Wachablösung

  • "I can accept failure, everyone fails at something. But I can't accept not trying."


    - Michael Jordan


    Fallanalytik, fand Niilo, war so trocken wie Knäckebrot. Er lehnte sich zurück. Diese unbequemen Stühle machten die Lernatmosphäre auch nicht gerade besser. Sein rechtes Knie zwickte unangenehm, da er überhaupt keinen Platz hatte, um es auszustrecken. Neben ihm saß eine junge Frau und schrieb akribisch mit, was der Dozent ihnen erklärte. Ein Kerl, der die Veranstaltung irgendwie grotesk machte: Sneaker, Jeans, T-Shirt, eine Hornbrille. Und dazu eine fürchterlich einschläfernde Stimme. Ein Widerspruch in sich. Er legte den Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf auf seine Hand. Noch 75 Minuten Langeweile.
    „Ich war schon immer ein Einzelgänger. Ich bin in einer intakten Familie aufgewachsen. Nach dem Gymnasium kam eine turbulente Zeit. In der High-School begann ich zu trinken. Im Jahr meines Abschlusses wurde die Ehe meiner Eltern geschieden, ich lebte von nun an allein. Ich begann immer mehr zu trinken und wegen meines massiven Alkoholkonsums wurde ich letztlich auch von High-School verwiesen.“
    Das Bild an der Leinwand wurde gewechselt und das Innere einer Wohnung erschien. Dann betätigte der Dozent erneut den Klicker. Neue Bilder der Wohnung wurden an die Wand geworfen. „Wenn man mich besucht, findet man eine normale schlicht eingerichtete Wohnung vor ... bis man zum Kühlschrank geht. Dann würde man das hier finden.“ Er schaltete erneut das Bild um, welches nun einen Kühlschrank, gefüllt mit Tupperdosen zeigte.
    „Was ist das?“, fragte der Dozent ins Plenum.
    Niilo seufzte. Na was wohl, dachte er und begann damit Strichmännchen zu zeichnen.
    „Körperteile“, antwortete einer der Studenten.
    „Dann sind Sie ein Mörder?“, kam es von einem anderen.
    Der Dozent nickte zufrieden. „Aber was mache ich mit den Opfern?“
    „Sie ausweiden?“, kam es unsicher von einer blonden Studentin, die die ganze Zeit fleißig mitgeschrieben hatte.
    „Aber ich mache noch mehr. Und nun frage ich Sie, ist es normal Körperteile in einem Kühlschrank zu lagern.“
    Allgemeines Kopfschütteln.
    „Für mich schon“, widersprach der Dozent seinen Studenten. „Sie müssen begreifen, dass Menschen mit einer dissozialen Veranlagung nach Ihrer eigenen inneren Logik leben.“
    Der Dozent trat vor das Pult und ging den schmalen Gang hinauf die Reihen entlang. „Also noch einmal. Ich habe Körperteile im Kühlschrank, warum?“
    Warum wohl? Himmel, würde bitte jemand aufzeigen und die Antwort sagen? Niilo blickte aus dem Fenster und beobachtete den Verkehr auf der Straße. Wieso nur gehörten diese elenden Vorlesungen zur Ausbildung dazu? Zur Hölle, warum war er überhaupt hier? Er atmete wehmütig aus. Weil sein Leben in der Sackgasse geendet war, genau deshalb.
    „Was haben Sie in ihrem Kühlschrank?“, tönte es abermals durch den Saal.
    Es gab bessere Orte zu dieser Jahreszeit. Er könnte auf eine Insel fahren, faul am Strand liegen. Nur noch 70 Minuten, dann war es soweit …
    „Yliato!!“
    Er schreckte hoch. Die stechend blauen Augen des Dozenten sahen direkt in seine. Die Arme waren vor dem Oberkörper verschränkt. Wann war er hierher gekommen?
    „Was haben Sie in Ihrem Kühlschrank?“
    „Essen“, antwortete er.
    Die Mundwinkel seines Gegenübers zogen sich nach oben, dann ging der Lehrende wieder in Richtung Pult. „Essen. So einfach ist das Ganze. Ich esse meine Opfer. Es ist für mich vollkommen normal.“
    Der Dozent drehte sich wieder zur Wand und wechselte die Folie. „Wenn wir diese Menschen finden wollen, dann fragen wir zunächst nach den äußeren Spuren. Wie haben Sie es gemacht und erst dann kommt das Warum. Wo liegen die Ursachen, welcher Gedanke steckt dahinter und was treibt sie an.“ Er ging um das Pult herum und lehnte sich dagegen. „Wichtig ist, dass sie kein falsches Bild der Fallanalytik bekommen. Wir sind keine Superbullen, wie sie im Fernsehen gezeigt werden. Wir folgen den Spuren der Kriminalistik, sind Kettenglied zwischen den Spezialdisziplinen.“


    Als die Vorlesung endlich ein Ende fand, war Niilo fast eingenickt. Das Klopfen von Fäusten auf die Tische riss ihn aus seinem Halbschlaf, und etwas benommen richtete er sich auf und trabte die Treppe des Vorlesungssaals herunter in Richtung der großen Holztür. Doch noch ehe er die Freiheit erreichen konnte, wurde er durch die Stimme des Dozenten aufgehalten: „Niilo, warte kurz.“
    Verdammt, fluchte er innerlich, fast hatte er es aus dem Saal geschafft. Er holte tief Luft und drehte sich wieder herum. Sein Dozent stand hinter dem Pult und räumte gerade seinen Laptop in seine Tasche.
    „Wieso bist du Polizist geworden?“ Die Schärfe in der Stimme seines Gegenübers ließ ihn erkennen, dass er gerade auf ganz dünnem Eis stand. Eventuell hätte er in den letzten Vorlesungen doch etwas mehr aufpassen sollen? „Ich meine, du zeigst null Interesse und das lässt mich zweifeln, ob es richtig war mich schützend vor dich zu stellen.“
    Niilo schwieg, denn im Grunde hatte er keine Ahnung, wieso er zur Polizei gegangen war. Er hatte die Entscheidung getroffen, als ihm alles im Leben egal gewesen war.
    „Bis Ende des Monats möchte ich eine Antwort. Ansonsten war es das für dich.“
    „Wieso bist du Polizist geworden?“, stellte Niilo die Gegenfrage. So schnell würde er sich nicht geschlagen geben. Wenn er das hier verlor, dann war da nichts mehr.
    „Weil mein Freund es war.“
    „Weil dein Freund es war?“, presste Niilo ungläubig heraus und verfolgte, wie sein Gesprächspartner die Seitentasche schulterte und dann aus dem Vorlesungssaal verschwand. „Zur Hölle! Das ist doch niemals eine vernünftige Antwort!“
    Niilo rannte aus dem Vorlesungssaal. „Und wieso bist du es nicht mehr?!“ Er lächelte innerlich. Er wollte eiskalt, dann bekam er es. Ganz sicher würde er ihn damit aus der Reserve locken.
    „Ich bin meinen Schülern keine Rechenschaft schuldig.“ Der Schwarzhaarige hob die rechte Hand. „Versuch, bei der nächsten Vorlesung nicht einzuschlafen …“

    Einmal editiert, zuletzt von harukaflower ()

  • Ein Jahr später


    Paul stieg aus dem Mercedes aus und reckte sich. Seine Nackenmuskeln hatten sich verkrampft und schmerzten unangenehm. Sie hatten die letzten drei Stunden auf Streife verbracht und nun waren sie auf einen Rastplatz gefahren, um sich am Nachmittag einen Kuchen zu gönnen. „Ich fühle mich, als wäre ich 90!“, stöhnte der Jüngere und lachte.
    Semir stimmte zu. Auch er war heute nicht topfit. Sie hatten sich gestern mit dem Team der PAST auf ein Fußball-Duell mit der Mordkommission eingelassen und am Ende haushoch verloren. Nur drei Tore hatten sie gemacht, während die Konkurrenz auf acht gekommen war.
    „Wir sitzen nun einmal nicht den ganzen Tag im Auto“, hatte er sich anschließend anhören müssen. Er ballte die Hand zur Faust. „Pah! Wir rennen sicherlich mehr als diese Sesselfurzer vom Mord!“, schimpfte er.
    „Die haben uns an einem schlechten Tag erwischt“, stimmte Paul zu. „Sonst hätten wir die aber so was von nieder gemacht!“
    „Bei der Revanche schlagen wir doppelt zurück!“, feuerte sich Semir selbst an. „Wir werden hart trainieren und dann machen wir die zu Hackfleisch.“
    „Eine gute Taktik!“ Paul lehnte sich gegen die Motorhaube. „So und wer holt jetzt den Kaffee?“
    „Immer derjenige, der fragt.“
    „Komm schon … Stein, Schere, Papier?“
    Semir lachte. „Nein, nein … darauf lasse ich mich nicht ein, Partner.“
    „Hast du etwa Angst, dass du verlieren könntest?“ Paul zwinkerte seinem älteren Partner zu.
    „Ich bin der Dienstälteste und damit kommen eben auch bestimmte Vorzüge“, widersprach Semir vehement. Er würde sich auf solche Dinge nicht einlassen.
    „Ach komm schon, nur ein Spie…“
    „Nein, nein … ich mache heute keinen unnötigen Schritt mehr!“, widersprach Semir.
    „Sei nicht so, ich habe gestern auch alles gegeben.“
    „Nein. Da bleibe ich eisern.“ Semir verschränkte die Arme vor der Brust.
    „Bitte …“
    „Nein!“
    „Im Gegenzug, da könnte ich au …“


    Weiter kam Paul nicht, denn plötzlich ertönte einen gedämpften Schrei. Ein Schrei, lauter und schriller als die laute Autobahn nur wenige Meter entfernt. Sofort preschten ihre Köpfe in die Richtung, aus der der Schrei gekommen war. Eine blonde Frau kam aus dem nahegelegenen Wald gestürmt. „Hilfe!“, rief sie. „Hilfe! Polizei!“
    Die beiden Kommissare kannten kein Halten mehr und waren sofort losgestürmt.
    „Gerkhan, Kripo Autobahn. Was ist mit Ihnen, sind sie verletzt?“, fragte Semir, der als Erster bei der Dame angekommen war.
    Sie schüttelte den Kopf. „Da … da …“ Sie schnappte hektisch nach Luft. „In dem Wald … im Wald, da …“
    „Ganz ruhig“, begann Semir. „Was ist in dem Wald?“
    „Eine Leiche“, schoss es nun aus der Frau heraus. Dann sackte sie zusammen und vergrub den Kopf in den Händen. „Oh Gott!“
    Semir hockte sich hin und strich ihr behutsam über den Rücken. „Ganz ruhig“, redete er der Zeugin zu. Er sah zu Paul auf und dieser nickte.
    „Ich schau mir das mal an“, erklärte der Blonde und verschwand dann in Richtung des kleinen Waldes.


    Es hatte nicht lange gedauert und Paul war tatsächlich auf den Leichnam gestoßen. Und es war kein Wunder, das die Frau so aufgebracht war.
    Der Mann vor ihm war übel zugerichtet. Die Kleidung war voller Blut, an der rechten Hand fehlten die Finger. Er spürte Übelkeit in sich aufsteigen. An Leichen würde er sich niemals gewöhnen. Dennoch machte er noch ein paar weitere Schritte in Richtung der Leiche und hockte sich herunter. Er zog sich Einmalhandschuhe über und tastete den Mann vor sich ab. Als er etwas Rechteckiges ertastete, zogen sich seine Mundwinkel ein Stückchen nach oben und dann zog er eine Geldbörse aus der Jackentasche. Immerhin schien sich der Täter keine Mühe gemacht zu haben die Identität des Opfers zu verschleiern und sie hatten einen Anhaltspunkt.
    „Und so etwas am frühen Morgen“, ertönte Semirs Stimme von hinten.
    Paul richtete sich auf und drehte sich um. „Kümmert sich jemand um die Frau?“
    „Eine Streife war in der Nähe, sie kümmert sich.“
    „Wer richtet jemanden so zu?“ Pauls brauen Augen fuhren über die Leiche. „Sieht nach einer Schlägerei aus … oder Mafia. Hast du die Hand gesehen? Es fehlen die Finger.“
    „Ja“, stimmte Semir zu. „Könnte für die Mafia sprechen, Folter und so … wer ist der Tote?“
    „Oh, ach ja.“ Paul öffnete das Portemonnaie. „Kimmo Letholainen“, las er vor.
    „Ein Finne?“
    Paul reichte Semir einen Ausweis. „Sieht zumindest Finnisch aus mit diesen ganzen Umlauten.“
    Der Ältere blickte das Dokument vor sich an. Ja, das war definitiv aus Finnland. „Ja, Finne“, stimmt er zu. „Was hat er hier gemacht?“
    „Scheint schon länger hier zu leben“, murmelte Paul, der weiterhin in dem Portemonnaie wühlte. „… da sind einige ältere Quittungen auf Deutsch.“
    „Wie alt?“
    „Schon einige Monate, also ist er mit Sicherheit kein Urlauber.“
    „Gibt es keine Dokumente, die auf seine jetzige Adresse hinweisen?“
    Paul schüttelte den Kopf. „Nein, keine. Aber Moment, vielleicht ist das ja was. Scheint eine Chipkarte zu sein.“ Der blonde Kommissar zog die Karte heraus und reichte sie Semir. „Ist eine Zugangskarte zum Rakuzan Dome.“
    „Und das ist?“
    „Na die große Sportarena in Köln.“
    „Achso.“ Semir gab seinem jüngeren Kollegen die Karte zurück. „Warum geben die heutzutage den Dingen auch so komplizierte Namen.“ Er sah auf die Leiche. „Dann scheint das wohl unsere erste Adresse zu sein“, erklärte er. Dann drehte er sich ein Stück weg. „Ich verständige mal die Rechtsmedizin und Co.“



    Nachdem die Kriminaltechnik und Rechtsmedizin eingetroffen war, waren Semir und Paul wieder zur PAST aufgebrochen, denn am Fundort der Leiche konnten sie jetzt ohnehin nichts mehr unternehmen. Stattdessen wollten sich die Beiden dem Leben des Toten widmen und so viel wie möglich über ihn herausfinden. Doch ehe sie ihr Büro überhaupt betreten hatten, wurden sie zur Chefin beordert.
    „Setzen Sie sich“, begrüßte Kim Krüger sie und lächelte. Ein Lächeln, welches Semir überhaupt nicht gefiel. Irgendwas stimmte nicht.
    „Es geht um die Leiche auf dem Rastplatz“, begann die Chefin der Dienststelle. „Und es sind leider keine Neuigkeiten, die Sie freuen werden.“
    „Lassen Sie mich raten, die Mordkommission reißt den Fall an sich“, fuhr Semir dazwischen. Natürlich war es das. Die mischten sich nur zu gerne in ihre Angelegenheiten.
    Kim Krüger schüttelte den Kopf. „Nein, nicht ganz. Finnland wird selbst eine Einheit schicken. Herr Letholainen war Mitglied der Basketball-Nationalmannschaft.“
    Semirs Augen rissen auf. „Er war was?“
    „Nationalspieler der Basketballmannschaft. Er hat hier in Deutschland bei …“ Sie sah in ihre Unterlagen. „… beim Rakuzan Köln gespielt.“
    „Und woher wissen die von dem Mord, ich meine, wir selbst wussten nicht mal, wer der Tote war und …“
    Kim Krüger nickte in Richtung des Großraumbüros. „Ich hatte Jenny damit beauftragt Letholainen schon einmal durch die Datenbank zu jagen.“
    „Basketballer“, wiederholte Semir ungläubig. War das in Finnland überhaupt ein beliebter Sport? Er wusste, dass die Finnen verrückt nach Eishockey waren, aber Basketball?
    „Wir sind also raus?“, sagte Paul.
    „Das wird sich zeigen. Ich habe darum gebeten, dass man uns einbezieht, es liegt bei den Mitarbeitern, ob sie es auch tun.“
    „Wissen Sie schon, wen man schickt?“, fragte nun wieder Semir.
    Sein Gegenüber schüttelte den Kopf. „Aber es wird kein Team der Mordkommission sein, wie bei den letzten Malen.“
    „Ich verstehe“, antwortete der Älteste im Raum. „Na dann, müssen wir wohl abwarten.“
    „Sie werden morgen anreisen“, erklärte Kim Krüger. „Bis dahin müssen sie in dem Fall auch nichts mehr unternehmen. Das läuft bereits alles über Finnland.
    „Aber …“
    „Nichts aber, Herr Gerkhan. Machen sie Feierabend für Heute. Morgen sehen wir dann weiter.“
    „Natürlich“, stieß er säuerlich aus und stand dann auf, um gemeinsam mit Paul das Büro zu verlassen. „Andrea freut sich sicher, dass ich heute früher zu Hause bin als sonst.“


    „Wie meinte sie das, mit den letzten Malen?“, fragte Paul neugierig nach, als sie das Büro verlassen hatten.
    „Ach … es ist nur, in der Vergangenheit hatten wir schon öfters eine Kooperation mit Finnland und meistens mit den gleichen Kollegen. Ein wirklich chaotischer aber auch sympathischer Haufen. Einer von denen war sehr gut mit Ben befreundet.“ Semirs Blick blieb auf Jenny hängen. Wo er nun darüber nachdachte, hatte er Veikko schon lange nicht mehr gesehen. Zwischen ihm und Jenny hatte sich in diesen Jahren eine Liebesbeziehung entwickelt. Waren sie kein Paar mehr oder hatte er einfach keine Zeit rüberzukommen? Und Jenny, war sie in den letzten Monaten in Finnland gewesen? Auch das konnte er nicht sagen. Sie hatte ihm schon lange keine Grüße mehr ausgerichtet, aber vielleicht passierte das mit der Zeit. Man vergaß den anderen. Vielleicht sollte er selbst mal wieder in Finnland anrufen und sich erkundigen, wie es allen ging?
    „Mal sehen, vielleicht kommt man ja auch mit denen aus, die sie schicken … solange sie uns mitarbeiten lassen. Das ist schon ein interessanter Fall.“
    „Aber eigentlich nicht unser Fachgebiet“, fügte Semir hinzu.
    „Das ist wohl wahr … Mord und Autobahnpolizei passt nicht gerade zusammen.“
    „Dennoch werden wir uns nicht so einfach geschlagen geben.“ Semir schlug seinem jüngeren Kollegen auf das Schulterblatt. „Und nun, lass uns Feierabend machen, wenn schon die Chefin das befiehlt.“



    *



    Ein großgewachsener braunhaariger Mann warf den Basketball aus einer Distanz von sechs Metern in Richtung Korb, der in vollkommener Dunkelheit lag. Er hörte die Kette klirren, als der Ball durch das eiserne Netz ging. Er lächelte und hob den Ball wieder auf, der ihm entgegenrollte. Heute fühlte er sich so entspannt, wie schon lange nicht mehr. Er hatte das Gefühl, als hätte er die richtige Entscheidung getroffen. Langsam aber sicher begann er sich hier wohlzufühlen. Wieder warf er den Ball in Richtung des Korbs und wieder konnte er einen Treffer versenken. Neun von zehn Treffern, keine schlechte Bilanz. Damit könnte er sicherlich beim nächsten Match einiges machen.
    „Dem letzten Wurf hat an Power gefehlt! Den hätte ein Gegner aufhalten können.“
    Er drehte sich herum. Am Zaun lehnte ein mittelgroßer Mann mit blonden Haaren.
    Ein Lachen entkam seinem Mund und er schleuderte den Ball hinüber. „Gut, zeig mal, wie es besser geht. One-on-One!“
    „Das muss warten. Es gibt Arbeit.“ Der Ball wurde zurückgeworfen. „Außerdem habe ich dich bisher immer geschlagen.“
    Ein Stöhnen hallte durch die Nacht. „Nie kann man seinen Spaß haben! Worum geht es?“
    Der Blonde zuckte mit den Schultern. „Was weiß ich, habe den Anruf auch erst vor 30 Minuten bekommen … und dann musste ich dich noch finden.“

  • Semir sah angespannt auf die Uhr. Man hatte ihnen gesagt, dass das Team aus Finnland gegen neun Uhr eintreffen sollte, nun war es bereits kurz vor Zehn.
    „Laufen die Uhren in Finnland anders?“, fragte Paul, während er die Arme hinter seinem Kopf verschränkte und an die Decke sah.
    „Die sind eine Stunde vor unserer Zeit“, antwortete Semir, obwohl er wusste, dass sein Partner die Frage nicht wirklich ernst gemeint hatte. „Umso schlimmer, dass sie nicht pünktlich sein können.“
    „Vielleicht ist ein Termin dazwischen gekommen. Ich glaube kaum, dass sie die Autobahnpolizei nun für so wichtig halten und nichts dazwischen schieben würden. Sesselfurzer sind doch alle gleich, egal woher sie kommen, oder?“
    „Mhm, wer weiß.“
    Vielleicht sollte man anrufen und sich erkundigen, ob es Probleme bei der Anreise gegeben hatte, oder …
    Mit einem Mal wurden seine Gedanken unterbrochen, als im Türrahmen eine Person auftauchte, mit der er so überhaupt nicht gerechnet hatte. Großgewachsen, braune Haare, braune Augen … „Ben“, stieß er ungläubig aus. „Was machst du denn hier?“
    Ein Lachen hallte durch das Büro und Ben machte einen Schritt nach vorne und breitete die Arme aus. „Begrüßt man so seinen Ex-Partner?“, fragte er angriffslustig.
    „Ich … natürlich nicht.“ Semir war aufgestanden und drückte den Überraschungsgast für einige Sekunden an sich. „Du hättest etwas sagen können!“, erklärte er empört.
    „Ich dachte, dass es dir klar wäre, wenn der Name ‚Totenwinter‘ fällt“, wehrte sich Ben.
    „Wie?“
    „Na, der steht doch in den Papieren, die wir gestern gefaxt haben.“
    Semir zog die Augenbraue hoch. „Welche Papiere?“
    „Na die Informationen zu Lehtolainen, die ich gestern noch aus der finnischen Datenbank für euch übersetzen lassen habe …“ Ben drehte sich in Richtung Tür, wo ein junger blonder Mann stand. „Du hast sie doch gefaxt oder?“
    „Du wolltest sie faxen“, kam es im gebrochenen Deutsch zurück.
    „Eh? Ich bin mir ganz sicher, dass du es übernehmen wolltest.“
    „Darf ich zitieren: Eine solch wichtige Aufgabe kann ich keinem Anfänger überlassen, hol du Kaffee.“
    Bens Hand fuhr über sein Gesicht. „Das habe ich aber doch nicht ernst gemeint. Ironie, Niilo. Das Stichwort ist Ironie! Als wenn ich dich so runterstufen würde …“
    Der Braunhaarige winkte ab. „Na, wie dem auch sei. So ist die Überraschung größer, was?“ Danach griff er nach dem T-Shirt seines jungen Kollegen und zog ihn in das Büro rein. „Und nun sei nicht so schüchtern. Das ist mein früherer Partner, Semir“, erklärte er euphorisch. „Und der Mann, der keine Ironie versteht, das ist Niilo Ylianto. Mein …“ Ben schien für einige Momente darüber nachzudenken, welches Wort er wählen sollte. „ … Kollege“, sagte er dann schließlich.
    „Freut mich“, antwortete Semir und stellte dann Paul vor, der das Schauspiel still von seinem Schreibtisch aus verfolgt hatte.
    „Ich hole zwei Stühle. Niilo, such du doch schon einmal die Unterlagen raus. Die deutsche Version …“ Ehe Semir seinem früheren Partner sagen konnte, dass er auch schnell Stühle besorgen konnte, war Ben bereits ins Großraumbüro verschwunden. Durch die Glasfenster verfolgte er, wie er innig Jenny und einige der anderen Kollegen begrüßte, die er noch aus seiner Zeit bei der PAST kannte.
    „Ich glaube, es dauert länger“, sagte er.
    „Sieht danach aus“, stimmte auch Paul zu.


    „Und du bist also Bens Kollege? Gerade mit der Ausbildung fertig nicht?“, richtete Semir jetzt an Niilo. Er war sich sicher, dass Ben diesen Namen schon einmal am Telefon erwähnt hatte.
    „Ja.“
    „Und. Wie lange arbeitet ihr schon zusammen, seit Ben bei Totenwinter angefangen hat?“, hakte der Deutschtürke weiter nach. Es war gerade einmal drei Monate her, da hatte Ben bei Totenwinter angefangen. Eine Sonderkommission, die sich um grenzüberschreitende Verbrechen kümmerte. Ein neuer Versuch, nachdem sein USA-Abenteuer gescheitert war. Ein Freund von Ben hatte ihm den Job besorgt und Semir war froh darüber, obwohl er insgeheim gehofft hatte, dass er zurück an die PAST kommen würde. Aber da hatte sein Freund und ehemaliger Partner schon recht gehabt: Hier gab es derzeit keine freie Stelle und auch wenn er so viele gute Jahre mit Ben hatte, wollte er auch Paul an seiner Seite nicht mehr missen.
    „Ja, er ist mein erster Partner“, antwortete Niilo, während er mit einer Mappe rumhantierte.
    Semir schien es, als würde er junge Mann geradezu innerlich aufatmen, als Ben mit zwei Stühlen wieder in das Büro kam und somit das Kreuzverhör beendete.
    „Also gut, lasst uns beginnen“, beschloss der Braunhaarige und setzte sich auf einen der Stühle. „Die wichtigsten Infos zu Lehtolainen habt ihr ja schon: 27, Profi-Basketballer, Mitglied der Nationalmannschaft und Spieler hier bei Rakuzan Köln. Er hinterlässt seine Verlobte, Nila Virtanen“, las Ben vor. „Wir haben sie gestern Abend noch verständigt, leider nur über Telefon, da sie derzeit hier in Deutschland ist. Sie kann sich nicht vorstellen, wer ihren Freund umgebracht hat.“
    „Wir haben an Wettmafia gedacht, wegen der Finger“, setzte Semir an.
    „Wettmafia ist eine Möglichkeit, allerdings gilt Lehtolainen nach erster Aussage eines früheren Spielerkollegen als fairer Spieler und er schien keine Geldprobleme zu haben.“
    „Wer hätte sonst Grund dazu, jemanden die Finger abzuschneiden?“, fragte Paul.
    „Wir haben im Augenblick keine Anhaltspunkte“, gab Ben zu. „Ich hoffe, die Gerichtsmedizin kann uns schon einmal weiterhelfen. Ab wann können wir da etwas erwarten?“
    „Heute Nachmittag“, sagte Semir.
    „Mhm. Ziemlich spät. Gut, dann werden Niilo und ich gleich zu dieser Sportarena fahren. Vielleicht redet ihr mit der Freundin von Lehtolainen?“
    „Das klingt nach einem guten Plan“, stimmte Semir zu. „Heute Mittag wieder hier?“
    Ben nickte, stand auf und schlug Niilo freundschaftlich auf die Schulter. „Na dann, auf geht’s!“
    „Ich müsste vorher noch auf die Toilette“, meldete der blonde Finne leise an.
    „Gut gut, ich warte dann draußen auf dich. Du gehst einfach hier rechts und dann wieder links …“


    Ben folgte seinem Kollegen mit den Augen und griff dann nach seiner Jacke. „Lasst euch von dem ersten Eindruck nicht täuschen. Es ist nur ...“ Der Braunhaarige kratzte sich am Hinterkopf. „ … sein erster großer Fall.“
    Semir lachte. „Das ist doch verständlich. Wie läuft es in Helsinki?“
    „Ich versuche zu ergründen, wieso ich hingezogen bin. Nachdem der Winter vorbei ist, scheint dort Dauerfrühling zu sein … ich bezweifle schon, ob wir jemals die 30 Grad knacken werden“, stöhnte der Angesprochene. „Aber gut, ich bin Mikael trotzdem dankbar, dass er mir diesen Job beschafft hat und Niilo ist auch wirklich ein guter Partner, wenn eben auch unerfahren. Aber so habe ich dann auch mal die Chance der Dienstälteste zu sein.“ Ben lachte. „Dummerweise kann ich jetzt nicht mehr so lässig agieren, wie damals mit dir. So viele Pflichten.“
    „Muss ja furchtbar sein!“, fügte Semir gespielt mitfühlend an.
    „Wenn du wüsstest, was ich derzeit durchmachen muss!“ Ben verpasste seinem früheren Partner einen Klaps. „Aber nun, lass uns arbeiten. Wir reden später ausführlich.“

  • Ben lenkte den Mercedes auf die Autobahn. Er war froh darüber, dass das erste Zusammentreffen mit Semir nach den letzten Monaten so gut verlaufen war. Insgeheim hatte er Angst gehabt, dass ihm sein Partner die Entscheidung vielleicht doch übel genommen hatte, auch wenn er bei Telefonaten immer das Gegenteil behauptete.
    Aus dem Augenwinkel beobachtete er, wie Niilo sein rechtes Knie massierte. Er seufzte auf. „Ich habe dir gesagt, du sollst dich von Veikko nicht einwickeln lassen, wenn er dich wegen dem Fußballspiel fragt.“
    Niilo lehnte den Kopf an die Fensterscheibe. „Es ist ja nur ein kleines Spiel.“
    „Du hast Knieschmerzen. Deshalb warst du doch auf Klo, um eine Tablette zu nehmen, oder? Ich habe doch gesehen, wie du den ganzen Morgen krampfhaft versucht‘s nicht zu humpeln. Sag dieses Spiel ab.“
    „Du hängst eindeutig zu viel mit Mikael rum“, kam es mürrisch. „Dieses analysieren von anderen Menschen, schalte das ab, ehe es ausartet!“
    „Dann solltest du zumindest das tägliche Training aussetzen. Ich möchte nämlich nicht auf unser Revanche-Match verzichten. Und ich weiß, dass Basketball bei dir über Fußball steht, also?“
    „Jaja, ist ja gut … wir sind sowieso erst einmal beschäftigt mit diesem Fall.“
    „Wir werden denjenigen finden, der das getan hat“, erklärte Ben bestimmt, während er Gas gab und den nächsten Gang hineindrückte. „Den Deal hast du hoffentlich nicht vergessen.“
    Ein Stöhnen ertönte neben ihm. „Keine Ermittlungen ohne deine Erlaubnis, jaja.“
    „Hat er sich jemals über den Verein beschwert in euren Gesprächen?“, lenkte Ben das Gespräch schließlich wieder in andere Richtungen.
    „So oft haben wir nicht mehr telefoniert, aber nein, eigentlich nicht.“
    „Hat er sonst etwas erwähnt, was vielleicht wichtig gewesen sein könnte?“
    „Ich weiß nicht“, erklärte Niilo. „Er hat viel über Basketball geredet und die Spiele … da habe ich meist auf Durchzug gestellt.“
    „Mhm … Naja, mal sehen, vielleicht hilft uns ja dieser Verein weiter“, erklärte Ben und lenkte den Wagen von der Autobahn hinunter. Nach weiteren zwei Kilometern Fahrt waren sie schließlich an der riesigen Sportarena angekommen, die erst wenige Jahre alt war.
    Ben stellte den Wagen auf dem großzügigen Parkplatz ab und gemeinsam machten sie sich auf in Richtung der Arena. „Wirklich ein großes Ding“, staunte der Ältere. Er war noch nie hier gewesen, da er schon in die USA gezogen war, ehe der Bau abgeschlossen wurde. Nun bekam er Lust, hier mal ein Basketball-Spiel live zu sehen. Vielleicht könnte er auch Niilo überreden, das er mit ihm in Helsinki ein Spiel besuchte. Mikael würde da wohl eher nein sagen. Bei ihm gab es nur zwei Sportarten, für die er alles liegen lassen würde: Eishockey und Formel 1.
    Als sie durch den Haupteingang traten, absolvierte Ben schnell das Formale an der Rezeption und anschließend wurden sie dann von einer jungen Frau in Richtung des Büros geführt, in welchem der Manager sein Reich hatte.
    „Die Herren von der Polizei“, wurden sie vorgestellt und der etwas dickliche kleine Mann stand hinter seinem modernen Glasschreibtisch auf.
    „Hallo, Reichelt“, stellte er sich vor. „Ich bin der Manager hier.“
    „Jäger, Soko Totenwinter … mein Kollege Ylianto“, erwiderte Ben.
    „Setzen Sie sich.“
    „Danke.“


    Nachdem sie sich gesetzt hatten, suchte Ben einige Sekunden nach dem richtigen Anfang für das Gespräch. „Zunächst einmal unser herzlichstes Beileid“, begann er schließlich und beobachtete, wie Reichelt nickte.
    „Wie lange war Lehtolainen bereits hier bei Ihnen?“
    „Ein Scout war auf ihn aufmerksam geworden, in einem Spiel der U20-Mannschaft. Ein interessanter Spieler“, berichtete ihnen der Manager mit einem leuchten in den Augen. „Eigentlich gab es noch einen Mann, der von noch größerer Interesse war, der fiel dann aber wegen einer Knieverletzung bereits zum dritten Mal länger aus – da ist ihnen eigentlich klar, dass die Karriere nicht mehr viel Potential hat.“
    Bens Blick ging für einen Augenblick zu seinem Partner, dann wieder zu Manfred Reichelt. „Und dann haben Sie ihn hergeholt?“
    „Nein, ein anderer Verein hatte ihn uns weggeschnappt, vor vier Jahren ist es uns dann gelungen ihn herzuholen. Seitdem spielt er für uns. Ein solider Spieler.“
    „Hatte er vielleicht in letzter Zeit Probleme?“, stellte Ben die nächste Frage. Wieder sah der Braunhaarige kurz nach rechts, aber es schien, als würde sich Niilo an die Absprache halten, und ihn die Fragen stellen lassen.
    „Nein. Zumindest hat er nicht mit mir darüber geredet. Alles schien in Ordnung zu sein, er war wie immer.“
    „Wäre es vielleicht möglich auch mit den Mitspielern zu sprechen?“
    Reichelt wippte mit dem Kopf.
    „Wir verdächtigen natürlich niemanden aus der Mannschaft, es geht nur darum sich ein Bild zu machen, was für ein Mensch Lehtolainen war.“
    „Gut … aber erst nach dem Training.“ Reichelt sah auf seine Uhr. „Es dauert noch etwa 30 Minuten, sie können ja solange oben auf der Tribüne zusehen.“
    „Das wäre nett“, bedankte sich Ben höflich und stand dann auf, um Reichelt die Hand zu geben.
    „Wenn Sie weitere Fragen haben, können sie natürlich jederzeit auf mich zurückkommen.“
    „Danke sehr. Wir wissen ihre Kooperation wirklich zu schätzen.“


    Als sie das Büro von Reichelt verlassen hatten, führte sie eine junge Sekretärin in Richtung der Tribünen. „Ich werde Sie dann hier wieder abholen, wenn das Training vorbei ist“, sagte sie freundlich, ehe sie dann wieder verschwand.
    Ben vernahm das Quietschen von Turnschuhen und leises Knallen, wenn ein Ball auf den Boden aufkam. Geräusche, die ihm vertraut waren. Er sah von der Tribüne herunter in die Basketball-Arena.
    „Zu mir Müller!“, rief einer der Spieler und hob dabei die Hand. Ben folgte gebannt, wie der Ball dem Rufenden zugeworfen wurde und dieser dann aus sieben Metern Entfernung den Ball im Korb versenkte.
    „Verdammt, die sind wirklich …“ Der Rest seines Satzes blieb ihm im Hals stecken, als er das Gesicht von Niilo sah. Die Sehnsucht in den Augen des Jüngeren, die zusammengepressten Lippen.
    „So gut sind sie auch nicht“, erklärte der Blonde dann und löste sich von der Bande, um sich etwas weiter hinten auf einen der Sitzplätze zu setzen.
    Ben folgte ihm. „Welche Position hast du gespielt?“
    „Point Guard.“
    Der Braunhaarige nickte. In der Regel war der Point Guard sehr schnell und wendig. Ebenso war seine Spielübersicht wichtig, da er darüber entschied, wann welcher Spielzug gestartet wird.
    „Wow … ich meine, das war sicher ‘ne wichtige Aufgabe, oder?“
    „Ja“, kam es leise zurück.
    Ben schwieg und sah auf das Spielfeld. Er musste dringend mit Semir über diesen Umstand reden. Es war eine Sache, die sie ohnehin nicht Geheim halten konnten. Fakt war nun einmal, das Niilo den Toten sehr gut kannte. Fakt war auch, das Ben ihn eigentlich überhaupt nicht dabei haben wollte. Er hatte gegenüber der Chefin geäußert, dass er es nicht richtig fand, einen persönlich involvierten Kollegen zu schicken, aber sie hatte abgeblockt und gemeint, dass es gerade in diesem speziellen Umfeld ein Vorteil sein könnte. Sicher hatte Reichelt von ihm geredet, oder? Wie viele Operationen hatte Niilo gehabt, ehe er aufgegeben hatte? Waren es drei oder vier gewesen? Ob es gut war für ihn, hier oben zu stehen und auf das Feld zu blicken, auf dem man jetzt hätte spielen können? Er verdrängte den Gedanken aus seinem Gehirn. Nach allem, was er bisher über Niilo wusste, war er niemand, der seinen Kummer in sich hineinfraß.
    „Alle Positionen sind wichtig“, hörte er seinen jüngeren Partner nach einigen Minuten sagen. „Also im Basketball, es gibt niemanden, auf den man verzichten kann.“
    „Es war sicher hart, als dein Traum … als er so von einen auf den anderen Tag zerschmettert wurde.“
    „Zerschmettert, gute Wortwahl.“
    „Es tut mir leid, du hast Recht. Nicht gerade perfekt gewählt“, stimmte Ben zu. Er lehnte sich zurück. „Ist sicher ähnlich, wie bei mir. Ich dachte, immerhin auch die USA wäre das Nonplusultra. Manchmal kommt es eben anders, als man sich erhofft. Ich hatte LA und meine Freundin, nun ein paar Jahre später, habe ich beides nicht mehr.“
    „Ich hätte nur aufhören müssen. Ich hätte nur weniger trainieren sollen, die Reha-Phase einhalten, aber ich hatte es so eilig zurückzukommen, dass mir alles egal war.“ Niilo stöhnte. „Das habe ich nun davon, ein total zerstörtes Knie.“
    „Du trägst da nicht alleine die Verantwortung, auch deine Trainer sind nicht ganz unschuldig, weißt du?“
    „Jaja.“ Niilo winkte ab. „Das hat Mikael schon hundert Mal gesagt.“
    „Na, dann solltest du es glauben. Er hat meistens Recht.“
    „Pah, er tut immer so cool und am Ende hat er doch ein weiches Herz!“
    Ben lachte. „Ach was, er tut nicht nur so … ich bin mir sicher, er hat seine Macht als Dozent wahrlich ausgenutzt.“
    Niilo zupfte sich am Ohr. „Kurz vor den Prüfungen, hätte er mich fast von der Akademie gekickt … steht vor mir und verlangt von mir eine Antwort auf die Frage, wieso ich Polizist geworden bin. Idiot!“
    „Du scheinst es ja richtig beantwortet zu haben, was?“
    „Ich habe gesagt, dass ich es hasse zu verlieren. Geht das als richtige Antwort durch?“ Der blonde Finne war aufgestanden und sah auf das Spielfeld. „Ich hatte über die Frage nie nachgedacht und dann, am Ende des Monats stand er wieder da und wollte eine Antwort. Es war das Erste, was mir eingefallen war und ich war sicher, dass es das nun war.“
    „Und dann?“, fragte Ben neugierig nach.
    „Nichts … alles, was er gesagt hat, war: Okay.“ Niilo legte den Kopf auf das Eisengeländer. „Okay … und damit war es gegessen.“
    Ben lachte laut auf. Nun, das schien typisch Mikael zu sein. Man wusste nie, was wirklich in ihm vorging. Insgeheim war sich Ben sicher, dass er Niilo niemals wirklich von der Akademie geworfen hatte. Vielleicht wollte er einfach nur, dass er darüber nachdachte, was er vom Leben wollte.
    „Das ist wirklich nicht witzig“, kam es mürrisch von seinem jungen Kollegen.
    „Ich finde schon!“
    „Ich hätte mir fast in die Hose gemacht“, schimpfte Niilo, lächelte dabei aber. Die blauen Augen des Finnen verfolgten das Spiel unter ihnen. „Aber ich sag dir, die spielen wirklich nicht gut.“
    Ben stellte sich neben den Blonden und sah ebenfalls wieder herunter. „Denkst du manchmal darüber nach, wo du heute wärst?“
    „Nein.“ Niilo zuckte mit den Schultern. „Bis vor zwei Jahren habe ich es getan, aber es bringt nichts … ich muss mich mit dem Leben abfinden, was ich jetzt habe und es ist immerhin nicht so schlecht.“
    „Mhm.“ Ben drückte seine Hand auf die Schulter seines Kollegen. „Und wo du nun mich als deinen Partner hast, ist es sicherlich noch viel besser geworden“, erklärte er mit einem Lachen.
    „So hätte ich es nicht einmal in meinen kühnsten Träumen ausgemalt …“

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  • Die Verlobte des Opfers, Nila Virtanen, lächelte Semir und Paul müde an, als sie die beiden Kommissare in das Wohnzimmer führte.
    „Es tut uns wirklich Leid, dass wir sie belästigen müssen“, erklärte Semir. „Aber es ist wichtig einen Eindruck von ihrem Mann zu bekommen.“
    „Natürlich.“ Nila Virtanen sprach perfektes Deutsch, dennoch war es für Semir nicht schwer zu erkennen, dass sie Finnin war. Sie rollte das „R“ ähnlich, wie es auch Veikko getan hatte. „Wollen Sie vielleicht einen Kaffee?“
    „Das ist nicht nötig“, antwortete Semir.
    „Es macht wirklich keine Umstände. Es dauert nur ein paar Minuten.“
    „Ich hätte gerne einen“, griff Paul ins Gespräch ein und lächelte.
    Die Frau nickte. „Dann mache ich schnell einen. Dauert nicht lange.“
    „Ja, danke.“
    Als Nila Virtanen gegangen war, begann Paul durch das Wohnzimmer zu streifen. „Ich dachte, so könnten wir vielleicht einen ersten Eindruck erhalten, ohne sie in Verlegenheit zu bringen, weil wir ihre Privatsachen so anstarren.“ Der blonde Polizist blieb vor der Vitrine stehen. „Das nenne ich mal viele Pokale“, lobte er anerkennend.
    „Was hast du erwartet? Er ist Sportler.“ Semir setzte sich auf das Sofa. „Und sonst etwas von Bedeutung?“
    „Nur ein paar Teamfotos, nichts wirklich … das glaube ich jetzt nicht!“
    Semir sprang wieder vom Sofa aus. „Was? Was ist da!“
    „Na der Typ hier …“ Paul zeigte in Richtung eines der Teamfotos, die in blauen Rahmen neben bestimmten Pokalen standen. „… Ich kann mich irren, aber sieht der nicht wie der Finnische Kollege aus?“
    Es dauerte nur wenige Sekunden und Semir hatte sich neben seinem Partner platziert, um intensiv das Foto zu studieren. In der Tat, der Jugendliche in der zweiten Reihe sah wirklich wie Niilo aus.
    „Er hat diese alten Pokale geliebt, auch wenn der große Titel nie dabei war.“
    Die beiden Kommissare schreckten zusammen. In ihrer Überlegung hatten sie nicht gehört, wie Nila Virtanen zurück in das Zimmer gekommen war.
    „Oh, Entschuldigung.“ Sie senkte beschämt den Kopf und stellte das Tablett auf den Wohnzimmertisch.
    „Sagen Sie, Frau Virtanen. Kennen Sie die alten Teamkollegen Ihres Freundes?“, fragte Paul nun.
    Sie nickte und lächelte. „Sicher … wir sind ja schon seit wir 16 waren zusammen.“
    „Dieser Mann, wie ist sein Name?“, hakte Paul weiter nach und zeigte auf das Foto.
    Nila Virtanen trat näher an sie heran. „Der Kleinere mit den blonden Haaren?“
    „Ja.“
    „Niilo Ylianto. Sie haben zusammen in der U18 und U20 gespielt. Ich glaube auch einige Spiele in der Nationalmannschaft.“ Sie lachte leise. „Kimmo hat immer behauptet, dass er ohne Niilo auf dem Spielfeld weniger Körbe werfen würde.“
    „Sie sagten, einige Spiele. Was ist passiert?“, wollte Semir wissen. Der Ältere blickte auf das Foto. Hatte Ben davon gewusst, oder verschwieg ihnen der junge Kollege etwas? Er hatte offensichtlich eine intensive freundschaftliche Beziehung zum Opfer gehabt.
    „Es ist eigentlich eine traurige Geschichte. Schon als er 17 war, hatte Niilo die erste Knie-OP. Er war in nur wenigen Monaten wieder im Team, dann mit 19 kam die nächste OP … und ehe er es sich versah, hat er sich in einer Spirale wiedergefunden, der er nicht entkommen konnte. Mit dem Profi-Basketball aufzuhören war die einzige Option.“ Nina Virtanen begann mit ihren blonden Haaren zu spielen. „Kimmo hat in der Nacht ebenfalls geweint, auch wenn er es natürlich nie zugegeben hat.“
    „Und was macht dieser Niilo heute?“
    „Sie glauben doch nicht, dass Niilo ihn umgebracht hat?! So etwas würde er niemals tun!“
    „Nein, nein“, versuchte Semir mit ruhiger Stimme. „Es ist nur … er ist uns sofort ins Auge gefallen.“
    „Das letzte Mal habe ich ihn vor eineinhalb Jahren gesehen, da war er auf der Polizeiakademie, aber ich glaube, dass er insgeheim weiter versucht hat Profi zu werden. An einem Abend, an dem wir Essen waren, hatte er von einem Streetbasketball-Fest erzählt, wo auch Scouts vorbeischauen würden.“
    „Und?“
    „Kimmo hat aber nie davon erzählt, ob er da was gewonnen hat. Ich habe zwar gehört, dass sie öfters telefoniert hatten, aber das hat Kimmo mit vielen alten Teamkameraden. Es war nichts besonders und da mische ich mich auch nicht ein.“
    Semir nickte und drehte sich von der Vitrine weg. „Sollen wir uns setzen?“, fragte er und führte Nila Virtanen in Richtung der Sitzgruppe, wo sie sich auf das längliche Sofa niederließen. Wenig später folgte auch Paul und setzte sich in den Sessel.
    „War ihr Freund die letzten Tage vielleicht anders als sonst?“, begann Semir.
    „Er war den Tag vor seinem Tod nicht nach Hause gekommen.“ Nila Virtanen bettete ihre Hände auf ihrer Jeanshose. „Ich habe es für nichts besonders gehalten. Er bleibt manchmal eine Nacht bei einem Freund, der in der Nähe der Arena wohnt.“ Ihre Fingerspitzen gruben sich in den Jeansstoff. „Ich wusste ja nicht, dass er …“
    „Es ist nicht ihre Schuld“, erklärte Paul. „Sie haben nichts falsch gemacht.“
    „Aber ihr Freund hat sich nicht auffällig verhalten?“, fragte Semir.“
    „Nein, er war wie immer. Fröhlich, aufgeschlossen, aber auch verbissen, was die nächsten Spiele anging.“
    „Er war also sehr engagiert, was seinen Sport anbelangte?“, wollte der Ältere der beiden Polizisten wissen.
    „Ja, sicher. Kimmo war vielleicht keiner dieser großen Talente, aber er hat hart gearbeitet und er hatte Spaß an seinem Sport.“
    Paul lehnte sich etwas vor. „Hatte er vielleicht Feinde?“
    „Nein, ich denke nicht … also natürlich gegnerische Spieler, aber das sind doch eher Rivalen als Feinde.“
    Der Blonde nickte. „Ja, da haben Sie natürlich Recht.“


    Das Gespräch mit Nila Virtanen hatte noch zwanzig Minuten gedauert, dann hatten Semir und Paul all ihre Fragen gestellt und sich auf den Rückweg zur PAST gemacht.
    „Denkst du, dass dein alter Kollege davon wusste?“, fragte Paul nach einer Weile.
    „Das dieser Niilo das Opfer kannte?“ Semir zuckte mit den Schultern. Er hatte die letzten Minuten darüber nachgedacht, konnte aber keine Entscheidung fällen. Doch irgendwie hatte er das Gefühl, als hätte Ben davon gewusst. Nach Aussage eines früheren Spielerkollegen, hatte Ben bei ihrem Meeting vor ein paar Stunden gesagt. Nun war auch klar, wer dieser Spieler gewesen war.
    „Ich habe das Gefühl, das Ben davon gewusst hat. Aber sicher bin ich mir natürlich nicht.“
    „Wie sollen wir damit umgehen? Ist er dadurch nicht privat involviert?“
    „Ich werde später mit Ben darüber sprechen. Danach Entscheiden wir, was zu tun ist.“
    „Gut, ich vertraue dir in dieser Sache, auch wenn ich diesen Niilo am liebsten sofort darauf ansprechen will, was dieses Versteckspiel soll.“



    *


    „Okay, machen wir ein Spiel daraus. Ich spiele One-on-One gegen dich. Wenn ich gewinne, beantwortest du unsere Fragen.“
    Ben seufzte. Er hätte sich denken können, dass Niilo so etwas sagen würde, nachdem der Kapitän der Mannschaft ihnen gesagt hat, dass er selbst entscheiden könne, wann er Lust hätte, ihre Fragen zu beantworten. In zwei Stunden würde ihm passen, hatte er gesagt. Ben selbst war kurz davor gewesen, ihm eine offizielle Vorladung auf das Revier zu verpassen, dann war Niilo dazwischen geplatzt.
    Der Zweimeter-Mann vor ihnen grinste frech. „Du weißt aber schon, auf was du dich einlässt?“
    „Ja, du auch?“ Niilo griff nach dem Ball vor seinen Füßen und ließ ihn ein paar Mal auf den Boden auftippen. „Also?“
    „Das wird ein Kinderspiel, Herr Kommissar.“
    „Niilo, ich weiß nicht, ob …“, wollte Ben einwerfen, doch als er die Entschlossenheit im Gesicht des Angesprochenen sah, wusste er, dass er ohnehin keine Chance haben würde. Er schob die Hände in die Jeanstasche. „Gut gut, aber du gewinnst besser.“
    „Für wen hältst du mich?“ Niilo zwinkerte ihm zu. „Auch ich habe meine Ehre. Machst du den Tip-Of?“
    Ben nickte und nahm den Ball von seinem Kollegen entgegen, um sich bereit zu machen. Tip-Of, das war das Hochwerfen des Balls zu Beginn eines Spiels.
    Ben trat zurück und lehnte sich an die Hallenwand. Natürlich hatte Niilo den Tip-Of verloren. Gegen die Größe dieses Müllers kam er trotz seiner Sprungstärke kaum an. Nur unmittelbar danach warf der Profi-Spieler den ersten Korb. Doch dann schien das Spiel eine Wende zu nehmen. Ben sog die Luft zwischen den Zähnen ein. Der Kerl hatte sich doch tatsächlich in ihren zahlreichen kleinen Spielen in den letzten Monaten zurückgehalten. Niilo hatte den Ball perfekt im Griff, dribbelte schnell und konnte Müller immer wieder austricksen. Mal versenkte er einen Wurf aus großer Entfernung zum Korb, mal holte er sich Punkte durch einen Dunk, wo der Ball von oben durch den Ring gedrückt wird. Ben grinste. Nun wurde ihm klar, woher Niilo den Spitznamen „Der Stratege“ erhalten hatte.
    Und am Ende konnte er sich so tatsächlich mit 5 – 3 gegen den Konkurrenten durchsetzen.
    Niilo warf Müller den Ball zu. „Und? Nun bereit, mit dem niedrigen Volk zu reden?“, fragte er mit einem angriffslustigen Lächeln.
    Müller musterte den Mann vor ihm. „Wie war dein Name?“
    „Ylianto.“
    „Ich hätte wohl besser zuhören müssen, als ihr euch ausgewiesen habt, was?“ Müller ließ den Basketball in seinen Händen kreisen. „Kimmo hat oft von einem Ylianto gesprochen.“
    „Ja, mag sein. Also, war er in die Wettmafia involviert?“ Ben konnte heraushören, wie wenig Niilo diese Frage selbst gefiel. Seine Stimme war bei dem Wort Wettmafia unglaublich leise geworden.
    „Was für ein Quatsch. Er hatte damit nichts am Hut. Kimmo war der ehrlichste Spieler, den ich kannte. Hat ja sogar Fouls angezeigt, die er selbst begannen hat.“ Müller ließ den Ball auf den Boden tippen. „Ich weiß nicht, wer ihm das angetan hat, aber Kimmo hat nicht verdient so zu sterben. Ermordet und im Dreck liegen gelassen.“
    „Ihm wurde … man hat ihm …“
    Ben trat nach vorne und legte seine Hand auf Niilos Schulter. Er drückte sanft zu. „Lass nur, ich mache die restliche Befragung. Warte im Auto, ja?“
    Er bekam keine mündliche Antwort, nur ein mechanisches Nicken. Dann ging sein junger Kollege langsam an ihm vorbei und verließ die Halle.
    „Man hat ihm die Finger der rechten Hand abgetrennt“, setzte Ben fort, als er sicher war, dass Niilo nicht mehr in Hörweite war. Obwohl er natürlich jedes Detail aus der Akte wusste, wollte er nicht, dass er sich das immer und wieder anhören musste.
    „Der rechten Hand? Der mit der er dribbelt, also?“
    „Ja. Wir müssen wohl davon ausgehen, dass das die Intention des Täters war.“
    „Das ist ja … wer macht denn so etwas?“
    „Er hat sich wirklich nicht bedroht gefühlt? Etwas erwähnt, das komisch war? Irgendetwas?“
    Müller zuckte mit den Schultern. „Nein. Es war alles wie immer … wobei, Moment. Es gab da einen Zwischenfall vor ein paar Wochen, aber ich glaube wirklich nicht, dass es damit zu tun hatte.“
    „Alles ist wichtig.“
    „Wir waren einen Sieg feiern, da hat er einen alten Freund getroffen. Eine Finne. Es ist in einem Streit geendet, aber Kimmo wollte nie erzählen, worüber sie sich gestritten haben.“
    „Können Sie den Mann beschreiben?“, hakte Ben nach.
    „Ich weiß nicht … es ist schon lange her. Ich könnte es aber versuchen.“
    „Das wäre uns wirklich eine große Hilfe. Ich werde ihnen die Adresse unserer Dienststelle aufschreiben, sobald Sie hier fertig sind, können Sie bitte vorbeikommen und ein Phantombild machen?“
    Müller nickte. „Natürlich.“

  • Als Ben zurück zum Auto kam, lag Niilo auf der Motorhaube und sah in den wolkenverhangenen Himmel. „Lehtolainen hat sich vor einigen Wochen mit jemand gestritten. Finne, vermutlich.“
    „Mhm.“
    „Mhm? Mehr bekomme ich nicht von dir?“ Ben lehnte sich neben seinem jungen Kollegen an das Auto und sah in das Gesicht von Niilo. Er hatte also endlich begriffen, dachte er. Verstanden, dass sein Freund nicht zurückkommen würde. Dass Kimmo Lehtolainen ermordet wurde.
    Er verfolgte, wie eine Träne über die Wange von Niilo lief. „Er ist tot … Kimmo ist tot.“
    „Ja, er ist tot und wir werden denjenigen finden, der dafür verantwortlich ist.“
    „Und wenn wir es nicht tun?“ Niilo richtete sich auf. „Was dann?“
    „Er wird nicht entkommen. Es gab einen Streit, wir lassen ein Phantombild von dem Typen machen und vielleicht kennst du ihn ja.“
    Der blonde Kommissar rutschte von der Motorhaube herunter. „Vielleicht bin ich am Ende ja doch nur in einer Sache gut – Basketball.“
    „Komm, steig ein. Ich fahre dich ins Hotelzimmer.“
    „Wir haben doch noch einen Termin in der Rechtsmedizin …“
    „Du glaubst doch nicht, dass ich dich dahin mitnehme? Glaub mir, Niilo, es gibt Dinge, die sollte man sich ersparen.“ Ben öffnete die Autotür der Fahrerseite. „Und bei der nächsten Befragung keine Spiele mehr.“
    Der Ältere hatte mit Protest gerechnet, doch stattdessen nickte sein Kollege und stieg ins Auto ein. Ben seufzte und tat es ihm dann gleich. „Es ist wirklich besser so“, wiederholte er abermals.


    Nachdem Ben seinen jüngeren Kollegen im Hotel abgeliefert hatte, hatte er Semir angerufen und mit ihm vereinbart, dass man sich direkt an der Rechtsmedizin treffen würde. Auf dem Weg dahin war Ben noch einmal die wenigen Fakten durchgegangen, die sie bisher hatten und er hatte sich Gedanken darüber gemacht, was er am besten mit Niilo anstellen sollte. Als er auf dem Parkplatz der Rechtsmedizin angekommen war, zog er sein Handy heraus. Er suchte in den Kontakten nach Mikaels Namen und wählte die Nummer an.
    „I am currently on vacation”, ertönte nach wenigen Freizeichen Mikaels Stimme. „I will answer your call when I am back.”
    Ben stöhnte. Es war also kein Scherz gewesen, als Mikael gesagt hatte, dass er während des Urlaubs sein Handy ausschalten würde. Dabei brauchte er gerade wirklich einen Rat von jemand, der Niilo länger kannte. Er hatte Niilo als sortierten, manchmal gelangweilten Polizisten kennengelernt. Einen Wutausbruch oder die Tatsache, dass er mal etwas lauter wurde, hatte er noch nie erlebt. Aber würde er wirklich mit diesem Fall zurechtkommen? Wirklich, dass waren die Momente, in denen er seine Chefin bei Totenwinter wirklich hasste. Sie verlange oft viel zu viel von ihren Mitarbeitern.


    Der Braunhaarige stopfte sein Handy wieder in die Tasche, als er sah, wie Semir den silbernen BMW auf den Parkplatz lenkte und neben seinem Wagen parkte.
    „Und was herausgefunden?“, begrüßte in der Dienstältere.
    „Er hatte vor einigen Wochen Streit mit einem Mann der Finnisch gesprochen hat. Der Spieler kommt heute noch vorbei und wird ein Phantombild machen. Und bei euch?“
    „Nichts, was uns im Fall weiterbringt“, antwortete Semir.
    „Gut, vielleicht hilft uns der Besuch bei der Rechtsmedizin ja mehr.“
    „Wo ist denn dein Kollege?“ Dieses Mal war es Paul, der sprach.
    „Er ist schon einmal ins Hotel. Es war ein langer Tag.“ Ben kratzte sich am Kopf. „Na ja und Blut sehen, kann er auch nicht wirklich.“
    „Aha. Dann mal los.“ Ohne auf eine Antwort zu warten, hatte sich Paul in Richtung des Rechtsmedizinischen Instituts begeben. Einige Meter dahinter folgten Semir und Ben.
    „Was ist denn mit ihm?“, flüsterte Ben seinem ehemaligen Partner zu. „Hab ich was falsches gesagt?“
    „Es geht um Niilo“, erklärte Semir. „Oder vielmehr um das, was ihr nicht sagt.“
    „Was meinst du?“
    „Das er das Opfer kennt, vielleicht.“ Semir hatte aufgehört zu flüstern und war stehen geblieben, um Ben zu mustern und der hatte sich natürlich sofort durch seinen Gesichtsausdruck verraten. „Du wusstest also davon. Gibt es ein speziellen Grund, weshalb wir davon nicht erfahren?“
    Ben lächelte verlegen. „Ich habe einfach nicht den richtigen Zeitpunkt gefunden … wollte es nicht mit Niilo im Raum tun …“
    „Nun, hier ist von ihm weit und breit nichts zu sehen und du hast es dennoch verschwiegen“, schaltete sich Paul ein, der die Arme vor der Brust verschränkt hatte. „Stattdessen müssen wir es über eine Fotografie in der Wohnung des Opfers herausfinden. Wie hätten wir denn ausgesehen, wenn die Frau gewusst hätte, dass er Polizist ist und in diesem Fall ermittelt?“
    „Ja, ist vielleicht dumm gelaufen …“, erwiderte Ben.
    „Das kann man wohl laut sagen!“ Semir schüttelte den Kopf. „Und was hast du nun mit ihm vor? Ich kann kaum glauben, dass deine Abteilung das so hinnehmen wird.“
    „Es ist eigentlich genau der Grund, weshalb man Niilo und mich geschickt hat. Die Salminen denkt, wir könnten von seinem Fachwissen im Basketball profitieren.“ Ben kratzte sich am Kopf. „Ehrlich, ich halte es auch für keine gute Idee, aber ich kann es auch nicht ändern.“
    „Er ist hoffentlich so vernünftig und fuscht uns nicht ins Handwerk.“
    Ben lächelte. „Niilo ist nicht gerade der Typ, der ohne Anweisung selbst tätig wird … oder zumindest nicht im Polizeiberuf.“ In dem Augenblick, in dem Ben diese Behauptung aufgestellt hatte, zerschlug sie in seinem Kopf in tausende Einzelteile. Nicht im Polizeiberuf, aber im Basketball und was war, wenn sich beides vermischte? War es wirklich so schlau gewesen, ihn alleine im Hotelzimmer zu lassen? Was wenn er nun doch selbst Ermittlungen anstellte.
    Er zog sein Handy aus der Hosentasche. „Ich muss mal kurz jemand anrufen, geht schon einmal vor.“
    „Ben“, hörte er Semir sagen.
    „Bitte, es ist wirklich wichtig“, sagte er nur und zu seinem Erleichtern lenkte Semir ein, wenn auch nur unter großem Widerspruch, wie man seinem säuerlichen Gesicht entnehmen konnte.
    Als Paul und Semir außer Hörweite waren, wählte er eilig die Nummer von Niilo an.
    „Ja?“, kam es nach wenigen Sekunden vom anderen Ende der Leitung.
    „Wo bist du?“
    „Wie? Auf dem Zimmer, wie du es gesagt hattest.“
    Es war keine Lüge, denn im Hintergrund hörte Ben eine Nachrichtensendung.
    „Du wirst nicht alleine losziehen, oder?“
    „Was soll das?“ Niilo schien den Fernseher auszuschalten, denn nun wurde es leise im Hintergrund.
    „Ich will nur sicher gehen, dass du uns nicht in Schwierigkeiten bringst.“
    „Das hatte ich nicht vor.“
    „Danke. Bis später dann!“
    „Bis dann …“
    Als Ben wieder auflegte, kam er sich reichlich dumm vor. Was hatte ihn nur dazu bewogen, dieses absolut peinliche Telefonat zu führen? Nun ja, immerhin konnte er jetzt sicher gehen, dass Niilo auch wirklich nichts plante.


    Er steckte sein Handy wieder ein und ging dann Richtung des Instituts, wo er seinen Ausweis vorzeigte und in den Aufzug in die Kellerräume nahm. Als er im Arbeitszimmer des zuständigen Rechtsmediziners angekommen war, war dieser bereits dabei Paul und Semir die Fakten zu erklären.
    Das Trio hatte kurz aufgesehen, doch er hatte mit einer Handbewegung erklärt, dass der Rechtsmedziner ruhig fortfahren sollte.
    „Wie gesagt, auf Grund der Verletzungen können wir davon ausgehen, dass er vielleicht um die 24 Stunden gefangen gehalten wurde. Dort gefoltert und schließlich ermordet“, berichtete der Arzt. „Auffällig ist auch ein Messerschnitt an den Rippen.“
    Ben trat näher an den Toten heran, um zu sehen, worauf der Mann zeigte.
    „Hier direkt über dem Tattoo“, sagte der Rechtsmediziner.
    „War es Absicht?“, fragte Paul. „Das es so aussehen sollte, als wäre es durchgestrichen?“
    „Es wäre eine Vermutung wert. Alle anderen Messerverletzungen sind Stiche und keine Schnitte.“
    „Alle Stammspieler der damaligen U18-Mannschaft haben sich ihre Startnummer an der Stelle tätowieren lassen “, berichtete Ben. „Es war wohl ein Zeichen der Verbundenheit.“
    „Hör mal, da hat aber jemand seine Hausaufgaben gemacht.“ Semir klopfte seinem ehemaligen Partner auf die Schulter. „Du bist fleißiger, als früher.“
    „Es war nicht besonders schwer herauszufinden“, beschwichtigte Ben. „Du vergisst, dass Niilo Teil der U18 war.“
    „Er hat also auch dieses Tattoo?“
    „Ja, die Sechs, meine ich. Die Athleten sind ziemlich unterschiedliche Wege gegangen: Einige spielen in der finnischen Liga, einige in europäischen Ligen und wieder andere haben die Profi-Karriere schon beendet.“
    „Wieso streicht jemand das Tattoo durch?“, fragte Paul. „Wenn wir davon gehen, dass es aus Absicht war, gibt es dann einen direkten Zusammenhang zu dieser U18?“ Der Blonde sah in Bens Augen. „Wo war eigentlich dieser Niilo zur Tatzeit?“
    Ben lachte laut auf. „Du traust ihm diesen Mord zu?“
    „Er wirkte nicht gerade, als würde ihn das Schicksal seines Freundes interessieren!“, wehrte sich Paul.
    „Jeder geht eben anders damit um, aber wenn du es genau wissen willst. Er war mit Freunden zusammen und diese Freunde waren alle Polizisten!“
    „Jungs.“ Semir stellte sich zwischen die Streithähne und hob die Arme. „Beruhigt euch!“
    „Er beschuldigt meinen Partner als Mörder!“, schimpfte Ben weiter. „Niilo würde niemals seinen Freund umbringen!“
    „Es war nur eine Routinefrage“, wehrte sich Paul. „Denn der einzige Name, den ich bisher dauernd bei diesen Ermittlungen höre, ist Niilo Ylianto. Vielleicht war er ja eifersüchtig auf Lehtolainens Karriere, immerhin ist er nie im Profi-Sport angekommen.“
    „Weil er eine chronische Knieverletzung hat! Aber das heißt nicht, dass er seinen früheren Teamkollegen ihre Erfolge nicht gönnt. Ganz im Gegenteil: Er freut sich über jeden Erfolg seiner Freunde!“
    „Es ist gut jetzt!“ Inzwischen war auch Semir lauter geworden und dieses Mal schien er Erfolg zu haben, denn die beiden jüngeren Polizisten verstummten.
    „Es ist eine Möglichkeit, dass einer der früheren Teamkollegen es war, wenn wir das mit der Nummer einbeziehen“, erklärte Semir. „An Niilo glaube ich jedoch nicht. Er hatte keine Möglichkeit, war die letzten Tage in Finnland.“
    „Und jetzt?“
    „Wie wäre es mit einem gemeinsamen Essen? Wir gehen das ganze Team durch und machen eine Liste mit denen, die ein Problem mit Kimmo Lehtolainen haben könnten. Lass auch diesem Typ vom Verein eine Liste mit den Spielern zukommen, vielleicht erkennt er jemanden“, summierte Semir. „Und Ben? Hol Niilo, er könnte dabei eine Hilfe sein.“
    „Ich weiß nicht, er war ziemlich unten nachdem wir an der Arena waren.“
    „Wir hören auf, wenn es zu viel wird. Aber im Augenblick ist er eine wichtige Hilfe, auf die ich nicht gerne verzichten würde.“

  • Niilo lag auf dem Bett und starrte an die Decke. Füllte es sich so an, wenn man etwas verlor, was einem wichtig war? Es war das erste Mal, dass jemand starb, der ihm wirklich wichtig gewesen war.
    Er seufzte. Wieso nur war Kimmo tot? Aus welchem Grund hatte er verdient zu sterben?
    Das Klingeln seines Smartphones durchbrach seine Gedanken und er griff danach. Vermutlich ein Kontrollanruf von Ben. Was dachte der, würde er jetzt tun? Alleine nach dem Mörder suchen? Er war nicht dumm, wusste, dass er alleine ohnehin nichts erreichen konnte.
    Als er auf den Bildschirm blickte, musste er feststellen, dass es nicht Ben war. Er seufzte und nahm den Anruf entgegen.
    „Thore, was macht Kopenhagen?“
    „Nur noch Papierkram. Ich bin noch heute fertig“, berichtete die Stimme am anderen Ende.
    „Ist das ein neuer Rekord. Fall in zwei Tagen gelöst?“ Niilo stand auf und öffnete die Tür zum Balkon, um dann hinauszugehen. Er lehnte sich über das Geländer. „Kommst du jetzt nach Köln?“
    „Abwarten, der Drachen hat mich zurück nach Helsinki beordert.“
    „Du solltest die Salminen nicht so nennen.“
    „Es ist die Wahrheit … wenn ich die schon sehe, da könnte ich brechen! Wir sind der doch egal, es geht nur darum sich zu profilieren.“
    „Denkst du, unsere Sonderkommission wird wirklich geschlossen?“
    Für einige Sekunden blieb es Still am anderen Ende der Leitung. „Sag schon Thore, was denkst du?“
    „Ich weiß nicht“, kam es im nachdenklichen Ton. „Und wenn, dann sind wir die Verlierer!“
    „Sag so was nicht.“
    „Wer will schon zwei Weirdos?“
    „Du bist der Beste in deinem Jahrgang gewesen, du wirst keine Probleme haben.“ Niilo lachte. „Ich hingegen, ich habe mich gerade erst an euch gewöhnt und das hat lange genug gedauert.“
    „Wer nimmt einen Polizisten mit einem Trauma.“
    „Die Salminen hat es.“
    „Wie überraschend.“ Thore stöhnte. „Und mich würde immer noch interessieren, womit die erpressbar war.“
    „Thore?“
    „Mhm?“
    „Ich verstehe die Leere in dir … zum ersten Mal, verstehe ich sie.“
    „Das ist gut für dich!“ Sein Gesprächspartner lachte und Niilo wusste, dass es nur gespielt war. Dass Thore es überspielen wollte.
    „Ich weiß nicht, wie wir ohne dich Kimmos Mörder finden sollen“, versuchte Niilo das Gespräch wieder in eine andere Richtung zu lenken.
    „Ben ist ja da.“
    „Ich weiß … wir haben nur einfach keinen Anhaltspunkt. Wir stecken fest.“
    „Steck den Kopf nicht in den Sand, Niilo. Ich bin mir sicher, dass ihr bald einen Hinweis findet und dann habt ihr den Mörder in Nullkommanichts.“
    Niilo wollte antworten, als er ein Klopfen an der Zimmertür hörte. „Moment, da ist jemand. Ich ruf dich gleich zurück, ja?“
    „Ok.“



    Niilo legte sein Handy auf die Fensterbank. Wieder klopfte es. „Zimmerservice“, hörte er von der anderen Seite eine männliche Stimme rufen.
    „Ja, ich komme“, rief er zurück, schlürfte durch das Hotelzimmer und zog die Holztür offen. Seine Augen weiten sich, als er sah, wer auf dem Flur stand.
    „Hallo, Niilo.“ Ein großer blonder Mann quetschte sich an ihm vorbei in das Zimmer.
    „Woher weißt du, dass ich hier bin?“
    „Ich bin dir gefolgt.“ Der Mann lächelte. „Ich dachte, wir wären gleich … dass wir beide Basketball hassen würden.“
    „Was willst du?“, zischte Niilo und sah seinem Gegenüber in die Augen.
    „Liebst du Basketball noch?“
    „Was soll diese dumme Frage?“ Niilo umgriff die Türklinge fester. „Ich möchte, dass du jetzt gehst!“
    „Das kann ich nicht, nach der Fünf kommt bekanntlich die Sechs.“
    Ehe der finnische Kommissar die Worte richtig verstehen konnte, blitzte ein Messer auf und er wurde am Kragen gepackt und in das Zimmer zurückgezogen, während die Tür zuknallte. „Bist du bereit für deine Strafe?“
    „Bist du noch ganz dicht!“ Niilo befreite sich aus dem Griff und wich einige Meter zurück.
    Der Mann lachte. „Ich dachte, du hättest mit Basketball abgeschlossen und dann muss ich sehen, wie du immer noch Freude daran hast!“
    „Warst du es? Hast du Kimmo umgebracht!“
    Der Blonde trat einen Schritt auf ihn zu und Niilo machte automatisch einen Schritt nach hinten, nur um dann festzustellen, dass er gegen die Fensterbank stieß. Er musste kämpfen, wenn er das hier überleben wollte und er war ein verdammt schlechter Kämpfer. Beim Boxen unterlag er regelmäßig haushoch gegen Thore …
    Das Handy! Er versuchte so unauffällig wie möglich nach seinem Smartphone zu greifen, um den letzten Anrufer zurückzurufen, doch es gelang ihm nicht. Der Angreifer packte ihm am Arm, riss ihn von der Fensterbank weg und schleuderte ihn durch den Raum. Niilo landete auf einem kleinen Glastisch, der laut klirrend in seine Einzelteile zersprang. Er hielt vor Schmerz den Atem an. Er fühlte, wie sich einige der Scherben in seine Haut gebohrt hatten, spürte das warme Blut auf der Haut.
    Der Blonde drückte sich auf ihn. „Kimmo habe ich die Finger abgeschnitten, was denkst du, würde bei dir passend sein?“
    Nein! In Niilo erwachte noch einmal der Kampfeswille. Er rammte sein rechtes Bein hoch, traf den Angreifer im Magen und warf ihn weg. Das Messer löste aus der Hand und er hechtete los. Doch er hatte sich zu früh gefreut, sein Fußgelenk wurde umgriffen, wodurch der die Balance verlor und hart auf dem Boden aufkam. Einmal mehr schien alle Luft aus seinen Lungen zu entweichen.
    In nur wenigen Sekunden war er wieder der Unterlegene. „Nun hör doch auf zu zappeln!“, säuselte eine raue Stimme.
    „Lass mich!“ Niilo bäumte sich auf, doch das bewegte den Anderen nur zu einem Lachen. „Du warst mir schon immer körperlich unterlegen!“
    „Wir können nichts für dein Schicksal!“
    Eine Hand presste sich gegen seinen Mund. „Nun hör doch auf, so zu schreien.“ Der Angreifer zog ein Tuch aus seiner Tasche und stopfte es ihm in den Mund. „Bald ist es ja vorbei!“
    Der ungebetene Gast packte seinen Kopf und rammte ihn mit voller Wucht auf den Boden. Niilo schrie auf, doch durch das Tuch in seinem Mund drang nur ein leises Stöhnen nach draußen. Alles um ihn herum wurde zu einer verschwommenen Suppe. Er versuchte den ehemaligen Teamkollegen von sich zu stoßen, doch seine Hand griff ins Nichts.
    Er hörte Lachen. „Angst, Niilo?“
    Niilos Brust hob und senkte sich unter hektischen Atemzügen, sein Blick verriet seine Panik. Er wollte nicht sterben … so nicht!
    „Ich muss dafür sorgen, dass auch du nie wieder spielst!“
    Der junge Polizist wurde an den Schultern gepackt und auf den Bauch gedreht, nur wenig später, spürte er das Gewicht seines Peinigers auf den Rücken.
    Ein letztes Mal versuchte sich Niilo aufzubäumen, doch auch jetzt war er viel zu benommen, um wirklich etwas ausrichten zu können. Und dann spürte er es an seiner Kniekehle. Erst die Kälte einer Klinge, kurz darauf einen unendlichen Schmerz …

  • „Niilo, ich bin zurück.“ Ben klopfte zwei Mal an die Tür, ehe er die Chipkarte durch die Vorrichtung zog und hineintrat. „Wir gehen gleich Essen, wollen die Ergebnisse durchgehen. Semir meint …“
    Ben blieb abrupt stehen, sein Atem stockte. Das konnte nicht echt sein. Er befand sich in einem Albtraum und würde gleich aufwachen.
    Ein Trugbild. Ein verdammtes Trugbild!
    Niilo lag in der Mitte des Raumes auf dem Boden inmitten von Scherben auf einem weißen Teppich, der sich mit Blut vollsog. Als er sah, wie sich der Brustkorb hob, löste sich die Schockstarre in seinen Körper. Ben hechte zu seinem jungen Kollegen und fiel neben ihm auf die Knie. Mit den Augen suchte er seinen Freund nach Verletzungen ab. Das rechte Bein war blutverschmiert, es gab eine Stichverletzung in der Rippengegend. „Niilo, kannst du mich hören?!“
    Seine Hand legte sich auf die Wange. „Niilo. Bitte … sag was!“
    Die schmerzverzerrten blauen Augen fokussierten ihn und die Lippen öffneten sich. „Ben … er ist … Balkon …“, kam es leise.
    Der Braunhaarige sprang auf, rannte in Richtung des Balkons. Auf der Straße sah er eine Gestalt, die in die gegenüberliegende Gasse hetzte. Für einen Moment hatte Ben den Impuls ihm hinterherzuspringen, doch dann erkannte er, dass es jetzt wichtigeres gab. Er musste sich jetzt auf Niilo konzentrieren.
    Er drehte sich herum und rannte zurück in das Hotelzimmer.
    „Das nächste Mal nehmen wir den siebten Stock …“, keuchte Niilo leise hervor.
    „Besser den Achten, um sicher zu gehen. Wer ist der Kerl?“, fragte er und zog gleichzeitig sein Handy heraus, um einen Notruf abzusetzen.
    Die Augen seines Kollegen wurden kleiner. „Nicht einschlafen, Niilo.“ Ben tätschelte die Wangen des Finnen. „Wach bleiben. Wie ist sein Name? Kennst du ihn?“
    „Ju … ssi.“
    Ben nickte. „Wir kriegen den Kerl, ja. Alles wird in Ordnung kommen … die Rettung kommt gleich“, erklärte er und zog dabei seinen Pullover über den Kopf, um ihn anschließend auf die stark blutende Wunde auf der Brust zu drücken.
    „Ist es … schlimm?“ Niilos Hand griff nach seiner und Ben spürte, wie sich der jüngere Kommissar geradezu an ihm festzuklammern schien.
    „Deine erste Verletzung im Dienst?“ Ben lächelte. „Es ist nicht schlimm. Davon wirst du nicht sterben.“
    „ … müde“, nuschelte der Blonde neben ihm hervor.
    „Das ist normal. Mach dir darum keine Gedanken“, antwortete er mit ruhiger Stimme. Denn das war alles, was Ben jetzt tun konnte: Selbst die Ruhe bewahren. Es war egal, ob er gerade log. Wenn er in diesem Moment in Panik verfiel, würde es Niilo nicht helfen.
    Es waren nur wenige Minuten, und doch kam es ihm wie eine Ewigkeit vor, bis der Rettungswagen endlich eintraf und der Notarzt, gefolgt von Sanitätern herantrabte. Ben hatte versucht, die Situation so detailliert wie möglich zu erklären, ehe er ihnen das Feld überließ und einige Meter zurücktrat, um nicht im Weg zu stehen. Er blickte in das bleiche Gesicht von Niilo, der inzwischen das Bewusstsein verloren hatte.
    „Wir werden ihren Kollegen in das St. Marien-Hospital bringen“, informierte ihn der Notarzt, als man Niilo auf die Trage hob.
    „Ist es sehr schlimm?“, fragte Ben und spürte, wie ihm die Stimme zu versagen drohte.
    „Das können wir derzeit nicht sagen. Momentan sind die Vitalwerte wieder stabil …“
    „Ich verstehe.“ Ben nickte. „St. Marien-Hospital“, wiederholte er. Der Notarzt nickte ein weiteres Mal, ehe er das Hotelzimmer mit eiligen Schritten verließ.


    Ben war zum Fenster getreten und sah zu, wie man seinen jüngeren Freund in den Rettungswagen schob, der dann mit Blaulicht und Martinshorn um die Straßenecke verschwand. Langsam und wie betäubt ging er zurück in das Zimmer, ließ sich auf das Bett sinken und vergrub das Gesicht in den Händen. Wie nur war es so weit gekommen? Wieso hatte er Niilo nicht einfach mitgenommen. Er schüttelte den Kopf. Solche Fragen brachten ihn jetzt nicht weiter. Er hatte nichts verkehrt gemacht. Nichts hatte darauf hingedeutet, dass Niilo ein potenzielles Opfer war. Jetzt musste er sich darauf konzentrieren, was sie hatten. Jussi … mit dem Namen konnten sie bestimmt etwas anfangen. Sie würden den Kerl schnappen.
    Ein Handy klingelte und zerriss Bens Gedanken. Sein Kopf hob sich und er sah auf das vibrierende Smartphone auf der Fensterbank. Er schluckte und stand dann auf. Wenige Sekunden später starrte er auf das Display und überlegte, ob er rangehen sollte. Aber was sollte er dann sagen? Schließlich überwand er sich dennoch, nahm das Gerät in die Hand und das Telefonat entgegen.
    „Ich dachte, du gehst überhaupt nicht mehr ran!“, kam es ungeduldig von der anderen Seite. „Wo waren wir stehen geblieben …“
    „Thore, ich bin es Ben“, unterbrach er und sofort wurde es Still am anderen Ende.
    „Was ist passiert?“
    „Niilo wurde im Hotelzimmer überfallen“, antwortete Ben mechanisch und blickte auf den blutverschmierten Teppich. „Ich warte noch auf die Spurensicherung, dann fahre ich zum Krankenhaus.“
    „Ich … ist es schlimm?“
    „Ich glaube schon, ich weiß nicht. Er hat das Bewusstsein verloren, als wir auf die Rettung gewartet haben.“
    „Was für Verletzungen?“
    „Stichverletzung in der Brust. Und sein rechtes Knie … mehrere tiefe Schnitte.“
    „Ich werde so schnell kommen, wie ich kann.“
    „Was ist mit der Salminen?“
    „Du weißt, dass mich ihre Meinung nicht interessiert“, kam es vom anderen Ende der Leitung. „Ich nehme den nächsten Flug! Schick mir bitte die Unterlagen an meine Email-Adresse.“
    Ehe Ben etwas erwidern konnte, war das Gespräch beendet worden und er war wieder alleine in der Stille.
    Solange, bis abermals ein Handy klingelte. Dieses Mal seines. Er nahm es aus der Tasche und hielt es sich ans Ohr.
    „Wir haben gerade davon gehört“, sagte Semir aufgeregt. „Soll ich dich abholen und ins Krankenhaus fahren?“
    Ben breitete die linke Hand vor seinem Gesicht aus und verfolgte, wie sie leicht auf und ab zitterte. „Das wäre nett“, antwortete er dankbar. „Ich glaube, ich bin doch etwas durch den Wind.“
    „Ich bin gleich da. Ich nehme Paul mit, er kümmert sich dann um die Dinge vor Ort.“
    „Danke, Partner.“
    Ben legte auf und steckte das Handy wieder in die Tasche. Einmal mehr sah er auf den weißen mit Blut getränkten Teppich. „Keine Sorge, Niilo. Wir bekommen den Kerl“, sagte er entschlossen und ballte die Hand zur Faust.

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  • Ben ging im Wartezimmer auf und ab. Die Unruhe in seinem Körper hatte nicht nachgelassen seit er vor zwei Stunden hier angekommen war.
    „Ben, bitte setz dich hin“, ermahnte Semir ihn bereits zum dritten Mal. „Du machst mich mit nervös.“
    „Was dauert da auch so lange!“
    „Du musst Geduld haben.“
    Ben stöhnte und setzte sich dann auf einen der zahlreichen Stühle. „Wieso habe ich ihn alleine im Hotel gelassen?“
    „Niemand konnte damit rechnen.“ Semir legte seine Hand auf Bens Schulter.
    Der Braunhaarige vergrub den Kopf in seinen Händen. „Ich weiß … es ist nur, Mikael hat mir Niilo anvertraut und nun fühlt es sich so an, als hätte ich versagt.“
    „Du hast nichts falsch gemacht, Partner.“
    „Wir müssen den Kerl finden.“
    „Paul kümmert sich darum.“
    „Niilo kannte ihn … Jussi hat er gesagt … Jussi.“
    „Bisher gibt es keinen Jussi in der Basketballmannschaft. Paul sucht weiter …“
    „Aber es muss ihn geben! Es ist der Name den Niilo gesagt hat!“ Bens Finger gruben sich in seine Haare.
    „Ben, wir werden den Kerl finden.“
    Der Angesprochene nickte und fixierte dann die Uhr gegenüber von sich. Warum verging diese verdammte Zeit einfach nicht? Wieso hatte ihnen noch niemand etwas gesagt?
    „Hier zu sitzen, hilft ihm nicht.“
    Bens Kopf preschte nach oben. Vor ihnen stand ein junger Mann, um die Achtundzwanzig. Schwarzes Haar, von dem einige Strähnen quer im Gesicht hingen. Jeans, Top und ein offener Kapuzenpullover. Am Schlüsselbein waren Teile eines japanischen Schriftzeichens zu erkennen, das Ben schon oft in voller Größe gesehen hatte. Kämpfen, stand dort geschrieben.
    „Thore.“ Ben war neben ihm aufgestanden und drückte seinen Kollegen an sich. „Du bist gekommen.“
    „Das sagte ich ja. Wie sieht es aus?“
    „Sie operieren noch …“, entgegnete Ben leise.
    Der Schwarzhaarige nickte und hielt dann Semir seine Hand hin. „Thore Berg. Ich und Ben sind Kollegen.“
    „Semir Gerkhan.“
    „Der mit den vielen kaputten Dienstwagen?“ Thore lächelte und sah dann zu Ben. „Wobei einen hast du ja auch schon.“
    „Das war deine Schuld“, protestierte Ben. „Du hast rechts gesagt, ich bin rechts gefahren!“
    „Am Ende ist immer der Fahrer der Schuldige!“, antwortete der Jüngere. „Das Schild hat ja deutlich gesagt, dass dort eine Sackgasse war.“
    „Jaja, rede dich nur raus.“
    Thore drehte die Haarsträhne in seinem Gesicht zwischen den Fingern. „Lass uns in die Cafeteria gehen. Wir sollten anfangen den Kerl zu jagen, der das war.“
    „Ich würde lieber hier …“, wollte Ben protestieren, doch da hatte ihn Semir bereits dezent mit der Hand auf dem Rücken in Richtung Tür geschoben.


    Als sie in der Cafeteria des Krankenhauses angekommen waren, bestellten sie sich drei Kaffee und setzten sich etwas abseits an einen Tisch.
    „Ich bin die Akten durchgegangen, die du mir zukommen lassen hast“, begann Thore, während er eines der Zuckertütchen aufriss und in den Kaffee schüttete.
    „Und?“, hakte Ben neugierig nach.
    Der schwarzhaarige Kommissar holte sein Tablet aus der Tasche, legte es auf den Tisch und drehte es dann in Richtung von Semir und Ben. „Das erste Opfer, Kimmo Lehtolainen, hatte die Nummer fünf als Startnummer in der U18, ja?“
    „Ja.“
    „Niilo hat die Sechs als Tattoo.“
    Ben nickte. „Worauf willst du hinaus?“
    Der Jüngere lehnte sich zurück. „Und hier dachte ich, du bist der zweite Basketball-Crack in unserem Team.“
    Bens Augen weiteren sich, als er verstand, worauf Thore hinauswollte. In Europa begannen die Startnummern im Basketball normalerweise ab Nummer vier. „Die Vier …“
    „War es nur ein Zufall, dass er nach Lehtolainen Niilo angegriffen hat?“ Thore lehnte sich wieder nach vorne. „Oder folgt er einer Reihenfolge? Ist das der Fall, müssen wir uns fragen, was mit der Nummer vier ist. Ist es der Täter? Ein Opfer von dem wir nichts wissen, oder passt er nicht ins Muster?“
    „Niilo hat den Namen Jussi genannt. Niemand in der Mannschaft hieß so“, erklärte Ben jetzt.
    „Mhm. Hast du eine Mitgliederliste?“
    „Mein Kollege ist da dran. Er sucht jetzt die Teammitglieder heraus, die zur gleichen Zeit wie Niilo und Lehtolainen gespielt haben“, sagte Semir.
    „Vielleicht ist es auch ein Spitzname“, warf Thore ein. „Hat Niilo nur das gesagt?“
    Ben dachte zurück an die Situation vor einigen Stunden. Er nickte langsam. „Ja, nur Jussi. Danach hat er noch etwas gesprochen, aber ein Nachname war nicht dabei.“
    „Jussi …“ Thore begann eine Haarsträhne zwischen den Fingern zu zwirbeln. „Vielleicht ist es für jemanden mit Nähe zum Team offensichtlich, wer gemeint ist?“
    „Wir könnten die Verlobte von Lehtolainen fragen“, warf Ben ein.
    „Das wäre eine gute Idee“, stimmte auch Semir zu. „Soll ich mit deinem Kollegen eben hinfahren, während du hier die Stellung hältst?“
    Ben blieb einige Sekunden still. Er war sich nicht sicher, was er wollte. Einerseits würde er ungern das Krankenhaus verlassen, andererseits glaubte er auch, dass ihn die Ermittlungen ablenken konnten und er was zu tun hatte, während er hier nur rumsaß.
    „Ich kann auch einer Schwester sagen, dass sie uns informieren soll. Dann fahren wir alle gemeinsam“, fügte Semir nach einer Weile hinzu, als schien er genau zu wissen, was sein früherer Partner dachte.
    Ben nickte. „Danke, mir fällt sonst sicherlich hier die Decke auf den Kopf.“


    *


    Paul tippte ungeduldig mit den Fingern auf seinem Schreibtisch. „Was kann denn da so ewig dauern!“, schimpfte er laut.
    „Finnland hat eine ziemlich gute Datenbank auf der offiziellen Seite der Basketball-Union.“
    Der blonde Kommissar sah nach oben und erblickte Jenny, die in der Tür lehnte. „Geht vielleicht schneller, als der Behördenweg“, fügte sie lächelnd an.
    „Woher weißt du denn so was?“
    „Du vergisst, dass ich viele Wochenenden in Helsinki verbringe.“ Jenny lachte und kam an den Schreibtisch. Sie beugte sich neben ihn über den Schreibtisch und zog die Tastatur zu sich heran, um dann einige Suchbegriffe in den Browser zu tippen. „Niilo hatte da mal mit Veikko drüber geredet bei einem Grillabend.“
    „Veikko?“
    „Mein Freund, du Dummkopf.“ Die junge Polizistin gab ihm einen Klaps auf den Hinterkopf. „Schau, hier kann man das Jahr auswählen …“, erklärte sie und Paul richtete seinen Kopf wieder nach vorne auf den Bildschirm, auf dem eine Tabelle erschien. „Übersetzt du sie mir jetzt auch?“, fragte er nach. „Wo steht die Startnummer?“
    „Das ist die vorletzte Zeile“, kam es von seiner Seite. „Hier, da ist Niilos Name und seine Nummer.“
    „Wir müssen jetzt jedes Jahr einzeln nachprüfen, nehme ich an.“ Paul seufzte auf. „Welche Jahre hat er in der U18 gespielt?“
    „Komm rutsch zur Seite, ich mache das.“
    Paul stand auf und überließ seiner Kollegin den Stuhl. „Wir suchen insbesondere nach der Startnummer 4 und nach einem Namen, der vielleicht irgendwas mit Jussi zu tun hat.“
    „Das ist doch ein Vorname?“, kam es überrascht von Jenny.
    „Niemand aus dem Team hieß so. Habe ich bereits geprüft.“
    „Gut, dann suche ich vor allem danach.“

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  • Ben drückte den messigfarbenen Klingelknopf. Nichts rührte sich. Er klingelte erneut, zweimal kurz hintereinander, wartete zwanzig, dreißig Sekunden. Immer noch nichts. Niemand da?
    „Sie scheint unterwegs zu sein“, stellte er enttäuscht fest.
    „Es brennt Licht.“ Semir sah hinter ihm hoch und scannte die Fenster.
    „Kann sie es angelassen haben?“, fragte Thore.
    „Nachdem, was Niilo zugestoßen ist, habe ich ein ungutes Gefühl“, sagte Ben. „Wer weiß, ob er versucht auch sie auszuschalten.“
    Semir nickte und hockte sich neben ihm vor das Schloss. „Wenn das so ist, werden wir nachsehen, ob auch wirklich alles in Ordnung ist.“
    Ben nickte und zog seine Pistole aus dem Holster. Er sah zu Thore. „Du bleibst hinter uns, hast ja keine Waffe.“
    Der Jüngste im Bunde gab ihnen ein Zeichen, das er verstanden hatte und Semir schob die Tür auf, nachdem er seine Waffe ebenfalls entsichert hatte. Er nickte Ben zu und die drei Kommissare durchkämmten die Räume des Hauses. Während sich Semir oben umsah, nahm sich Ben mit Thore im Schlepptau die unteren Zimmer vor. Als er schließlich im letzten Zimmer angekommen war und er im Türrahmen stand, stockte ihm der Atem. Auf der Erde lag zerbrochenes Porzellan, Bilder waren von den Wänden gerissen. Es herrschte ein einziges Chaos. Er machte einige weitere Schritte in das Zimmer hinein und sah nach rechts in den Teil des Raumes, der ihm aus dem vorherigen Blickfeld verdeckt geblieben war. Seine Augen weiteten sich geschockt. Inmitten dieser Verwüstung fand er Nila Virtanen vor, die von der Wohnzimmerdecke an einem Strick baumelte.
    Am Strick, schoss es wie ein Blitz durch seinen Kopf. Hektisch wirbelte er herum und schlug die Tür zum Zimmer zu.
    „Bist du noch ganz dicht. Ich hab die voll in die Fresse bekommen!“, kam es von der anderen Seite und Ben sah, wie die Türklinge heruntergedrückt wurde.
    „Bleib draußen!“, schrie er und drückte seinerseits die Klinge nach oben.
    „Was ist denn los?“ Thore wurde immer ungeduldiger. „Warum machst du die verdammte Tür nicht auf?“
    „Sie ist tot … die Verlobte“, sagte er nur und merkte gleichzeitig, wie der Druck gegen die Klinge nachließ und es still wurde. Dann hörte er langsame leise Schritte, die sich entfernten. Kurz darauf folgten lautere, die näher kamen.
    „Ben, ist alles in Ordnung?“ Es war Semirs Stimme. „Ich habe nur einen Knall gehört und dann habt ihr hierum geschrien!“
    „Ist Thore weg?“, fragte er.
    „Er ist vorhin aus dem Haus, hat kein Wort gesagt. Was ist denn passiert?“
    Ben öffnete die Tür wieder und Semir trat in das Zimmer.
    „Sie hat sich erhängt … oder wurde erhängt … auf jeden Fall ist sie tot“, erklärte Ben und blickte wieder auf den toten Körper der jungen Frau. Es war nicht so, dass ihn der Anblick schockierte, dafür hatte er so etwas schon zu häufig gesehen, flau war es ihm aber dennoch.
    „Ich werde die Spurensicherung verständigen.“ Semir nahm sein Handy aus der Tasche und telefonierte mit den Kollegen, während Ben sich langsam durch das Zimmer kämpfte auf der Suche nach einer Spur, die ihnen helfen könnte.
    „Denkst du, es war derjenige, der Niilo angegriffen hat?“, fragte Semir nach, als er sein Handy wieder in der Jacke verschwinden ließ.
    „Ich weiß nicht, es passt nicht in das Muster.“ Ben seufzte. „Vielleicht war es ja wirklich Suizid.“
    „Sie hat eigentlich ziemlich gefasst gewirkt, als Paul und ich hier waren“, entgegnete Semir.
    „Sie war gerade einmal Siebenundzwanzig.“ Der Jüngere schüttelte den Kopf und drehte sich von dem Anblick weg. „Lass uns rausgehen.“


    Die beiden Kommissare traten aus dem Raum und verließen das Haus, damit sie keine wichtigen Spuren zerstören würden. Ben sah auf Thore, der etwas abseits auf einer Bank saß und die Hand um den Hals gelegt hatte. Hatte er die Frau sehen können?, fragte er sich. Doch eigentlich hatte er schnell genug reagiert, um das zu verhindern. Einmal hatte ihm das gereicht, er wollte vorerst kein weiteres Mal erleben.
    „Kannst du hier die Stellung halten, Semir?“, fragte er mit dünner Stimme.
    „Kein Ding.“
    „Danke.“ Ben klopfte seinem Freund auf die Schulter und ging dann in langsamen Schritten in Richtung seines finnischen Kollegen. Thore hatte immer noch die rechte Hand an seinen Hals gedrückt und der deutsche Kommissar konnte sehen, wie unter den Fingerkuppen erste Druckstellen sichtbar wurden.
    Er stellte sich vor die Bank hin und wartete einige Sekunden. „Bist du okay?“
    „Gibst du mir noch einen Moment?“ Thores Hand löste sich von seinem Hals und er legte sie auf das Knie.
    Ben nickte und setzte sich nun ebenfalls auf die Bank. „Sicher. Du hast alle Zeit der Welt.“
    Er lehnte sich zurück und sah auf seine Hände. War es Selbstmord oder war sie ein Opfer von diesem Jussi? Egal wie sehr er darüber nachdachte, er kam einfach zu keinem Ergebnis. Sie mussten wohl erst die Ergebnisse der Spurensicherung abwarten, denn voreilige Schlüsse würden sie nur in eine Sackgasse treiben.
    „Wie sah es im Haus aus?“, ertönte es nach einigen Minuten leise von seiner Seite.
    „Es spricht für Selbstmord“, antwortete Ben, der in Richtung Haus sah. Inzwischen war die Spurensicherung angekommen und auch Paul konnte er erkennen, der aufgeregt mit Semir zu sprechen schien. Vielleicht hatte sich das Krankenhaus gemeldet, oder es gab einen Hinweis auf denjenigen, der Niilo angegriffen hatte?
    „Sicher seid ihr euch aber nicht?“
    „Nein. Es gibt keinen Abschiedsbrief.“
    Ben beobachtete, wie Thores Hand wieder in Richtung Hals ging. Der Braunhaarige hob seine Hand und umgriff sanft das Handgelenk seines Kollegen, der daraufhin die Hand wieder auf seine Hose sinken ließ.
    „Vielleicht wollte dieser Jussi seine Spuren verwischen, aber was könnte hier sein?“, fragte Thore.
    „Ein Foto von ihm. Immerhin standen Mannschaftsbilder in einer Vitrine.“
    „Stehen sie immer noch da?“
    Ben überlegte für einige Sekunden. „Ja, ich glaube schon … ich kann natürlich nicht sagen, ob eines fehlt … lasse ich nachprüfen.“
    Thore nickte und stand auf. „Kein Wort zu meiner Schwester, ja?“
    Der Ältere zog skeptisch die Augenbraue hoch. „Du denkst, dass ich ihr das auf die Nase binden würde?“
    „Keine Ahnung, was weiß ich, was Verliebte so machen“, kam es fast flüsternd zurück.
    „Nicht über dich reden“, erwiderte Ben und erhob sich jetzt ebenfalls. „Da gibt es bessere Themen.“ Ben lächelte und zog dann seine Jacke aus, um sie Thore zu reichen. „Zieh die an.“
    „Was soll ich damit?“ Thore sah ihn fragend an. „Mir ist nicht kalt.“
    „Man sieht die Druckstellen an deinem Hals“, erklärte Ben.
    Sein Kollege schien zu verstehen und griff nach der Jacke. „Danke“, nuschelte er noch hervor, ehe er sich die Jacke überzog und den Kragen nach oben stellte, so dass der Großteil des Halses versteckt war. „Passt es so?“
    „Ja“, bestätigte Ben ihm. „Packst du es?“
    „Ja. Ich denke schon …“
    „Gut, dann lass uns zurück zum Haus“, sagte Ben, während er Thore einen freundschaftlichen Klaps auf das Schulterblatt gab.


    Als sie wieder vor dem Haus angekommen waren, schien Thore zu Bens Verwunderung tatsächlich seine Fassung wiedererlangt zu haben. Er stellte sich bei Paul mit seiner typischen festen Stimme vor, als wären die letzten Minuten nicht passiert. Vielleicht war es aber auch die strenge Erziehung des Vaters, die jetzt einsetzte und einen Automatismus freisetzte.
    „Paul hat vielleicht etwas gefunden“, erläuterte Semir ihnen. „In den Listen der Basketballmannschaften.“
    Der blonde Kommissar aus Deutschland holte sein Smartphone heraus und entsperrte den Bildschirm. Danach tippte er darauf herum. „Einen Spieler mit dem Namen Jussi gibt es nicht, wie schon gesagt. Allerdings gibt es einen Spieler mit einem ganz ähnlichen Nachnamen. Ein Pekka Jussila, hat aber nur drei Monate mit ihnen zusammengespielt. “
    „Welche Startnummer?“, fragte Ben.
    „Die Vier.“
    „Könnte unser Mann sein“, mutmaßte Ben. „Hast du auch ein Foto?“
    „Ja.“ Er hielt ihnen das Handy hin. „Kannst du ihn erkennen? Du hast ihn ja gesehen.“
    Ben schüttelte den Kopf. „Leider nicht, habe ihn nur von hinten gesehen und es ist ein Porträt.“
    „Soll ich zu diesem Müller fahren?“, hakte Paul nach. „Der ist bisher noch nicht in der PAST aufgekreuzt.“
    „Mach das“, sagte Semir. „Ich kümmere mich derweil um die letzten Anweisungen hier.“ Der Älteste der Runde sah zu Ben. „Ihr zwei, ihr fahrt zurück ins Krankenhaus. Die haben gerade angerufen, dass die OP gut verlaufen ist. Jemand muss da sein, falls Jussila dort auftaucht.“
    Ben nickte. „Okay, machen wir. Ruf mich an, wenn sich etwas ergibt, ja?“
    „Sicher. Passt gut auf Niilo auf.“
    „Werden wir.“

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  • Ben versuchte es sich auf dem Stuhl bequem zu machen, der alles andere als rückenfreundlich schien. Immer wieder ziepte es unangenehm und er musste seine Position verändern. Sein Blick fiel auf Niilo, der in dem Bett irgendwie verloren aussah. Trotz allem hatte Niilo Glück gehabt. Wegen der Verletzung an der Lunge musste er einige Tag auf der Intensivstation bleiben, danach würde er auf die Normalstation kommen. Was die Knieverletzung angeht, wollte man noch keine genaueren Prognosen geben, vor allem, da dort noch eine zweite Operation anstehen würde. Aber er schwebte ihn keiner akuten Lebensgefahr. Das war, was wichtig war.
    Bereits vor ein paar Stunden, auf dem Weg zu der Verlobten von Lehtolainen, hatte Ben eine Überwachung angefordert. Die erste Schicht hatte er gemeinsam mit Thore selbst übernommen, am morgen würden sie dann von zwei uniformierten Kollegen abgelöst.
    Ben sah nach rechts. Thore hatte die Füße auf den Stuhl gehoben und mit den Armen umschlungen. Der Kopf lag auf seinen Knien und leise Atemgeräusche ließen darauf schließen, dass er schlief. Wie auch immer er das in solch einer Position schaffte.
    Der Braunhaarige stand auf, um vor die Tür zu treten. Dort setzte er sich auf eine Sitzbank und zog sein Handy aus der Tasche, um einen seiner Kontakte anzurufen
    Es dauerte einige Sekunden und er hörte am anderen Ende eine Frauenstimme. Nora Berg, Thores Schwester und seit einigen Monaten seine Freundin. Kennengelernt hatten sie sich in einem Tandem-Sprachkurs. Nora hatte Deutsch lernen wollen, er wollte Finnisch lernen. Bereits bei ihrem ersten Zusammentreffen hatte es zwischen ihnen gefunkt. Dass Thore ihr Bruder war, darauf war Ben erst später gekommen, als sie ihm etwas über ihre Familie preisgegeben hatte.
    „Es tut mir leid, Nora.“ Ben fuhr sich durch die Haare. „Es ist nur … es ist ziemlich viel passiert heute.“
    Er begann ihr zu berichten, was sich alles in den wenigen Stunden zugetragen hatte, die er nun schon in Köln war, um den Fall zu betreuen, und aus ihren Antworten konnte er heraushören, dass auch sie sich Sorgen machte. Als er bei dem Selbstmord von Nila Virtanen angekommen war, stockte er für einen Moment. Er war sich nicht sicher, ob er es ihr erzählen sollte, oder nicht.
    „Da ist noch etwas … Nora“, brachte er schließlich etwas Leiser als gewollt heraus. „Es geht um deinen Bruder.“
    „Was ist mit ihm?“
    „Wir … er hat sie nicht gesehen, aber ich glaube trotzdem, dass es nicht ganz leicht war … die Verlobte des Opfers, sie wurde erhängt in ihrem Haus gefunden. Ich habe sie gefunden …“ Er atmete tief durch. „Ich konnte verhindern, dass er sie sieht. Er will nicht, dass ich es dir sage, aber ich denke, dass es wichtig ist.“
    Es blieb still am anderen Ende.
    „Nora?“
    „Entschuldige, ich war in Gedanken.“
    „Ich wollte nicht, dass du auch daran denken musst“, entschuldigte er sich.
    „Es geht schon, ich habe unsere Mutter nicht gefunden oder die Wut unseres Vaters ertragen müssen …“, antwortete sie leise.
    Ben lehnte den Kopf zurück an die Wand und spürte den kalten Beton an seinem Hinterkopf. Er kannte nicht jedes Detail aus Thores und Noras Kindheit, aber die Dinge, die ihm sein Kollege offen erzählt hatte, hatten ihm bereits gereicht. Striemen vom Gürtel des Vaters waren noch heute auf dem Rücken sichtbar. Für andere Kollegen die fragten, war es offiziell beim Spielen passiert, als er in einem Stacheldrahtzaun hängen geblieben war. Nur wenige wussten wirklich, wer dafür verantwortlich war. „Soll ich dafür sorgen, dass er zurück nach Helsinki kommt?“
    „Willst du denn auf ihn verzichten?“
    „Es kommt darauf an, ob er sich im Griff hat.“
    „Behalte ihn im Auge. Ich glaube, die Arbeit wird ihm helfen.“
    Ben sah in das Zimmer. „Denkst du, dass ich versagt habe? Wegen Niilo, meine ich.“
    „Dafür trifft dich keine Schuld“, sagte Nora und er hörte, wie sie lachte. „Du hast nichts falsch gemacht.“
    „Ich hoffe, er wird wieder.“
    „Mach dir keine Gedanken. Er ist taffer, als er auf den ersten Blick wirkt.“
    Der Braunhaarige lächelte. „Ich sollte wieder reingehen, entschuldige, dass ich dich mitten in der Nacht geweckt habe.“
    „Es war wichtig, das macht nichts.“
    Er lachte. „Dein Bruder wird mich hassen, ich wollte es eigentlich nicht erzählen.“
    „Ach was, wird er nicht. Pass auf dich auf.“
    „Du auch. Ciao.“
    Als sie aufgelegt hatte, steckte Ben sein Handy wieder in die Tasche und trat dann zurück in das Zimmer. Das braune Augenpaar von Thore sah ihn an. „Darüber reden Verliebte also nicht?“
    Er lächelte verlegen. „Sorry, ich wollte es wirklich nicht erzählen, aber …“
    Thore nickte in Richtung Bett. „Niilo ist wach.“
    Bens Blick ging nach rechts und er blickte in die erschöpften Augen von Niilo. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. „Da bist du ja wieder, Kumpel.“ Er trat zum Bett und drückte vorsichtig die Schulter des blonden Kommissars.
    „Wie lange …?“, flüsterte Niilo leise.
    „Fünf Tage“, kam es von Thore.
    Die Augen des Blonden weiteten sich. „F …ünf?“
    „Thore! Rede keinen Mist“, ermahnte Ben und lächelte Niilo an. „Nur ein paar Stunden. Er hat deine Lunge getroffen, deshalb musst du erst einmal zur Überwachung auf der Intensiv bleiben, in ein paar Tagen darfst du aber runter.“
    Niilo nickte langsam.
    „Weißt du was. Ich gehe los und hole einen Arzt, der kann dir das sicher alles viel besser erklären. Was?“



    *


    Semir stemmte die Ellenbogen auf den Tisch und legte den Kopf in seine Hände. Er war noch einmal die wenigen Fakten durchgegangen, die sie bisher hatten. Nila Virtanens Tod ging ihm nicht aus dem Kopf. Er konnte einfach nicht glauben, dass sie sich wirklich umgebracht haben könnte. Natürlich hatte man tiefe Trauer im Gespräch mit ihr gespürt, aber keine Verzweiflung oder einen Wunsch ihrem Verlobten zu folgen.
    Er seufzte und blätterte zu den Informationen von Pekka Jussila. Der Spieler des Clubs hier in Köln hatte inzwischen bestätigt, dass es dieser Mann war, mit dem Kimmo Lehtolainen gestritten hatte. Aber an dem Typ gab es nichts Auffälliges, nichts in der Akte deutete darauf hin, dass er ein Mörder werden könnte. Er hatte anders als die anderen Spieler sogar ein Stipendium an einer US-Uni erhalten, um dort zu spielen. Warum also hatte er diesen Feldzug gegen seine ehemaligen Spielerkollegen gestartet? Und wieso nach so vielen Jahren? Es waren acht Jahre, die zwischen Niilos U18-Zeit und heute lagen. Was hatte sich in diesen acht Jahren verändert.
    Er seufzte und klappte die Akte zu. Es war schon 22:00 Uhr und er sollte wirklich nach Hause gehen, wenn er nach einem Streit mit Andrea nicht wieder auf dem Sofa schlafen wollte.

  • „Thore, komm aufwachen!“ Ben rüttelte seinen jüngeren Kollegen, der auf der Bank im Flur der Intensivstation eingeschlafen war, als sie bei dem Arztgespräch das Zimmer verlassen hatten. „Die Ablösung ist da, wir fahren zur PAST.“
    Nur schwer kam der schwarzhaarige Kommissar in Schwung. „Nun komm!“, wiederholte Ben. „Du bist ja noch schlimmer als ich.“
    „Ich hab die letzten Nächte kaum geschlafen“, nuschelte Thore leise hervor. „Weißt du, wie anstrengend der Fall in Kopenhagen war?“
    „Willst du etwa, das Jussila Zeit gewinnt?“
    Thores Körper preschte in die sitzende Position und wenig später stand der Jüngere vor ihm und rieb sich die müden Augen. „Bin ja schon wach … bin ja schon wach. Gibt es da eine Dusche?“
    „Ja. Also komm!“
    Thore stöhnte. „Scheiße, bin ich fertig!“
    „Frag mich mal, ich war die Nacht wach, während du hier seelenruhig geschlafen hast“, erwiderte Ben und zog Thore mit sich durch die Gänge.
    „Ich sagte ja, ich habe in Kopenhagen kaum geschlafen …“
    „Jaja, ich habe dir zugehört.“
    Als sie durch die Gänge des Krankenhauses gingen, machte Ben noch schnell Halt an einem der Kaffeeautomaten und ließ sich zwei Plastikbecher befüllen, von denen er einen an Thore weiterreichte. „Ich habe heute Morgen schon mit der Salminen geredet, sie war natürlich nicht begeistert, dass du einfach hierher geflogen bist. Noch dazu hast du ihre Anrufe ignoriert.“
    „Einfach?“, kam es mürrisch zurück.
    Ben sah seinen Kollegen fragend an. „Was ist eigentlich los mit dir? Du bist schon seit einigen Wochen so angespannt, wenn es um die Chefin geht.“
    Thore antwortete ihm nicht und beschleunigte stattdessen sein Tempo.
    „Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst, oder? Wir sind immerhin Freunde.“ Auch Ben hatte sein Tempo jetzt erhöht und holte schnell zu Thore auf.
    „Sie ist eine gute Bekannte von meinem Vater.“
    Ben war stehengeblieben. „Du denkst, dass er dich überwachen lässt?“
    „Nein … ich weiß nicht …“ Thore drehte sich zu ihm um. „Es gibt da etwas, was ich gefunden habe. Du darfst da aber mit niemanden drüber reden.“
    Ben blickte skeptisch in das Gesicht seines Kollegen. Er kannte diesen Ausdruck inzwischen schon und er mochte ihn nicht, denn er hieß, dass Thore die Grenzen überschritten hatte. „Was hast du angestellt?“
    „Es gab da eine Datei auf ihrem Computer …“
    „Auf ihrem Computer!“ Der Ältere fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Ich kann nicht glauben, dass du an ihrem Computer warst. Ist dir klar, was passiert, wenn das rauskommt!?“
    „Deswegen solltest du es für dich behalten“, kam es störrisch zurück.
    „Was für eine Datei?“
    „Sie sammelt Daten über mich, Daten die sich nicht haben sollte. Verhalten bei Einsätzen, die Sitzungen bei der Psycho-Tante, die eigentlich nichts bei ihr zu suchen haben. So etwas.“
    „Und das ist ein Problem?“
    „Das fragst du noch?“ Thore lachte. „Wie würde es dir gehen, wenn jeder in deinen Problemen rum bohrt? Hast du nicht deinen Job an den Nagel gehängt, weil du nicht zwischen zwei Leben entscheiden willst?“
    Bens Augen zogen sich zusammen, er stellte den Becher auf einer Fensterbank neben sich ab und preschte auf Thore zu. Seine Hände griffen nach dem Pullover und er drückte ihn gegen die Wand. „Woher weißt du davon!?“, zischte er wütend. „Liest du heimlich die Akten deiner Kollegen. Nennst du das vertrauen!“
    Dem Jüngeren stand die Angst ins Gesicht geschrieben, er zitterte wie Espenlaub. „Bitte … lass los …“, flüsterte er leise und im gleichen Augenblick wich Ben selbst erschrocken zurück, als ihm bewusst wurde, welchen psychischen Stress er gerade auf seinen Freund ausübte. „Es tut …“
    „Lass uns arbeiten.“ Der Schwarzhaarige löste sich von der Wand und ging mit einigen Metern Abstand zu Ben in Richtung Auto.
    „Es war eine Kurzschlussreaktion“, versuchte der Ältere abermals. „Ich war müde, überrascht und diese Sache, ich habe die eben noch nicht ganz verarbeitet.“
    „Lass mich bitte die nächsten Minuten.“
    Ben schluckte. „Natürlich“, sagte er dann.
    Die Fahrt zur Dienststelle verlief ohne ein weiteres Wort und auch in der PAST selbst, war ihm Thore sofort aus dem Weg gegangen und in Richtung der Duschen gestürmt, während er Semir und Paul begrüßte.
    „Was ist denn mit Thore?“, fragte Semir verwundert. „Hast du ihn bei Niilo gelassen?“
    „Er ist zu den Duschen, sich frisch machen.“
    Semir schien die Veränderung in seiner Stimmlage nicht entgangen zu sein. Sein früherer Partner sah ihn skeptisch an. „Bei euch alles in Ordnung?“
    „Jaja … alles gut“, antwortete Ben und lächelte gezwungen. „Was habt ihr Neues?“
    Paul richtete sich in seinem Schreibtischstuhl auf. „Ich habe euch die neusten Infos vor einer halben Stunde auf das Tablet geschickt. Der Grund weshalb Jussila nur wenige Monate in der Mannschaft gespielt hat ist, dass er dann in die USA gegangen war. Stipendium.“
    Ben nickte. „Aber das ist ja etwas Gutes, oder? Wieso sollte er da seine früheren Teamkollegen ermorden … war er nicht der Gewinner?“
    „Er hat es zu nicht viel gebracht. Hat wohl kaum Spiele absolviert … dann aufgehört mit Basketball. Aber wieso er seine Wut auf die früheren Teamkollegen projiziert, keine Ahnung.“
    „Mhm.“ Ben lehnte sich an die Glaswand. Ein Satz, den Thore bei ihrem letzten Fall – einem brutalen Frauenmörder - zu Niilo gesagt hatte, kam ihm in den Sinn. Alles was du in der Akademie gelernt hast, basiert auf Logik und Theorien. Du wirst bald merken, wie sinnlos das war. Vielleicht war Jussila so ein Fall, vielleicht gab es keine Logik hinter seinen Taten?


    „Was ist mit Nila Virtanen?“
    „Der Rechtsmediziner geht von Selbstmord aus. Es gibt keine Hinweise, das Jussila sie ermordet hat“, berichtete Paul.
    „Woran macht er das fest?“, hakte Ben nach.
    Paul drehte den Computerbildschirm in seine Richtung und zeigte ihm einige Fotos mit den Strangulationsmalen. „Es gibt nichts, was darauf hindeutet, dass sie vielleicht vorher gewürgt oder sie anderweitig verletzt wurde.“
    Der braunhaarige Kommissar seufzte und setzte sich auf einen der Stühle. „Hätten wir es merken müssen? Ich meine, dass sie Hilfe braucht?“
    „Sie hat gefasst gewirkt“, sagte Semir. „Nichts hat darauf hingedeutet, dass sie mit dem Tod ihres Verlobten nicht klar gekommen ist.“
    „Und nun? Wie gehen wir weiter vor.“
    „Wir können wohl nur abwarten“, erklärte Paul. „Die Fahndung nach Jussila läuft und wir haben Finnland informiert, dass sie die übrigen Spieler im Blick haben sollen. Wobei ich es eher für wahrscheinlich halte, dass er sich zunächst um deinen Kollegen kümmert.“
    „An ihn wird er nicht rankommen.“
    Semir nickte. „Vielleicht versucht er es dennoch, oder er wartet ab, bis Niilo das Krankenhaus wieder verlassen kann … oder bis wir uns in Sicherheit wägen und die Überwachungen lockern.“
    „Das ist eine Möglichkeit“, stimmte Ben zu. „Also heißt es Abwarten und Tee trinken? Was ist mit einer Handy-Ortung?“
    „Habe ich auch schon dran gedacht“, sagte Paul. „Ich habe alles in die Wege geleitet, aber auch das wird etwas dauern, bis wir die Erlaubnis haben.“
    Der Braunhaarige stöhnte. „Was für eine Zwickmühle. Kann nicht Hartmut trotzdem schon einmal loslegen?“
    Semir zwinkerte ihm zu. „Er ist schon dran. Kann aber dauern, er hat sich die letzten Stunden nicht eingeloggt.“
    Ben lehnte sich zurück. Er hasste es zu warten! Er wollte den Kerl am liebsten jetzt sofort hinter Gittern sehen. Er sah auf die Uhr. Thore war nun schon dreißig Minuten unter der Dusche und langsam wurde ihm mulmig zumute. Normalerweise brauchte er nicht länger als zehn Minuten. Seine Augen blieben auf dem vorläufigen Bericht der Gerichtsmedizin hängen. „Hast du den uns auch schon geschickt?“
    „Ja, heute morgen mit dem Rest“, antwortete Paul von der anderen Seite des Schreibtisches.
    Ben stand auf. „Ich komme gleich wieder“, erklärte er und ging in Richtung Bürotür. „Ich werde mal sehen, wo Thore bleibt.“
    Als er in die Duschräume trat, fiel sein Blick zuerst auf das Tablet, das auf den Fliesen lag. Er bückte sich herunter und entsperrte den Bildschirm. Die Bilder der toten Verlobten sprangen ihn an und er merkte, wie sich sein Magen zusammenzog. Wieso zur Hölle öffnete Thore die Datei, wenn er doch wusste, was sich dahinter verbarg.
    „Thore, bist du da?“
    Er erhielt keine Antwort und ging weiter in Richtung der Duschkabinen. Nur aus einer der Kabinen vernahm er das Geräusch vom rauschenden Wasser. Langsam ging er näher heran und blickte hinein. Thore saß auf der Erde und hatte die Knie an seinen Körper gezogen und den Kopf zwischen den Armen vergraben.
    Ben streckte die Hand unter das eiskalte Wasser und drehte den Hebel in die andere Richtung. „Wie lange sitzt du schon darunter?“
    „Weiß nicht …“
    „Deine Lippen sind schon ganz blau.“ Ben hockte sich herunter und versuchte einen Blick auf das Gesicht seines Freundes zu erhaschen. „Wieso hast du dir die Bilder angesehen?“
    „Ich dachte, dass ich bereit wäre meine Schwäche zu besiegen.“
    „Und bist du es?“
    Thore schüttelte den Kopf und Ben verfolgte, wie er sich mit dem Handrücken über die Wangen fuhr.
    „Das ist nichts, wofür du dich schämen musst.“ Der Ältere lächelte. „Ich zum Beispiel bekomme Angst, wenn ich ihn zu engen Räumen bin … das ist normal.“
    Der Schwarzhaarige sah ihn an. „Ach ja?“
    „Du solltest dir nicht zu viel zumuten. Du bist stark, Thore. Du bist jemand, zu dem ich aufsehe“, erklärte Ben.
    „Ja?“
    „Du hast deine Schwester beschützt, alleine deshalb.“
    „Es tut mir leid, wegen der Sache im Krankenhaus.“
    Ben lächelte. „Dir ist schon klar, dass ich mich eigentlich bei dir entschuldigen müsste?“
    „Einigen wir uns darauf, dass wir beide Arschlöcher sind.“
    Der Braunhaarige nickte und hielt Thore seine Hand hin. „Und nun komm da drunter weg. Du holst dir noch den Tod.“
    Thore ergriff seine Hand und Ben zog seinen jüngeren Kollegen nach oben. „Früher war ich viel länger darunter“, entgegnete der Finne.
    Ben erwiderte nichts. Er hatte auch nicht gewusst, was er darauf sagen konnte. Denn damals hatte Thore sich diese Strafe nicht selbst auferlegt, sondern es war der Vater gewesen, der seinen Sohn entweder unter die kalte Dusche gesteckt hatte oder im Winter draußen im Schuppen schlafen ließ.
    „Ich werde in Zukunft mit dir auch über meine Probleme reden“, entschied Ben, als ihm bewusst wurde, dass Thore für ihn ein offenes Buch war, während er so viel verheimlicht hatte in den letzten Monaten.
    „Ich vertraue dir übrigens“, nuschelte der Schwarzhaarige hervor, während er an Ben vorbeilief und nach einem Trockentuch griff. „Ich glaube nicht, dass du das Leben eines Kollegen riskieren würdest. Das ist es doch, wo vor du Angst hast?“
    „Ja. Das ich im richtigen Moment nicht erkenne, was ich beschützen muss. Was die richtige Entscheidung ist.“
    Thore sah ihn an. „Ich nehme an, du willst meine Meinung zu dem Fall damals nicht?“
    Bens Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. „Ich glaube, dass ich sie kenne.“
    „Ich habe übrigens nicht in deine Akte gesehen, Nora hat sich verplappert. Sie dachte, dass ich es wüsste …“
    Ben nickte. Er ging an Thore vorbei in Richtung der Tür. „Bis gleich.“
    „Danke, dass du runter gekommen bist.“
    Der Ältere lachte. „Sonst wärst du womöglich erfroren, du Idiot.“
    Es waren noch zehn weitere Minuten vergangen, ehe Thore ins Büro getreten war. Der junge finnische Kommissar zog ein breites Lächeln auf. „Morgen“, sagte er munter und setzte sich dann auf den provisorischen Bürostuhl, der bis vor wenigen Stunden noch Niilo gehört hatte.
    „Die Fahndung nach Jussila läuft, Handyortung ist noch nicht durch“, brachte Ben ihn schnell auf den letzten Stand und begutachtete gleichzeitig die Gesichtsregungen seines Freundes, um einzuschätzen, ob er nicht die Reißleine ziehen musste. Doch es schien, als hätte es auch sein gutes gehabt, dass sie über die Situation gesprochen hatten. Thore schien sich gefangen zu haben.



    *


    Ben lehnte sich zurück und legte die Schuhe auf den Tisch. Es waren inzwischen schon Stunden vergangen, in denen sie nur dasaßen und zum Nichtstun verdammt waren.
    „Ben!“, murrte Semir sofort.
    „Jaja“, stöhnte er und ließ die Füße wieder auf den Boden fallen. „Was dauert das auch so lange?“
    „Hartmut sagt, dass Jussila das Handy ausgeschaltet hat.“
    „Heißt, wir bekommen vielleicht nie ein Signal von ihm? Er könnte davonkommen?“
    „Er ist hier noch nicht fertig, er wird uns nicht durch die Lappen gehen“, beruhigte Semir seinen früheren Partner.
    „Sehr beruhigend, wenn das Ziel Niilo ist.“ Ben stand auf und ging zum Fenster. Es war ein diesiger Tag, die Wolken hingen tief und er hatte das Gefühl, als wäre es nie wirklich hell geworden. Fast wie Finnland, dachte er. Dort wurde es auch über Monate nicht hell.
    „Fy Faen!“
    Ben drehte sich in die Richtung, aus der der Aufschrei kam. Thore saß im Schneidersitz auf seinem Stuhl, das Tablet zwischen die Beine geklemmt.
    „Spielst du etwas gerade dieses Shingi?“, fragte er. Es musste so sein. Es war bisher die einzige Situation, in der er Thore auf Norwegisch fluchten gehört hatte. Sonst redete er eher selten auf Norwegisch, der Sprache seiner Mutter.
    „Shogi“, murmelte Thore, ehe er mit dem Finger einige Bewegungen auf dem Bildschirm machte.
    „Es ist mir relativ Wurst, wie dein japanisches Schach heißt.“
    „Ich bin am Verlieren. So ein verdammter Mist.“
    Der Braunhaarige beugte sich von hinten über die Schulter seines Kollegen. „Dan … war das nicht ein hoher Rang?“
    „Es scheint, als würdest du mir ja doch ab und an zuhören“, gab Thore zurück und lenkte seine Aufmerksamkeit dann wieder auf sein Tablet.
    „Was wählst du dir auch so einen Gegner aus?“
    „Wieso wohl? Um zu gewinnen.“ Thores Hand fuhr nach oben. „Und nun lass mich, ich muss mich wirklich konzentrieren.“
    Ben verfolgte den nächsten Spielzug seines Kollegen, stöhnte auf und setzte sich dann wieder hin. „Deine Ruhe möchte ich mal haben.“
    „Wir können es nicht beschleunigen“, murmelte Thore.
    „Da hat er recht“, fügte Semir hinzu und grinste breit.
    „Jaja“, schnaufte Ben. „Ich habe verstanden, ich habe verstanden. Aber so langsam geht mir dieses Warten wirklich auf den Keks.“


    Er zuckte zusammen, als das Telefon endlich klingelte und riss den Hörer von der Gabel.
    „Ben Jäger, Kripo Autobahn“, schoss es aus alter Gewohnheit aus ihm heraus.
    „Ich bin es Hartmut“, kam es vom anderen Ende.
    „Hast du ihn? Hat sich das Schwein endlich eingeloggt?“
    „Äh … ja. Eine alte Fabrikhalle einige Kilometer außerhalb von Köln. Ich schicke euch die genaueren Koordinaten zu.“
    Thore legte das Tablet auf den Tisch. „Trifft sich gut, ich bin fertig. “
    „Wenigstens gewonnen?“, fragte Paul.
    Thore lächelte. „Jep!“
    „Dann lass uns hoffen, dass es ein gutes Omen ist“, sagte Semir und griff nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln.

  • Die vier Kommissare hatten etwa 40 Minuten gebraucht, ehe sie das Ziel erreicht hatten. Nun blickten sie auf ein großes, verlassenes Fabrikgebäude.
    „Eine alte Stahlfirma. Hätte eigentlich schon vor zwei Jahren abgerissen werden sollen“, sagte Semir.
    „Ist er wohl da drin?“, fragte Ben.
    „Ein perfektes Versteck wäre es immerhin“, erwiderte Paul, der den Kofferraum seines Mercedes öffnete und die Schutzwesten verteilte.
    „Es hilft nichts, wir werden es herausfinden.“ Thore zog sich die Schutzweste über und zurrte sie fest. „Habt ihr einen genauen Gebäudeplan?“
    Semir schüttelte den Kopf. „Leider nicht. Es gibt zwei Stockwerke. Das Erdgeschoss und einen Keller. Ich würde vorschlagen, wir teilen uns auf. Ben und ich übernehmen das Erdgeschoss, ihr den Keller.“
    Die anderen drei Kommissare stimmten zu, entsicherte die Waffe und machten sie sich auf den Weg in Richtung des Gebäudes, wo sich dann trennten.
    Während Paul und Thore die Treppe zum Keller hinunterstiegen, bogen Ben und Semir in den ersten Raum des Erdgeschosses ab.
    „Wieso schickst du Thore und Paul gemeinsam los?“, flüsterte Ben, als sie sich durch den ersten Raum der Fabrik kämpften.
    „Hartmut sagte, dass es wahrscheinlicher ist, dass das Funksignal aus dem Erdgeschoss kam. Dein Kollege schien mir heute Morgen etwas durch den Wind.“
    „Du willst ihn aus der Gefahrenzone halten?“
    „Ja“, flüsterte Semir zurück.
    Ben nickte und konzentrierte sich wieder auf den Job, den sie hier hatten. Jussila finden. Er scannte den Raum mit seinen Augen. Überall standen alte Maschinen herum, die vor sich hin rosteten. Vergammelte Kartons stapelten sich vor der Betonmauer. Dicke Spinnweben hingen wie skurriles Lametta der Decke. Hier und da hatte sich ein Graffiti-Künstler verewigt. Das Schlimmste war der unangenehme Geruch, der in der Luft hing.
    „Also ich kann mir bessere Verstecke vorstellen“, murmelte er.
    Die nächsten Räume sahen nicht viel anders aus. Alles war voller Dreck, Gerümpel und eine dicke Staubschicht lag auf dem Boden. Es gab nirgends Anzeichen dafür, dass hier vor Kurzem jemand war.
    „Und wenn es ein Ablenkungsmanöver ist?“
    „Dann werden wir das herausfinden“, flüsterte Semir von vorne. „Du bist heute aber auch extrem angespannt.“
    „Ich hatte keinen guten Start in den Tag“, erwiderte Ben, als er an den Streit mit Thore zurückdachte.
    Durch eine durchgebrochene Wand gingen sie in den nächsten Raum. In der linken Ecke war eine Kochzeile. Auf dem Herd stand ein rostiger Topf. Eine große Lampe baumelte von der Decke. Rechts führte eine Tür zu einem kleinen Badezimmer. Eine Toilette, ein Waschbecken, eine Dusche. Aber auch hier keinerlei Spuren, das hier in der letzten Zeit ein Mensch gehaust hatte.
    „Komm, weiter“, sagte Semir und verließ den Raum wieder, um über die große Halle in den nächsten kleineren Raum zu gelangen.
    Und zum ersten Mal gab es so etwas wie einen Hinweis. In der linken Ecke lag eine Matratze mit einer alten vergilbten Decke. Semir ging vorsichtig darauf zu. „Sieht mit eher aus, wie das Lager eines Obdachlosen.“
    Ben trat hinter seinen ehemaligen Partner. „Meinst du? Vielleicht hat Jussila es ja auch so vorgefunden und weiterverwendet.“
    „Das ist natürlich auch möglich“, gab Semir zu bedenken. „Aber war seine Lage wirklich so aussichtslos?“
    Der Jüngere zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte Jussila genug Zeit zur Flucht gehabt, nachdem er Niilo angegriffen hatte.
    Durch eine dicke Stahltür an der linken Wand gingen sie in den nächsten Raum. Dort lagen eine Isomatte und ein Schlafsack. „Das sieht mir doch schon eher nach einem Schlaflager von Jussila aus“, sagte Semir.
    Ben folgte ihm und beugte sich herunter. Neben dem Schlafsack lagen Bilder einer Basketballmannschaft, eine Kerze, daneben ein Messer. Die Tatwaffe kam es ihm in den Sinn. Er zog eine Plastiktüte aus seiner Jackentasche und umhüllte damit den Griff, um die Fingerabdrücke nicht zu zerstören. Auch ein Handy fanden sie neben der Isomatte.
    „Er muss hier noch irgendwo sein“, schloss Ben aus den gefundenen Hinweisen, denn er konnte sich nicht vorstellen, dass Jussila das Messer zurücklassen würde.
    Schneller, als von den beiden Polizisten gewünscht, stellt sich heraus, dass Bens Vermutung richtig war. Die Tür hinter ihnen fiel mit einem dumpfen Knall ins Schloss und der Raum wurde in absolute Dunkelheit gehüllt.
    Ben hechtete auf die Tür zu und drückte die Klinge herunter, nur um festzustellen, dass irgendetwas von der anderen Seite die Hebelwirkung blockierte. „Verdammt, die Tür geht nicht auf!“, fluchte er.
    „Lass mich mal.“ Semir schob ihn zur Seite und versuchte es selbst. „Du musst nur etwas mehr Kraft …“ Doch auch er stieß an seine Grenze. Egal, wie fest er drückte, die Tür blieb geschlossen. Keinen Zentimeter rührte sie sich. Mit seinem ganzen Körper stemmte er sich dagegen, doch nichts passierte.
    Ben spürte, wie sich mit jedem misslungenen Versuch von Semir sein Herzschlag beschleunigte. So ganz hatte er seine Panik vor kleinen dunklen Räumen noch nicht überwunden und er konnte sich besseres vorstellen, als hier festzusitzen.




    Paul hielt seine Pistole bereit und lauschte. Es roch unangenehm nach Staub und Exkrementen. Unter seinen Füßen knirschten die Scherben von zerschlagen Fenstern. Aber immerhin fiel durch die Fenster genug Licht von der Straße hinein.
    Fünf Räume hatten sie bereits durchforstet, ohne eine Spur von Jussila zu finden und so langsam zweifelte Paul daran, dass sie ihn hier jemals finden würden. Er ging voraus, während Thore knapp einem Meter hinter ihm folgte. Seit sie den Keller betreten hatten, herrschte angespanntes Schweigen und jeder konzentrierte sich auf seine Aufgabe. Auch wenn er diese Situation in seinen bisherigen Dienstjahren schon mehrmals durchgespielt hatte, herrschte in Pauls Körper doch eine gewisse Anspannung. Denn er war schlau genug, um zu wissen, dass egal wie viel Routine man hatte, immer ein gewisser Prozentsatz zurückblieb, den man nicht exakt einplanen konnte.
    Er trat in den nächsten Raum. Da sah er aus dem Augenwinkel einen Schatten heransausen und fuhr herum. Etwas traf seinen Kopf und raubte ihm augenblicklich alle Sinne. Der Angreifer musste gleich neben der Tür gelauert und sofort zugeschlagen haben.
    Dann schlug er auf dem dreckigen Betonboden auf. Seine Umgebung verschwamm, er hörte, wie jemand weglief, sah ein Paar alter Turnschuhe, die sich aus seinem Sichtfeld wegbewegten.
    „Scheiße, bist du okay?“ Thores Gesicht tauchte vor seinem auf, er rüttelte an seiner Schulter.
    „Jaja … worauf wartest du“, nuschelte Paul verwaschen hervor. „Schnapp ihn dir!“
    Thore schien zu zögern.
    „Es ist wirklich nur ein Kratzer!“ Paul riss sich zusammen und richtete sich ein Stück auf. „Also mach schon!“
    „Du bist verletzt, das geht vor.“
    „Sag mal!“ Der blonde Kommissar griff nach der Schutzweste seines Gegenübers und zog ihn zu sich heran. „Du rennst hoffentlich schnell, damit du den Arsch einholst!“ Er schubste Thore von sich weg. „Und nun setz dich endlich in Bewegung!“
    Als Paul sah, wie Thore nun tatsächlich losrannte, versuchte er sich zu erheben, doch kurz nachdem er stand, merkte er, wie sich die Welt um ihn herum zu drehen begann. Er fühlte sich, als befände er sich mitten im freien Fall und kurz darauf landete er wieder auf dem staubigen Boden.

  • Thore rannte. Seine Turnschuhe dröhnten auf dem alten Beton der Fabrikhalle.
    „Polizei! Bleiben Sie stehen!“, rief er, genau wissend, dass der Mann ohnehin nicht stehen bleiben würde. „Das Gebäude ist umstellt, Sie haben keine Chance!“ Auch diese Lüge beeindruckte den Flüchtenden nicht und er rannte einfach weiter.
    Wie viel Ausdauer hatte wohl ein ehemaliger Basketballspieler? Niilo war ihm, was das anbelangte, immer überlegen gewesen. Würde er auch gegen Jussila den Kürzeren ziehen. Er vertrieb den Gedanken aus seinem Kopf. Solange er etwas hatte, was ihn antrieb, würde er nicht verlieren. Er würde den Kerl nicht davonkommen lassen. Niemand rührte seinen Freund einfach so an! Thore beschleunigte seine Schritte abermals und rief Jussila erneut zu, dass er aufgeben solle – dieses Mal auf Finnisch. Sicher war sicher.
    Er holte auf, hatte bereits ein Drittel des Vorsprungs wettgemacht. Jussila rannte durch eine schmale Tür in den nächsten Raum. Vermutlich Richtung Ausgang. Dort wurde es etwas heller. Thore folgte, hatte jedoch alle Sinne beisammen. Immerhin war es erst wenige Minuten her, dass Paul so überrumpelt worden war.
    Er merkte, wie ihm langsam die Luft wegblieb. Er bekam Seitenstiche und hatte den Drang einfach stehenzubleiben. Doch die Tatsache, dass Jussilas Tempo langsamer zu werden schien, trieb ihn vorwärts. Niemals würde er ihn das Gebäude verlassen lassen! Der Abstand wurde immer kleiner und dann hatte er ihn eingeholt. Er machte einen Satz nach vorne und warf sich auf den flüchtenden Mann. „Schluss jetzt!“, schrie er und drehte ihn auf den Rücken. Seine Augen weiteten sich vor Überraschung. Das war nicht Jussila.
    „Das ist mein Stoff, Ich gebe dir nichts ab!!“, zischte der Mann unter ihm und nutzte die kurze Überraschung des finnischen Kommissars. Er holte aus und schleuderte blitzschnell mit ihrem rechten Arm die Pistole aus der Hand, die mit einem krachenden Geräusch auf den Betonboden aufkam und einige Meter wegrutschte. Dann folgte ein weiterer Schlag in die Rippengegend, der Thore zurücktaumeln ließ. „Verpiss dich!“, schrie ihn der Unbekannte, wohl ein Junkie, wie Thore aufgrund der Aussage vermutete. „Ich mach dich fertig! Das hier ist mein Haus, mein Stoff!“
    Thore brachte sich in Angriffsstellung. So leicht würde er sich nicht noch einmal überrumpeln lassen. Er war diesem Junkie sicherlich an Kraft und Ausdauer überlegen, aber jemanden zu unterschätzen, brachte den Tod. Er musste aufmerksam sein. All seine Sinne schärfen.
    Und dann sprang sein Gegner vor, versuchte einen Angriff mit den Händen und dem rechten Fuß.
    Mühelos konnte er reagieren. Er wich aus, schwang herum und landete einen harten Treffer in der Nierengegend.
    Sein Gegner keuchte auf, drehte herum und sprang in die Kampfhaltung zurück.
    „Hören Sie, ich bin von der Poli …“, versuchte Thore erneut. Doch auch dieses Mal gelang es ihm nicht zu dem Mann durchzudringen.
    Der Junkie sprang wieder nach vor, riss die Arme nach vorne und wollte seinen Kopf fassen. Thore zog den Kopf weg, trat gegen den Schenkel seines Gegners und warf sich nach hinten. Für einen zugedröhnten Junkie war der Kerl verdammt flink, das musste er ihm lassen.
    Ohne ihm viel Zeit zu lassen, wurde die nächste Attacke gestartet. Der Junkie sprang auf ihn zu und versuchte es dieses Mal mit vielen gleichzeitigen Boxhieben. Thore lenkte den Großteil der harten und schnellen Schläge ab, einige jedoch trafen ihr Ziel und schickten jedes Mal eine Schmerzenswelle durch seine Nervenbahnen. Aber im Vergleich zu den Prügeln von seinem Vater, war das hier ein Kindergeburtstag. So leicht würde niemand ihn mehr ohne Gegenwehr zusammenschlagen! Er wechselte aus de Verteidigungs- in die Angriffsstellung, umtanzte den Junkie und setzte dann den ersten Schlag. Er traf den Gegner hart und schmerzhaft an der linken Schulter. Gerade noch rechtzeitig fing er einen Schlag des Junkies mit seinem linken Arm ab. Er revanchierte seinerseits den Ellbogen in die Bauchgegend. Gekrümmt taumelte der Kerl zurück. Thore ließ ihm dieses Mal keine Chance sich wieder zu erholen. Sein nächster Schlag traf ihn an der Schläfe und ließ ihn benommen auf die Knie sinken. „Schluss jetzt!“, schnaufte Thore und zog zwei Kabelbinder aus seiner Hosentasche. „Du hast mich lange genug aufgehalten.“
    Thore beugte sich gerade herunter und packte nach dem rechten Arm, als ein Schuss durch die Luft krachte und der Kopf des Mannes zurückgerissen wurde. Blut spritzte aus einem Loch in seiner Schläfe. Thore zuckte erschrocken zusammen, seine Hand löste sich von dem Mann vor sich und der leblose Körper sackte auf den staubigen Boden. Sein Herzschlag beschleunigte sich, denn er war sich sicher, dass der Schuss von keinem seiner Kollegen gekommen war.
    „Aufstehen Bulle!“, forderte eine rauchige Männerstimme.
    Er drehte seinen Kopf herum und sah in das Gesicht von Jussila.
    „Sie kommen hier nicht raus“, sagte er mit ruhiger Stimme.
    „Genau deshalb bist du ja da.“ Thore spürte den kalten Lauf seiner eigenen Waffe am Hinterkopf. „Aufstehen, Bulle!“
    Thore hob leicht die Hände nach oben. „Hören Sie, Jussila. Ganz ruhig. Ich bin mir sicher, wir finden eine Lösung“, versuchte er auf Finnisch.
    Jussila grinste. „Ja, da bin ich mir sicher. Finnischer Kommissar, was?“ Der Druck des Pistolenlaufes gegen seinen Kopf verstärkte sich. „Dann weißt du sicher auch, wo ich Niilo Ylianto finde …“
    „Er ist tot“, antwortete Thore.
    „Noch eine Lüge und ich knall dich ab.“ Jussila zog an der Kapuze seines Pullovers und Thore merkte, wie sich der Stoff gegen seinen Hals drückte. Er versuchte ruhig zu bleiben. Jetzt nicht in Panik verfallen, dachte er. Alles außer das.
    „Komm schon!“ Die Stimme von Jussila begann sich mit der seines Vaters zu vermischen.
    Du willst zu deiner Mutter? Wie wäre es, wenn ich dich gleich hier erwürge?
    Raus aus meinem Kopf!, schrie seine innere Stimme und tatsächlich hatte er Erfolg. Sein Vater und all die Erinnerungen verschwanden.
    Jussila zog ihn auf die Füße, der Lauf der Pistole wanderte vom Hinterkopf an die Schläfe, der linke Arm legte sich um seinen Hals. „Und nun kommst du brav mit.“





    „Diese verdammte Tür muss doch irgendwie aufgeben“, schrie Ben und begann wie wild auf die Stahltür einzuhämmern, die sich keinen Zentimeter rühren wollte. Vor wenigen Sekunden war ein Schuss gefallen, der ihn nur noch nervöser werden ließ. Das hieß Paul und Thore waren Jussila ebenfalls über den Weg gelaufen und es hieß auch, dass eine ihrer Pistolen einen Schuss abgegeben hatte. Oder hatte Jussila sich in den letzten Tagen ebenfalls eine Pistole besorgt, brauchte er deshalb vielleicht das Messer nicht mehr und hatte es genutzt, um sie in eine Falle zu locken.
    „Ben, wir müssen ruhig bleiben“, versuchte Semir.
    „Ruhig bleiben? Hast du den Schuss nicht gehört?“ Der Braunhaarige trat gegen die Stahltür. „Verfluchte Scheiße!“


    Während Ben an der Tür immer wütender wurde, versuchte Semir die Kontrolle über die Situation zu behalten. Irgendetwas musste ihnen ja helfen können. Er holte sein Smartphone aus der Tasche und durchkämmte den Raum mit dem spärlichen Licht des Displays. Und tatsächlich hatte er Gluck und das Licht fiel auf ein Brecheisen, das ganz dicht und unscheinbar an der Wand lag und zunächst wie eine einfache Eisenstange gewirkt hatte.
    „Ben, ich glaube, ich habe unsere Fahrkarte nach draußen gefunden“, ließ er verlauten und hob das Brecheisen auf.

  • Paul rappelte sich hoch, als er den Schuss hörte. Augenblicklich wurde ihm wieder schwindelig, aber er schaffte es dennoch irgendwie aufrecht stehen zu bleiben und langsam – wenn auch wackelig – einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er umgriff seine Pistole fester und arbeitete sich in die Richtung vor, aus der der Schuss gefallen war. Vielleicht war es nur ein Warnschuss von Thore gewesen. Aber eigentlich sollte es der Kollege besser wissen, als das er einfach so in einem geschlossenen Gebäude Warnschüsse abgab. Das Adrenalin trieb ihn vorwärts und seine Schritte wurden immer schneller, bis er schließlich zu rennen begann. Seine Füße schienen nur so über den Boden zu fliegen. Er konzentrierte sich nur noch auf diese eine Sache, alles andere blendete er aus.
    Dann plötzlich sah er etwas, das ihn zum Stehenbleiben bewegte. Auf dem Boden vor ihm lag ein Mann. Kopfschuss. Paul beugte sich herunter und tastete nach dem Puls, fand ihn, wie er vermutetet hatte, jedoch nicht vor.
    Für einen Augenblick überlegte er, ob vielleicht Thore den Mann erschossen hatte. Aber wieso war er dann hier nicht auffindbar? Er wäre sicher nicht davon gerannt. Oder doch? Paul vertrieb den Gedanken aus seinem Kopf. Nein, ein solcher Polizist schien der Finne nicht gewesen zu sein. Er scannte den Raum. Eine dicke Stahltür mit einem Notausgang-Schild darüber, fiel in sein Blickfeld. Ohne lange zu zögern, rannte er weiter. Ein ungutes Gefühl in der Magengegend trieb ihn vorwärts.
    Er drückte die Tür auf und erklomm eine schmale Stahltreppe, die unter seinen hastigen Schritten erzitterte. Oben angekommen verschaffte er sich für wenige Sekunden einen Überblick. In welche Richtung würde er fliehen?
    Paul rannte nach rechts in Richtung Haupteingang, wo sie ihre Autos abgestellt hatten, was sicherlich eine willkommene Fluchtmöglichkeit darstellte. Der Schwindel war inzwischen zurückgekehrt, doch er schüttelte ihn ab und rannte einfach weiter. Um seinen Brummschädel konnte er sich auch später noch kümmern. Irgendwann konnte er eine Stimme hören, die auf einer anderen Sprache laut schrie, als er um die Ecke bog, sah er Jussila, der Thore im Schwitzkasten hatte und vor sich her scheuchte.
    Paul beschleunigte seinen Schritt noch einmal und holte das Paar ein, kurz bevor sie an den Autos ankamen.
    „Stehen bleiben!“ schrie Paul. „Hände hoch!“
    Jussila blieb zwar stehen, nahm aber nicht die Hände hoch. Er wirbelte herum und funkelte ihn wütend an. „Keinen Schritt näher!“, schrie Jussila. „Oder ich muss deinen Kollegen abknallen!“
    „Ganz ruhig, Jussila. Wir können doch über alles reden.“
    „Was wollt ihr denn eigentlich immer reden!?!“ Jussila lachte. „Ist dir nicht klar, dass ihr hier in der schlechteren Position seid? Leg deine Waffe auf die Erde.“
    „Lassen Sie meinen Kollegen gehen“, versuchte Paul ein weiteres Mal.
    „Waffe auf den Boden, habe ich gesagt“, wiederholte der Mann wütend. „Sonst jage ich deinem Kollegen hier eine Kugel in den Schädel!“
    Paul bückte sich und legte die Waffe auf den Boden.
    „Rüber kicken, los!“
    „Hören Sie …“
    „Schieß sie rüber!“
    Er kickte die Waffe in Jussilas Richtung, der begann in den Jacken- und Hosentaschen von Thore zu wühlen. Kurz darauf zog er einen Schlüssel heraus, den er nach kurzem betrachten auf den Boden warf. „Wo ist der Autoschlüssel?“, flüsterte er Thore ins Ohr.
    „Ich habe ihn nicht“, antwortete der finnische Kommissar.
    Jussilas Blick ging zu Paul. „Autoschlüssel her!“
    Paul zögerte. Alles in ihm weigerte sich dagegen, der Forderung nachzukommen.
    „Her damit, oder ich muss deinen Kollegen abknallen!“
    Der Blonde blickte in das Gesicht seines gleichaltrigen Kollegen aus Finnland. Thore schüttelte kaum merklich den Kopf.
    „Misch dich da nicht ein!“, zischte Jussila und verstärkte mit dem Arm den Druck um den Hals seiner Geisel. „Den Scheißschlüssel, komm schon!“
    „Erst lassen Sie meinen Kollegen gehen!“
    Wieder lachte Jussila. „Du denkst, dass du in der Position bist, um Forderungen zu stellen. Dein Kollege hier, der weiß, wo ich etwas finde … ich werde ihn nicht gehen lassen. Also wenn du willst, dass er lebt, gib mir den Schlüssel!“
    Niilo, schoss es Paul durch den Kopf. Er brauchte Thore, um an Niilo heranzukommen. Die Gedanken drehten sich im Kreis. Er wusste nicht, was die beste Lösung war. Denn egal wie er sich entscheiden würde, am Ende könnte es einem Kollegen das Leben kosten.
    „Der Schlüssel!“, wiederholte Jussila ungeduldig.
    Pauls linke Hand griff in seine Jackentasche und er zog den Schlüssel heraus. Vielleicht könnte er Jussila ja bei der Übergabe überlisten. Wenn er sich danach bücken würde, oder …
    „Gut so, steck ihn ins Zündschloss“, rief Jussila.
    Die Taktik des deutschen Kommissars wurde binnen weniger Sekunden zerschmettert.
    „Nun, mach schon …“, folgte es kurz darauf.
    Er nickte und ging langsam auf das Auto zu. Zeit gewinnen, dachte er. Er musste Zeit gewinnen. Vielleicht würden ja Semir und Ben auf die Situation aufmerksam. Überhaupt, wieso hatten sie es noch nicht mitbekommen. Ein eisiger Schauer lief über seinen Rücken. Ihnen war doch wohl nichts zugestoßen? Nein, er hatte nur einen Schuss gehört … Jussila hatte seine Taten mit einem Messer begangen … Ihm wurde übel. Bitte, lass es ihnen gut gehen!
    Paul öffnete die Fahrertür zu seinem Wagen und steckte dann den Schlüssel in das Schloss.
    „Geh wieder zurück, dahin, wo du vorhin gestanden hast.“
    Er nickte und machte ein paar Schritte nach hinten.
    „Lassen Sie bitte meinen Kollegen gehen.“
    Jussila lachte. „Wieso sollte ich das tun? Ich brauche ihn ja noch …“ Er schubste Thore auf die Fahrerseite und stieg kurz darauf auf der anderen Seite ein.
    Dann wurde der Motor gestartet und der Wagen fuhr davon.
    „Fuck!“, schrie Paul laut. „Fuck! Fuck! Fuck!“

  • „Jetzt Ben!“, rief Semir und im gleichen Augenblick drückten die beiden Kommissare das Brecheisen nach unten. Und tatsächlich. Durch die Hebelwirkung gelang es ihnen, die schwere Stahltür aus den Scharnieren zu stemmen. Etwas knallte klirrend zu Boden, kurz darauf gab auch die Tür nach und kippte nach vorne weg und krachte auf den Boden, wo sie eine große Staubwolke hinterließ.
    Sofort stürmten sie aus ihrem Gefängnis und rannten los. Nur unmittelbar darauf, hörten sie einen Motor aufheulen.
    „Schnell, der haut ab!“, schrie Ben und hastete mit Semir im Schlepptau in Richtung Ausgang. Als sie vor das Gebäude traten erstarrten sie. Der Mercedes fehlte.
    „Er hat Thore … und den Wagen“, presste ein sichtlich verloren wirkender Paul hervor.


    Semir zögerte nicht lange, entriegelte seinen Wagen und sprang herein. „Worauf wartet ihr noch!“, schrie er und endlich lösten sich auch Paul und Ben aus ihrer Schockstarre und ließen sich in den BMW fallen. Semir knallte den ersten Gang rein, sein Fuß drückte das Gaspedal runter bis zum Anschlag. Eine Staubwolke hinter sich aufwirbelnd, schlitterte der BMW über den Sandboden auf die schmale Asphaltstraße.
    Doch zu ihrem Missfallen war der Abstand groß, der Flüchtige hatte wertvolle Sekunden gehabt. Mit bloßem Auge war der Mercedes nicht mehr zu sehen. „So nicht mein Freundchen!“, zischte Semir und drückte bereits den nächsten Gang rein. „So nicht!“
    „Was zur Hölle habt ihr da unten getrieben?“, fragte Ben aufgeregt in Richtung Paul, der auf dem Rücksitz saß. In seinem Körper durchflutete Adrenalin seine Adern. Er könnte sich selbst ohrfeigen dafür, dass er in dem Stahlwerk so überrumpelt worden war. Hätten Semir und er sich nicht von Jussila austricksen lassen, dann wäre das alles nicht passiert. Sie hatten sich wie Dilettanten benommen!
    „Wir würden überrumpelt, mir hat jemand die Lichter ausgeknipst. Ich habe ihn alleine weiter geschickt, dann war da dieser Tote und Jussila mit deinem Kollegen“, berichtete Paul hektisch. „Es ging alles so schnell …“
    „Welcher Tote?“, fragte Semir, der als einziger die Ruhe zu bewahren schien.
    „Was weiß ich denn … Obdachloser oder so … ich bin ja auch sofort Jussila hinterher!“
    „Wieso nimmt er Thore mit?“
    „Ich glaube, er denkt, dass er ihn zu Niilo führen kann“, antwortete Paul.
    Ben zog sein Handy aus der Tasche und wählte bereits die Nummer des Krankenhauses. Er konnte sich zwar nicht vorstellen, das Thore den Flüchtigen wirklich zu dem Krankenhaus brachte, in dem Niilo war, aber sicher war sicher. Sie mussten alles abriegeln, niemand durfte hereinkommen!


    „Nun fahr doch schneller Semir!“, fluchte Ben, nachdem er wieder aufgelegt hatte. Noch immer war von dem Mercedes nicht zu sehen, aber immerhin ging es hier noch geradeaus. Würde Jussila die erste Abzweigung erreichen, ohne dass sie in der Sichtweite waren, dann war es vorbei.
    „Was denkst du, tue ich gerade!“, antwortete ihm der Ältere ungeduldig. Viel zu langsam wanderte die Tachonadel nach oben. Seine Finger krampften sich um das Lenkrad. Er spürte, wie er versuchte, den Wagen mit purer Willenskraft anzutreiben.
    „Dein Kollege dreht hoffentlich in einer solchen Situation nicht durch“, sagte Paul von hinten.
    Ben grinste. „Glaub mir. Er ist nicht so unfähig, wie er die letzten zwei Tage gewirkt hat.“
    „Wie hat Jussila gewirkt?“, wollte Semir wissen.
    „Ich weiß nicht … hektisch, kurz angebunden. Ich war mir sicher, dass er Thore erschießen würde, wenn ich nicht darauf eingehe“, erklärte Paul. „Es tut mir leid, vielleicht hätte ich ihn noch etwas länger aufhalten können.“
    „Nein, ich denke nicht. Wenn er wirklich hektisch war, dann wäre es sicher in einem Blutbad geendet“, beruhigte Semir seinen Partner.
    „Wer sagt, dass es das jetzt nicht tu. Was tut Jussila, wenn er merkt, dass Thore ihn nicht zu Niilo führt?“, fragte der Blonde. „Denn ich glaube nicht, dass er das richtige Krankenhaus ansteuert. Er wird Niilo nicht in Gefahr bringen.“
    „Wir müssen ihn vorher aufhalten“, sagte Semir bestimmt.
    Die Bäume am Straßenrand flogen an ihnen vorbei und irgendwann kam der silbergraue Mercedes tatsächlich in ihr Sichtfeld. „Da ist das Schwein!“, rief Ben auf und hatte das Gefühl, als würde Semir noch einmal alles aus seinem Dienstwagen herausholen. Der Abstand nach vorne verkürzte sich stetig und irgendwann lagen sie nur noch zehn Meter dahinter.
    Paul beugte sich nach vorne. „Wie halten wir ihn nun auf? Schießen kommt ja wohl nicht in Frage.“
    Der Jüngste im Bunde hatte Recht. Es war klar zu erkennen, dass Jussila mit der Waffe herumfuchtelte. Eine falsche Bewegung und er würde auf den Kollegen schießen. Semir griff nach dem Funkgerät, doch es schien, als hätte Jussila es im vorderen Wagen ausgeschaltet. Sie erhielten keine Antwort.
    „Ruf bei Thore an“, sagte Semir dann. „Vielleicht können wir mit Jussila verhandeln.“
    „Denkst du, dass ist eine gute Idee. Dann weiß er, dass wir hinter ihm sind“, hakte Ben unsicher nach. Doch im gleichen Moment blickte Jussila nach hinten. „ … gut, darüber brauchen wir uns jetzt wohl keine Sorgen mehr machen“, ergänzte er und zog sein Handy aus der Tasche, um die Nummer von Thore zu wählen.
    Als das Freizeichen ertönte, konnte er sehen, wie im Wagen vor ihnen Hektik ausbrach. Dann preschte Jussilas linke Hand in Richtung Fahrersitz. Unmittelbar danach hielt er sich das Handy ans Ohr.
    „Verpisst euch, oder ich knall ihn ab!“, schrie eine rauchige Stimme in Bens Ohr.
    „Wenn Sie jetzt aufgeben, dann könnte sich das positiv auswirken“, versuchte er.
    „Ach ja!“ Ein Lachen hallte durch die Leitung.
    „Bitte, Jussila. Lassen Sie Hauptkommissar Berg gehen“, wiederholte er.
    Die Stimme aus dem Handy verstummte. Dann wurde das Fenster heruntergelassen und das Smartphone aus dem Wagen geworfen. Ein lautes Knacken erschallte in Bens Ohr, ehe es still wurde.
    „Verdammt!“ Ben knallte das Handy auf seinen Schoß. „Verdammt, verdammt, verdammt!“
    „Wir müssen jetzt ruhig bleiben“, versuchte ihn Semir zu beruhigen. „Wir bleiben dran, vielleicht ergibt sich ja eine Situation.“
    Ben raufte sich durch die Haare. „Ich habe versprochen, dass ich auf ihn aufpasse“, flüsterte er. „Und jetzt das …“

  • Thore warf ein kurzer Blick zur Seite. Die Waffe in Jussilas Hand wankte auf und ab, das Gesicht triefte vor Schweiß. Er brauchte kein Spezialist sein, um zu wissen, dass sein Geiselnehmer gerade ein nervliches Wrack war. Eine Tatsache, die es für ihn nicht einfacher machte aus seinen Klauen wieder zu entkommen. Dass Ben und die anderen Kollegen sie inzwischen eingeholt hatten, machte es nicht leichter. Er hatte für einen Moment überlegt, einfach das Auto abzuschließen, während Jussila noch draußen gestanden war, aber vermutlich wäre dieser dann durchgedreht und hätte Paul etwas angetan. Das hatte er nicht riskieren wollen.
    „Deine Scheißkollegen geben einfach nicht auf!“, fauchte Jussila. Er begann wild auf den Knöpfen zu drücken. „Welches ist der Knopf, um die Lautsprecher am Auto zu bedienen? Sie sollen sich endlich verpissen!“
    „Es ist ein Zivilfahrzeug, hat so etwas nicht“, antwortete Thore mit ruhiger Stimme.
    Kurz darauf spürte er, wie Jussila den Lauf der Waffe wieder gegen seinen Schädel drückte. „Und das soll ich dir glauben?!“
    „Das ist die Wahrheit.“ Der schwarzhaarige Kommissar versuchte, trotz der Situation weiter die Ruhe zu bewahren. Es war nicht so, als wüsste er nicht, wie man Geiselnahmen handhaben musste. Er hatte immerhin seine ersten Jahre als Kommissar in einer Einheit verbracht, die darauf spezialisiert war. Aber eine Verhandlung von Außen zu führen war etwas vollkommen anderes, als selbst die Geisel zu sein. Außerdem schien es nichts zu geben, was er Jussila anbieten konnte. Der Kerl schien geradezu fixiert auf Niilo.
    „Was hat Ihnen Niilo getan?“, fragte er und nahm gleichzeitig vorsichtig den Fuß etwas vom Gas. Anders als Jussila hatte er momentan kein Interesse daran, dass die Kollegen ihn aus den Augen verloren.
    „Konzentrier dich auf’s fahren!“, schrie Jussila laut. „Und gib verdammt noch mal Gas!“
    Thore nickte und drückte den rechten Fuß wieder nach unten, doch der Blick in den Rückspiegel versicherte ihm, dass der silberne BMW wieder etwas näher gekommen war.
    „Wissen Sie, Niilo mag Basketball wirklich …“
    Er konnte seinen Satz nicht beenden, denn Jussila lachte hysterisch auf. „Er sollte es hassen! Alle sollten es hassen!“ Der Druck der Waffe gegen seinen Kopf verstärkte sich abermals. „Es hat mein Leben zerstört … und die! Die haben daran immer noch Spaß!“
    „Wieso haben Sie Kimmo Lehtolainen umgebracht?“
    Sein Beifahrer lachte noch lauter. „Was denkst du, Bulle?!“ Jussila sah wieder nach hinten. „Die gehen mir echt auf den Senkel!“, fluchte er.
    Der Geiselnehmer drehte sich auf seinem Sitz herum, zielte durch die Heckscheibe und gab einige Schuss ab. Es folgte ein ohrenbetäubender Knall, die Kugel durchbrach das Heckfenster und es blieb nur noch der Rahmen über. Doch damit nicht genug. Jussila legte erneut an und feuerte weitere Kugeln in Richtung der Verfolger. Thore machte, nachdem der erste Schock verdaut war, eine schnelle Bewegung nach links, aber dennoch trafen einige der Schüsse den BMW in der Frontscheibe und am Kühler. Jussila feuerte immer weiter. Immer schneller, während er dabei laut lachte. Und nun war er sich sicher. Der Kerl war wahnsinnig, nicht mehr zu handhaben. „Das haben deine Scheißkollegen davon!“ Dann nur noch ein dumpfes Klicken. Das Magazin war leer. Das war seine Chance!
    „Hast du noch ein zweites Magazin?!“ Ehe Thore überhaupt die Möglichkeit hatte etwas zu unternehmen, hatte er eine Klinge am Hals. Der Typ war voll von unschönen Überraschungen! Er war fest davon ausgegangen, dass er nur seine Waffe hatte, doch da hatte er sich getäuscht.
    „Nein.“
    Jussila kicherte. „Ich habe nach deiner ersten Lüge aufgehört dir zu glauben. Ich habe es doch vorhin gespürt, als ich dich vor der Fabrik durchsucht habe.“ Er begann in Thores Jackentasche zu wühlen. „Was ist das denn, Bulle? Ein Spielsteinchen?“ Der Geiselnehmer hielt einen Shogi-Stein vor sein Gesicht und drehte es zwischen Zeigefinger und Daumen.
    „Nichts von Bedeutung“, antwortete er flapsig.
    „Nicht von Bedeutung?“ Jussila betrachtete ihn skeptisch. „Ich sehe es doch an deinem Gesichtsausdruck … es ist dir wichtig, was?“ Der Beifahrer drehte das Fenster herunter und warf den Stein heraus.
    Für einen Moment kroch Wut in Thore hoch. Sein Fuß hob sich vom Gas. „Ein Mord, weil jemand Basketball mag, Sie sind krank Jussila!“ Thore lachte auf. „Das ist es doch? Sie können es nicht ertragen, wie andere Menschen glücklich sind. Sie sind erbärmlich.“
    „Wirst du wohl wieder Gas geben!“ Jussila drückte die Klinge enger gegen seinen Hals. „Sonst werde ich dir hier und jetzt die Kehle durchschneiden!“
    „Dann können Sie nicht mehr flüchten“, gab Thore zurück.
    „Du gibst jetzt Gas!“ Jussila holte aus und hackte die Messerspitze in seine rechte Schulter. Vor Entsetzen blieb ihm der Atem weg. Er presste die Lippen zusammen, damit er nicht laut aufschrie. Warmes Blut lief seinen Arm herunter. Kurz darauf zog Jussila ein Magazin aus seiner linken Jackentasche. „Wusste ich doch, dass du lügst“, zischte er. Er steckte es in die Waffe und drehte sich dann wieder auf den Beifahrersitz. „Und nun rate ich dir, Gas zu geben, wenn du das Leben deiner Kollegen nicht gefährden willst.“
    Thore drückte fast automatisch wieder das Gaspedal herunter, der Wagen kam wieder auf Touren und sie entfernten sich von dem BMW.
    Jussila lachte. „Ihr seid alle gleich. Freundschaft, andere beschützen. Das ist erbärmlich. Ich dachte, Niilo wäre wie ich und dann sehe ich ihn, wie er Basketball spielt, wie er dabei lacht, obwohl er derjenige ist, der zurückgeblieben ist, während die anderen der Mannschaft erfolgreich sind …“
    „Deshalb haben Sie Kimmo Lehtolainen umgebracht? Weil Sie es zu nichts gebracht haben in den USA?“
    „Basketball hat mich zerstört! Niemand sollte damit glücklich werden!“
    „Niilo hat es trotz allem geliebt und seinen Freunden ihre Erfolge damit gegönnt.“
    „Er soll zur Hölle fahren! … Ihr alle ...“ Jussila blickte wieder nach hinten. „Wie wäre es, wenn ich deinen Kollegen das Licht ausknipse? Es nervt mich langsam, wie sie versuchen, dich zu retten.“
    Thore sah in den Rückspiegel. Nur noch wenige Meter trennten sie von dem BMW. Würde Jussila jetzt schießen, dann würde es schwerer den Schüssen auszuweichen.
    Seine rechte Hand legte sich auf die Gangschaltung. „Wissen Sie, wieso ich Polizist geworden bin?“
    „Es interessiert mich einen Dreck!“, fauchte Jussila. „Gib Gas, sonst knall ich dich ab!“
    „Im Polizeiberuf geht es doch viel weniger darum, jemanden das Handwerk zu legen, sondern viel mehr darum, jemanden zu beschützen.“
    „Wovon redest du eigentlich?!“
    Thore lächelte und drückte den nächsten Gang rein. „Regel Nummer eins bei Entführungen. Lassen Sie das Opfer nie selbst fahren.“ Ehe Jussila überhaupt begriff, was Sache war, riss er das Lenkrad herum und trat mit aller Kraft aufs Gaspedal.
    „Der Ausgang einer Geiselnahme ist ein Glücksspiel ...“, flüsterte er, als der Mercedes die Leitplanke durchbrach und abhob. Ein Schuss fiel, dann folgte ein lautes Krachen, als der Wagen im Abgrund landete.

  • Die Bremsen quietschten. Die Reifen wurden vom rauen Asphalt aufgefressen und hinterließen schwarze, rauchende Streifen. Der Wagen kam zu stehen und sofort riss Ben die Tür auf und sah den Anhang herunter. Er schluckte. Die Motorhaube war nur noch ein Klumpen Blech, der Motor hatte sich weit zurückgeschoben. Das Dach eingedrückt, die Frontscheibe zerborsten. Dann stolperte eine Person aus dem Wagen. Zunächst hatte Ben die Hoffnung, dass es Thore war, doch als er zu ihnen hochsah, erkannte er, dass es sich um Jussila handelte. Dessen Augen weiteten sich und dann ergriff er die Flucht.
    Eilig stolperte Ben den Abhang herunter.
    „Folgt Jussila!“, schrie Ben laut und rannte zum Autowrack.
    Nur weit entfernt und dumpf konnte er Semirs Stimme hören, die ihm zurief, dass Sein Herz setzte einen Schlag aus. Er rechnete mit den Schlimmsten und er wappnete sich gegen den Anblick, als er sich hinabbeugte.
    Thore hing bewusstlos in den Sicherheitsgurt. Blut sickerte aus einer Platzwunde an der Stirn, auch der rechte Arm war voller Blut. Der Hauptkommissar riss die Tür auf. „Thore, hörst du mich?!“ Doch er bekam keine Antwort. Er atmete tief durch und fühlte den Puls. Gott sei Dank, er lebte! Ben löste den Sicherheitsgurt und griff Thore gekonnt unter die Arme. Zumindest war er nicht eingeklemmt, dachte er. So konnte er ihn wenigstens schnell von dem Wrack wegbekommen, falls vielleicht irgendwo Benzin auslief.
    Er schliff Thore ein Stück vom Auto weg und ließ ihn dann auf die Erde sinken.
    „Wach auf, Thore. Bitte!“ Ben suchte seinen Freund nach Verletzungen ab. Die Platzwunde deutete darauf hin, dass er sich den Kopf angeschlagen hatte. Die Wunde an der Schulter war vermutlich von Jussilas Messer. Er hatte gesehen, wie er Thore damit bedroht hatte. Aber wer wusste schon, ob er innere Verletzungen oder Knochenbrüche hatte.
    „Thore! Komm schon …“ Er tätschelte erneut die Wangen seines Freundes und endlich war ein leises Stöhnen zu vernehmen. Dann flackerten die Augenlider des Finnen und öffneten sich ein Stück.
    „Endlich!“
    „Nicht so laut“, nuschelte der Schwarzhaarige hervor.
    „Was tut dir weh?“
    „Keine Ahnung ...“ Thore sog die Luft scharf ein und stöhnte dann auf. „ … alles.“ Der Schwarzhaarige hielt inne und klopfte dann hektisch seine Schutzweste ab. Er schnaufte auf. „Puh, er hat die Weste getroffen.“
    „Ich dachte, du würdest besser fahren. Hast du mich nicht beim letzten Fahrsicherheitstraining abgehängt?“
    Der Jüngere drehte sich leicht weg. „So kann’s gehen.“
    Ben stutzte. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass irgendetwas nicht stimmte. Wenn Thore seinem Blick auswich, dann war meistens etwas im Busch.
    „Hast du etwa …?“
    „Was?“
    „Verfluchte Scheiße!“ Ben griff nach der Schutzweste seines Freundes und zog ihn ein Stück hoch.
    Thore jaulte laut auf. „Bist du bescheuert!“
    „Ob ich bescheuert bin? Du hast den Scheißwagen mit Absicht crashen lassen! Was zur Hölle geht in deinem Schädel vor?“
    „Er hätte euch erschossen!“
    Bens Hände lösten sich langsam von der Schutzweste und Thore ging stöhnend wieder auf die Erde. Der Schwarzhaarige umgriff seinen Oberkörper. „Was sollte ich sonst tun … Nora liebt dich …“
    „Und du bist ihr verdammter Bruder!“ Ben preschte hoch und fuhr sich durch die Haare. „Was hätte ich ihr sagen sollen, wenn du tot gewesen wärst. Was!?“
    „Es tut mir leid … ich habe das nicht zu Ende gedacht.“
    „Das habe ich bemerkt! Himmel.“
    „Was … was ist mit Jussila?“
    „Der hatte auch einen Schutzengel, ist geflüchtet. Semir und Paul sind hinterher.“



    *


    „Da Semir!“, schrie Paul. „Er rennt in das Weizenfeld.“
    Semirs Kopf ging nach rechts und er konnte sehen, wie Jussila bereits einige Meter in das Feldinnere gerannt war. Doch es schien, als hätte der Flüchtige bei dem Unfall doch mehr mitbekommen, als es zunächst schien. Er strauchelte immer wieder und sein Tempo war nicht besonders hoch.
    „Bleiben Sie stehen, Jussila. Polizei!“ Natürlich hatte Semirs Rufen keine Wirkung mehr. Dafür war Jussila bereits zu weit gegangen. Semir beschleunigte sein Tempo, denn er wusste, dass er auch auf Paul in der momentanen Situation nicht zählen konnte. Auch sein blonder Partner war ungewöhnlich langsam und schien mit den Folgen der Kopfverletzung im Keller der Stahlfabrik zu kämpfen. Er sprang regelrecht in das Weizenfeld und kämpfte sich durch die dichten Pflanzen, die ihm bis zu den Hüften gingen.
    „Weg! Bleib weg!“, rief Jussila vor ihm panisch, ehe er wieder strauchelte und zu Boden fiel.
    Als er nur noch wenige Meter von ihm entfernt war, sprang er Jussila von hinten an, um ihn in den Schwitzkasten zu nehmen.
    „Schluss jetzt“, schimpfte er und drückte den Mann unter sich in den staubigen Ackerboden.
    Ein Lachen hallte durch die Luft. „Sie haben es verdient! Die sind selbst schuld an ihrem Schicksal!“
    Semir zog sein Paar Handschellen hervor und legte sie Jussila um das linke Handgelenk. Dann drehte er ihm den Arm hinter den Rücken, erfasste den rechten Arm, und schloss die Handschellen.
    „Und nun auf auf.“ Er stand auf und zog den Mann unter sich mit hoch. „Auf sie wartet ein hübsch eingerichtetes Verhörzimmer.“
    Als sie wieder am Wrack angekommen waren, stellte Semir zu seiner Erleichterung fest, dass wohl auch Thore den Unfall weitgehend überstanden hatte. Der junge Kollege aus dem hohen Norden saß ihm Gras und spielte mit einer Strähne, die in seinem Gesicht hing. Als er sie sah, blickte er kurz auf.
    „Du wolltest mich umbringen Bulle!“, fauchte Jussila.
    Thore stand mit schmerzverzerrtem Gesicht auf. „Dann weißt du ja jetzt, wie es sich anfühlt. Arschloch.“
    Der Schwarzhaarige machte einige wackelige Schritte in Richtung Wagen, Ben hechtete jedoch sofort hinterher. „Warte, wir sollten auf den Krankenwagen warten.“
    „Ich habe was verloren, ich muss es wiederfinden“, kam es von vorne und zu Semirs Verwunderung machte Thore nicht am BMW Halt, sondern ging die Straße hoch, in die Richtung, aus der sie gekommen waren.
    Jussila lachte. „War er also doch so wichtig dein Spielstein!“, rief der Verhaftete und im gleichen Moment blieb Thore für wenige Sekunden stehen. Dann jedoch ging er weiter und hob die Hand. „Viel Spaß im Gefängnis!“


    „Na, hopp.“ Semir trieb Jussila weiter in Richtung Auto voran und verfrachtete ihn auf die Rückbank.
    „Was ein Tag“, schnaufte Paul hinter ihm und sah Thore hinterher. „Was das wohl für ein Spielstein ist, von dem Jussila redet.“
    „Ein Glücksbringer von seiner Mutter.“ Ben lächelte. „Wie ist es, ich übernehme das Warten auf den Abschleppdienst und Thore, ihr bringt unseren Freund hier schon einmal in das Verhörzimmer.“
    „Trödel aber nicht zu lange!“ Semir klopfte Ben auf die Schulter. „Ich werde so lange schauen, dass ich was Vernünftiges aus dem Kerl herausbekomme.“

  • Ben schob seine Hände in die Hosentaschen, während der Blick auf den Asphalt gerichtet war. Schon seit 30 Minuten liefen sie den Abschnitt entlang, doch bisher hatten sie nichts gefunden.
    „Thore, wir sollten wirklich jetzt sehen, dass du erst einmal ins Krankenhaus fährst“, sagte er und blickte hoch. Thore war nicht stehen geblieben, lief unbeirrt weiter.
    „Hey.“ Er griff nach dem linken Arm seines Freundes. „Es reicht.“
    „Ich muss ihn wiederfinden“, murmelte der Schwarzhaarige leise. „Er muss hier irgendwo sein.“
    „Ich werde zurückfahren und dann weitersuchen, ja? Aber deine Gesundheit geht jetzt vor.“
    „Es geht mir gut.“
    Ben lächelte. „Erzähle dass jemand anderem.“
    „Aber …“
    „Ich sagte, ich suche danach. Ich finde ihn, keine Sorge. Du hast Schmerzen und wer weiß, ob du dir doch etwas Heftigeres zugezogen hast.“
    „Es wird schon gehen“, kam es störrisch zurück.
    Ben seufzte. Dann blieb ihm wohl wirklich nur noch die Trumpfkarte. Er zog sein Handy aus der Tasche und tippte auf das Display. „Ich werde jetzt Nora anrufen, vielleicht kann sie dir ja etwas Vernunft einhämmern.“
    Thores Augen weiteren sich und er zog ihm das Handy aus der Hand. „Du wirst sie nicht anrufen. Es geht mir gut.“
    „Dann lass uns jetzt ins Krankenhaus fahren.“
    Thore zögerte einige Sekunden, doch dann nickte er schließlich. Ben sah die Straße hoch. „Fragt sich nur, wie wir dahin kommen … du hast ja den zweiten Wagen zu Schrott verarbeitet.“
    „Nun steht es 1:1.“
    Der Ältere zog die Augenbraue hoch. „Wie?“
    „Du hast immerhin auch schon einen Wagen zerstört.“
    „Es war deine Schuld!“
    „Jaja.“ Thore winkte ab und gab ihm das Handy zurück. „Wie wäre es, wenn du eine Strafe anforderst oder ein Taxi?“
    Bens Blick ging in Richtung der Unfallstelle. „Wir könnten auch mit dem Abschleppdienst mitfahren …“
    „Nein! Auf keinen Fall … ohne mich.“
    „Wie du meinst … wie du meinst. Ich ruf uns was anderes her.“


    Eine Stunde später hatte Ben Thore im Krankenhaus abgeliefert und war wieder zur Unfallstelle gefahren, um sein Versprechen einzuhalten. Sein Blick ging in Richtung Horizont. Die Zeit lief ihm davon, denn bald würde es dunkel werden. Er senkte den Kopf und lief im langsamen Tempo einmal mehr die Straße ab auf der Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Was musste Jussila auch ausgerechnet den dummen Shogi-Stein aus dem Fenster werfen? Über das Smartphone hatte Thore kein Wort verloren. Dessen Wert war für ihn ersetzbar gewesen. Der des Spielsteins allerdings nicht. Den hatte er vor mehr als vierzehn Jahren von seiner Mutter geschenkt bekommen, als die Familie Japan, wo Thores Eltern sieben Jahre gelebt hatten, verlassen hatten. Es war ein Glücksbringer, den sie in einem Tempel geweiht hatte. Bisher hatte der Stein seinen Zweck auch gut erfüllt und trotz seiner grenzwertigen Aktionen war Thore nie lebensgefährlich verletzt worden. Ben bückte sich, musste jedoch feststellen, dass das, was auf dem Asphalt lag, nur ein Stück Holz war. Er seufzte und ging weiter. Andererseits. Bei diesem Unfall war auch alles gut gegangen und da hatte er den Stein nicht dabei. Aber vermutlich war es inzwischen auch mehr die Tatsache, dass es ein Andenken von der Mutter war, als der Glaube an einen Glücksbringer.
    „Verfluchter Stein“, schimpfte er laut. Wie sollte er den hier finden?
    Er schreckte auf, als sein Handy ihn mit brutaler Gewalt aus seinen Gedanken zurück ins Hier und Jetzt beförderte. Doch anders als er vermutet hatte, war es nicht Semir, der am anderen Ende ungeduldig darauf wartete, dass er abnahm. Er atmete tief durch und drückte den Grünen Hörer. „Nora, was gibt es?“
    „Was es gibt? Wieso geht Thore nicht an sein Handy? Ich versuche, seit Stunden ihn zu erreichen und er geht einfach nicht ran …“
    „Sein Handy ist kaputt. Du kennst ihn ja …“
    Seine Freundin schwieg – viel zu lange für seinen Geschmack.
    „Was habt ihr angestellt?“, fragte sie dann.
    „Wie kommst du darauf?“, stellte er die Gegenfrage.
    „Deine Stimme, sie klingt anders als sonst.“
    „Hör mal … es ist wirklich nichts Schlimmes. Es ist …“ Er überlegte, wie er es am besten in Worte fassen sollte, damit Nora nicht in Sorge ausbrach.
    „Es ist was?“
    „Nun lass mich doch ausreden.“
    „Du redest ja nicht aus!“
    „Es geht ihm wirklich gut“, versuchte er abermals.
    „Dann gib ihn mir, jetzt sofort.“
    „Das geht gerade nicht. Ich bin nicht bei ihm.“ Er seufzte und begann nun ihr zu berichten, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte, wenn er sich auch herausnahm einige kleine Details zu verändern oder wegzulassen. „Und deshalb, bin ich gerade diesen Stein suchen“, schloss er ab.
    „Er wird dir nicht böse sein, wenn du ihn nicht findest.“
    „Das nicht, aber es ist ihm wichtig. Er hat ihn ja immerhin von eurer Mutter.“
    Seine Freundin lachte leise. „Um ehrlich zu sein, ist er von mir. Den von Mama hat er vor einigen Jahren verloren … ich habe ihn einfach ausgetauscht.“
    „Du hast was?!“
    „Ist das so verwerflich? Es geht doch um das Gefühl, was er damit hat. Das hat sich ja nicht geändert. Aber für dich kommt es nicht mehr in Frage. Er ist ja inzwischen vollkommen abgenutzt. Er würde es merken.“
    Ben hatte sich inzwischen wieder in Bewegung gesetzt und setzte seine Suche fort. „Ich habe übrigens noch einmal über unseren Zusammenzug nachgedacht.“
    „Ja?“
    „Ich werde nicht mehr darauf bestehen, dass du aus der Wohnung mit Thore ausziehst. Wir können es so belassen wie bisher. Du und ich wohnen oben, Thore hat unten sein Reich. Ich meine, es ist sowieso ja alles getrennt bis auf die Küche und das große Wohnzimmer …“
    „Woher der Sinnenswandel?“, hakte Nora nachdenklich nach. „Du hast doch gesagt, dass du es komisch finden würdest, wenn ihr so aufeinander hockt den ganzen Tag.“
    „Ich denke eben, dass es noch nicht Zeit ist, ihn alleinezulassen.“
    Wieder war es für einige Sekunden still. „Er wird sich bemuttert fühlen.“
    „Wenn er das Trauma endlich überwunden hat, dann ziehen wir aus.“
    Nora atmete hörbar aus. „Ist dir bewusst, wie viele Jahre er es nun schon mit sich rumträgt?“
    „Ja, aber ich habe Vertrauen in Mikael. Er sagte, dass Thore auf einem guten Weg ist … er hat nur, glaube ich, wieder einen Schritt zurückgemacht.“
    „Dir ist klar, dass du nun jeden Abend mit Anime-Filmen verbringen musst?“ Sie lachte. „Und ich meine das Original mit Untertiteln.“
    „Ich habe gehört, dort gibt es auch so was wie Action oder so …“
    „Wir werden als Regel einführen, dass die nur noch in seinem Zimmer gesehen werden“, bestimmte Nora. „Es reicht, wenn ich inzwischen mehr als 100 dieser Serien kenne.“
    „Nur 100?“ Ben lachte auf. „Ich bin mir sicher, dass es schon viel mehr sind. Eure ganze Regalwand häng…“ Er stocke, als er endlich fand, was er schon seit gefühlten Stunden suchte.
    „Was ist?“
    Ben hob den Shogi-Stein von der Erde und betrachte ihn für einige Sekunden, ehe er ihn in seine Tasche steckte. „Ich habe den Spielstein gefunden.“
    „Das ist gut.“
    „Ich werde jetzt wieder zu Thore fahren. Ich sage ihm, er soll dich anrufen.“ Er wollte gerade das Handy vom Ohr nehmen, als Noras Stimme noch mal ertönte. „Du hast übrigens keine Schuld … du bist nicht sein Schutzengel, Ben. Er kann selbst Entscheidungen treffen und Verantwortung tragen.“
    Ein Lächeln zeichnete sich auf seinen Lippen ab. „Danke dir.“

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  • „Sie haben also Herrn Letholainen und Herrn Ylianto angegriffen, weil sie Basketball lieben?“, fragte Semir. Schon seit er das Verhör vor zwei Stunden begonnen hatte, nachdem ein Arzt die Freigabe wegen der Unfallverletzungen des Verdächtigen gab, hatte er das Gefühl, als würden sie sich im Kreis drehen. Das Motiv, welches Jussila ihnen gab, war einfach zu weltfremd, als das er sich damit anfreunden könnte. Jussilas Finger tippten auf die Tischplatte, machten den Kommissar nur noch nervöser. „Ja“, sagte sein Gegenüber schließlich kurz und bündig.
    „Wieso nach so vielen Jahren?“
    „Wir haben uns versprochen, dass wir alle gemeinsam spielen werden.“ Jussila lehnte sich nach vorne. „Sie alle haben das Versprechen gebrochen, sie alle spielen nur noch für sich!“ Der Mann lachte. „Was denken die, wer sie sind!“
    „Und da haben Sie gedacht, sie gehen ihre alte Mannschaft durch und ermorden jeden einzelnen, der noch Spaß am Basketball hat?“
    Jussila nickte eifrig. „Ja. Nichts anderes haben diese Schweine verdient. Ein Versprechen darf doch nicht gebrochen werden, oder Herr Kommissar?“
    „Äh, ja … sicher.“
    Semir machte sich eine Notiz in seine Akte und nahm einen Schluck Kaffee aus seinem Becher. „Was ist mit der Verlobten von Lehtolainen?“
    „Was soll mit ihr sein?“ Jussila sah ihn fragend an.
    „Haben Sie sie ebenfalls umgebracht?“
    „Wieso sollte ich das tun?“ Jussila lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Was für einen Grund hätte ich sie umzubringen? Sie mochte Basketball nicht besonders …“
    „Vielleicht, weil sie wusste, wer Sie sind?“
    Jussila zupfte sich mit der rechten Hand am Ohrläppchen. „Im Grunde kannte sie ja nur Niilo, Kimmo hing ja ständig mit ihm rum. Pff, wahrscheinlich weil er ihm damals die meisten Bälle zugeteilt hatte unser toller Stratege!“
    „Sie waren also nie bei ihr im Haus?“
    „Nein, wozu auch … Kimmo konnte man viel besser an anderen Orten auflauern. Er war ja meistens beim Training oder so …“
    „Wie lange hatten Sie ihn beobachtet?“
    „Ein paar Wochen. Musste ja sicher gehen, dass ich unentdeckt bleibe. Hatte einen Hausmeisterposten unter falschen Namen angenommen, dummerweise hat mich Kimmo an einem Tag gesehen und dann musste ich ihn ansprechen.“
    „Es kam dabei zum Streit“, setzte Semir die Fakten zusammen.
    „Ja. Er wollte einfach nicht begreifen, dass es seine Pflicht war aufzuhören, immerhin hatten wir uns alle versprochen gemeinsam zu spielen.“ Jussila lachte. „Ich musste ihn umbringen, verstehen Sie? Nichts anders hatte er verdient!“
    „Und bei Herrn Ylianto?“
    „Wie er gelächelt hatte, als ich ihn in der Halle gesehen habe. Widerlich! Er kann kein Profi sein und lächelt trotzdem.“
    „Aber er hat ja nicht ohne sie weitergespielt …“
    „Das hätte er! Hätte er diese Verletzung nicht, dann wäre er in den USA und hätte sich einen Dreck um seine ehemaligen Kameraden gekümmert!“, schnaufte Jussila.
    Semir seufzte. „Haben Sie sich denn in den letzten Jahren mal bei ihm gemeldet?“
    „Wieso sollte ich? Er war der Kapitän. Es war seine Pflicht!“
    Semir lehnte sich zurück und beobachtete den Mann vor sich. Er schien einfach an keine logische Erklärung für den Mord zu kommen. Jussila schien in irgendeiner aberwitzigen und vollkommen abwegigen Idee gefangen zu sein.
    Er klappte die Akte vor sich zu und stand dann auf. „Ein Kollege wird Sie gleich in ihre Zelle bringen. Für heute soll es das gewesen sein.“
    Als er das Verhörzimmer verließ, stand Paul an der Wand. „Der ist doch total irre!“
    „Wem sagst du das.“ Semir sah durch das Spiegelfenster auf Jussila. Dann blickte er wieder auf seinen Partner. „Was macht der Brummschädel. Was sagen die Bildchen vom Onkel Doktor?“
    „Leichte Gehirnerschütterung. Nicht so wild.“ Paul grinste. „Ich habe übrigens unseren finnischen Kollegen getroffen … scheint, als hätte ihn dein Ex-Partner ebenfalls gezwungen das Oberstübchen abchecken zu lassen.“
    „Wenn ihr eure älteren und erfahrenen Kollegen nicht hättet“, erwiderte Semir und lachte. Er hatte Paul zu einem Besuch im Krankenhaus gezwungen, nachdem sie vom Unfallort zur Dienststelle anhalten musste, damit sich der Blonde übergeben konnte.
    Der Ältere sah wieder in den Verhörraum. „Meinst du, es ist glaubwürdig, dass er die Verlobte von Lehtolainen nicht ermordet hat?“
    „Mhm, denke schon“, antwortete Paul nachdenklich. „Die anderen Taten hat er ja bereitwillig zugegeben.“
    „Das stimmt schon …“
    „Wobei, ins Gefängnis wird der wohl kaum müssen, da wird er wohl er an einem ganz anderen Ort eingesperrt.“
    „Das glaube ich auch“, stimmte Semir zu.



    *


    Als Ben ins das Krankenhaus kam, saß Thore bereits im Foyer und war in sein Tablet vertieft. Als er näher trat, konnte er sehen, wie Thore gerade in eine Shogi-Partie vertieft war. „Und, am Gewinnen?“
    Der Schwarzhaarige sah kurz auf. „Ja.“
    „Apropos Shogi …“ Ben reichte Thore den Shogi-Stein. „Pass dieses Mal besser darauf auf.“
    Sein Kollege lächelte, strich mit den Fingern über den Spielstein und steckte ihn dann in seine Jackentasche. „Danke.“
    „Und, was sagen die Ärzte?“
    „Ein paar Rippenprellungen und eine Gehirnerschütterung. Nichts wildes …“
    „Beim nächsten Mal fährst du als Geisel den Wagen hoffentlich nicht in den Abgrund.“ Ben setzte sich neben Thore auf einen Stuhl. „Auf die Aufregung könnte ich verzichten.“
    „Ich werde versuchen, es zu vermeiden.“
    „Versuchen?“ Ben lachte. „Na, ob das für dich Chaoten genug ist?“
    Thore sperrte sein Tablet und stand auf. „Lass uns zu Niilo gehen und ihm sagen, dass wir den Kerl haben.“

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