie vor sich hin, als eine schlanke Frau, die beim Verletzten stand, prüfend in ihre Richtung schaute. Sie duckte sich tief nach unten und ihre Angst entdeckt zu werden, gewann die Oberhand. Sie gewann die Einsicht, hier konnte sie nichts mehr ausrichten. Zunächst galt es ihre Spuren sorgsam zu verwischen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis die Polizisten mit Suchhunden die Fährte zum Einödhof fanden. Auf dem Weg zurück zum verfallenen Bauernhof erklangen erneut die Geräusche eines sich nähernden Helikopters auf, der das Waldstück überflog. Hatten die Polizei sie doch entdeckt? Wurde sie schon gesucht? Eigentlich hasste sie Feuer, doch dies war ihre einzige Möglichkeit um in kürzester Zeit alle Hinweise zu vernichten. Zurück auf dem Hof schleppte sie die Leiche ihres Bruders zu ihrem Van. Sie hatte ihn vorher in die alte Decke eingewickelt. Mit ihrem Reservekanister kehrte sie in den Schuppen zurück und goss das Benzin aus und zündete es an. Das gleiche machte sie im Wohnhaus. Beide Gebäude brannten in kürzester Zeit lichterloh.


    Ihre Gedanken drehten sich im Kreis. Was war geschehen? Mario verhaftet? Der würde dicht halten, da war sie sich sicher. Mario hatte genaue Instruktionen, an welchen Anwalt er sich zu wenden hatte. Dr. Hinrichsen würde sich um alles Weitere kümmern. Eine Frage beschäftigte sie, während ihr Wagen langsam den Waldweg entlang rumpelte. Hatten die Flüchtigen unerwartet Hilfe bekommen? Egal … über ihre Kontakte zur Justiz, würde sie schon alle notwendigen Informationen bekommen. Zuerst würde sie sich erst mal um die Bestattung ihres Bruders kümmern, bevor ihre Stunde der Rache kam. Ja sie hatte Zeit, Geduld, die nötigen finanziellen Mittel und einen unermesslichen Rachedurst.


    *****


    Kim Krüger stand regungslos oberhalb des Wanderweges im Wald. Währenddessen wurde der verletzte Polizist ganz behutsam von den Sanitätern und dem Notarzt den steilen Abhang hinuntergetragen. Als die Retter am Wanderweg angelangt waren, wurde die Trage auf dem Boden gelegt. Unter dem Notarzt und den Sanitätern brach hektische Betriebsamkeit aus.
    Wie gelähmt und voller Entsetzen beobachtete Kim die Rettungskräfte bei ihren Bemühungen Ben am Leben zu erhalten. Leise murmelte sie vor sich hin „Ben … halte durch! Nicht aufgeben!“ Als der Zustand des Schwerverletzten stabilisiert war, wurde er zum wartenden Helikopter gebracht. Wenige Minuten später startete der Rettungshubschrauber mit dem schwerstverletzten Kommissar an Bord in Richtung Uni Klinik Köln.


    Selbst als der Rettungstrupp den Wald verlassen hatte, war Kim Krüger unfähig sich zu bewegen. Als die Fluggeräusche des abfliegenden Hubschraubers verklangen, betrachtete Kim immer noch fassungslos aus ihrer Perspektive das Schlachtfeld, das die Rettungskräfte am Fundort mitten im Wald und am Wanderweg hinterlassen hatten. Eine Unmenge an Verpackungsmaterial, Bens blutverschmiertes Shirt und seine Jacke lagen einfach vor ihr auf dem Waldboden. Die Worte des Notarztes hallten in ihrem Kopf nach wie ein Echo ‚…jede Minute zählt …‘. Alleine schon die Vorstellung, wie lange man den schwerstverletzten Ben unbehandelt hatte liegen lassen, die Rettungskräfte an ihrer Arbeit gehindert hatte und dies vielleicht die entscheidenden Minuten gewesen waren, um sein Leben zu retten, trieben sie fast in den Wahnsinn. Ihre Wut und Empörung galten nur einer Person, die sie letztendlich dafür verantwortlich machte: Dr. Pfeifle.


    Dieser tobte am Fuße des Abhanges herum, beschimpfte seine Mitarbeiter und gestikulierte wild umher. Langsam bewegte sich Kim in Richtung des Wanderweges, wo sie bereits von Martin erwartet wurden. Dieser machte sich nun ernsthaft Sorgen um seine Freundin, die wie eine wandelnde Leiche aussah. Das Drama, was sich in den letzten Minuten dort oben am Hang und direkt neben ihm auf dem Waldweg abgespielt hatte, schienen ihrer Gemütsverfassung den letzten Rest gegeben zu haben.

  • „Hey Kim! Du wirst sehen, alles wird wieder gut. Dein Kollege lebt noch. Ich fahre dich nachher gleich zur Uni-Klinik.“ Mit seinen Worten versuchte er sie aufzumuntern und gleichzeitig zu beruhigen, während er sie an den Armen festhielt, blickte er ihr in die Augen. Sie schäumte vor Wut und Verzweiflung. Ihm war klar, wer ihr Ziel war, als sie sich von ihm wortlos löste. Er versuchte sie noch zurückzuhalten, aber sie riss sich förmlich los und fauchte ihn an: „Lass mich!“


    Der Chef der Spurensicherung sah das Unheil schon auf sich zukommen und war bereits nach draußen an den Waldrand in Richtung seines grauen VW—Kastenwagen geeilt. Aber das bewahrte ihn nicht vor Kim Krügers Wutanfall, der dem explosionsartigen Ausbruch eines Vulkans glich. Sie nahm gar nicht wahr, dass ihr Martin Hillenbrand gefolgt war. Mit verschränkten Armen, den Unterkiefer wütend nach vorne geschoben, baute sie sich vor Dr. Pfeifle auf und drängte ihn rückwärts, bis er gegen die Hecktür des grauen Transporters stieß. Da der Forensiker einen halben Kopf kleiner war als sie, musste er zu ihr aufschauen.


    Bevor er auch nur den Hauch einer Chance hatte, das Wort zu ergreifen, brachen aus Kim Krüger all ihre aufgestauten Emotionen heraus. Sie konnte einfach nicht mehr. Das Bedürfnis, ihre wilde Verzweiflung über das, was in den letzten Stunden über sie und ihre Mitarbeiter hereingebrochen war, herauszuschreien, übernahm die Kontrolle.
    „Sie schulden mir eine Erklärung Herr Dr. Pfeifle! Wie konnte das passieren? … Wie konnte einem so erfahrenen Mann, wie Ihnen so etwas passieren?“ Beim letzten Satz troff ihre Stimme vor Ironie, dem ein Moment des Schweigens folgte. Dabei stützte sie sich mit einer Handfläche gegen das kalte Metall und bohrte ihren Zeigefinger der anderen Hand in seinen vorstehenden Bauch. Gefährlich wie eine Schlange zischelte sie ihn an: „Wie konnten Sie das Herrn Jäger nur antun? … Wie konnten Sie uns das nur antun? Wissen sie überhaupt, was sie angerichtet haben?“ In diesem Moment dachte sie an Semir, vor allem an den türkischen Kommissar und dessen Familie, den Zusammenbruch von Andrea Gerkhan und das verzweifelte Mädchen, das sich an seinen Vater geklammert hatte. „Wie kann man einen Schwerstverletzten einfach da oben hilflos im Wald liegen lassen? … Wie konntet Sie nur?“ … Ihr Blick schweifte anklagend in die Runde, blieb auf jeder einzelnen Person haften, die sich in ihrem Blickfeld befand „Wie konntet ihr alle nur?“, und wanderte wieder zurück zu dem Forensiker. „Erklären Sie es mir?“, fragte sie mit einer unnatürlich ruhigen Stimmlage.


    Wie Peitschenhiebe trafen die Vorwürfe den Rechtsmediziner. Er suchte nach einer Rechtfertigung. Es gab keine! Er fühlte sich in die Enge getrieben und fand keinen Ausweg. Seine Blicke wanderte nach Hilfe suchend zu seinen Mitarbeitern, die betreten zur Seite oder auf den Boden blickten. In einigen Gesichtern, wie dem von Hendrik Mertens, las er die gleichen Vorwürfe … die gleiche Anklage. Denn es ging um ein Menschenleben und letztendlich war er mit seinen Anweisungen verantwortlich dafür gewesen, dass dem Schwerverletzten keine Hilfe gewährt wurde.
    Wie Nadelstiche bohrten sich die Blicke von Kim Krüger in sein Gesicht. Das Schweigen des Mannes verschlimmerte es noch, stachelte ihre Wut und ihren Zorn noch mehr an. Völlig verbittert fuhr sie ihn an „Warum? …“ Er schwieg beharrlich und schaute an ihr vorbei betreten auf den Boden.
    Sie packte ihn an den Jackenaufschlägen und zog ihn zu sich heran. Nur noch ein letzter Funke von Selbstbeherrschung hielt sie davon ab, dem Mann ihre Faust ins Gesicht zu setzen. Sie schüttelte den Mann, sein Kopf knallte gegen die Hecktür des Transporters. Unabsichtlich würgte sie ihn halb, so hatten sich ihre Hände in seinen Jackenaufschlägen gekrallt. Er röchelte nach Luft und lief rot an.
    „Beantworten Sie mir doch endlich meine Frage! Warum? … Warum haben Sie sich auf die Aussage eines Zeugen verlassen und nicht einen … ich spreche hier von … EINEM … ihrer Mitarbeiter, zu Ben geschickt, damit dieser sich tatsächlich davon überzeugt, dass dieser Zeuge die Wahrheit gesagt hat. Warum … ?“ Die letzten Worte schrie sie lauthals heraus, so dass auch noch der letzte der umstehenden Polizisten der Auseinandersetzung folgen konnte.
    Plötzlich, von einer Sekunde zur anderen veränderte sich ihr Tonfall wieder. Sie wurde leise und vibrierte vor Erregung. Kim hielt Dr. Pfeifle weiter mit einem eisernen Griff fest, der vergeblich versuchte sich raus zu winden. Wie eine wild gewordene Katze fauchte sie den Chef der Spurensicherung an. „Ich schwöre es ihnen, bei allem was mir heilig ist, wenn Ben das nicht überlebt, mache ich sie fertig! … Richtig fertig!“
    Beim letzten Satz ließ sie ihn los und stieß ihn leicht von sich, dass er wieder gegen die Hecktür knallte. Sie wandte sich von ihm ab und ließ ihren Blick suchend durch die Gegend schweifen. Mit ein paar schnellen Schritten eilte ihr Martin hinterher und hielt sie gewaltsam an ihrem Oberarm fest. Er ahnte, wen sie suchte, den Zeugen. Diesen hatte Martin allerdings schon vorsorglich samt Hund gleich nach Abflug des Rettungshelikopters von einer Streifenwagenbesatzung nach Hause bringen lassen.


    Mit einem eisernen Griff umklammerte er ihre Oberarme. „Kim! … Kim! So beruhige dich doch! Es reicht! …. Hör auf! Das ändert doch nichts mehr!“
    Sie schüttelte energisch den Kopf. „Du verstehst das nicht oder? Du hast noch nie einen Partner oder einen Mitarbeiter verloren oder?“ Verbittert kniff sie die Lippen zusammen. In diesem Moment dachte sie an ihren verstorbenen Partner, der der Vater ihres gemeinsamen Kindes gewesen wäre. Damals wurde dieser bei einem Einsatz tödlich getroffen und hatte in ihren Armen sein Leben ausgehaucht. Ihm hatte keiner mehr helfen können, aber bei Ben war das anders. „Die hätten Ben da oben einfach sterben lassen … Verstehst du nicht Martin? Die haben ihn hilflos liegen lassen …!“ Ihre Augen wurden feucht. Ihr Blick ging nach unten und fiel auf ihre Hände, auf ihre Kleidung, an denen noch Restes des Blutes von Ben klebte. Die Achterbahnfahrt ihrer Gefühle nahm endgültig ihren freien Lauf. Kim merkte wie Übelkeit in ihr aufstieg, der Inhalt ihres Magens stieg hoch, der bittere Geschmack von Galle verbreitete sich in ihrem Mund und schwallartig übergab sie sich. Vor ihren Augen tanzte ein Funkenregen. Plötzlich fing sich alles an zu drehen und um sie herum wurde es dunkel. Sie brach in sich zusammen.


    Martin Hillenbrand, der das Unglück voraussah, fing sie auf, nahm sie schützend auf die Arme und lief in Richtung zum Rettungswagen. Die Sanitäter, Sven Falk und sein jüngerer Kollege, hatten sich dort zwischenzeitlich nach der Versorgung von Ben wieder eingefunden, kamen ihm entgegen gerannt und kümmerten sich augenblicklich um Kim. Martin beobachtete sorgenvoll, wie die Sanitäter die Ohnmächtige auf der Trage im RTW versorgten. Sven Falk beantwortete seinen fragenden Blick „Kreislaufkollaps! Ich denke es ist das Beste, wir bringen sie erst mal in die nächstgelegene Klinik, das Heilig-Geist-Krankenhaus.“


    Voller Entsetzen bewegte er den Kopf hin und her. Ihm fehlten die Worte. Tonlos murmelte er in Richtung der Sanitäter „Ok, dann schaue ich später nach ihr. Danke!“, verabschiedete er sich. Nach einigen Minuten setzte der Rettungswagen sich auf dem Feldweg schaukelnd in Bewegung. Nachdenklich blickte Martin den flackernden, blauen Lichtern hinterher. Ihm wurde dabei das gesamte Ausmaß des Dramas, das sich im Waldstück abgespielt hatte, bewusst.

  • Notaufnahme des Heilig-Geist-Krankenhaus … Stunden später


    „Frau Krüger, so nehmen Sie doch endlich Vernunft an! Sie können das Krankenhaus in ihrer Verfassung nicht verlassen. Sie sollten auf jeden Fall eine Nacht zur Beobachtung hierbleiben!“, appellierte der behandelnde Arzt erneut. Vergebens versuchte er seit einer halben Stunde Kim Krüger davon zu überzeugen, dass sie nicht auf eigene Verantwortung nach ihrem Kreislaufzusammenbruch das Krankenhaus verlassen sollte.


    „Mir geht es wieder gut!“, behauptete die Polizistin stur. Das ihr noch schwindlig wurde, wenn sie sich aufrichtete, verschwieg sie mal lieber ihrem Arzt, Dr. Weber. Kim saß auf der Behandlungsliege und ihre Blicke schweiften suchend umher. „Ich muss mich um meine Leute kümmern. Aber das verstehen Sie ja sowieso nicht. Wo ist meine Tasche? Mein Handy?“


    Eine ältere Krankenschwester, die dem Arzt assistiert hatte, reichte Frau Krüger ihre schwarze Lederhandtasche. Der Arzt saß währenddessen an einer Art Schreibtisch und füllte unzählige Formulare aus bevor er mit sichtlichem Unwillen brummte: „Na gut! Sie sind erwachsen und volljährig. Ich kann Sie nicht dazu zwingen hierzu bleiben. Aber sie sollten heute Nacht nicht alleine bleiben, falls noch mal was ist. Und ja, auf Grund der Medikamente, die wir ihnen verabreicht haben, dürfen sie die kommenden acht Stunden auch kein Auto fahren.“ Er deutete auf verschiedene Blätter und hielt ihr auffordernd einen Kugelschreiber hin. „Hier … und hier … müssen sie noch unterschreiben, dass Sie auf eigenen Wunsch und entgegen meines ärztlichen Rates gehen wollen.“
    Sichtlich sauer und recht kurz angebunden, verabschiedete sich der Arzt von ihr.


    Nachdem sie die Formalitäten erledigt hatte, zückte die Chefin der PAST ihr Handy aus der Tasche. Kim versuchte Semir Gerkhan auf seinem Handy zu erreichen. Doch statt des kleinen Türken meldete sich dessen Mailbox. Sie überlegte kurz, ja wen sollte sie jetzt anrufen? Es gab momentan nur eine Person, die sie um sich haben wollte, die wahrscheinlich genauso empfand wie sie: Susanne König, die Sekretärin der Dienststelle. Ohne weiter nachzudenken wählte sie die Handynummer der Sekretärin. Nach ein paar Mal läuten ging Susanne ran.
    „König!“ Es herrschte erst mal Schweigen. „Frau Krüger? Sind Sie dran? … Was ist?“, fragte sie besorgt nach. Sie hörte ihre Chefin am anderen Ende der Leitung gequält aufseufzen. „Susanne … wo sind sie momentan? Bei Herrn Gerkhan? Kann ich ihn sprechen?“ Die Sekretärin konnte förmlich spüren, dass ihre Chefin etwas bedrückte.


    „Nein! Der Arzt hat mich mehr oder weniger vor zwei Stunden aus dem Marienhospital raus geschmissen. Ich gehe hier am Rheinufer gerade spazieren, weil ich es nicht ertrage, alleine in meiner Wohnung zu sitzen“, nuschelte die Blonde leise, während sie eines der Ausflugsboote auf den Rhein beobachtete, das in Richtung Düsseldorf tuckerte.
    „Susanne … Susanne …!“ Frau Krüger schluchzte am Telefon auf „Ben …! … Ben!“
    „Was ist mit Ben? …“ In diesem Moment schossen auch der Sekretärin die Tränen in die Augen. Ihre Stimme klang belegt: „Frau Krüger? … Was ist mit Ben?“ Sie flüsterte die Worte kaum hörbar ins Handy.
    „Er lebt noch, Susanne! … Ben lebt noch!“
    Ein spitzer Aufschrei und ein Aufschluchzen waren die Antwort und dann herrschte Schweigen.
    „Susanne, ich bin im Heilig-Geist-Krankenhaus. Können Sie mich abholen kommen?“, bat Kim.
    „Ich bin so schnell wie möglich bei ihnen Frau Krüger!“
    Innerlich total aufgewühlt fuhr Susanne die Wegstrecke vom Rheinufer zum Krankenhaus. Später vermochte sie nicht einmal zu sagen, wie dies geschafft hatte ohne einen Unfall zu bauen, ihr Ziel erreichte. An der Eingangstür erwartete die Chefin der PAST bereits ihre Sekretärin. Kim Krüger saß auf einer Bank, die tagsüber von den Rauchern genutzt wurde. Susanne parkte ihren roten Mini einfach im eingeschränkten Halteverbot vor der Bank, stieg aus und eilte auf Kim zu. Ohne eine weitere Begrüßung lagen sich die beiden Frauen augenblicklich weinend in den Armen.
    „ Und Ben lebt? … Oh mein Gott! … Ist das wahr? … Ist das wirklich wahr?“, schluchzte Susanne auf. Kim löste sich aus der Umarmung und blickte ihre Kollegin an. „Ja Susanne! Es ist wirklich wahr! … Man hat ihn mit einem Rettungshubschrauber in die Uni-Klinik geflogen. Ich habe keine Ahnung, wie es momentan um ihn steht. Der Notarzt meinte, sein Zustand sei äußerst kritisch!“
    Es herrschte ein Augenblick des Schweigens zwischen den beiden Frauen, bevor Kim fortfuhr: „Eine Bitte habe ich an dich. Ab sofort nicht mehr Frau Krüger … sondern Kim ja, einfach nur Kim!“
    Die letzten Stunden hatten ihr gezeigt, sie waren eine große Familie auf der PAST und gerade mit ihren engsten Mitarbeitern verband sie eine sehr emotionale Bindung. Susanne war ihr mittlerweile schon fast eine Freundin geworden.
    „Kim, ich versteh es nicht! Wie konnte es zu dieser Falschmeldung kommen?“, beklagte Susanne sich bitterlich. Dabei dachte sie an ihre Freundin Andrea und vor allem an Semir und die kleine Aida. Ein Kälteschauer nach dem anderen durchfuhr ihren Körper, wenn sie sich an diese dramatischen Momente auf der Dienststelle erinnerte, die eine Fortsetzung in der Klinik fanden. Sie holte sich ein Taschentuch aus ihrer Umhängetasche und reichte ein weiteres an Kim weiter. Die beiden Frauen setzten sich auf die Parkbank und Kim fing an zu erzählen. Teilweise konnte sie einen ironischen Unterton und ein Aufschluchzen nicht unterdrücken.


    „Du wirst es nicht glauben. Es lag alles an der Aussage dieses Augenzeugen, eines Herrn Herrmann Wedekind. … Wie sinnig, Verwaltungsbeamter im Ruhestand, ja so hat er sich vorgestellt!“ Kim räusperte sich. „Der sah wohl seine große Stunde gekommen, um einmal im Mittelpunkt des Geschehens zu stehen. Der Kerl hat damit angegeben, ein ausgebildeter Ersthelfer mit Erfahrung zu sein. … Er hatte behauptet, dass Bens Leiche schon erkaltet sein würde!“ Kim warf dabei ihren Kopf ungläubig hin und her. „Dabei hat der Idiot irgendwann mal vor 20 Jahren bei der freiwilligen Feuerwehr seines Dorfes einen echten Hilfseinsatz gehabt.“ Sie schluchzte gequält auf, „und ja … die Kollegen der Spurensicherung, die zuerst am Tatort waren, hatten ihm geglaubt und die anwesenden Sanitäter nicht zu Ben gelassen! … Die haben es nicht mal für nötig befunden, sich selbst davon zu überzeugen, ob Ben wirklich tot ist.“ Kim schüttelte es bei der Vorstellung, was sich da am Nachmittag zugetragen hatte. „Stattdessen haben diese Idioten Ben einfach schwer verletzt alleine liegen gelassen, verstehst du Susanne! … keiner hat sich um ihn gekümmert! … denen waren ihre verdammten Spuren wichtiger …!“ Sie brach ab. Es war aus und vorbei. Erneut bahnte sich ein Strom von Tränen über das Gesicht von Frau Krüger, ihre Selbstbeherrschung war dahin und die Emotionen suchten ein Ventil. Susanne nahm sie in den Arm und auch ihre Augen wurden feucht. Als sich die beiden Frauen wieder einigermaßen beruhigt hatten, berichtete Kim Krüger wie es schließlich doch noch zur Rettung von Ben gekommen war. Zusammen schritten sie weiter zu Susannes rotem Mini und machten sich auf dem Weg zum Marienhospital.
    Die Sekretärin hatte Kim schon erklärt, wie aussichtslos es sein würde, an Semir ran zu kommen aber diese wollte nichts unversucht lassen. Sie dachte an ihr Versprechen gegenüber Ben, Semir zu ihm zu schicken.

  • Im Marienhospital …


    Auf dem Flur zum Krankenzimmer der Familie Gerkhan begegnete den beiden Frauen Krankenschwester Rosi Stürmer, die soeben ihren Spätdienst aus privaten Gründen eine Stunde früher als üblich beendet hatte. Sie hatte als erste ihre Übergabe an die Nachtschwester gemacht und war auf dem Weg nach Hause. Rosi Stürmer erkannte Susanne sofort wieder und blaffte sie an: „Was machen Sie schon wieder hier? Die Aussage des Arztes vor zwei Stunden war doch unmissverständlich. Familie Gerkhan braucht ihre Ruhe!“ Mit verschränkten Armen versperrte die Krankenschwester mit den kohlrabenschwarz gefärbten Haaren, die so gar nicht zu ihrem Alter jenseits der fünfzig passen wollten, Kim Krüger und Susanne den Weg zum Krankenzimmer. Ihr etwas aus den Fugen geratener Körper tat sein Übriges, um als unüberwindbares Hindernis zu wirken. Susanne, die schon am Abend mit der resoluten Dame Bekanntschaft gemacht hatte, hielt sich ein wenig im Hintergrund.



    Zwischen ihrer Chefin und der Krankenschwester entbrannte eine hitzige Diskussion. Der herbeigerufene Arzt, der Bereitschaftsdienst hatte, beendete das emotionsgeladene Streitgespräch der beiden Damen. Er schickte seine streitbare Krankenschwester nach Hause und nahm Kim und Susanne mit ins Stationszimmer. Dort erklärte er seinen Standpunkt aus medizinischer Sicht. Man hatte nicht nur Andrea und ihrer Tochter, sondern auch Semir nach den traumatischen Erlebnissen der letzten Tage und vor allem des Mittags ein starkes Beruhigungsmittel und ein Medikament zum Schlafen verabreicht. Zusammen mit dem Arzt ging Kim Krüger zum gemeinsamen Zimmer der Familie Gerkhan. Leise öffnete er die Tür und lies die Polizistin einen Blick ins Innere werfen. Man hatte zwei Betten zusammengeschoben. Frisch geduscht und eng aneinander geschlungen, lagen die Drei da und schliefen. Der Arzt sah es aus medizinischer Sicht als äußerst kritisch an, wenn man jetzt den Türken wecken würde.



    So schnell gab aber Kim Krüger nicht auf. Sie hatte ganz deutlich im Wald gespürt, wie wichtig die Anwesenheit von Semir für den Überlebenskampf von Ben Jäger war. Alle ihre Argumente halfen nichts. Der diensthabende Arzt änderte seine Meinung nicht. Hier ging es um das Wohl und die Gesundheit seines Patienten. Nachdem die diensthabende Nachtschwester so nach und nach das Ausmaß der Tragödie erfasste, gab sie Kim und Susanne ein Versprechen. Sobald Semir erwachen würde, würde sie ihm die Nachricht überbringen, dass der Türke seine Chefin anzurufen soll. Unverrichteter Dinge machten sich Kim und Susanne auf den Weg zur Uni-Klinik.


    Die Abenddämmerung verabschiedete sich langsam und die Nacht brach herein.



    Uni-Klinik Köln

    Dank der vorgerückten Abendstunde fanden sie in unmittelbarer Nähe der Notaufnahme einen Parkplatz. Die zentrale Patientenanmeldung und die Pforte waren seit zwanzig Uhr nicht mehr besetzt. Also blieb nur noch die Notaufnahme. Die Schwester, die dort an der Anmeldung saß, weigerte sich strikt eine Auskunft über den Zustand des jungen Polizisten zu erteilen. Ein junger Arzt der Notaufnahme, der mit einigen Patientenakten in der Hand gerade vorbeikam, war auf den emotionsgeladenen Dialog aufmerksam geworden und kam auf die beiden Frauen zu. Es war offensichtlich, dass sich hier jemand wirklich Sorgen machte und den Schwerverletzten zu kennen schien.

    „Entschuldigung, ich habe gerade eben ihr Gespräch an der Anmeldung mitbekommen. Ich bin Dr. Reichelt und war dabei als der verletzte Polizist erstversorgt wurde. Er ist momentan meines Wissens noch im OP. Wissen Sie, ob er Angehörige hat und diese auf dem Weg hierher sind?“

    Kim seufzte erleichtert auf und zückte ihren Dienstausweis aus ihrer Tasche. „Mein Name ist Kim Krüger. Der schwerverletzte Polizist ist einer meiner Mitarbeiter. Seinen Vater habe ich verständigt. Er ist auf dem Weg hierher. Bitte können sie uns nicht sagen wie es ihm geht?“

    Der junge Mann sah die Verzweiflung in den Augen der Polizistin. „Tut mir leid. Zum Zustand des Patienten kann ich ihnen keine Auskunft erteilen. Kommen sie mit, ich zeige ihnen den Weg zum Warteraum des OP Bereiches, ich muss sowieso in diese Richtung.“
    Schweigend folgten die beiden Frauen dem jungen Arzt durch die Krankenhausflure und das Treppenhaus, die zu dieser Abendstunde fast wie ausgestorben wirkten. Das Wartezimmer war ebenfalls menschenleer. Die unbequemen weißen Plastikstühle luden nicht gerade zum hin setzen ein. In der Mitte des Raumes stand ein ovaler Glastisch, auf dem ein paar zerflatterte Zeitschriften rumlagen. Der Arzt ließ die beiden alleine. Susanne hatte sich vorher noch erkundigt, wo man zu so später Stunde noch einen Kaffee bekommen könnte und machte sich auf den Weg, um den Kaffeeautomaten zu suchen. Kim wollte sich nicht hinsetzen. Langsam verklangen die Schritte ihrer Kollegin auf dem Flur. Eine merkwürdige Stille kehrte ein. Gedankenverloren blickte sie durch das Fenster des Warteraums auf die Lichter der Großstadt.


    „Hey Kim, nicht erschrecken! Ich bin es Susanne. Hier, ein Becher Kaffee für dich!“ auffordernd hielt sie ihr einen Plastikbecher, der mit dem schwarzen Getränk gefüllt war, hin. Dankbar nahm Kim das Angebot an. Die Polizistinnen wollten sich nicht auf die unbequemen Stühle setzen. Die Chefin der PAST lehnte sich an die Wand und rutschte mit ihrem Rücken an dieser herunter bis sie auf dem Boden saß. Susanne machte es sich neben ihr auf dem Fußboden ebenfalls bequem. In kleinen Schlucken tranken sie ihren Kaffee und hingen wortlos ihren Gedanken nach. Irgendwann forderte der Körper von Kim Krüger seinen Tribut. Dies war bereits die dritte Nacht hintereinander, die sie mehr oder weniger wach verbrachte und die Medikamente, die man ihr am Nachmittag verabreicht hatten, taten das Übrige. Ohne dass es ihr bewusst wurde, versank sie in einen unruhigen Schlaf. Auch Susanne wurde von ihrer Müdigkeit übermannt und schlief ein.

  • Jemand berührte Kim an der Schulter. Sie schreckte hoch und blinzelte in das besorgte Gesicht von Konrad Jäger. Susanne, die sich bei ihr angelehnt hatte, wurde durch die Bewegung ebenfalls geweckt.
    „Guten Abend Frau Krüger! Wie geht es meinem Sohn?“
    Er reichte ihr seine Hand und half sowohl Kim als auch Susanne beim Aufstehen. Ihr Blick ging Richtung der Uhr. Es war zwischenzeitlich 22.30 Uhr nachts geworden. Im OP-Saal gegenüber brannte immer noch Licht.
    „Guten Abend Herr Jäger, um ehrlich zu sein, ich weiß es nicht. Als wir hier gegen 21.00 h ankamen, wurde er bereits operiert! Seitdem sitzen wir hier und warten!“


    Konrad Jäger musterte die Chefin seines Sohnes und die blonde Frau neben ihr eingehend. Ihm entging nicht, wie übernächtigt die beiden Frauen aussahen. Die Strapazen der letzten Tage hatten deutliche Spuren hinterlassen. Frau Krüger schien um Jahre gealtert seit ihrer letzten Begegnung, die erst einige Monate zurück lag. So langsam schwante ihm, dass hier mehr passiert sein musste, als ihm seine Sekretärin am Telefon erzählt hatte.


    Suchend schaute er sich um Raum und im angrenzenden Flur um. „Wo ist denn Herr Gerkhan? Warum ist er nicht hier?“, erkundigte er sich verwundert darüber, den Partner seines Sohnes hier nicht anzutreffen. Sein fragender Blick ruhte auf Kim Krüger. Diese seufzte tief auf und erzählte dem Vater von Ben Jäger in kurzen Stichpunkten, was sich die letzten Tage zugetragen hatte. Dieser wurde immer blasser um die Nase und stöhnte mehrmals unwillkürlich auf. Als er hörte, was sich allein am heutigen Donnerstag ereignet hatte, fasste er sich an die Brust und rang sichtlich nach Atem. Als Kim mit ihrem Bericht geendet hatte, ließen sie sich alle drei auf den Plastikstühlen nieder. Sie saßen einfach nur schweigend da und beobachten wie hypnotisiert die Eingangstür zum OP, als könnte diese, ihre Fragen beantworten.
    Zäh verrannen die Sekunden … wurden zu Minuten …zu einer gefühlten Ewigkeit. Die Nervenanspannung nahm spürbar zu. Unruhig knetete Konrad Jäger seine Finger … seine Hände, fuhr sich zum wiederholten Male mit gespreizten Fingern durch das Haar. Als er die Anspannung nicht mehr aushielt, erhob er sich von seinem Stuhl und tigerte unruhig im Wartebereich hin und her. Ungestüm wie ein Gewittersturm nach einem schwülen Sommertag entlud sich seine aufgestaute Anspannung.


    „Verdammt! Verdammt! Verdammt!“ schrie er wütend auf und schlug mit seiner Faust gegen die Wand des Warteraumes. „Warum musste er denn unbedingt Polizist werden? Warum? Sagen Sie es mir Frau Krüger!“ Er stoppte ab und blieb vor der dunkelhaarigen Frau stehen. „Er hätte jeden Job in meiner Firma haben können. Jeden … Er ging auf die besten Schulen und was hat er aus seinem Leben gemacht? … Nichts Absolut nichts … Er riskiert es sinnlos für andere Leute!“ Er redete sich förmlich in Rage. Mit jedem Satz steigerte sich die Lautstärke. Frau Krüger und Susanne saßen wortlos dabei und waren entsetzt über das, was Konrad Jäger da von sich gab. „Und für was arbeitet er? Für einen Hungerlohn! Was hätte er bei mir verdienen können? Und ich? Wer denkt an mich? Ich habe gerade eines der besten Geschäfte meines Lebens sausen lassen wegen meines Sohnes. Nur weil er seinen Dickkopf durchsetzen musste und Polizist werden musste! Ich versteh ihn nicht! … Ich versteh ihn einfach nicht!“ Aller Illusionen beraubt, ließ sich Bens Vater wieder auf einen der Stühle fallen, der unter dem Aufprall seines Gewichtes verräterisch ächzte. Wieder herrschte Schweigen im Raum.


    Unverhofft öffnete sich die Tür zum OP-Bereich. Ein müder und erschöpfter Arzt betrat den Gang und steuerte auf das Wartezimmer zu. Konrad Jäger sprang förmlich aus seinem Stuhl hoch und stürmte dem in weiß gekleideten Arzt entgegen.


    „Guten Abend, Peter? … Du? …“, entfuhr es ihm verwundert „Hast du meinen Sohn operiert? … Kannst du mir sagen, wie es Ben geht?“ Die letzte Frage hörte sich schon flehentlich an. Vor ihm stand Professor Dr. Peter Kraus, Chefarzt der Chirurgie an der Uni-Klinik und ein langjähriger Freund aus seinen Jugendtagen. Die Freundschaft hatte all die Jahre überdauert, auch wenn sich die beiden Männer in den letzten Jahren nicht mehr so oft trafen wie früher.
    Konrad baute sich förmlich vor seinem Freund auf, hoffte auf eine Antwort … Der Arzt, der so gar keinen Wert auf seine Titel legte, weil er der Meinung war, war zählt, ist der Mensch, streifte sich müde über das Gesicht. Seine verschwitzten grauen Haare klebten am Kopf. Ihm waren die Anstrengung der letzten Stunden deutlich anzusehen.


    „Guten Abend, Konrad. Ja … ich habe das OP Team geleitet, das deinen Jungen in den letzten Stunden operiert hat. Wollen wir uns nicht lieber hinsetzen?“ Seine Hand ging einladend in Richtung der Stühle, während sein Blick fragend in Richtung Kim Krüger und Susanne abschweifte.
    „Da ist die Vorgesetzte meines Sohnes und eine Arbeitskollegin. Wir warten hier schon seit Stunden … eine gefühlte Ewigkeit … Wie geht es ihm? …. Lebt Ben noch?“ fast schon flüsternd kamen die Worte aus dem Mund des sonst so taffen Geschäftsmannes. Kim und Susanne nahmen neben ihm Platz. Gebannt und gleichzeitig fassungslos verfolgten sie den Ausführungen des Chefarztes, dem man ansah, wie er nach den richtigen Worten suchte. Der Arzt überlegte nur Sekundenbruchteile, wie detailliert er die Verletzungen des Patienten beschreiben sollte.
    „Ich will dir nichts vormachen Konrad. … Ben befindet sich in einem äußerst kritischen Zustand. Ich weiß momentan nicht, ob er die Nacht überhaupt überleben wird.“
    Bei diesen Worten beugte sich der Arzt leicht vornüber, ergriff die Hände seines Freundes und umschlang diese voller Mitgefühl. Es kostete den Arzt einiges an Überwindung, dass sein Tonfall ruhig und sachlich blieb. „Mit anderen Worten Konrad es ist ein Wunder, dass dein Junge überhaupt noch lebt … lebend im Krankenhaus angekommen ist!“ Dr. Kraus holte tief Luft und atmete deutlich hörbar aus. Er spürte wie die Hände seines Freundes zitterten. „Ich will es kurz machen. … Während der OP stand sein Zustand mehrmals auf des Messers Schneide, weil sein Kreislauf zusammengebrochen ist … diese schweren inneren Blutungen im Bauchbereich … und der Lunge konnten vorerst gestoppt werden … er bekam Bluttransfusionen, um den enormen Blutverlust auszugleichen … die Kugel wurde entfernt … und seine sonstigen offenen Wunden und die Stichverletzung wurden versorgt und genäht…“ Der Professor schwieg für einen Moment und sammelte sich innerlich, bevor er mit seinen Ausführungen fortfuhr. Er kannte ja schließlich den jungen Mann, den er in den letzten Stunden operiert hatte, seit er laufen konnte und konnte das nicht einfach aus seiner Gefühlswelt ausblenden. „Seine rechte Niere macht uns noch große Sorgen … Mein Chefarztkollege aus der Urologie, Dr. Waldner, war mit im OP dabei und versucht eine Entfernung der rechten Niere zu vermeiden … In den nächsten Stunden können wir einfach nur noch abwarten … Wir haben ihn auf die chirurgische Intensivstation verlegt und werden ihn in den nächsten Stunden beatmen und sediert lassen.“
    Als der Arzt verstummte, schien die Zeit in dem Raum still zu stehen. Die beiden Männer, die sich gegenüber saßen, blickten sich an und Peter Kraus konnte nur erahnen, was in seinem Freund vorging. Er wusste, dass Konrad Jäger und sein Sohn nicht das beste Vater-Sohn-Verhältnis in den letzten Jahren hatten, weil der Unternehmer mit dem Berufswunsch von Ben nicht einverstanden gewesen war. Letztendlich war es ihm mit seinem Sohn Tim ähnlich ergangen. Als stolzer Vater hatte er sich auch immer gewünscht, dass Tim in seine Fußstapfen tritt und Medizin studiert. Stattdessen kletterte sein Junior in fremden Ländern auf irgendwelchen Bergen herum, um Vulkane zu erforschen. Doch etwas wusste Peter Kraus sicher, auch wenn es für Außenstehende nicht ersichtlich war. Konrad Jäger liebte seinen Sohn.
    Die Gedanken des Chefarztes wanderten zurück zu den dramatischen Minuten im OP Saal, als er erkannt hatte, welcher Patient da auf dem Operationstisch lag. Es hatte ihn an die Grenze seiner psychischen Belastbarkeit gebracht, Ruhe auf sein Team auszustrahlen und seine ganze Kraft und Konzentration darauf zu fokussieren, dem jungen Mann das Leben zu retten.

  • „Kann ich meinen Sohn sehen?“
    „Ja. …. Ich begleite dich rüber zur Intensivstation.“ Mitfühlend legte er seine Hand um Konrad Jägers Schulter. „Er braucht viel Ruhe!“ Der Arzt blickte die beiden Frauen an. „… ich hoffe meine Damen, sie verstehen das, dass zuerst einmal nur sein Vater zu ihm ins Zimmer darf. Sie können vom Gang aus einen Blick auf ihn werfen.“
    Schweigend gingen sie die Krankenhausflure entlang, bis sie an der Intensivstation angekommen waren. Im Wartebereich vor der Zugangsschleuse mussten sich die beiden Frauen und Konrad Jäger gedulden. Der Chefarzt wollte sich überzeugen, dass die Verlegung des Patienten ohne Komplikation durchgeführt werden konnte. Er nutzte die Gelegenheit, besprach sich mit dem diensthabenden Stationsarzt nochmals wegen des in seinen Augen besonderen Patienten Ben Jäger und hinterließ einige Anweisungen.
    Einige Minuten später holte eine der Nachtschwestern die Wartenden auf die Station. Ben Jäger war in einem Einzelzimmer auf der Intensivstation untergebracht worden. Vor der Schiebetür zum Patientenzimmer blieb Bens Vater wie angewurzelt stehen und musste erst einmal den Anblick seines Sohnes durch das Fenster in der Schiebetür verkraften. Sein Freund, der Arzt, trat neben ihn und legte ihm die Hand auf die Schulter.
    Susanne entfuhr ein leiser Schrei des Entsetzens als sie Ben erblickte. „Oh mein Gott, Kim, wer hat ihm das angetan und ihn so zugerichtet?“ Tränen schossen ihr in die Augen und sie konnte sie nicht mehr zurückhalten. Kim nahm sie tröstend in die Arme.


    Der Chefarzt Peter Kraus öffnete die Tür und schob Konrad Jäger sanft in das Intensivzimmer, indem ihm eine ungewohnte Geräuschkulisse empfing, das monotone Zischen der Beatmungsmaschine, das leise Blubbern der Thorax-Drainage und ein ihm unbekanntes Surren durch das Wärmegebläse. Die beiden Frauen beobachteten wie Konrad Jäger zu seinem Sohn ging. Sanft nahm er dessen Hand, strich ihm über die Wangen und redete auf ihn ein und küsste ihn auf die Stirn. Daraufhin kam er zurück zu den beiden Polizistinnen.


    „Sie sollten nach Hause gehen meine Damen!“ Kim und auch Susanne wollten aufbegehren … widersprechen. Bens Vater schüttelte den Kopf. „Sie können gegenwärtig doch nichts für meinen Sohn tun, außer abwarten. Keine Angst, ich bleibe heute Nacht bei ihm. Schlafen sie ein bisschen … wenn sich irgendwas an seinem Zustand ändert, melde ich mich bei ihnen … versprochen … bitte!“


    Nach den verzweifelten und wütenden Worten im Warteraum war vor allem Kim Krüger überrascht, dass Konrad Jäger bei seinem Sohn bleiben wollte. Mit allem hätte sie gerechnet, nur nicht mit dieser Reaktion. Ohne auf eine Antwort zu warten, wandte sich Bens Vater ab und ließ sich auf einem Stuhl neben dem Bett seines Sohnes nieder.
    Nachdem die beiden Frauen die Intensivstation verlassen hatten, begab sich der Chefarzt nochmals zu seinem Freund. Er blieb hinter ihm stehen und scannte mit einem routinierten Blick die Werte, die die Monitore anzeigten. „Konrad, du kannst so lange du möchtest bei Ben bleiben. Der Pfleger Jonas, der heute Nacht für Ben zuständig ist, bringt dir nachher noch einen bequemeren Stuhl. Ich werde heute Nacht in meinem Arztzimmer auf der Couch schlafen. Wenn es zu Komplikationen kommen sollte, bin ich sofort da!“ So sehr sich Peter Kraus auch bemühte, er fand einfach nicht die richtigen Worte … Worte des Trostes …. Worte der Hoffnung für seinen Freund. Er konnte einfach nur für ihn da sein und klopfte ihn leicht aufmunternd auf die Schulter.


    Konrad wendete den Kopf seinem Freund zu, während er weiter die fixierte Hand seines Sohnes festhielt. In seine Augen schimmerte es feucht. Seine Stimme hatte einen merkwürdig belegten Klang. „Weißt du was das Schlimmste für mich ist Peter?“ Dieser schüttelte ergriffen den Kopf und kniff die Lippen zusammen. Er sah die Angst und Verzweiflung in den Augen seines alten Freundes.
    „Seit dem Tag als Ben zur Polizei ging, habe ich Angst. … Angst vor genau diesem Tag … Angst davor, dass ihm etwas Schlimmes passiert … davor ihn zu verlieren, weil er bei einem Einsatz zu wagemutig war? … Es war ein Alptraum, der mich all die Jahre verfolgt hatte. … und jetzt … jetzt … ist er Wahrheit geworden. … dieser Moment! .. Peter, kannst du dir als Vater etwas Entsetzlicheres vorstellen, als das eigene Kind zu Grabe tragen zu müssen.“ Sein Körper bebte vor Erregung und tonlos murmelte er vor sich hin: „Ich kann nichts anders tun, als hilflos da zu sitzen … schon allein die Vorstellung das Ben in dieser Nacht sterben könnte … es treibt mich an den Rande des Wahnsinns!“
    Konrad beugte sich nach vorne und vergrub sein Gesicht in seiner Hände. Das war nicht mehr der coole und berechnende Geschäftsmann, sondern ein Vater der litt.


    Konrad Jäger saß neben dem Krankenbett seines Sohnes und hielt dessen fixierte Hand fest umschlungen, in der Hoffnung irgendein Lebenszeichen von ihm zu spüren. Er betrachtete das glatt rasierte Gesicht von Ben, das ihn trotz der vielen Schrammen und Blutergüsse, um einige Jahre jünger aussehen ließ. Seine Gedanken schweiften ab in die Vergangenheit … als Ben noch ein kleiner Junge war … an die glücklichen Tage der Familie Jäger, als seine Frau noch lebte. Unbewusst fing Konrad seine Erinnerungen laut aus zusprechen … erzählte von gemeinsamen Familienausflügen … Urlaubserlebnissen, bis ihn das Aufflammen der Deckenbeleuchtung wieder in die Realität zurückholte. Der Krankenpfleger Jonas betrat das Patientenzimmer und meinte in einem ruhigen Tonfall: „Alles in Ordnung Herr Jäger, ich muss nur schnell ein paar Werte kontrollieren!“
    Stumm beobachtete er den Pfleger und nach einigen Minuten war Konrad Jäger wieder alleine. Sein Blick ging zur Uhr … es war ein Uhr nachts. Die Zeit kroch unerträglich langsam dahin. In seinem Kopf hallten die Worte seines Freundes wider „… Ich weiß nicht, ob Ben die Nacht überlebt …“ Mit einem Schlag war sie wieder da, diese Angst seinen Sohn sterben zu sehen, die er in der letzten Stunde aus seinem Verstand verdrängt hatte. Sie schnürte ihm förmlich die Luft ab, Panik stieg in ihm auf und er schaute sich hilfesuchend im Raum um.
    Im gedämmten Licht des Zimmers starrte Konrad auf das gleichmäßige Heben und Senken des Brustkorbs, angetrieben durch die Beatmungsmaschine. Es war die einzige Bewegung des wie leblos daliegenden Körpers. Nach einer Weile richtete sich sein Blick auf den EKG-Monitor. Der Ausschlag der grünen Linie zeigte den Herzschlag von Ben, gab ihm die Gewissheit noch lebte sein Sohn. Doch wie zum Hohn überfiel ihn sofort der Gedanke, wie lange noch und ließ ihn nicht mehr los.
    Total versunken saß Konrad da und begann wieder mit Ben zu sprechen … sich von der Seele zu reden, was ihn all die Jahre bewegt hatte, was er schon immer seinem Sohn erzählen wollte. Minute um Minute verging, wurde zu einer Stunde … Ab und an versank er in einen Dämmerschlaf, schreckte aber immer wieder hoch, wenn der Krankenpfleger das Zimmer betrat, um seinen Sohn zu versorgen. Mehr als einmal gab eines der Überwachungsgeräte ein Alarmsignal von sich und er wurde gebeten, das Zimmer zu verlassen. Voller Ängste beobachtete Konrad jedes Mal den Pfleger oder den Arzt, die dann in das Patientenzimmer gestürmt kamen durch die Glasscheibe, die das Zimmer vom Gang trennte. Die Erleichterung war grenzenlos, wenn der Arzt Entwarnung gab und er zurück an die Seite seines Sohnes durfte. So vergingen die letzten Stunden der Nacht und draußen brach ein neuer Tag an, wie er durch das Fenster erkannte. Das Farbenspiel der Morgendämmerung verhieß einen sonnigen Frühlingstag. Durch die halb geöffnete Schiebetür hörte Konrad, wie der Geräuschpegel auf der Station langsam anschwoll. Das Personal des Frühdienstes war eingetroffen. In dem Moment veränderte sich die grüne Linie des Herzschlages, die Ausschläge wurden heftiger, die Frequenz erhöhte sich unaufhaltsam nach oben. Hatte er sich getäuscht oder war da tatsächlich eine Bewegung Bens Fingern gewesen. Seine Augenlider? Haben die geflattert? Konrad hatte sich erhoben, wollte gerade den Namen seines Sohnes aussprechen, ihn anreden, als auf den Monitoren, die hinter und neben dem Bett standen, rote und orangefarbene Kontrolllampen aufblinkten und dazu ein lautes akustisches Warngeräusch erzeugten. Innerhalb weniger Sekunden war der Raum voll mit Pflegekräften und Ärzten mit medizinischem Gerät. Eine junge Schwester schob ihn beiseite, aus dem Zimmer raus und gab ihm die Anweisung „Gehen Sie bitte raus! Warten Sie vor der Station!“

  • Marienklinik … zur gleichen Zeit


    Auf der Suche nach seinem Freund hetzte er durch den Wald und rief dabei ständig den Namen seines Partners, „Ben! Ben wo bist du? …. Ben!“ Er rannte, blieb stehen und horchte und rief erneut lauthals „BEN!“ Ein Baumstumpf stand hoch, er übersah ihn und stürzte zu Boden. Der feuchtmodrige Geruch des Waldbodens stieg in seine Nase hoch. Ein Schuss fiel … und noch einer. Er rappelte sich hoch und suchte den Wald mit seinen Blicken ab. Dahinten, da war doch was, eine taumelnde Gestalt. „BEN …. BEN … ich komme!“ All seine Kräfte mobilisierend rannte er zu der Stelle hin. Es sah gespenstisch aus. Die Sonnenstrahlen durchfluteten den Wald. Sanft wiegten sich die Grashalme im Wind. Mitten aus der Wiese ragte eine Hand empor über und über mit Blut benetzt. Panik stieg in im hoch. „Ben! Ich komme!“ Wie erstarrt blieb er stehen, als er seinen Freund vor sich im Gras der Lichtung liegen sah. Sein weißes Shirt war blutdurchtränkt. Unter seinem Körper hatte sich ebenfalls eine riesige Blutlache gebildet. Ben drückte mit seinen Händen verzweifelt auf die Einschussstelle, als könne er damit den Blutstrom zum Stillstand bekommen. Semir zückte sein Handy und setzte einen Notruf ab, obwohl ihm in diesem Moment klar war, kein Arzt der Welt würde Ben retten können. Er brauchte in den nächsten Minuten nur noch einen Freund … einen Freund der ihn auf dem letzten Weg begleitete. Neben seinem Partner kniete er nieder, schob seine ausgezogene Jacke unter dessen Kopf. „Hey Ben! Hörst du mich der Notarzt ist unterwegs. Halte nur noch ein bisschen durch! Ja!“


    Die Augenlider des dunkelhaarigen Kommissars flatterten und öffneten sich. Es dauerte einen Moment bis er Semir erkannte und dessen Namen hauchte. „Semir …. Es ist vorbei …!“ Der kleine Türke strich ihm beruhigend über die Stirn und hielt seine Hände fest, drückte mit ihnen gemeinsam auf die Eintrittsstelle der Kugel in der Körpermitte. „Nicht sprechen Ben, spar dir deine Kräfte!“ Der Dunkelhaarige schüttelte leicht den Kopf. Im Ansatz war sein schelmisches Lächeln sichtbar. Sein Gesicht war aschfahl. „Es ist gut Semir … mir wird … kalt. Es tut auch … gar nicht … mehr weh!“, abgehackt wisperte der Verletzte die Worte. Mit jedem Satz schwanden seine Kräfte. Semir rannen die Tränen über die Wangen. „Hey, … war eine … geile … Zeit … mit … dir.“ Die Pausen zwischen den Worten wurden länger. „Grüß … deine … drei … Mädels … von …mir, … sie … sollen … mich nicht … vergessen! Mein … Freund …vergiss … mich … nicht!“ Nach diesem Satz bäumte sich sein geschundener Körper noch ein letztes Mal auf, bevor er sich entspannte. Mit dem nächsten Atemzug entschwand das Leben endgültig aus Ben. Semir schrie völlig verzweifelt „BEN! Das kannst du mir doch nicht antun!“ ….


    Keuchend schreckte Semir hoch, sein Körper war schweißgebadet. Er saß in einem Bett, sein Pulsschlag raste in ungeahnte Dimensionen. Während sich seine beschleunigte Atmung langsam beruhigte, hörte er neben sich die gleichmäßigen Atemzüge von Andrea und Aida. Der kleine Kommissar versuchte sich zu orientieren, wo war er? Dieser eigenartige Geruch, das Bett … das Zimmer… ohne jeglichen Zweifel, er war im Krankenhaus. Die Bilder seines Traumes peinigten ihn unaufhörlich. Schlagartig setzten die Erinnerungen an den gestrigen Tag ein. Es war traurige Wirklichkeit, Ben lebte nicht mehr. Sein Blick fiel auf Andrea und Aida, die Arm in Arm liegend, friedlich nebeneinander schliefen. Eigentlich sollte er doch glücklich darüber sein, dass er seine Familie gesund und wohlbehalten wieder hatte. Doch der Schmerz über den Verlust seines Freundes raubte ihn fast den Verstand. Er starrte die Decke an. Ein Schauer nach dem anderen jagte durch seinen Körper.


    Vorsichtig, um die Beiden nicht zu wecken, kroch er aus dem Bett, schlich ins Badezimmer und knipste das Licht an. Am Waschbecken hielt er sich fest und betrachtete sich im Spiegel. Sein Körper vibrierte. Sein Gesicht sah um Jahre gealtert aus. Ein paar Hände voll mit kaltem Wasser klatschte er sich ins Gesicht. Er konnte nicht zurück ins Bett und weiterschlafen, zu groß war seine Angst, erneut von einem solchen Alptraum überfallen zu werden.
    Mit müden Schritten schlurfte er zum Fenster und zog leise die Vorhänge zurück. Draußen erwachte der neue Tag, das Morgenrot färbte den Himmel blutrot. Semir starrte durch die Fensterscheibe nach draußen und sah doch nichts. Mit seinen Handflächen stützte er sich auf der Fensterbank ab. Eiskalt lief es ihm den Rücken hinunter. Jedes einzelne seiner Körperhaare stellte sich auf und verstärkte dieses Gefühl der Kälte, das Gefühl der inneren Leere. Tränen liefen ihm über die Wangen. Er war unfähig sich zu bewegen. Seine Gedanken wanderten zurück in die Vergangenheit. Die Erinnerungen daran, wie sich kennengelernt hatten, wieviel Spaß Ben und er gehabt hatten, wie oft sie einander das Leben gerettet hatten, hielten Semir vollkommen gefangen.


    „Guten Morgen Herr Gerkhan!“


    Von ihm unbemerkt war die Nachtschwester Inge ins Zimmer zu ihm herangetreten. „Darf ich ihnen eine Tasse Kaffee bringen?“ Der aufmerksamen Schwester war der Gemütszustand ihres Patienten nicht entgangen. Leise sprach sie weiter.


    „Vergangene Nacht war ihre Chefin hier!“ Bei diesem Satz fuhr Semir herum. „Sie bat mich ihnen etwas auszurichten. Sie sollen sie dringend anrufen.“ Mit diesen Worten überreichte die Schwester Semir dessen Handy. Der Türke verließ das Zimmer. Leise schloss er die Zimmertür und wählte die Handy Nummer von Frau Krüger. Nach dreimal Läuten meldete sich die verschlafene Stimme seiner Chefin.
    „Krüger!“
    „Gerkhan hier, guten Morgen Frau Krüger. Ich sollte mich bei Ihnen melden!“
    „Setzen sie sich erst mal hin!“
    Neue Hiobsbotschaften? …Eine dunkle Ahnung stieg in Semir auf … War seine Familie in Gefahr? Er setzte sich tatsächlich auf einen der Besucherstühle vor dem Krankenzimmer.
    „Ich weiß gar nicht wie ich ihnen das sagen soll?“ stotternd kamen die Worte aus dem Lautsprecher des Handys. „Ben … lebt … noch!“ …


    Semir fiel das Handy aus der Hand und landete mit einem scheppernden Geräusch auf dem blank polierten Krankenhausboden. Sein Körper fing an zu zittern. Er schluchzte auf … Ungläubig schaute der Kommissar in Richtung seines am Boden liegenden Handys, als könne er gar nicht glauben, was ihm darüber soeben mitgeteilt worden ist.


    „Gerkhan … Gerkhan … hören sie mich?“, wie aus einer anderen Welt hallte die Stimme seiner Chefin zu ihm durch. Der Türke ächzte, hob das Handy auf und hielt es an sein Ohr.
    „Ben … lebt! … Wo?... Wo … ist …er? Wie … geht … es … ihm?“, stammelte er und bemühte sich seine Fassung wieder zu gewinnen.
    „Er liegt in der Uni-Klinik Köln auf der Intensivstation. Es geht ihm nicht gut. Um ehrlich zu sein, er schwebt noch in akuter Lebensgefahr. Sein Vater ist bei ihm. Wenn sie möchten, hole ich sie in gut zwei Stunden ab und bringe sie in die Uni-Klinik!“
    „Ja! …ja … ja, ich warte vor der Eingangstür auf Sie!“


    Innerlich völlig aufgewühlt kehrte er zurück ins Krankenzimmer. Waren seine Träume der vergangenen Nacht ein Hilferuf von Ben an ihn gewesen? Seine Frau war inzwischen ebenfalls aufgewacht. Sie verspürte fast körperlich, dass abermals irgendwas geschehen sein musste. Das Gesicht ihres Mannes war leichenblass und er selbst wirkte, als hätte er ein Gespenst gesehen.
    „Semir was ist los?“ Sie ging auf ihn zu und nahm ihn in die Arme. Sein Körper bebte.
    „Ben!“ nur dieses eine Wort kam über seine Lippen. Bevor Andrea etwas erwidern konnte, hauchte er hinterher „Er lebt, Andrea!“
    Nur mühsam gelang es ihr einen spitzen Aufschrei zu unterdrücken. Sie presste ihre Hand ungläubig vor dem Mund und starrte aus weit aufgerissenen Augen ihren Mann an.
    „Woher … weißt du …das?“
    „Ich habe gerade … mit Frau Krüger … telefoniert.“
    Eng umschlungen standen die beiden Eheleute da und versuchten diese Botschaft zu verarbeiten.
    „Ich muss zu ihm Andrea!“ flüsterte er.,
    Sein Blick fiel auf sein friedlich schlafendes Kind und wanderte wieder zurück in das verweinte Gesicht seiner Frau. Er fühlte sich innerlich so hin und hergerissen. Hier seine Familie und auf der anderen Seite sein Freund und Partner. Wie sollte denn nur Andrea Verständnis dafür haben, dass er sie allein lassen würde. Wieder einmal unterschätzte er seine Frau, die ganz deutlich seinen Zwiespalt wahrnahm.
    „Ja, du hast Recht! Ben braucht dich! Mach dir keine Sorgen um uns, ich werde nachher Susanne anrufen!“

  • Intensivstation ….
    Es war wie das Auftauchen aus den Tiefen eines dunklen Sees. Die Finsternis hielt Ben gefangen. Doch er wollte hinauf zum Licht, welches durch die Wasseroberfläche zu ihm herunterschimmerte. Wo war er nur? Er versuchte das Durcheinander in seinem Kopf zu ordnen, sich daran zu erinnern, was zuletzt geschehen war, bevor er in diese Dunkelheit abgetaucht war. Wie aus dem nichts tauchte das Gesicht einer Frau vor seinem inneren Augen vor ihm auf. Wer war das? Ben überlegte … so langsam erkannte er sie: Gabriela. Ihre eiskalten grau-blauen Augen starrten ihn an. Er wollte weg … nur noch weg, während ein schwarzer Stiefel unaufhaltsam auf ihm zukam. Er erwartete den Tritt auf seine rechte Seite… den brennenden Schmerz, wenn die Stiefelsohle auf seinem Körper auftraf… Er wollte ausweichen … es ging nicht … sein Körper gehorchte ihm nicht …Doch der Schmerz blieb aus. Irgendetwas war anders … Dunkler Nebel hüllte ihn ein. Ben wollte atmen … Luft … Luft … doch in seinem Hals steckte etwas, hinderte ihn daran … Angst … er verspürte furchtbare Angst davor, ersticken zu müssen, wollte sich dagegen wehren, den Fremdkörper aus seiner Kehle entfernen. Noch etwas nahm er auf einmal wahr: ihm unbekannte Geräusche. Ein hektisches Piepen, welches überging in ein Hupen … Stimmengewirr kam auf… seine Angst wuchs ins Unendliche …. Ben wollte dagegen ankämpfen, schlagartig überfiel seinen Körper eine Müdigkeit und er tauchte ab ins Schattenreich ….


    *****
    Diesmal wurde Konrad Jäger von den Pflegekräften vor die Intensivstation geschickt. Er ließ sich dort im Wartebereich nieder. Bevor er einen klaren Gedanken fassen konnte, rannte sein Freund Peter Kraus ohne ein Wort zu verlieren an ihm vorbei, durch die Schleuse in die Intensivstation. Dann war er allein und ließ sich auf einen der Holzstühle nieder, die dort standen. In den ersten Minuten starrte er die Tür zur Intensivstation an und wartete darauf, dass irgendjemand erscheinen würde, um ihn zu berichten, wie es Ben geht. Er fühlte eine grenzenlose Leere in sich, war müde und ausgebrannt. Sein Herzschlag raste und seine Handinnenflächen wurden vor Angst und Anspannung feucht. Dieses bange Warten war das Schlimmste. Er hielt diese Ungewissheit nicht mehr aus. Was war mit Ben? War er noch am Leben? Warum kam denn niemand zu ihm? Am liebsten hätte er mit seinen Fäusten gegen die Eingangstür der Intensivstation gehämmert. Doch stattdessen tigerte er wie eine gefangene Raubkatze in ihrem Käfig hin und her.
    Ärzte, Schwestern und andere Angestellte der Uni-Klinik eilten an ihm vorbei auf die Intensivstation, kamen wieder heraus, beachteten ihn nicht. Patienten, begleitet von Klinikpersonal, wurden an ihm vorbeigeschoben. Doch keiner kam zu ihm.


    *****


    Frau Krüger holte Semir wie versprochen direkt am Eingang des Marienhospitals ab. Während der Fahrt durch den morgendlichen Berufsverkehr berichtete sie ihm über das, was sich am gestrigen Nachmittag und in der Nacht abgespielt hatte. Sie konnte es nicht verhindern, dass ihre Augen feucht wurden. Semir war überrascht von ihrer Reaktion. Gefangen in dem Schmerz der Trauer über den Verlust seines Freundes, seiner eigenen Verzweiflung hatte er gestern gar nicht wahrgenommen, wie auch andere gelitten hatten.


    Vor der Eingangstür zur Intensivstation erwartete ihn eine Enttäuschung. Eine energische Krankenschwester erklärte ihm, dass jetzt keine Besuchszeit wäre und er nicht zu Herrn Jäger könne. Semir hätte vor Wut und Ohnmacht aufbrüllen können. Beruhigend legte seine Chefin ihm die Hand auf die Schulter. Suchend blickte sie sich um.


    „Ich denke, sein Vater ist bei ihm! Warten wir mal ab!“


    „Warten ist aber nicht gerade meine starke Seite, Frau Krüger!“ begehrte der Türke dagegen auf. „Ich will zu Ben, er braucht mich! Verstehen Sie? Ich kann es förmlich spüren.“


    Bevor zwischen den beiden eine Diskussion entflammen konnte, öffnete sich die Tür zur Besuchertoilette. Konrad Jäger kam heraus. Die vergangene Nacht hatte auch bei ihm deutliche Spuren hinterlassen. Er wirkte müde und erschöpft, ja seine Körpersprache drückte schon fast ein bisschen Resignation aus.


    „Guten Morgen!“ Sein Tonfall klang ungewohnt matt. Die Haarsträhnen hingen ihm völlig wirr in die Stirn. Auf seinem fahlen Gesicht befanden sich noch vereinzelt Spuren von Wassertropfen.


    „Guten Morgen Herr Jäger! Wie geht es Ben?“ Fast gleichzeitig sprachen die beiden Polizisten die Frage aus.


    „Ich weiß es nicht.“ Er schüttelte verzweifelt den Kopf. „Ich kann nicht sagen, wie es augenblicklich um ihn steht.“ Sein Blick ging zur Uhr über der Eingangstür zur Intensivstation. Bens Vater seufzte abgrundtief auf, bevor er mit seinem Bericht fortfuhr „Heute morgen … dieser EKG-Monitor piepste plötzlich wie verrückt, ich hatte schon die Hoffnung, dass Ben aufwachen würde ... Ich hätte schwören können, dass er seine Finger bewegt hat. Ja und dann … blinkten plötzlich überall die Alarmleuchten. Ich musste die Intensivstation verlassen. Seit zwei Stunden sitze ich hier und warte!“ Seine Stimme veränderte sich in Richtung Hoffnungslosigkeit. Die Schultern hingen herunter. Das war nicht der Konrad Jäger, den Semir kannte. Täuschte er sich oder wurden die Augen von Bens Vater feucht. Er holte tief Luft bevor er mit einer monotonen Stimme fortfuhr, „Irgendeine Schwester hat mir vorhin erklärt, dass die Ärzte bei Ben sind. Man hat mir versprochen, mich über die Untersuchungsergebnisse so schnell wie möglich zu informieren!“ Eine Geste seiner Hände drückte seine Hilflosigkeit aus „Ja, seitdem sitze ich hier und warte!“, murmelte er hinterher.


    Das war nicht die Auskunft, die sich die beiden Autobahnpolizisten erhofft hatten. Die Enttäuschung stand ihnen förmlich ins Gesicht geschrieben, als sie sich neben Bens Vater auf den bereitstehenden Besucherstühlen niederließen. Zäh krochen die Minuten dahin. Der Zeiger der Uhr rückte unaufhörlich weiter gen 09.30 h Vormittags. Frau Krüger seufzte gequält auf. Sie focht einen schweren inneren Kampf mit sich aus. Auf der einen Seite wollte sie unbedingt wissen, wie es um ihren Mitarbeiter stand, auf der anderen Seite rief die Pflicht. Der Termin um zehn Uhr bei der Staatsanwaltschaft war vom Polizeipräsidenten angeordnet worden. Schweren Herzens erhob sich Kim von ihrem Stuhl, wenn sie einigermaßen pünktlich zur Besprechung kommen wollte, musste sie aufbrechen
    „Tut mir leid, ich muss gehen. Wir haben wegen dieses Falls eine große Besprechung bei der Staatsanwaltschaft. Frau Schrankmann besteht auf meine Anwesenheit. Sagen sie mir Bescheid, wenn sich etwas Neues ergibt!“, entschuldigte sie sich und ging Richtung Ausgang.


    Schweigend und in ihren Gedanken versunken saßen die beiden Männer im Wartebereich da. Über einen Lautsprecher in der Decke dudelte die Musik eines lokalen Kölner Radiosenders. Aktuell lief der Song „Nothing Else Matters“ von Metallica.

  • Semir hatte damit gerechnet, dass ihn Konrad Jäger Vorhaltungen machen würde, wie er es schon früher gemacht hatte, wenn Ben während eines Einsatzes verletzt worden war. Aber nichts dergleichen geschah. Unablässig wanderten ihre Blicke hoffnungsvoll in Richtung der Eingangstüre zur Intensivstation, wenn sich diese mit einem Summton, der vom Elektromotor kam, öffnete. Doch statt des herbeigesehnten Arztes huschten gestresste Krankenschwestern und Pfleger in der blauen Tracht des Pflegepersonals an ihnen vorbei.
    Zwischenzeitlich hatte sich Semir vornübergebeugt. Seine Ellbogen ruhten auf seinen Oberschenkeln und sein Gesicht lag in seinen Händen vergraben. Er hielt die Augen geschlossen und dachte über die Ereignisse der vergangenen Tage nach. Er wusste, sein Freund war ein Kämpfer. Darauf sollte er vertrauen, Ben hatte es ja gestern schon bewiesen. Jemand tippte ihn an die Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken …. Bens Vater


    „Herr Gerkhan! Da kommt Dr. Kraus!“


    Aus der Tür der Intensivstation trat mit ernster Miene der Chefarzt. Im ersten Moment glaubte Semir der Arzt sei ein Bruder von Bens Vater. Die beiden hatten in Bezug auf Alter und Statur eine unglaubliche Ähnlichkeit. Selbst die widerspenstigen Haarlocken hingen dem Arzt in die Stirn. Bens Vater schoss förmlich aus seinem Stuhl hoch und eilte dem Arzt erwartungsvoll entgegen, dicht gefolgt von Semir, der sich endlich eine Information zu Bens Zustand erhoffte und zu seinem Freund ans Krankenbett wollte.


    „Peter … Peter, was ist mit Ben? Lebt er noch?“ seine Stimme bebte vor Erregung. Konrad packte den Arzt am Oberarm und hielt sich krampfhaft an ihm fest. Suchte Halt … wollte eine Antwort. Bens Vater sprach das aus, was auch Semir auf der Seele lastete. Der Kommissar flüsterte leise seine Frage „Bitte Herr Dr. Kraus … sagen sie uns doch bitte, wie es Ben geht.“


    „Ganz ruhig Konrad! Um Himmels Willen beruhige dich doch! Und Sie auch!“, unterbrach ihn der Arzt, als er erkannte, in welcher Verfassung sich sein Freund und dessen Begleiter befanden. Der kleine Mann neben ihm schien genauso aufgewühlt und mitgenommen von der augenblicklichen Situation zu sein, wie Konrad Jäger, der kreidebleich vor ihm stand.


    „Aber …!“ fiel ihm der Türke dem Arzt ins Wort. Die Warterei und die Ungewissheit, was mit Ben ist, hatten an seinem angeschlagenen Nervenkostüm, schwer gezehrt. Ihm wurde auch bewusst, dass sich der Arzt und Bens Vater zu kennen schienen und nahm sich deshalb vor, auch wenn es ihm sehr schwer fiel, sein Temperament zu zügeln und sich etwas zurückzuhalten.


    „Konrad! … Bitte! … und Sie auch!“ dabei richtete sich sein Blick auf Semir, „beruhigen Sie sich bitte! Beide! Ben geht es den Umständen entsprechend gut.“ Peter Kraus atmete tief durch und versuchte die beiden aufgeregten Männer zu beschwichtigen. „Noch mal, bitte, beruhigen Sie sich. Ich schlage vor, wir gehen in mein Arztzimmer. Dort können wir in aller Ruhe reden!“, forderte er sie auf, ihm zu folgen. Semir setzte sich sofort mit in Bewegung. Der Chefarzt warf dem Türken einen interessierten Blick zu. Er verstand nicht so recht, in welchem Verhältnis dieser zu Ben Jäger stand. Bens Vater bemerkte dies und schüttelte über sein eigenes Verhalten den Kopf.


    „Oh, tut mir leid Peter, bei all der Aufregung, vergesse ich auch noch meine guten Manieren. Darf ich dir vorstellen, das ist Herr Gerkhan. Er ist der Partner und wohl beste Freund meines Sohnes. Ich hatte dir ja bereits von ihm erzählt. Du kannst gegenüber Herrn Gerkhan vollkommen offen reden und ihn wie ein Mitglied meiner Familie betrachten! Ich denke, das wäre auch Bens Wunsch.“, klärte Konrad Jäger den Arzt auf. Der darauf wissend nickte, Konrad hatte bei allerlei Anlässen, über die besondere Freundschaft seines Sohnes zu seinem Arbeitskollegen und dessen Familie erzählt. Jetzt war ihm auch klar, warum der kleine Mann so aufgelöst war.


    Völlig überrascht blickte Semir auf Bens Vater. Mit allem hatte er gerechnet, nur nicht mit einer solchen Aussage. Zwischenzeitlich hatten sie das Arztzimmer auf einem der Nebenflure erreicht und vor dem Schreibtisch des Arztes Platz genommen. Der Chefarzt räusperte sich mal kurz. Angesichts dessen, dass er Ben schon kannte, als dieser noch in einer Babywiege lag, fiel es ihm nach wie vor sehr schwer, seine persönlichen Gefühle in den Hintergrund zu drängen und möglichst professionell mit der Situation umzugehen. Dr. Kraus bemühte sich sein ganzes Fachchinesisch weg zu lassen und seinem Freund und dessen Begleiter mit einfachen Worten über den Zustand von Ben zu informieren.


    „Ich hatte dich ja bereits gestern ausführlich nach der OP über die Schwere der Verletzungen deines Sohnes informiert!“ Konrad Jäger nickte zustimmend, während Semirs Blick zwischen den beiden hin und herflog.


    „Der Nachtdienst hat, wie abgesprochen, die Sedativa gegen morgen etwas reduziert, da Ben die Nacht über relativ stabil war. Wir wollten sehen, wie er darauf reagiert. Vielleicht hätte dir das jemand sagen sollen. Also die gute Nachricht zuerst. Wir vermuten, Ben war heute Morgen tatsächlich am Aufwachen und wollte sich scheinbar den Tubus rausziehen. Deswegen auch die ganzen Alarmmeldungen, als dich die Schwester rausgeschickt hat, Konrad!“
    „Dann geht es ihm schon besser?“, fiel ihm Semir mit einem freudigen Ausdruck in den Augen ins Wort.
    „Auch wenn ich sie enttäuschen muss, Herr Gerkhan, … nein! Ben ist noch nicht über dem Berg, um es mal so sprichwörtlich auszudrücken. Wir mussten ihn nochmal leicht sedieren. Das Positive ist, er atmet tatsächlich, auch zu meiner Überraschung, wieder selbstständig an der Beatmungsmaschine mit. Ich habe ihn selbst nochmals gründlich untersucht. Es kam bisher weder im Bauchbereich noch im rechten Lungenflügel zu größeren Nachblutungen. Eine von unseren fähigsten Krankenschwester betreut und überwacht ihn momentan.“ Für einen Moment schwieg er und lies deutlich hörbar die Atemluft entweichen. „Dr. Waldner, der Urologe, war ebenfalls bereits auf Station und hat sich sorgfältig die Verletzungen von Bens Nieren angeschaut. … Die bereiten uns noch richtig Sorgen. Eventuell benötigt er eine Dialyse um die Nieren zu entlasten. Also die Chance, auch die verletzte Niere zu retten, stehen grundsätzlich sehr gut. Aber Dr. Waldner will selbst mit dir sprechen und wird dir alles im Detail erklären, Konrad. Er ist der Fachmann.“ Wieder verstummte er für einige Sekunden, sein Blick richtete sich nachdenklich auf die Schreibtischplatte, bevor er ihn anhob und die beiden Männer, die ihm gegenüber saßen, anschaute. „Ich will dir nichts vormachen mein Freund und ihnen auch nicht Herr Gerkhan, Ben befindet sich nach wie vor in einem äußerst kritischen Zustand und ist noch nicht außer Lebensgefahr. Bei der Schwere der Verletzungen muss mit weiteren Komplikation gerechnet werden!“
    Semir war bei den Ausführungen des Arztes immer bleicher geworden. In ihm bestand nur noch ein Wunsch, er wollte zu seinem Freund.

  • „Was brauchst du Peter? Sag es? Soll noch ein Kollege hinzugezogen werden? Ich zahle dafür, kein Problem! Du weißt, Geld spielt keine Rolle, wenn es um das Leben meines Sohnes geht… Versteh mich richtig, ich möchte auf jeden Fall, dass mein Sohn wie ein Privatpatient mit allen erdenklichen Zusatzleistungen hier behandelt wird! Ich möchte, dass er die beste Pflege bekommt. Ich komme selbstverständliche für alle zusätzlichen Kosten auf!“, unterbrach ihn Konrad Jäger besorgt.


    „Versteh du mich richtig Konrad, wir tun bzw. wir haben alles Menschenmögliche für deinen Sohn getan. Hier geht es nicht mehr um Geld. Sondern uns Medizinern sind auch Grenzen gesetzt. Manchmal ist ein Punkt erreicht, wo halt nur noch der da oben helfen kann.“ Sein Zeigefinger ging in Richtung der Zimmerdecke. „Ben ist jung und das ist seine beste Option. Geht zu ihm, seid für ihn da, auch Sie Herr Gerkhan. Redet mit ihm! Es gibt zwar Ärzte, die anders denken als ich, aber ich vertrete die Meinung, Ben spürt, wer bei ihm ist und auch wer mit redet. Ich werde alles Nötige auf der Intensivstation veranlassen, dass auch Sie“, sein Blick fixierte Semir und eine Geste seiner Hand unterstrich seine Worte „jederzeit Ben besuchen können. Aber bitte, vorerst immer nur ein Besucher. Es wird einige Minuten dauern, bis eine Schwester Sie an der Eingangstür zur Intensivstation abholen wird und zu Ben bringen wird. Übrigens, Professor Dr. Waldner, erwartet dich Konrad. Du brauchst dich nur in seinem Sekretariat zu melden.“
    Peter Kraus setzte ein zuversichtliches Lächeln auf. Seine Worte hatten zumindest bei Semir erreicht, dass dieser sich etwas entspannte. Bevor sie sich verabschiedeten, wollte er auch Konrad noch etwas Zuversicht mit auf den Weg geben. Denn er machte sich Sorgen um seinen Freund und nicht nur um dessen Sohn. Man konnte deutlich erkennen, dass auch Konrad durch die Aufregung gesundheitlich angeschlagen war. Seine nächsten Worte waren ausschließlich an seinen alten Freund gerichtet. „Kopf hoch, Konrad! Nachdem was mir die Kollegen berichtet haben, die die Erstversorgung in der Notaufnahme durchgeführt haben, hatte Ben nie aufgegeben, als er dort draußen schwer verletzt im Wald lag. Dein Junge hat darum gerungen, am Leben zu bleiben. Sein Wille, zu überleben, ist nach wie vor ungebrochen. Und so wie ich es momentan beurteilen kann, scheint er ein wahrer Kämpfer zu sein!“.
    Die ungleichen Männer erhoben sich von Ihren Stühlen. Schweigend verließen sie das Zimmer des Arztes. Die Worte von Professor Kraus wirkten auf die beiden nach. Draußen auf dem Gang hielt Konrad Jäger unvermittelt an.


    „Ich würde gerne zu diesem Dr. Waldner und diesem anderen Arzt gehen, um zu erfahren, wie es um Bens Nieren steht. Würden Sie zwischenzeitlich zur Intensivstation gehen und sich um Ben kümmern?“ Semir nickte zustimmend, nichts lieber als das, dachte er bei sich. Leise, kaum verständlich murmelte Bens Vater, „Wenn es ihnen nichts ausmacht Herr Gerkhan, würde ich anschließend gerne nach Hause fahren, mich ein bisschen hinlegen und mich frisch machen! Bitte informieren Sie mich, wenn sich an seinem Zustand etwas ändert?“
    „Natürlich! … Versuchen Sie ein wenig zur Ruhe zu kommen. Ich werde auch Frau Krüger und die Kollegen auf der Dienststelle über Bens Zustand informieren.“


    Der Anblick seines schwer verletzten Sohnes war für Konrad Jäger kaum mehr zu ertragen. Ein Geschäftsmann wie er, der gewohnt war, dass man für Geld alles bekommen konnte, kam hier an die Grenze seiner Wertevorstellung. Verwundert blickte Semir Konrad Jäger hinterher, der mit hängenden Schultern sich auf den Weg zum Fahrstuhl machte, um in die Urologie zu gelangen.
    Er selbst machte sich auf den Weg zum Eingangsbereich der Intensivstation. Wieder war Warten angesagt. Unruhig marschierte Semir vor der Eingangstür der Intensivstation wie ein gereizter Tiger auf und ab. Er konnte sich einfach nicht mehr hinsetzen. Seine Geduld war am Ende. Er wollte zu Ben, jetzt gleich. Wo blieb diese Krankenschwester denn nur? Der Zeiger der Uhr zeigte schon auf halb zwölf Uhr mittags. Endlich öffnete sich die Tür mit einem leisen Summton. Eine blonde und etwas fülligere Krankenschwester in blauer Kleidung blickte sich suchend um. „Wissen Sie wo der Vater von Herrn Jäger ist?“, erkundigte sie sich bei dem Kommissar. Ihr Akzent verriet ihm, dass sie wohl aus einem osteuropäischen Land abstammte.
    „Herr Jäger ist nach Hause gegangen. Allerdings sitze ich ungefähr seit zwanzig Minuten und warte darauf, in das Krankenzimmer von Herrn Ben Jäger zu dürfen“, beantwortete er ihre Frage. „Ich bin sein Freund und der …!“
    Die Schwester rümpfte die Nase und unterbrach ihn, „Sein Freund? Ich glaube da haben Sie momentan keinen Zutritt!“, belehrte sie ihn.
    Semir schoss der Eingangstür entgegen. Das wäre ja noch schöner, der Chefarzt hatte ihm doch vor nicht mal einer Stunde die Erlaubnis erteilt und so eine Schwester wagte, ihn zurückzuweisen. Nicht mit ihm, so nicht … doch bevor er noch etwas tun konnte, schloss sich die Tür wieder. Vor Wut hieb Semir mit der Faust dagegen.


    Währenddessen auf der Intensivstation ….
    Da war es wieder, dieses Gefühl im Nirgendwo zu schweben. Um ihn herum war Dunkelheit. Sie hüllte Ben ein und hielt ihn gefangen. Krampfhaft versuchte er sich daran zu erinnern, wo er war? … Er überlegte … wehrte sich dagegen wieder in diese Finsternis abzudriften … Jemand redete mit ihm … ein Frauenstimme … seine Mutter, war das seine Mutter? … Wer sprach da nur mit ihm? … Oder bildete er sich das alles nur ein? … Ben wusste es einfach nichts mehr. …. Vor seinen inneren Augen tauchten verschiedene Bilder auf … Was war nur passiert? … Da war der Wald, der Abhang, er kam immer näher … plötzlich ein dunkler Schuppen? … Andrea und Aida? … Wo war er denn nur? … Schmerzen? … Angst? …Vor was? … Das beklemmende Gefühl ersticken zu müssen …. Das Würgen im Hals … Er horchte in sich hinein … in seinen Körper … da war Schmerz, aber er fühlte sich anders an … Alles fühlte sich wie gelähmt an. Nichts … absolut nichts konnte er bewegen. Also versuchte Ben sich auf die Geräusche, die zu ihm gedämpft durchdrangen, zu konzentrieren. Da redete jemand! … Eine Frauenstimme … dieser Akzent … er machte ihm Angst … Panik stieg in ihm auf … Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm: … Gabriela! Hatte ihn diese Hexe gefunden?

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