Vergiss mein nicht

  • Hamburg - 11:00 Uhr



    Kevins Erinnerungen an die Vorkommnisse in der Nacht waren in einen tiefen Schleier getaucht. Wie ein Traum, an den man sich nicht mehr genau erinnern konnte. Nur sein Kopf brummte und ihm war übel, eine typische Nachwirkung eines Drogentrips. "Na, gut geschlafen?", begrüßte ihn Patrick am Morgen und hatte beschlossen, erstmal nichts von der nächtlichen Rangelei zu sagen. "Ging so... ne Menge komisches Zeug geträumt, und an nichts kann ich mich wirklich erinnern.", murmelte der junge Polizist, als er aus dem Bad heraus kam, die Haare noch feucht und in alle Richtungen stehend.
    Bilder wanderten durch seinen Kopf. Doch seine Schwester und das Gesicht der Frau, die ihn erstochen hatte, waren die einzigen Dinge, was völlig klar und präsent war. Kevin wusste, dass er die Frau kannte. Aber in seiner Namensschublade ließ sich nichts zuordnen, und auch konnte er nicht sagen, in welchem Verhältnis er zu der Frau stand. War sie ihm feindlich gesinnt? Hatte sein Unterbewusstsein ihm das durch den Traum vermitteln wollen? Immerhin hatte seine Schwester ihn zärtlich gestreichelt, ihn geküsst... während die Frau, als sie erschienen war, ihn kaltblütig ermordet hat. Der junge Polizist verzweifelte langsam daran, zu solchen Gedanken keine eindeutige Aussage zu treffen... und niemand würde ihm helfen können.



    "Heute bekommst du die erste Gelegenheit zur Rache.", sagte Patrick dann und sein Freund blickte auf. "Rache?" Er konnte ein spitzbübisches Grinsen beobachten und ein überzeugtes Nicken. "Ich hab die zwei Typen bestellt. Mit einem hübschen Druckmittel." Kevins Herzschlag beschleunigte sich etwas und er sah sein Gegenüber mit festem Blick an. "Welches Druckmittel?" "Das wirst du noch früh genug erfahren. Wichtig ist, dass die zwei kommen werden... und wir werden sie überraschen. Und sie werden für Janines Tod bezahlen."
    Als er Janines Namen nannte, spürte Kevin die Wut in sich, die er direkt nach ihrem Tod mit sich getragen hatte. An einen kleinen Zeitraum nach ihrem Tod konnte er sich noch erinnern, bevor das Bilderbuch in seinem Kopf immer undeutlicher wurde, bis ganze Seiten rausgerissen und kleingeschnitten waren. Ohja, er hatte sich Rache geschworen... er hatte darüber nachgedacht, dem Mörder und den anderen beiden Vergewaltigern seiner Schwester gegenüber zu stehen, ihnen die Kehle zu zu drücken oder eine Waffe in den Mund zu drücken. Er dachte damit, er würde den Dämon und die Alpträume besiegen. In dieser Wut verlor er sich in Selbstzerstörung mit Drogen und Alkohol, doch auch wenn diese Wut, dieses Gefühl jetzt wieder aufflammte... es fühlte sich anders an als früher. Die Aussicht auf diese Rache ließ Kevin seine Frage nach dem Druckmittel schnell vergessen.




    Parkhaus - 12:00 Uhr



    Ben spürte seinen Herzschlag, als er den BMW auf der vierten Ebene parkte und locker am Kotflügel lehnte. Er hasste Warten generell, aber in so einer Situation fiel es ihm doppelt schwer. Immer wieder sah er auf die Uhr, immer wieder blickte er sich um. Keine Schritte waren zu hören, kein Auto kam. Obwohl das Parkhaus zentral gelegen war, war sehr wenig Betrieb und das oberste, nämlich das 4. Parkdeck war fast leer. Semir, der im schräg und nur ein wenig nach unten versetzte, dritten Parkdeck sich versteckt und einen guten Blick auf Ben hatte, war nicht weniger nervös. Er jedoch konzentrierte sich vor allem darauf, seinen Partner nicht aus den Augen zu lassen, während er seine Umgebung nicht ausreichend beobachtete.
    Die Nervosität des jungen Polizisten nährte sich aber vor allem aus der Unsicherheit bezüglich seines Freundes Kevin. Lebte er wirklich noch? Würde er jetzt hier auftauchen? Hatte er tatsächlich etwas mit Jennys Entführung zu tun? Ben hatte keine Ahnung, was ihn hier erwarten würde... als er plötzlich zusammenfuhr. Ein lautes Knallen, Schüsse waren vom Parkdeck nebenan zu hören. "Semir!!", rief er laut und begann sofort zu rennen. Zu Fuß wäre er schneller auf dem anderen Parkdeck, als noch vorher ins Auto zu steigen. Mit der Waffe in der Hand rannte Ben um die Ecke, und verspürte von einem Karatetritt, der aus sicherer Deckung kam, plötzlich einen stechenden Schmerz in der Nierengegend, die ihn taumeln und hinfallen ließ. Die Waffe fiel klappernd zu Boden.



    "Fuck...", stöhnte Ben und wollte sich gerade wieder aufrichten, doch sein Angreifer, der ihn in dem Moment nur von schräg hinten sah, war schneller. Ein gezielter Tritt in die Seite ließ Ben wieder zurückfallen und hustend drehte er sich auf den Rücken. Sein Herz setzte aus, als er schmerzerfüllt die Augen öffnete... und es war nicht die Mündung der Waffe, in die er sah, die ihn schockierte... sondern der Mann, der die Waffe hielt. "Kevin...", flüsterte der Polizist tonlos. Er lebte... er war tatsächlich da. Aus Fleisch und Blut stand sein Freund, mit dem er mehrere Fälle gelöst hatte, der ihm das Leben gerettet hatte, ihm gegenüber und bedrohte ihn. "Jetzt bezahlst du!", konnte er die unverkennbare monoton klingende Stimme hören... doch er hörte auch ganz klar eine Unsicherheit.
    Kevin wusste, dass er das Gesicht kannte, als er Ben nicht nur auf einem Bild sondern in der Realität sah. Er beobachtete ihn auf dem Parkdeck, und als die Schüsse, die Patrick auf Semir abfeuerte, um Ben zu einem hektischen Handeln zu zwingen, fielen reagierte der Polizist so wie vermutet. Es waren die Erzählungen von Patrick, denen Kevin vertraute und die Ben in Kevins Kopf wirklich in die Schublade von Janines Mörder schob. Sein Kopf funktionierte nicht, die Zuordnungen waren verschoben und als Ben vor ihm lag, hatte der Hass, der jahrelang in Kevin drin saß, die Kontrolle übernommen. Er zielte dem Polizisten auf den Kopf und legte den Finger um den Abzug.



    Doch Ben wehrte sich. Eigentlich hatte er vorgehabt, Kevin anzusprechen... egal, was passiert war, aber irgendwie musste er ihn von seinem Vorhaben abbringen. Wollte ihn ansprechen nach seinen Beweggründen. Doch er konnte nicht, er war so perplex und überfordert von der Situation. Und als sein Freund auch noch die Waffe auf ihn richtete, setzte der Selbstschutzreflex ein. Mit einem Fußtritt unter die Hand entwaffnete Ben Kevin, und die Knarre flog in ungefähr die gleiche Richtung, wie Kevins Waffe. Der wollte sich dann auf seinen Kontrahenten stürzen, was dieser wiederrum mit dem Knie abwehrte und beide Männer rollten für einen Moment gegenseitig über den Boden, bis beide sich nochmal erhoben und sich gegenüber standen.
    "Kevin, hör auf mit der Scheisse! Erkennst du mich nicht?", schrie Ben beinahe verzweifelt. Er kannte diesen Mann nicht, der ihm gegenüber stand... Kevins Augen strahlten puren Hass aus, so hatte er seinen Freund nur einmal gesehen... als er Peter Becker gegenüber stand, dem Mörder seiner Schwester und die Waffe auf ihn richtete. In Kevins Kopf drehte sich alles... spielte der Typ auf frühe Zeiten an? Als sie gemeinsam Musik machten, was Patrick ihm erzählte und woran er sich noch erinnern konnte?



    Die Vernunft war in Kevins Kopf ausgeschaltet, und er griff sein Gegenüber an. Einem Faustschlag konnte Ben ausweichen, dem Knie gegen die Rippen nicht, doch der Polizist hielt einiges aus... dafür hatte er zuviele Schlägereien mit Verbrechern erlebt. Er konterte seinerseits mit Schlag in Kevins Magen, und stieß ihn von sich weg. Der Polizist merkte, dass es ihm im Kopf wesentlich schwerer fiel, zuzuschlagen, als Kevin. Ihm schien diese moralische Komponente, gerade einen Freund zu schlagen, völlig abhanden zu sein. Spätestens jetzt spürte Ben, dass Kevin ihn nicht erkannte... oder schlicht nicht als der Typ, der er war. "Hör auf damit! Das bist nicht du! Du bist..." Polizist wollte er sagen, und damit einen vielleicht entscheidenden Hinweis für Kevin geben, doch der schnitt ihm mit einem schnellen Tritt auf den Oberkörper die Luft ab.
    Ben fiel durch den brutalen Tritt nach hinten zu Boden, wo er auch noch mit dem Kopf aufschlug, was ihn für kurze Zeit benommen machte. Kevins Herz pumpte rasend schnell, wie gestern abend während seines Traums, als er Ben das Knie auf die Brust setzte und den Polizisten am Hals griff und zudrückte. "Du hast meine Schwester getötet, du Bastard!!", zischte er, während Ben begann zu würgen, als er spürte dass er keine Luft mehr bekam. Sein Körper begann zu beben, er krallte seine Fingernägel in Kevins Unterarm, um den Griff zu lösen, doch sein Freund entwickelte in der Wut eine unbändige Kraft.



    Das konnte nicht sein... es konnte einfach nicht sein. Das waren die letzten Gedanken, die Ben durch den Kopf gingen, bevor um ihn herum alles schwarz wurde. Was war nur mit Kevin geschehen... was war nur passiert? Sein Zappeln wurde langsamer als der Polizist die Augen verdrehte und sein Körper erschlaffte. Kevin sah dem Mann ins Gesicht, als plötzlich Bilder seinen Kopf durchzuckten. Bilder von dem Typ mit der Wuschelfrisur, wie er Kevin mit einem Bier zuprostete... wie er, mit gleichem verzerrtem Gesichtsausdruck, in einem zerstörten Auto saß und Kevin bei ihm war und seine Hand hielt. Blitzartig öffneten sich die Hände um Bens Hals und Kevin wich von dem leblosen Körper zurück. Für einen Moment starrte er, völlig entgeistert, auf Ben herab und in seinem Kopf herrschte plötzlich Chaos... ein paar Gedanken, nur ein paar Gefühlsregungen die er beim Anblick des Mannes hatte, lösten keinen Hass aus, sondern ein positives Gefühl. Er konnte es sich nicht erklären... waren das postive Gefühle von damals, als er noch dachte, es sei sein Freund? Aber in der Jugend hatte er keinen Autounfall miterlebt.
    Kevins Kopf begann plötzlich wieder zu schmerzen, zu brennen und er fasste sich mit den Händen an eben diesen. "Scheisse... scheisse...", murmelte er, als er plötzlich keinerlei Genugtuungsgefühl hatte, einen der Schuldigen für Janines Mord umgebracht zu haben. Er geriet in Panik, nahm die Waffe vom Boden auf und begann zu laufen, bis sich ihm Timo im zweiten Parkdeck mit gezückter Waffe entgegenstellte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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  • Parkhaus - 12:00 Uhr



    Patrick hatte sich nicht getäuscht. Kein Polizist hielt sich je an die Abmachung, alleine zu kommen. Damit hatte er gerechnet, darauf hatte er sogar gehofft, es machte das Spielchen noch ein wenig süßer. Der kleine Türke saß hinter der Mauer, die eine Parkhausbegrenzung darstellte und hatte einen guten Blick auf seinen Partner, da die beiden Decks zwar als drittes und viertes Deck bezeichnet waren, aber eigentlich fast auf einer Höhe in zwei verschiedenen Gebäuden lagen, die über kleine Brücken miteinander verbunden waren. Würde Kevin Ben jetzt angreifen, würde Semir vermutlich irgendwann eingreifen... also musste dieser abgelenkt werden. Patrick hatte sich zwischen den Autos angeschlichen, legte an und zielte absichtlich dicht daneben... schließlich sollte es Kevin vorbehalten sein, seine eigenen Freunde zu töten.
    Semir zuckte beim Schuss und bei dem Einschlag der Kugel in der Parkhauswand zusammen und fuhr herum. Er sah gerade noch, wie eine Gestalt die gar nicht unähnlich der des Verdächtigen Patricks war, zwischen den Autos flüchten. In Sekundenschnelle sah der erfahrene Polizist sich nochmal um, doch Ben schien bereits auf dem Weg herrüber zu sein, die Übergabe war misslungen. "Stehenbleiben! Halt!!", schrie er dann, zog seine Waffe und nahm zu Fuß die Verfolgung von Patrick auf.



    Das Geräusch laufender Schuhe hallte durch das Parkhaus, Patrick drehte sich zweimal um, um auf Semir zu feuern, zielte aber weiterhin absichtlich daneben. Er wollte den Verfolger aber abschütteln und ihm gelang es, dass Semir einmal mit einem Hechtsprung über die Motorhaube eines parkenden Autos sich in Sicherheit brachte und dort für einen Moment verharrte. Der Polizist pustete durch. "Ich bin langsam zu alt für so einen Scheiss...", murmelte er wütend und rieb sich den Rücken, auf den er beim Abrollen gefallen war. Dann richtete er sich mit zielender Waffe hinter dem Auto auf, doch Patrick schien weg. "Scheisse...", murmelte Semir gehetzt und kam hinter dem Auto hervor.
    Langsam und angespannt ging er durch das Parkdeck, sah zwischen jedes Auto, ob sich Patrick irgendwo versteckte. Sein Herz klopfte, denn in einem Parkhaus mit vielen Autos konnte man schnell in einen Hinterhalt geraten, und wirklich wohl fühlte Semir sich nicht. Doch nirgends war der Verbrecher zu sehen, scheinbar hatte er den kurzen Moment, als Semir in Deckung war, genutzt. Auf dem Weg über das Parkdeck fand Semir eine Rettungstür und eine Feuerleiter, die beide als Fluchtweg getaugt hätten. Erneut stieß er einen Fluch aus... die Übergabe war schief gelaufen. Vermutlich, weil man sich nicht an die Abmachung gehalten hatte, alleine zu kommen... Semir hatte nicht gut genug aufgepasst. "Ben?", sprach er ins Funkgerät, das er aus der Innentasche seiner Jacke zog, doch sein Knopf im Ohr blieb stumm. "Ben?", versuchte er es nochmal, diesmal etwas sorgenvoller, bevor er mit schnellen Schritten zurück aufs vierte Deck lief.



    Als Semir um die Ecke bog, blieb er erstarrt stehen. "Oh nein...", stammelte er als er Ben regungslos am Boden liegen sah. An seinem Hals waren deutlich bläulich Abdrücke, beinahe Blutergüsse zu sehen. Semir rannte zu seinem Partner und legte als erstes zwei Finger an seinen Hals. Gesteinsbrocken fielen von der Seele des erfahrenen Polizisten, als er einen Puls spürte. "Ben! Wach auf, Ben!!", sagte er laut und schüttelte seinen besten Freund am Kragen, als dieser murmelte und wild zu husten begann. Kevin hatte genau im richtigen Moment nach Ohnmacht und vor der Schädigung von Herz und Hirn durch Sauerstoffmangel aufgehört. Vor Bens Blick verschwomm alles und völlig dumpf konnte er Semirs Stimme vernehmen. Er hatte immer noch das Gefühl, jemand würde ihm den Hals zuhalten.
    "Was ist passiert?", fragte Semir und half Ben, sich aufzusetzen, der immer noch etwas benommen war. "Es... es war Kevin.", brachte er leise und mit krächzender Stimme heraus. Sein Partner sah ihn mit großen Augen an. "Er... er hat dich angegriffen?" Der junge Polizist atmete tief durch und sah in eine nicht definierte Richtung, ohne wirklich zu Semir zu blicken. Als würde er gerade erst realisieren, was gerade passiert ist, sagte er: "Er hat versucht mich umzubringen..."



    Semirs Blut gefror in den Adern... Kevin lebte also tatsächlich. Und hatte versucht, Ben zu töten? Tausende Fragen, tausende Gefühle brachen auf den Polizisten herein. Kevin war schon mal zu Unrecht des Mordes angeklagt und die beiden Freunde hatten es geschafft zu beweisen, dass er unschuldig war. Was bewegte ihn dazu, jetzt den eigenen Kollegen, den Freund anzugreifen? "Wer hat auf dich geschossen?", fragte Ben dann. "Patrick... aber er ist mir entwischt." Bevor sich die beiden darüber Gedanken machen konnten, zerissen zwei weitere Schüsse die Stille im Parkhaus. "Was war das?", fragte Ben geschockt und sah auf. "Schießen die auf Passanten? Oder haben die sich jetzt nen Fluchtwagen besorgt?" Doch Semir beschlich gerade ein Gefühl... ein Gefühl, das einer Ohnmacht glich.
    Er packte Ben am Arm. "Kannst du laufen?" "Ja... ich denke schon.", sagte der junge Polizist. Sein Hals schmerzte, seine Rippen sowieso, aber er biss auf die Zähne und folgte Semir nach unten ins nächste Parkdeck. Der Moment, als Kevin ihm gegenüber stand und das über seine Schwester sagte, würde Ben so schnell wohl nicht aus dem Kopf bekommen. Wie kam er nur auf sowas...



    Als die beiden Kollegen um eine Ecke ins zweite Parkdeck liefen, blieben sie beide geschockt stehen. "Oh mein Gott... ich habs gewusst.", sagte Semir tonlos, bevor er wieder weiterrannte zu dem jungen Mann, der zitternd an der Parkhauswand saß. Die Wand hinter ihm zeigte eine blutige Spur, die verschmiert nach unten verlief und aus seiner Brust lief ruckartig Blut. Noch im Laufen zog Semir seine Jacke aus und drückte sie Timo auf die Wunde. "Ganz ruhig, mein Junge. Bleib ganz ruhig.", sagte Semir und es hörte sich grausam sarkastisch an. Wie soll man ruhig bleiben, wenn man gerade keine Luft bekommt? Wie soll man ruhig bleiben, wenn man das Blut im Mund nicht zurückhalten konnte. "S...Semir... ich...", stotterte der junge Polizist und ihm liefen vor Schmerzen Tränen die Wangen herunter.
    Ben hatte sein Handy gezückt und bereits die 110 gewählt. "Wir brauchen sofort einen RTW ins Parkhaus am Hauptbahnhof, schwere Schussverletzung! Zweites Deck, beeilt euch!!" Semir spürte Timos panische Angst, er konnte nicht atmen, hustete immer wieder, röchelte. Das Blut lief unter Semirs Jacke heraus, obwohl er sie fest auf die Wunde drückte. "Scheisse, scheisse...", murmelte Ben immer wieder, raufte sich die Haare und ging neben seinem Partner hin und her. Mehr als versuchen die Blutung zu stoppen, so gut es ging, konnten die beiden nicht tun. Mit blutiger Hand griff Timo Semir am Arm. "Ich... ich hab Angst.", sagte er mit tränenerstickter Stimme. "Brauchst du nicht... Timo... wir sind bei dir. Es wird alles gut." "Ihr... müsst Jenny retten... bitte." Semirs Partner biss sich auf die Zähne und spürte, wie ihm die Tränen in die Augen schossen. "Das werden wir!", versprach der kleine Polizist dem jungen Mann. Als die Sirenen des Krankenwagens lauter wurden und das Parkhaus in Blaulicht getaucht wurde, verlor Timo das Bewusstsein.

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  • Parkhaus - 12:20 Uhr



    Dass es um Timo ernst stand, bemerkte man bereits an der Arbeitsweise der Sanitäter. Es wurde zwar routiniert und kontrolliert, aber nicht gelassen gearbeitet. Arbeitsschritte wurden gerufen und gebrüllt, obwohl man nur wenige Zentimeter mit den Köpfen auseinander war, als man an dem mittlerweile bewusstlosen Timo arbeitete. Semir stand dicht dabei, ohne die Arbeit der Sanitäter zu behindern, hielt einmal für einen Moment die Infusionsflasche fest und sein Blick war voll Sorge. Er hatte schon so oft bei Kollegen gestanden, die angeschossen wurden, hatte Freunde im Arm, die gestorben waren. Er hasste seinen Job für diese Momente so sehr, wie er ihn liebte wenn sie einen anderen Menschen retteten.
    Ben hatte sich abseits auf eine niedrige Mauer gesetzt und hatte die Hände tief in seinen dichten Haaren vergraben. Vorher war er unruhig hin und her getigert, immer mal einen Blick auf die Arbeit der Sanitäter geworfen und sich abwechselnd auf die Lippe oder die Faust gebissen. Er wusste: Das hätte nicht passieren dürfen. Das hätte niemals passieren dürfen. Sie hatten sich für das Risiko entschieden, Jenny auf eigene Faust zu suchen. Sie hatten Timo mit reingezogen. Okay, im Prinzip wollte er selbst natürlich helfen, Jenny zu suchen. Aber Semir und er waren die erfahreneren Beamten und hatten in gewisser Weise Verantwortung für den Jungen.



    Als man in der gebotenen Eile Timo auf die Trage hob und im Laufschritt zum Krankenwagen marschierte, konnte der junge Polizist noch die Bewegung eines der Sanitäter an Timo erkennen... und er blickte sofort wieder weg. Beide Hände auf Timos blutigem Brustkorb, in rhythmischen Bewegungen Druck auf den Körper ausübend, während mehrere Verbände die Blutung gestoppt hatten. Aus dem Mund des Schwerverletzten ragte ein Beatmungsschlauch, und in Semir stieg eine Hilflosigkeit auf, als die Türen des Krankenwagens geschlossen wurden, die er schon lange nicht mehr gespürt hatte. Mit Sirene und Blaulicht fuhr der RTW in höchster Eile ab, einige Streifenbeamte waren bereits da um den Tatort zu sichern, und Semirs Blick fiel auf die Blutlache an der Wand.
    Gerade als er zu Ben gehen wollte, sich neben ihn stellte und die Hand tröstend auf dessen Schulter legte, kam ein Mercedes die Auffahrt hochgefahren, mit aufgesetztem Blaulicht. Semirs zwickendes Bauchgefühl entwickelte sich zum Brechreiz, denn er sah, wer aussteigte. Der Leiter von Timos Dienststelle, Kommissar Schwandt stieg mit besorgter Miene aus und sah sich aufmerksam um. Vom Beifahrersitz aus kam der, bei Semir und Ben ebenfalls bekannte, Partner von Timo, Gregor zum Vorschein. Scheinbar hatten die Streifenbeamte den Dienststellenleiter informiert.



    Zunächst würdigten sie Ben und Semir keines Blickes, eilten zu dem Tatort und sahen entsetzt auf die Blutlache am Boden, die langsam an den Rändern zu trocknen begann. Schwandt wechselte ein paar Worte mit einem der Streifenbeamten, der nach wenigen Augenblicken auf die beiden Autobahnpolizisten zeigte. Erst jetzt schienen er und sein Mitarbeiter die beiden Männer, einer sitzend, der andere neben ihm stehend, zu bemerken und kamen einige Schritte auf sie zu. "Was ist hier passiert?", fragte der Leiter von der Abteilung "Organisierte Kriminalität" mit zitternder Erregung in der Stimme, ohne Begrüßung. "Wir haben einen anonymen Hinweis erhalten, dass sich der Entführer von Frau Dorn hier mit uns treffen will.", antwortete Semir und versuchte, so ruhig und sachlich wie möglich zu sein. Es war besser, dass der erfahrene Polizist jetzt antwortete, denn in solch einer mentalen Ausnahmesituation neigte Ben zu Gefühlsausbrüchen, wenn er im falschen Moment gepiesakt wurde.
    "Und warum melden sie das nicht den Kollegen von der Vermisstenstelle? Warum erledigen sie sowas hier im Alleingang?? Und warum, zum Teufel, ziehen sie einen meiner Mitarbeiter in ihren Privatkrieg???", stellte der Mann drei Fragen auf einmal, wobei seine Stimme von Frage zu Frage lauter und aggressiver wurde.



    Semir hob abwehrend und beschwichtigend die Hände. "Moment mal. Um eine andere Dienststelle zu informieren fehlte uns die Zeit. Ausserdem hat der Entführer von uns verlangt, alleine zu kommen. Timo hat uns bei den Ermittlungen unterstützt und sollte nur zur Absicherung dabei sein, vor dem Parkhaus im Dienstauto um bei Problemen Verstärkung zu rufen. Als Schüsse fielen, wollte er uns zur Hilfe kommen." "Bei welche Ermittlungen?? Sie haben hier nichts zu ermitteln!!", sagte Schwandt mit wütender Stimme, während Gregor, bleich wie eine Kalkwand, neben ihm stand. Er hatte Timo geholfen, er wusste davon, dass er mit den beiden Kollegen der Autobahnpolizei zusammenarbeitete... und er wusste gerade nicht, für wen er mehr Verständnis haben sollte. Für die beiden Polizisten, die selbstlos ihrer Freundin helfen wollten, oder für seinen Vorgesetzten, der verantwortlich für den jungen Timo war.
    "Sie haben, gegen meine strikte Anordnung, Nachforschungen angestellt und, was noch viel schlimmer ist, einen unerfahrenen jungen Kollegen einem enormen Risiko ausgesetzt! Was sind sie nur für verantwortungslose Polizisten??" Ben konnte sich nicht mehr kontrollieren. Er hatte da gesessen, und sich scheinbar die Ohren zugehalten, doch die Worte trafen ihn ins Mark. Wütend sprang er auf, pakte Schwandt am Mantelkragen und schüttelte ihn, während er brüllte: "Sie und ihre beschissene Borniertheit! Hätten sie uns sofort unterstützt, wäre das alles gar nicht passiert! Timo wäre nichts passiert!!"



    Sein bester Freund hatte genau das kommen sehen, und packte seinerseits Ben an der Schulter: "Es reicht! Komm, ist gut jetzt!", sagte er energisch und doch einfühlsam und zog Ben von Schwandt weg, der losgelassen wurde. Die Streifenbeamten wollten schon eingreifen, sie spürten wie die Situation eskalieren wollte und Gregor wurde noch ein paar Nuancen bleicher. "Ich werde sie für diesen Vorfall zur Rechenschaft ziehen. Das wird sie ihren Job kosten, da können sie sicher sein. Sie dürfen Timos Eltern erklären, was passiert ist, falls er nicht überleben wird."
    Bevor Semir etwas erwiedern konnte, oder Ben nochmal einen emotionalen Ausbruch aus sich rausließ, erhob Gregor die Stimme, nachdem er kurz durchgeatmet hatte: "Chef... Timo hat keine Eltern mehr. Wenn sie sich nur ein bisschen mit ihren Mitarbeitern beschäftigen würden, statt mit unseren Fallstatistiken, würden sie das wissen." Er legte keinen Vorwurf in die Stimme, aber dieser Satz brannte dem erfahrenen Polizisten schon lange auf der Seele... und gerade nach diesem Spruch von Schwandt war es ihm ein Bedürfnis, ihn endlich los zu werden. Der Dienststellenleiter blickte nacheinander Gregor, Semir und Ben an, bevor er kopfschüttelnd wieder ins Auto stieg. Diesmal war es Semir, der durchatmete, während Ben sich wieder auf der niedrigen Mauer niederließ, die Hände in den Haaren, die Ellbogen auf die Knie gestützt. "Ihr wolltet Jenny helfen... und das wollte Timo auch, da bin ich sicher.", sagte Gregor mit bemüht ruhiger, aber betroffener Stimme. Und bevor er ebenfalls zurück zum Wagen ging, um mit Schwandt ins Krankenhaus zu fahren, sagte er noch: "Macht euch keine Vorwürfe. Er wird das schaffen. Und wir müssen Jenny unbedingt finden, damit sein Opfer nicht umsonst war..."

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  • Hamburg - 12:45 Uhr



    Beinahe fluchtartig hatten Patrick und Kevin das Parkhaus verlassen. Der junge Polizist stand unter dem Eindruck, was dort gerade passiert war, und reagierte im Auto völlig geistesabwesend auf Patricks: "Scheisse... das wäre beinahe schiefgegangen." Zu sehr hatte er das Gesicht des Mannes vor sich, dem er den Hals zugedrückt hatte in blinder Wut, bis er sich nicht mehr rührte. Den er gerade aus Rache für seine ermordete Schwester scheinbar umgebracht hatte. Solange hatte er diesen Moment vor Augen, in das Gesicht zu blicken, zu zu schlagen, zu stechen oder ab zu drücken... jetzt hatte er es getan und er fühlte nichts. Absolute Leere in sich drin. Nur das Gesicht stand ihm vor Augen und er kannte es. Er kannte die Züge, er hatte plötzlich Erinnerungen, die aber so durcheinander waren, dass er sie nicht deuten konnte.
    Als Patrick das Auto vor dem Haus hielt und sich sicher war, dass sie nicht verfolgt wurden, stiegen beide aus. Kevin fühlte sich wie betäubt. Weder empfand er etwas, als leichter Regen einsetzte, noch als er von der kühlen Luft ins warme Haus kam. Wer war der Mann gewesen? Kannte er ihn wirklich von früher? Von der Musik, wie Patrick gesagt hatte? Aber die Erinnerung in seinem Kopf zeigten ihn, so wie er wirklich aussah. Nicht als Jugendlichen, sondern als Erwachsenen. Und diese Erinnerung in dem Unfallauto... sie passte nicht in das Bild.



    Patrick stieß ihn von hinten an die Schulter. "Was ist denn los? Hey... du hast endlich einen der Schweine dran gekriegt?", sagte er, als gäbe es was zu feiern. Doch Kevin schwieg. Ohne Ausdruck im Gesicht setzte er sich an den Küchentisch, und starrte in eine undefinierbare Richtung, bevor er langsam zu Patrick sah. "Ich kenne diesen Mann." Das Lachen aus Patricks Gesicht verschwand. "Natürlich kennst du ihn. Ich hab doch gesagt, dass er damals in der Gang war... dass er mit dir Musik gemacht hat." Der junge Polizist schüttelte energisch mit dem Kopf. "Ich... ich hab Bilder im Kopf... nicht von der Musik. Was aktuelles... das... das kann noch nicht lange her sein." Patricks Grübchen um den Mund wurden tiefer, sein Blick stechender. Er hatte schon ein wenig befürchtet oder gemutmaßt, dass eine direkte Konfrontation mit seinen Freunden etwas in Kevin auslöste. Doch scheinbar war das Chaos in seinem Kopf noch so groß, dass es ledigleich Bruchstücke waren.
    "Vergiss es. Er hat dafür bezahlt, was er Janine angetan hat.", meinte Patrick. Doch Kevin hatte kein Gefühl der Befriedigung... kein Gefühl der Befreiung.



    Er erinnerte sich, dass Janine gerade aus der Schule kam, als er bei seinen Freunden hing. Sie hatte verheulte Augen und Kevin fragte sofort was passiert sei. Lars hätte einfach Schluß gemacht... ein Gymnasiast der auf Janines Bruder und dessen Lebensstil bereits mit Arggewohn reagiert, und es war Wochen später dann letztlich auch der Grund, warum das junge Mädchen sitzen gelassen wurde. Kevin tröstete und spürte Wut. Wut, die sein alter Freund Jerry schon einen Tag später spürte. "Lass es, Kevin. Damit wird Janine fertig werden, und das muss sie auch. Enttäuschungen wird man immer erleben." Kevin wollte sich dranhalten, doch der verletzte Stolz um seine traurige Schwester trieb ihn letztlich doch zur Revanche auf den Schulhof des Gymnasiums.
    Ein verblutetes Hemd, eine gebrochene Nase bei Lars und ein gebrochenes Jochbein bei einem von Lars Freunde, die dem Jungen zur Hilfe kommen wollte war das Ergebnis des Schulbesuches. Und der junge Punk spürte Befriedigung. Ein eigenartiges, ganz und gar falsches aber wunderbares Gefühl. Und dieses Gefühl, sich gerächt zu haben, etwas in Ordnung gebracht zu haben, das spürte er jetzt nicht. Und Kevin hatte immer geglaubt, er würde es spüren... er müsse es spüren, wenn er Janines Mörder gegenüber steht und den Schritt geht.



    "Ich spüre nichts...", brachte er seine Gefühle für Patrick auf den Punkt. "Wie jetzt?" "Es ist nichts... da ist, verdammt nochmal, nichts. Ich hab einen Menschen umgebracht und habe nicht das Gefühl, mich gerächt zu haben.", sagte Kevin deutlicher. Patrick biss sich auf die Lippe und kam nah an Kevin heran. "Kevin... der Typ hat deine Schwester vergewaltigt. Wie kannst du da nichts spüren?" Der Polizist sah beinahe schuldbewusst zu Boden und schüttelte den Kopf. "Weil ich mich nicht erinnere. Weil alles im Kopf durcheinander ist. Du hast mir gesagt, der Typ war es. Ich weiß es nur von dir..."
    Patrick wusste natürlich, was Kevin fühlte. Erinnerungen daran, wer Ben wirklich war, kehrten in seinen Kopf. Allerdings so verzerrt und undeutlich, dass er sie nicht zuordnen konnte. Und natürlich wusste der Verbrecher auch, dass sein damaliger Freund im Recht war. "Was soll das heißen? Nur von mir? Misstraust du mir etwa?" Kevin blickte zu Patrick auf, für einen Moment starrten sich die beiden Männer an. "Das gibts ja nicht.", sagte Patrick kopfschüttelnd und spielte seine Rolle perfekt. "Ich bin momentan der Einzige, den du hast, Kevin. Du weißt nichts mehr aus den letzten Jahren, du weißt nicht was du getrieben und dank meiner Hilfe eine ungefähre Ahnung. Und dank mir weißt du, dass hinter den ehemaligen Mitgliedern der Gang ein paar Irre sind.", sagte er laut und ging vor Kevin hin und her.



    "Warum solltest du mir misstrauen? Warum sollte ich dich anlügen, Kevin? Was hätte ich denn davon???" "Ich weiß es nicht, verdammt!", rief Kevin laut und sprang vom Stuhl auf, dass dieser nach hinten kippte. "Ich weiß überhaupt nichts mehr! Mein Kopf ist ein einziges Durcheinander. Ich habe gerade vorsätzlich einen Menschen umgebracht, von dem lediglich du mir erzählt hast, dass er meine Schwester vergewaltigt hat, und von dem ich nur irgendwelche bruchstückhaften Erinnerungen habe! Aber WISSEN... WISSEN tu ich überhaupt gar nichts!" Beide Männer wurden laut, und die Situation drohte zu eskalieren... allerdings nur von einer Seite. Patrick war natürlich innerlich vollkommen ruhig, der vorgeworfene Vertrauensbruch gespielt. Denn er wusste... Kevin hatte natürlich recht. Ben war sein Freund, sein Partner und wegen Patricks geschickter Intrige in Kevins Kopf der Feind. Obwohl sich dessen Gefühle dagegen wehrten, weil er jetzt keinerlei Befriedigung fand.
    Patricks Stimme war wieder seelenruhig. "Wenn du denkst, ich würde dich belügen... dann trennen sich unsere Wege. Versuch alleine die Wahrheit zu finden, wenn du kannst. Aber ich glaube nicht, dass der andere Typ, der deine Schwester... der Freund von diesem Bullen... der dir übrigens im Parkhaus aufgelauert hat... dir jetzt noch irgendwie Luft zum atmen lässt. Ohne mich bist du so gut wie tot." Dann verließ er den Raum, um vor der Tür eine zu rauchen, und sofort einzugreifen, falls der Polizist tatsächlich das Haus verlassen wollte. Kevin boxte mit der blanken Faust und einem lauten "FUCK!" gegen den Küchenschrank, dass die Gläser klirrten. Doch verdammt... Patrick hatte Recht. Er war der Einzige, den er hatte... und es gab für Kevin keinen rationalen Grund, ihm nicht zu vertrauen... nur sein Gefühl von dem er selbst nicht sicher war, ob es stimmte.

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    <3

  • Krankenhaus - 13:30 Uhr



    Irgendwie war jeder Krankenhausflur gleich. Weiße Wände, bedrückte klinische Atmosphäre, wuselnde Krankenschwestern und unbequeme Plastikstühle vor der Intensivstation und dem OP. Und das Bild, dass die beiden Autobahnkommissare abgaben, wenn sie dort saßen, ähnelte sich auch. Semir, nach vorne gebeugt auf einem Stuhl sitzend, die Ellbogen auf die Knie geschützt und die Hände durch das raue, etwas unrasierte Gesicht reibend. Sein Partner Ben versuchte den Kummer und die Unsicherheit durch Bewegung zu kompensieren... von der Wand stehend auf den Stuhl, vom Stuhl ans Fenster, vom Fenster setzte er sich wieder zur Wand auf den Boden. Dabei fuhr er sich immer wieder mit der Zunge über die Lippen, oder raufte sich seine langen Haare.
    Semir machte dieses nervöse Trippeln manchmal wahnsinnig, aber er war es von seinem ehemaligen Partner André gewohnt, der ebenfalls nicht still sitzen konnte. Auch Chris war kein Ruhepol, wenn er nervös war. Nur Tom war ähnlich wie Semir und konnte stundenlang still sitzen. Timo war im OP, er wurde operiert, die Kugel entfernt und "den Schaden begutachtet", wie es der Arzt in seiner ganzen Unsensibilität den beiden Polizisten ausrichten ließ, bevor er eilig im OP verschwand.



    Der Bluterguss an Bens Hals war deutlich zu sehen, und er machte Semir zusätzlich Kummer. Er war erschreckender, als der Cut unter seinem rechten Auge von der Schlägerei zuvor. Der erfahrene Kommissar war es auch, der mit seinen Gedanken die Stille unterbrach. "Wie kann es sein, dass Kevin dich umbringen will?" Ben sah Semir nicht an, als er antwortete, als er gerade schräg gegenüber von ihm am Boden saß. "Das war gruselig. Sein Ausdruck in seinen Augen. Als würde er mich nicht kennen. Als wäre ich ein Fremder, der ihm etwas angetan hat." Dann blickte er langsam zu Semir. "Ich bin mir sicher, dass er sein Gedächtnis verloren hat. Das war nicht Kevin. Das war irgendein fremder Mensch, aber nicht Kevin."
    Er flüsterte es beinahe, so ergriffen war er als er sich die Situation, als sein Freund Kevin seine Hände um Bens Hals legte und zudrückte, zurück dachte. Und dann fiel es ihm ein. Es war wie ein Geistesblitz und durckzuckte seinen Kopf, so dass er Semir anstarrte. "Was ist?", fragte der, der den starren Blick in Bens Augen sofort regestrierte. Ben stammelte: "Er... er hat gesagt, ich hätte seine Schwester getötet. Das hat er gesagt, als er mir den Hals zu gedrückt hat... ich bin mir ganz sicher."



    Semirs Mund stand kurz auf und für einen Moment blickten sich die beiden Männer fassungslos an. Ein Mord aus Rache? Wie kam Kevin auf den Gedanken? Hatte der Sturz von der Brücke in Kolumbien wirklich ein so großes Chaos in seinem Kopf ausgelöst? War soviel Durcheinander, dass er Ben für Janines Mörder hielt? "Wenn er dich für Janines Mörder hält... für was hält er dann Jenny?", fragte Semir und stellte damit in den Raum, dass Kevin Jenny ebenfalls feindlich gegenüber steht. "Du meinst, Kevin könnte Jennys Entführer sein?", fragte Ben. Semirs Antwort klang düster. "Oder vielleicht sogar ihr Mörder..."
    Ben sprang energisch vom Boden auf und seine Stimme war laut und erregt: "Hast du nen Schaden? Kevin liebt Jenny!! Er würde ihr niemals etwas tun!!" Dass es gerade mal anderthalb Stunden her war, dass Kevin seinem Freund die Luft abgedrückt hatte, rückte für Ben in diesem Moment in den Hinterkopf. Er hatte gerade nur das Bild vor Augen, wie Kevin mit einer Waffe auf Jenny zielt und eiskalt abdrückt, das Bild das sein Partner im gerade vorgezeichnet hat. Es bewegte den jungen, impulsiv und nicht rational denkenden Polizisten. "Ben, er hat es doch bei dir auch versucht! Warum sollte er einen Unterschied machen zwischen Jenny und dir, wenn er sich bei ihr vielleicht ein ähnliches Hirngespinst in den Kopf gesetzt hat."



    Der erfahrene Polizist dachte rational, auch wenn er selbst emotional gerade angeschlagen war. Auch er war vom Stuhl aufgestanden, um sich symbolisch seinem aufbrausenden Partner in den Weg zu stellen, der jetzt sagte: "Ich... ich glaube er hat absichtlich rechtzeitig aufgehört..." "Glaubst du, oder weißt du?", fragte Semir skeptisch und zog dabei eine Augenbraue typisch nach oben, was Ben beinahe auf die Palme brachte. Und Semir gab ihm die Antwort: "Du weißt es nicht! Du warst bewusstlos und jeder hat nur eine kleine Spanne von Bewusstlosigkeit zum Tod. Du konntest gar nicht mitbekommen, ob Kevin absichtlich rechtzeitig aufgehört hat." Es war keine sachliche Diskussion, es war ein Aufschaukeln zweier Männer, die fassungslos waren ob der Geschehnisse um ihren Freund.
    "Kevin hat mich nicht umgebracht, und er hat auch Jenny nicht umgebracht, verdammt nochmal!!!", schrie Ben seinen Partner wütend an, und nun verlor auch der seine Sachlichkeit in der Stimme und deren Lautstärke. "Aber er hat es versucht!!" Schnaubend drehte sich der Polizist mit dem Wuschelhaar von seinem besten Freund weg, schüttelte den Kopf und krallte die Finger in die Haare. "Er hat dich fast umgebracht!!", hörte er die energische Stimme seines Partners. "Er ist nicht mehr derselbe!" Und leise fügte er noch hinzu: "Und wer weiß, ob er nicht auch auf Timo geschossen hat..."



    Ben fuhr wieder herum und kniff die Augen zusammen. "Was willst du jetzt machen? Ihn zum Abschuss freigeben? Am besten Schwandt auf ihn ansetzen, der sicher nicht zögern wird! Denn egal, was du dem Mann vorwerfen willst, aber seine Sorge um Timo war nicht gespielt." Semir presste die Lippen zusammen. Sein Geist schwankte zwischen der emotionalen Bindung zu Kevin und seiner Sachlichkeit zum Beruf. Kevin hat versucht, Ben zu töten... er oder Patrick hatten auf Timo geschossen und Jenny war verschwunden... entführt, oder bereits tot. Polizeilich war eine Großfahndung nach Kevin alternativlos. "Wir müssen ihn zur Fahndung ausschreiben. Es bleibt uns keine Wahl. Auch wenn wir seine Freunde sind, wir sind auch Polizisten. Und anders werden wir ihn nicht finden... und auch Jenny nicht finden." ... wenn sie noch lebt, den Satz ließ er aber weg. Er wollte dran glauben, dass es noch nicht zu spät war.
    Ben schwankte nicht wie Semir... sein Gehirn war längst zur Emotionalität gekippt, und er sah keine Sachlichkeit in seinem Denken. Für ihn klang es ungeheuerlich, Kevin zur Fahndung auszuschreiben. Patrick ja, aber nicht Kevin...
    Bevor der junge Polizist nochmal antworten konnte, ging die Tür auf und Pfleger schippten das Bett mit Timo drin liegend durch den Flur in ein Zimmer der Intensivstation. Sofort wurden die Gedanken der Polizisten wieder auf ihren schwer verletzten jungen Freund gelenkt, der mit geschlossenen Augen und Luftschlauch im Mund auf dem Bett lag.



    Semir hielt den Arzt mit einem erwartungsvollen: "Und?" auf. Der räusperte sich kurz. "Die Kugeln haben die Lunge erwischt. Einmal gestreift, einmal getroffen. In der OP haben wir die Kugeln entfernt, aber ob die Lunge es schafft, nochmal zu arbeiten, können wir nicht sagen. Ausserdem hat er jede Menge Blut verloren und hatte auf dem Weg zum Krankenhaus auch einen Herzstillstand. Wir können noch nicht sagen, inwieweit das Hirnschäden verursacht hat." Semir wedelte mit den Armen, weil er nicht viele Details wissen wollte, sondern vor allem eine Aussage über den Zustand: "Doktor... kommt er durch?" "Das kann ich ihnen nicht sagen.", war die wenig hilfreiche Antwort.
    "In Prozent?", bat Ben, der schräg hintere Semir stand, und nun vom Arzt etwas skeptisch angesehen wurde: "Ich bin kein Buchmacher und ich gebe ihnen keine Prognose. Aber wenn es ihnen hilft..." Er seufzte... "dann würde ich ihnen empfehlen, nahe Angehörige zu informieren, dass man sich vorbereiten soll... auf alle eintretbaren Fälle. Entschuldigen sie mich." Mit dieser niederschmetternden Diagnose ließ er die beiden Polizisten stehen, die durch das kleine Fenster in das Zimmer sehen konnten, in dem Timo, angeschlossen an unzählige Geräte, jetzt lag. Es vergingen einige Minuten des Schweigens der Männer, die sich eben noch angeschrieen hatten, bis Ben leise sagte: "Wir werden den Kerl kriegen, Timo..." Und Semir zweideutig hinzufügte: "Ganz egal, wer es war...", wobei Ben die Augen schloss...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hamburg - 13:30



    Natürlich ging Kevin nicht... Patrick hatte nicht nur darauf spekuliert, sondern war sich sicher, dass der junge Polizist nun nicht alleine loszog, um die Wahrheit zu finden. Die Wahrheit über die letzten Jahre seines Lebens, die ihm fehlten, die Erinnerung, die in seinen Schubladen steckte und jetzt auf einem großen Haufen durcheinander in seinem Kopf herumlagen. Ein einziges Chaos, nichts passte mehr zusammen und vermutlich würden, wie bei einem guten Puzzle auch noch einige Teile fehlen. Patrick nutzte das, er legte die Teile, wie er es brauchte. Der Zufall spielte ihm diese Möglichkeit zur Rache in die Hände, die Vorbereitung die er durch seine ständige Observation betrieben hatte, gab ihm die Möglichkeit eine Vergangenheit für Kevin zurecht zu bauen, an die er sich in Teilen tatsächlich erinnerte.
    Doch mit der Begegnung mit seinen alten Kollegen bekam Patrick so langsam etwas wie eine Warnung. Kevin hatte sich an Ben erinnert, und obwohl der Verbrecher versuchte, die Erinnerung seinem Opfer zu erklären, so hatte er das Gefühl, dass Kevin ihm diesmal nicht bediengungslos glaubte. Er meinte, Zweifel in Kevins Blick zu sehen, weshalb er eben, schauspielerisch perfekt, so etwas wie die Vertrauensfrage gestellt hatte. Vertraute er ihm, oder nicht? Konnte sich Kevin überhaupt erlauben, ihm nicht zu vertrauen?



    Eben dies war ein Druckmittel, mit dem Patrick jeden Zweifel wegwischen konnte. Kevin hatte niemanden. In seinem Kopf war Jerry tot, Ben und Semir seine Feinde und Patrick der einzige, der ihm helfen würde. Genau deshalb wusste Patrick, dass Kevin jetzt nicht durch diese Tür kam, als er vor dem Haus stand und eine Zigarette rauchte. Doch ihm war es auch klar, dass noch mehr Begegnungen mit seinen Kollegen, noch mehr Erinnerungen in seinem Kopf aufleben lassen würden, und somit die Gefahr, dass der Polizist in seinem Durcheinander zwei Teile richtig zuordnen könnte, steigen würde. Und so zog Patrick tief in Gedanken an seiner Zigarette, kratzte sich an der Stirn und ging mehrmals vor dem Haus auf und ab.
    Immer wieder zückte er sein Smartphone und tippte Nachrichten in WhatsApp mit Carsten, der zur Zeit auf der Arbeit war. "Ein Bulle ist hinüber. Kevin hat es tatsächlich getan. Fühlt sich aber positiv an ihn erinnert, glaub ich.", schrieb er, denn es war ihm zu gefährlich, zu telefonieren. Ansonsten ging von Kevin keine Gefahr aus... der Keller war fest verriegelt und auch das Zimmer mit dem Fotolabor, dem PC und dem Album war abgeschlossen. Carsten antwortete: "Hmm... hast du ihm das ausgeredet?"



    Patrick steckte den Glimmstengel wieder zwischen die Lippen und tippte: "Ja, aber ich hab das Gefühl, dass er es diesmal nicht komplett glaubt. Scheint hin und hergerissen." "Und was bedeutet das jetzt für uns? Willst du die Sache abbrechen?" Über die Frage musste Patrick nachdenken. Das Handy verschwand in der Hosentasche, der Zigarettenstummel landete auf der Straße. Bevor er zurückschrieb, zündete er sich eine weitere Kippe an. "Abbrechen auf keinen Fall! Aber abkürzen. Wir werden ihm den wahren Mörder seiner Schwester präsentieren. Die wahre Mörderin... und dann schauen, ob er den Mumm hat. Und dann werden wir die Sache beenden." Es dauerte eine Zeitlang, bis eine Antwort von Carsten kam. "Alles klar... wann?" "So schnell wie möglich... wäre also gut, wenn du kommst."
    Der Mann strich sich durch die kurzen Haare und ging zurück ins Haus. Er spürte, dass seine Hände ein wenig feucht wurden, als er kurz ins Wohnzimmer sah. Kevin saß an der Fensterbank, das Fenster offen und den jungen Polizisten hinausblickend. "Alles klar?" "Ja... sorry, wegen eben. Ich bin ein bisschen durcheinander.", sagte er kurz angebunden und blickte kurz zu seinem Freund herum. Der nickte nur und sagte: "Ich muss dir noch was zeigen. Ich komme gleich zu dir." Er ging direkt ins Zimmer nebenan um ein Foto zu holen, leise klickte der Schlüssel im Schloß, als er die Tür wieder abschloss. Dann ging er zur Kellertreppe und stieg ins Untergeschoss.



    Jenny war irgendwann gegen frühen Vormittag wieder wach geworden. Sie spürte verkrustetes Blut im Gesicht und an ihrem Hinterkopf, welcher ihr auch ordentlich schmerzte, dröhnte und bei jeder Bewegung sich meldete. Ihre Handgelenke waren durch die Fesseln an dem Wandring wund gescheuert und die Erinnerung an letzte Nacht waren verschwommen und undeutlich. Nur eines war ganz klar in ihrem Gedächtnis... Das Gesicht von Kevin. Seine halboffenen Augen, als er da auf der Couch lag, vermutlich auf einem Drogentrip... unfähig ihr zu helfen. Aber er musste doch wissen, dass sie im Keller war. Warum war er hier? Was tat er zusammen mit diesem Kerl, der sie entführt hatte, verprügelt hatte und beinahe vergewaltigt hatte? Diese Gedanken ließen ihr keine Ruhe, und verursachten nur mehr Kopfschmerzen.
    Sie war am Boden zerstört... Jenny hatte sich so sehr gewünscht, dass all jenen "sicheren" Hinweise auf Kevins Tod in Kolumbien falsch seien. Das Blut am zerstörten Handy, die beiden gefundenen Leichen und die Kenntnis von Juan, dass man einen Sturz in diesem Fluss nicht überleben könne. Jetzt war ihr Wunsch, den Mann den sie liebte und den Vater ihres toten Kindes wiederzusehen, wahr geworden. Doch wie grausam war die Realität und wie sehr hatte sich der Traum in einen Alptraum verwandelt. "Das, was wir uns am meisten wünschen... werden wir bitter bereuen, wenn es soweit ist.", flüsterte Jenny leise. Sie konnte sich nicht mehr erinnern, wo sie diesen Satz mal gehört hatte.



    Als die Tür aufschwang, drückte sich die junge Frau mit dem Rücken an die Wand, wobei sie dabei schmerzhaft den Arm verdrehen musste. Sie blickte direkt in das Gesicht ihres Peinigers, der sie höhnisch angrinste. "Was sollte die Show heute Nacht?", fragte er provokant und Jenny befürchtete, gleich wieder einen Schlag einzufangen. Instinktiv drehte sie den Kopf zur Seite. Patrick hatte die Tür hinter sich wieder geschlossen, der Keller war vermutlich ziemlich schalldicht... sonst würde er nicht das Risiko eingehen, dass sie jetzt nach Kevin schreien könnte. Oder war er gar nicht mehr da? "Los, aufstehen!", sagte Patrick und riss Jenny am Oberteil rüde nach oben, bevor er sie vom Wandring befreite. "Und wenn du auch nur an Flucht denkst, bist du fällig, das schwöre ich dir.", knurrte er bedrohlich. Aber Jenny dachte nicht an Flucht. Ihre Beine waren eingeschlafen, ihr Kopf tat so sehr weh... selbst wenn sie es versucht hätte, sie wäre vermutlich nicht mal bis zur Tür gekommen. Als sie jetzt mit einem Ruck aufstand, wurde ihr schwindelig.
    Aber sie musste nicht lange stehen... Patrick führte sie zu einem Holzstuhl, wo sie sich hinsetzen musste. Die Arme wurden Jenny auf dem Rücken mit Kabelbinder fixiert, der an den aufgescheuerten Hautstellen am Handgelenk noch mehr schmerzte. Auch an den Fußgelenken spürte sie diesen einschneidenden Druck, als Patrick ihre Gelenke mit den Stuhlbeinen verband. Zu guter Letzt band er der jungen Frau ein Tuch vor die Augen. "Was soll das?", fragte sie nun panisch. "Keine Angst... Bald hast du es überstanden..." Es klang nicht wie eine Verheißung... eher wie eine Drohung.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Dienstauto - 13:45 Uhr



    Die Stimmung im Auto war betrübt. Nachdem Ben und Semir sich vor einigen Minuten gerade noch in den Haaren hatten und auf dem Krankenhausflur anschrieen, schwiegen sie sich jetz an. Semir startete den Motor ohne zu wissen, wo sie überhaupt hin wollten. Sie hatten kein Ziel, keinen Ansatzpunkt, keine Spur. Die Adresse in Köln war eine Sackgasse, sie hatten nur den Namen Patrick Heuser. Und der war in Hamburg nirgends gemeldet. Hinweise von der Spurensicherung aus dem Parkhaus, was Projektile und ähnliches angeht, würden sie nicht bekommen. Semir war sich sicher, dass Schwandt bereits eine Nachrichtensperre verhängt hatte, damit die beiden Autobahnpolizisten nicht noch mehr Schaden anrichten konnten.
    Semir konnte es Schwandt nicht mal verübeln. Er versuchte sich gerade in diese Lage zu versetzen, was er gut konnte, schließlich war er stellvertretender Dienststellenleiter und hatte die Verantwortung für seine Mitarbeiter. Würde Bonrath, Hotte oder Jenny, als sie noch in Köln war, durch einen Einsatz verletzt werden, bei dem zwei Polizisten aus einem anderen Bundesland einen Alleingang riskiert hätten, würde Semir wohl auch zu drastischen Maßnahmen greifen. Er müsste sogar. Einzig ein wenig Empathie für die Motivation der beiden Polizisten, die ihre vermisste Kollegin unbedingt finden wollten, die eben mehr Freundin als Kollegin war, würde er wohl zeigen, statt stur auf den Dienstvorschriften herum zu reiten. Andererseits war Timo eben Schwandts Mann, Gregors Kollege... und der lag jetzt schwer verletzt im Krankenhaus.



    Und natürlich machten sich beide Polizisten Vorwürfe, den jungen und unerfahrenen Timo in den Einsatz mit hineingezogen haben. Klar, er wollte Jenny auch helfen. Natürlich war er Polizist, ausgebildet und hätte in gewisser Weise auf sich selbst aufpassen müssen. Und ja, sie hatten ihm gesagt, er solle vor dem Parkhaus warten und war eigenmächtig hineingegangen. Irgendwo müsste die Verantwortung auch aufhören. Aber so einfach war es dann nicht. Gerade Semir, als erfahrener Beamter, konnte die Verantwortung, die Schuld die ihn bedrückte in diesem Fall, nicht einfach rational abschütteln. Er wusste, dass Timo solche Einsätze nicht oft gemacht hatte. Wenn überhaupt. Es wäre besser gewesen, ihm nichts zu erzählen. Aber im Nachhinein war man immer schlauer.
    Jetzt war es zu spät. Sie hatten sich entschieden und mussten mit ihrer Entscheidung nun leben. Semir hatte selbst schon schwere Verletzungen... er lag im Koma, als er von einem LKW in einem Transporter angefahren wurde. Dafür konnte aber niemand etwas. Er wurde angeschossen, aber nie so schwer, dass er mit dem Tode rang. Sein Partner André wurde aus dem Hinterhalt schwer verletzt, aber auch das war keine Situation, in der Semir sich die Schuld gab. Auch bei Toms Tod überwog mehr die Trauer, als die Schuldgefühle, in diesem Moment nicht bei ihm gewesen zu sein, weil es die Situation nicht hergab. Einzig bei Andrés vermeintlichem Tod kämpfte der kleine Polizist mit Schuldgefühlen... einerseits, weil André nicht abhalten konnte vom Helikopter heraus auf Bergers Boot zu springen, andererseits weil er zu lange zögerte bis er Berger erschoss.



    Ben sah aus dem Seitenfenster. Sein Kopf war voller Gedanken... Gedanken über Timo, sein schmerzverzerrtes Gesicht als er panisch versuchte zu atmen und es nicht ging. Gedanken über Kevin, sein Hass in den Augen und seine, so fremd klingende Stimme als er sagte, dass Ben seine Schwester getötet hätte. Und Gedanken über Jenny... lebte sie noch, war sie schon tot? Er rieb sich mit dem Finger durch die Augen. Er war so mitgenommen von diesem Erlebnis, viel mehr als er es vor Semir zugab. Er hatte sich so sehr gewünscht, dass Kevin noch lebte, und nun war sein Wunsch eine grausame Realität. Was hatte ihn so verändert? Wie konnte der Typ seinen besten Freund so beeinflussen, dass der seine besten Freunde als Feinde sah? Konnte man im Kopf so sehr zurückschalten, dass man seinen Charakter verlor?
    Wobei... hatte Kevin seinen Charakter überhaupt verloren? War er nicht viel mehr schon immer so? Ben bekam eine Gänsehaut bei dem Gedanken... und er dachte zurück, vor anderthalb Jahren. Er selbst an einer Brüstung hängend, den Tod vor Augen, auf dem anderen Dach Kevin der mit der Waffe auf den unbewaffneten, am Boden knienden wahren Mörder seiner Schwester zielte. Die Entschlossenheit und Wut in seinen Augen war die Gleiche wie heute im Parkhaus. Ben war sich damals schon sicher, dass Kevin Becker erschossen hätte, wenn Ben nicht in Gefahr gewesen wäre. Kevin hatte nicht die Skrupel, die ihn von einem Rachemord abhielten... er wusste nur nicht mehr, wer seine Freunde waren. Aber an seinem Charakter hatte sich vielleicht gar nichts geändert...



    "Wo fährst du jetzt eigentlich hin?", fragte Ben seinen Partner, als der scheinbar ziellos durch Hamburg kurvte. "Zum Hotel... und dann...", sagte Semir langsam und zuckte dann mit den Schultern. Ein stummes "Keine Ahnung.", das Ben die Lippen aufeinanderpressen ließ. "Tut mir leid wegen eben.", sagte er leise. "Aber... ich weiß ja, dass du auch in so einer Situation wie ein Bulle denken kannst. Aber ich... ich kann das halt nicht. Ich denke dann, wenn ich es mir nur fest genug wünsche, dann wird die Erklärung, die ich haben möchte, schon wahr sein." Semir musste bei der Erklärung lächeln. "Ich weiß, Ben. Ich kenn dich schon ein wenig länger." Das brachte nun auch Ben zum Grinsen... zumindest kurz, bevor er seufzte.
    "Also empfehlen wir Schwandt doch eine Fahndung nach Kevin und Patrick." "Ja. So blöd es sich anhört, aber das sind wir Timo schuldig. Ich hoffe mal, egal was Kevin umtreibt, dass er nicht so blöd sein wird, den Kollegen einen Grund gibt auf ihn zu schiessen." Semir setzte noch dazu: "Glaub mir Ben... mir wäre es auch lieber, wir würden ihn finden, und nicht ein Scharfschütze mit labilem Finger. Aber was sollen wir tun? Schwandt wird sich nicht aufhalten lassen und ich bin ganz ehrlich: Ich stelle Jennys Wohlbefinden über das von Kevin. Kevin ist für sich alleine verantwortlich... aber was mit Jenny ist, wissen wir nicht. Wenn sie in Sicherheit ist, und gesund... dann können wir uns um Kevin kümmern." Das leuchtete auch Ben ein... und er nickte zustimmend.



    Semir änderte die Richtung in Richtung LKA Hamburg, als sein Handy klingelte. "Andrea, mein Schatz...", meldete er sich und über Freisprecheinrichtung meldete sich seine Frau. "Semir... der Name, den du mir heute morgen gesagt hast, hat mir keine Ruhe gelassen. Ich habe den ganzen Morgen damit verbracht, mich in die Datenbank des Einwohnermeldeamts zu ha... ähm... einzuloggen." Ben schaute erstaunt und Semir lächelte: "Schatz, das hast du ja schon ewig nicht mehr gemacht." Es klang so, als hätte Andrea gerade eine längst vergessene Zärtlichkeit wieder entdeckt. "Du kannst das?", fragte Ben laut, denn seit er bei der Autobahnpolizei war, war Andrea erst lange Zeit im Mutterschutz, und letztlich hatte dann vor allem Hartmut solche digitalen Ausflüge unternommen. "Andrea hat das früher ausschließlich gemacht.", kicherte Semir.
    "Jedenfalls...", meldete sich Andrea's aufgeregte Stimme wieder über die Freisprecheinrichtung "...habe ich mal in der Historie der Adresse gesucht, die ihr gestern nacht aufgesucht habt. An der Adresse waren, über einen gewissen Zeitraum, zusammen mit Patrick noch zwei weitere Männer angemeldet... scheinbar eine Art WG." Semir und Ben sahen sich an... ein weiterer Name würde sicherlich helfen. "Einen Namen kennt ihr...", sagte die Frau übers Telefon verheißungsvoll. "Peter Becker..."



    Nun waren es erschrockene Blicke, die Semir und Ben austauschten. "Becker? Der Mörder von Kevins Schwester? Ich meine, Beckers gibt es viele...", sagte Ben. "Ich habe es natürlich mit Beckers Akte verglichen. Da steht die Adresse auch drin, nur... sowas merkt man sich ja nicht ewig." In Semir Kopf arbeitete es bereits. "Wenn die beiden befreundet waren... und dieser Patrick von den damaligen... Umständen um Beckers Tod wusste..." "Dann hätte er einen Grund, sich ganz ordentlich an Kevin zu rächen.", vollendete Ben. "Scheisse...", fuhr es ihm dann noch raus. "Dann kennen sich Kevin und Patrick auch definitiv von früher."
    "Aber noch interessanter ist der zweite Name...", sagte dann Andrea, nachdem sie die erste Bombe platzen ließ. "Carsten Kolke. Auch vorbestraft wegen Einbrüchen vor einigen Jahren. Und der hat eine Anschrift in Hamburg." Plötzlich wurde es Semir und Ben heiß und kalt gleichzeitig. Die Frau des kleinen Polizisten nannte die Adresse, und Semir stellte beim Blick aufs Navi fest, dass sie ans andere Ende der Stadt mussten. "Danke, mein Schatz!", sagte er noch schnell, bevor er den Wagen wendete, Ben das Blaulicht anschaltete und sich beide auf den Weg machten.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Hamburg - 13:50 Uhr



    Es hatte etwas gedauert, bis Patrick aus dem Keller wieder herauf kam. Scheinbar war Carsten noch nicht da, er hatte die Haustür nicht gehört. "Na gut... dann muss es eben ohne ihn gehen." Er betastete seinen Hosenbund, seine Waffe saß fest unter seinem Pullover... für den Fall der Fälle. Die, die Kevin im Parkhaus bereits in der Hand hatte und seine Fingerabdrücke ebenfalls drauf waren, nahm er und legte sie auf den Tisch im Wohnzimmer. Kevin saß immer noch seelenruhig am Fenster, doch es ging eine merkwürdige Unruhe von ihm aus, was er sich nicht anmerken lassen wollte. Als er den Kopf drehte, sah Patrick in leicht glasige Augen. "Ist alles klar? Du siehst aus, als hättest du geheult." Kevin schüttelte den Kopf stumm und sagte dann, in einer merkwürdig fremden Stimme: "Ich hab nur gegähnt."
    Patrick fühlte sich auf einmal nervös. Seine Hände schwitzten und das Bild in seiner Hand fühlte sich seltsam heiß an. Es war der entscheidende Moment vor dem Höhepunkt seines Racheplans, auf den er hingearbeitet hatte, denn er sehnsüchtig erwartete. Würde Kevin Jenny jetzt erkennen, und Erinnerungen zurückkehren, wäre es vorbei. Der Verbrecher hätte zwar seine Rache, Kevin für Peter Becker umzubringen... aber nicht auf die perfide und perverse Art und Weise, wie er es sich vorgestellt hatte. Er würde nicht das Risiko eingehen, und versuchen den Polizisten zu überwältigen und in den Keller zu bringen.



    "Was hast du da?", fragte Kevin und deutete mit einem Kopfnicken auf das Bild in Patricks Hand. Noch war der Polizist unbewaffnet, und der Weg zum Tisch durch den Mann versperrt, der sich das Vertrauen erschlichen hatte. "Du weißt ja sicher noch, dass es drei Personen waren, die dich überfallen hatten." Kevin nickte stumm... aus der Mordnacht hatte er nichts vergessen. Drei Personen... und die, die Janine am Ende vergewaltigt hatte, hatte sie auch getötet. Aus Patricks Schilderungen nach musste das die Person sein, die er heute im Parkhaus ermordet hatte. Ob die anderen beiden Janine auch etwas angetan hatten, ausser die festgehalten, hatte er nichts gesehen, zu schwer war er verletzt. Patrick aber wusste es...
    "Ich hab dir nicht alles erzählt." "Du hast die dritte Person verschwiegen.", sagte Kevin, und formulierte es nicht als Frage. "Diese Frau...", sagte Patrick und wedelte mit dem Foto, ohne es zu zeigen, "war dabei. Sie hat sich auch immer noch mit den beiden Typen getroffen. Und soweit ich weiß, war sie die treibende Kraft hinter dem Überfall. Und wie ich später gehört habe, war sie es, die dich niedergestochen hat." Die Stimme des Mannes war ganz ruhig, während Kevin, immer noch halb auf der Fensterbank sitzend, wartete bis Patrick ihm das Foto zeigte.



    Er beobachtete Kevins Reaktion genau, und war verwundert. Seine Lippen bewegten sich etwas, als er auf das Foto von Jenny guckte, wie sie gerade aus ihrer Wohnung kam, eine Hand auf den flachen Bauch gelegt, als wolle sie etwas schützen. Ihr Gesicht war von Sorgenfalten durchzogen und sie wirkte älter, als sie tatsächlich war. Patrick hatte es aufgenommen, kurz nachdem Kevin in Kolumbien verschollen war. Kevins Atem beschleunigte kaum merkbar, seine Augen waren etwas unruhig... dachte er nach, ob er sie kannte. "Sie war aber nicht in unsrer Gang?", fragte er mit ruhiger Stimme. Erst jetzt merkte Patrick, dass Kevin das Bild nur ganz kurz angeblickt hatte, und ansonsten mit seinen kalten blauen Augen sein Gegenüber fixierte.
    Seine Frage kam für Patrick überraschend... er konnte sie sich nur so erklären, dass er Jenny überhaupt nicht erkannte. Keine Fragmente, kein Bruchstücke, keine Erinnerung, die er vielleicht auf seine Jugendzeit schob. "Ähm, nein... soviel ich weiß nicht. Wo sie die anderen beiden kennengelernt hat, weiß ich nicht.", antwortete er. "Und wo finden wir sie?" Der Verbrecher war über die Entschlossenheit erstaunt, bis er sah dass Kevins Pillendöschen neben ihm auf der Fensterbank stand. Deswegen auch seine glasigen Augen... scheinbar war sein Gewissen, seine Moral etwas in den Hintergrund gerückt und seine Erinnerungen an seine Schwester lösten die Rachegefühle wieder stärker aus. Patrick lächelte: "Im Keller..."



    Jetzt gab es eine Reaktion in Kevins Gesicht. Seine Augen weiteten sich ein wenig und sein Mund öffnete sich. "Was soll das heißen?" "Carsten und ich haben sie aufgestöbert. Die Typen zu entführen war uns zu riskant, aber eine zierliche Frau... das war kein Problem. Eigentlich wollten wir sie befragen, wo wir die Typen finden... aber der Zufall spielte uns dich und durch den jungen Polizisten auch die beiden Typen in die Hände." Kevins Blick fixierte Patrick immer noch auf eine unangenehme Art und Weise. Der Verbrecher spürte in seinem Gegenüber plötzlich eine Entschlossenheit, die er gegenüber Ben nicht gezeigt hatte, als sie das Parkhaus betraten, um sich auf die Lauer zu legen. Da wirkte Kevin nervös, danach völlig aufgewühlt. Jetzt schien er kalt und rachesüchtig... obwohl er genau das zeigte, was Patrick erhoffte, verunsicherte es den Verbrecher.
    Der Polizist erhob sich von der Fensterbank und ging an Patrick vorbei an den Tisch, wo er die Waffe griff. Jede Bewegung wurde von dem Kerl hinter ihm regestriert... plötzlich traute Patrick seinem Opfer nicht mehr. "Zeig sie mir...", sagte er ruhig und entschlossen und bat Patrick, vor zu gehen. Der lächelte... er hatte aus Kevin den Racheteufel gemacht, den er wollte. Egal, über was er sich in der letzten Viertelstunde Gedanken gemacht hatte am Fenster, wieviele Pillen er sich eingeworfen hatte... es war genau richtig.



    Sie hörte die Schritte, die über die Steintreppe klackerten immer bevor der Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt wurde, um die verriegelte Tür zu öffnen. Diesmal aber waren es mehr als eine Person, das konnte sie hören. Unbehagen machte sich in ihr breit. Sie kamen... Patrick würde seine Drohung wahrmachen. "Bald bist du erlöst...", hatte er eben zynisch und voller Abscheu gesagt. Jenny zitterte, ihre Lippen zitterten und ihre Augen starrten in völlige Blindheit auf das Tuch. Patrick beobachtete Kevin genau, als sie den Kellerraum betraten, als er um Jenny herum ging und das zitternde gefesselte Bündel betrachtete. Jetzt konnte er spüren, wie er in seinem Kopf nach Erinnerungen suchte. Sein Mund stand halb offen, seine Augen starrten Jennys Gesicht an, von dem nur die Augen bedeckt waren.
    Patrick war fasziniert... solange hatte er die beiden beobachtet und observiert, gesehen wie sie Hand in Hand aus dem Haus gingen, sich küssten und verliebt waren. Jetzt stand Kevin mit leicht zitternder Waffe vor seiner Freundin und sah sie als Feindin, als eine der Verursacherin seiner Alpträume. Aber er konnte jetzt auch erkennen, dass Kevin mit sich kämpfte, doch sein Rachegefühl schien zu siegen. Langsam, wie in Zeitlupe hob er den Arm, dessen Hand die Waffe fest umklammerte und zielte auf Jenny.



    Patrick trat hinter die zitternde Frau und löste ihr die Augenbinde. Dabei blickte er direkt in Kevins kalte blaue Augen, die Jenny anstarrten, und dessen Blicke sich jetzt mit denen von Jenny trafen. Langsam trat er wieder neben Kevin, ohne ihn aus den Augen zu lassen. Er meinte Entsetzen darin zu erkennen, er meinte plötzlich Skrupel zu spüren. Und er hörte Jennys leise Stimme, ihre pure Fassungslosigkeit als sie erkannte, wer vor ihr stand. Er lebte... Kevin lebte. "Nein... oh Gott...", flüsterte sie leise, unter Schmerzen. Ihr Kopf tat weh, ihre Arme und Beine verkrampft und verspannt. Aber all das war nichts gegen die Schmerzen, die sie in diesem Moment im Herzen spürte... er lag oben auf der Couch und half ihr nicht. Jetzt stand er vor ihr und wollte sie umbringen.
    "Jetzt kannst du einen weiteren Schritt der Rache tun, Kevin.", sagte Patrick von der Seite leise und voller Vorfreude, dem Polizisten gleich das wahre Ergebnis seines Racheplanes aufzuzeigen. Die Waffe in Kevins Hand zitterte. "Kevin... was... was machst du da? Bitte... es... ich... bitte nicht. Ich... es war doch keine Absicht...", weinte Jenny und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Patrick hatte ihr ja aufgetischt, Kevin wolle sich für das verlorene Kind rächen, und der Polizist atmete hörbar aus. Jenny hatte sich so sehr gewünscht, er würde noch leben, jetzt stand er in Fleisch und Blut vor ihr. Der Mann der sie liebte, und sie blickte mit verschwommenem Blick in die eiskalten Augen, in denen sie so oft versunken war. "Bitte... bitte...", flehte sie den Mann, um dessen Tod sie geweint hatte, an ihn nicht zu töten. "Ich... ich liebe dich doch...", flüsterte sie tonlos.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Keller - 14:00 Uhr



    Kevin hasste sich selbst. Er hasste sich für alles, was er getan hatte. Er hatte getötet... kaltblütig. Er hatte alles zerstört. Wie ein Kind, das ungeduldig jedes Jahr auf das große Weihnachtsgeschenk wartet, und wenn es es dann endlich bekommt, macht das Kind das Geschenk kaputt. Vater und Mutter sind geduldig, reparieren das Geschenk und geben dem Kind eine weitere Chance, doch je mehr Chancen das Kind bekommt, mit dem Geschenk zu spielen, desto mutwilliger, gewaltsamer und für die Eltern schmerzlicher macht es das Geschenk kaputt. Und genauso hat Kevin sein Leben in den letzten 72 Stunden zerstört... nein, eigentlich schon vorher. Immer wieder hat er das kleine Glück kaputt gemacht, immer wieder hat man ihm eine Chance gegeben, und trotzdem hat er es wieder und wieder zerstört. Grausamer und für seine Mitmenschen schmerzvoller. Jetzt war er gerade dabei, auf den Höhepunkt zu zu steuern, als er mit der Waffe auf die junge Frau vor ihm zielte.
    Ihm waren Zweifel gekommen. Die Gefühle, die er hatte, nachdem er den für ihn seltsam vertrauten Mann erwürgt hatte, hatten nichts mit Befriedigung zu tun, nichts mit dem unstillbaren Hunger auf Rache. Als Patrick das Zimmer eben verließ, hatte der junge Polizist wirklich das Gefühl, gehen zu müssen. Patrick fand einfach auf jede Frage eine Antwort, die so plausibel und klar war, dass man sie sich nicht hätte ausdenken können. Alles passte zusammen, jeder Satz, jedes Wort. Nur Kevins Gefühl passte nicht... und das Gefühl nagelte er in diesem Moment an die Tür, die für ihn nicht einsehbar war, und die Patrick kaum hörbar abgeschlossen hatte.



    Niemand war hier sonst im Haus, ausser sein bester Freund. Hatte er Geheimnisse vor dem? Oder vor ihm? Was konnte in diesem Zimmer wichtiges für Kevin sein, wo doch Patrick nie damit rechnen konnte, dass Kevin plötzlich in sein Leben stolperte. "Versuch alleine die Wahrheit zu finden, wenn du kannst.", hatte sein vermeintlicher Freund ihm gesagt. Und vielleicht befand sich ein Hinweis auf Wahrheit genau hinter dieser Tür. Vielleicht befanden sich dort aber auch Hinweise darauf, dass Patrick die Wahrheit sagte. In der Küche musste er nur zwei Schubladen aufreissen, um ein spitzes Küchenmesser zu finden. Die Türschlösser in Patricks Haus waren einfach und mit großen Schlüssellöchern. Und die damalige Fähigkeit von Kevin, Schlösser zu knacken, hatte er durch die Amnesie nicht verlernt.
    Mit einem Kribbeln im Nacken und die Ohren empfindlich gespitzt, nachdem er hörte, dass Patrick in den Keller gegangen war, hantierte er gerade mal eine Minute an dem Schloß, bevor er es schaffte den Mechanismus mit der Spitze des Messers zu drehen. Vor ihm gähnte erst Dunkelheit, durch den Flur und die offene Tür fiel aber mehr und mehr Licht. In dem Zimmer befand sich gerade mal ein Schreibtisch mit Stuhl, wo ein PC stand und zwei scheinbar teure Kameras mit Speicherkarten herumlagen. Das glänzende Fotoalbum erregte sofort Kevins Aufmerksamkeit, und er schlug es auf.



    Je weiter Kevin in dem, beinahe grotesk altmodischen Fotoalbum, in das Patrick die Fotos scheinbar persönlich eingeklebt hatte, blätterte, wurden seine Knie weich. Mit jedem Bild wurde sein Kopf mit Bildern geflutet. Bilder, die undeutlich waren wie vorher, durcheinander wie vorher... aber diesmal hatte er eine Schablone. Eine Schablone in die alles reinpasste, die klar vor ihm lag, in der nichts verschwommen war. Kevin beim Joggen, mit Kapuze über dem Kopf im Stadtpark, mit Schnapsflasche vor seinem alten Wohnblock. Kevin mit einer jungen Frau aus dem Wohnblock gehend, die vom Aussehen her aber nichts mit der Frau auf dem Bild eben zu tun hatte. Doch die Bilder waren klar und deutlich und plötzlich gelang es ihm, das Bild in Schubladen zu stecken, was weitere Erinnerungen in seinem Kopf aufrief.
    Der junge Polizist versuchte so konzentriert wie möglich zu bleiben, doch als er zwei Seiten weiterblätterte, zog es ihm den Boden unter den Füßen weg. Patrick hatte die Bilder mit Notizen versehen. "Kevin mit Semir und Ben." Als Kevin die Namen las und die Bilder dazu sah, wurde ihm schwindelig. "Nein...", flüsterte er leise als sich die Erinnerung plötzlich konkretisierte. Als sich die Erinnerungsfetzen plötzlich ordneten und er Namen und Aussehen wieder mit Charakter und Erinnerung verknüpfen konnte.



    Mit jeder Erinnerung in seinem Kopf, die klarer wurde, taten sich neue Erinnerungen auf, wie ein Schneeballsystem. Zwei oder drei Bilder mit Notizen machten das Bild plötzlich klar, warfen einen Schneeball ins Tal, der sich mit jeder Umdrehung vergrößerte, bis plötzlich immer Informationen einen Sinn ergaben. Bilder, auf denen er mit Ben und Semir lachte, an einem Imbiss zu Mittag aß... er wusste, wer er war. Woher er Ben kannte, die Szene mit dem Unfall, die Musik auf der Bühne. Es war nicht in seiner Jugend. Die Geschichte mit dem Knast... ja, sie gab es, aber auch nicht direkt nach Janine... Kevin wurde zu Unrecht wegen Mordes festgenommen... ein Bild, als er gerade von einem Drogenfahnder am Polizeitor abgeholt wurde, weckte diese Erinnerung. Patrick musste verdammt gut informiert gewesen sein, und ein hartnäckiger Stalker. Das Bilderalbum war ein perfekter Erinnerungsfilm für einen Amnesiekranken.
    Mit jeder Seite begannen Kevins Hände mehr zu zittern, als ihm mit einem Schlag bewusst wurde, was er getan hatte. Er hatte Ben getötet... seinen Partner, seinen Freund. Er wusste wer er war... ein Polizist. Unwirklich schüttelte er den Kopf, Schmerz pochte in seinem Schädel und sein Blick verschwamm. "Scheisse... verdammte scheisse...", flüsterte er schluchzend als er sein lachendes Gesicht zusammen mit Ben auf einem Foto sah. Ein Lachen, das er von sich selbst völlig vergessen hatte.



    Er musste sich konzentrieren, unterdrückte ein Schluchzen und rieb sich mit dem Handrücken durch die feuchten Augen. Warum tat Patrick das? Was sollte das? Warum erzählte er ihm Lügen, warum setzte er ihn auf seine Freunde an? Die nächsten Seiten machten Kevin noch fassungsloser, den sie zeigten ein weiteres bekanntes Gesicht. Ein Gesicht, das ihm heute nacht im Traum erschienen war, und ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen sollte. Ein Gesicht, das in ihm ein Gefühlschaos auslöste und ihm eine Klammer um die Brust spannte. Ein Gesicht, ein Lächeln, dass sofort lautes Babygeschrei in seinem Kopf auslöste. Kevins Mund wurde trocken, sein Kopf bebte... es stand kein Namen unter der Person, und sie war alleine abgebildet.
    Es war ein ähnliches Foto wie das, welches Patrick ihm einige Minuten später zeigte. Das Album zugeklappt, die Tür geschlossen, wartete er an der Fensterbank auf ihn. Die Pillen als Grund vorgeschoben, falls er Kevins veränderten Zustand sah. Und tatsächlich präsentierte er die Frau, zu der Kevin mehr empfand als Zuneigung, als weiteren Feind. Doch es herrschte noch nicht die absolute Klarheit... er brauchte einen Namen, eine Stimme, irgendwas. Der junge Polizist spielte das Spiel mit, das im Keller ausser Kontrolle geriet.



    Er wollte das nicht... er machte der jungen Frau Angst und hätte sich am liebsten die Waffe selbst gegen die Schläfe gehalten und einfach abgedrückt. Als er in ihr Gesicht sah, in ihre Augen blickte, die angstvoll erstarrt und voller Ungläubigkeit Kevin ansahen, fiel alles in seinem Kopf zusammen. Als hätte er einen Schlauch genommen und das Zimmer, in dem sein Gedankenchaos stand, das er gerade dabei war in Schubladen einzuordnen, unter Wasser gesetzt hätte. Als hätte er in den ganzen Trümmerhaufen noch eine Handgranate geworden, und die Granate trug ihr Bild... Jennys Bild. Das Bild der Frau, die er liebte, die ihn geliebt hatte und die sein Kind in sich trug. Und ihre Stimme machte alles viel deutlicher. "Ich... ich liebe dich doch..."
    Seine Hand gehorchte nicht mehr seinem Kopf, und plötzlich stand Kevin wieder auf dem Dach einer alten Fabrik. Doch diesmal stand ihm nicht Peter Becker, sondern Patrick gegenüber, und diesmal gab es kein Abgrund, in den er sich stürzen könnte. Gerade als Patrick dachte, die absolute Entschlossenheit in den Augen des Polizisten zu sehen, dachte der Finger würde sich krümmen, sah er sich selbst der Gefahr ausgesetzt. "Keine Bewegung, du Arschloch...", sagte Kevin mit kühler, aber ganz und gar unsicherer und verzweifelter Stimme, als er Patrick die Waffe an die Stirn hielt, bevor der zur Waffe greifen konnte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Keller - 14:10 Uhr



    Jenny hatte das Gefühl, im Boden versinken zu wollen. Nicht vor Scham, sondern vor Panik. Sie spürte in sich drin eine so große Unruhe wie nie zuvor und sie zitterte unweigerlich, willkürlich, als säße sie nackt im Gefrierschrank. Ihr schoßen tausende Gefühle durch den Kopf, und jeder einzelne versetzte ihr Schläge gegen ihr Herz, Schläge gegen die Seele. Kevin war tot, Kevin lebte... Kevin stellte sich gegen sie, Kevin half ihr nicht, Kevin bedrohte sie. Jenny sah ihm in die eiskalten Augen, seine Waffe auf ihren Körper gerichtet und die junge Polizistin völlig unfähig etwas zu sagen... ausser einem beinahe tonlosen "Ich liebe dich doch...". Hatte er sich in diesem Moment erinnert? Sah er in diesem Moment in dem zitternden Bündel seine Freundin, die Frau die er liebte und nicht die Frau, die ihn vor Jahren in einer dunklen Gasse niedergestochen hatte.
    Patrick stand plötzlich mit dem Rücken zu Wand... im wahrsten Sinne des Wortes. Auch er fühlte sich elend. Sein Plan war perfekt, perfide und hinterhältig. Er hatte nur einen Haken... er drohte gerade zu kippen, als er im Rücken die kalte Kellerwand und an der Stirn den Lauf der Waffe, die Kevin fest in der Hand hielt. Diesmal war er es, der von den blauen Augen des Polizisten an die Wand fixiert wurde, doch diese Augen waren unsicher, Kevins Mund stand offen und er schien schwer zu atmen, als würde er Höllenqualen leiden.



    Patrick kannte diese Höllenqualen. Warum, zum Teufel, er sich auch gerade jetzt erinnert hatte... ihm wurde gerade bewusst was er angerichtet hatte. Ihm wurde bewusst, dass er vor zwei Stunden seinem Leben ein Ende bereitet hatte... einerseits, in dem er seinem besten Freund erwürgt hatte, andererseits dass er tatenlos zuließ, dass Patrick einen Polizisten niederschoß. "Was willst du machen, hmm? Willst du mich erschießen?", fragte er provokant. Er hatte es mitbekommen, dass ihn der Mord an seinem Freund so sehr mitnahm und traute dem Polizisten nicht zu, kaltblütig noch einen Mord zu begehen. "Na mach doch... drück ab.", sagte er und spürte das kalte Metall noch fester gegen die Haut an seiner Stirn gedrückt.
    "Warum?", fragte Kevin beinahe tonlos, und das Zittern seines Arms war deutlich an Patricks Stirn zu spüren. "Warum hast du mir all diese Lügen erzählt?" Dass er sie erzählt hatte, um Kevin zu einem perfekten Werkzeug zu machen, konnte sich der Polizist denken. Aber aus welchem Grund? "Rache, mein Freund.", sagte Patrick beinahe höhnisch und spürte, dass sein Gegenüber nicht sofort merkte, was Patricks Antrieb war. "Du hast meinen besten Freund getötet. Du hast Peter vom Dach gestoßen."



    Es war nur dunkel in Kevins Erinnerung, als Patrick diesen Namen erwähnte, zusammen mit der Situation auf dem Dach. Er sah Ben an einem Seil, der sah Janine verbluten und er sah, wie Peter ihn ansah, mit irrem Blick bevor er sich vom Dach der Fabrik in die Tiefe fallen ließ. "Aber dein Tod würde dich nur befreien... und du sollst niemals mehr frei sein, Kevin Peters!", hörte er tief in seinem Kopf. "Peter... er... er hat Janine getötet. Und nicht Ben...", stammelte der Polizist, und das höhnische Lachen von Patrick stach ihm ins Herz. "Ja... aber dafür hast du deinen besten Freund auf dem Gewissen." Worte, spitz und tödlich wie Speere trafen Kevin ins Herz... und Jenny, die immer noch gefesselt und hilflos im Stuhl saß ebenso.
    "Was... was sagt er da?", flüsterte sie, als ihr Kopf begriff, was Patrick da gerade sagte. "Du hast schon richtig gehört, Schätzchen.", sagte der Verbrecher in aller Seelenruhe, während Kevin kurz vor einem mentalen Ausfall stand, in einer Verfassung, wie Jenny ihn bisher nur einmal gesehen hatte. "Kevin hat Ben Jäger getötet. Er hat ihn eigenhändig in einem Parkhaus in Hamburg erwürgt." Es war, als lese Patrick eine Anklageschrift vor, bevor Kevin zum Henker geführt wurde, während dessen Augen sich mit Tränen füllten. Sein Blick wurde verschwommen, er biss die Zähne aufeinander, bis der Kiefer schmerzte.



    "Kevin... Nein. Das ist nicht wahr... sag mir bitte, dass das nicht wahr ist.", stammelte Kevins Freundin mit tränenerstickter Stimme. Sie hatte mit so vielem gerechnet, sich jedes Horrorszenario ausgemalt, was ihr hier widerfahren könnte, aber dieses Nachricht zog ihr den Boden unter den Füßen weg. Und sie bekam Gänsehaut als sie in Kevins verzerrtes Gesicht sah, dem Tränen aus den schimmernden Augen liefen, als er sie ansah: "Ich... ich habe mich an nichts erinnert. Er... er hat gesagt... er hat gesagt, Ben hat meine Schwester umgebracht.", sagte der Polizist erst leise mit weinerlicher Stimme, bevor er laut rief: "Er hat alles über mich gewusst! Ich konnte mich an nichts mehr erinnern!!" Als Jenny in diesem Moment bewusst wurde, dass der Mann, den sie liebte, die Wahrheit sagte, begann sie hemmungslos zu weinen. Kevin hatte Ben getötet... ihr Leben brach gerade mehr zusammen, als sie es sich jemals ausgemalt hätte, als sie hier unten lag. Das war schlimmer als eine Vergewaltigung, schlimmer als jede körperliche Folter.
    Patrick hatte die Hände, während Kevin in Richtung Jenny sah langsam sinken lassen. Er müsse nur an seine Waffe am Hosenbund kommen, und er würde Kevin ausschalten. "Du kannst... du kannst doch nicht einfach deinen besten Freund töten! An sowas muss man sich doch erinnern!!", schrie Jenny ausser sich und trug nicht zur Deeskalation bei... im Gegenteil.



    Kevin biss auf die Zähne, sein ganzes verpfuschtes Leben zerbrach vor seinem inneren Auge... er sah seine Schwester sterben, sah seinen Vater, wie er ihn schlug und fühlte, als würde er unter Drogen im Wasser schweben, nachdem er gerade von der Brücke gefallen war. Doch er war im hier und jetzt, völlig clean und mental am Ende. Gerade als Patrick mit den Händen auf Höhe seiner Hüfte war, stieß er ihm den Lauf gegen die Stirn und schrie: "Lass deine verdammten Hände, wo sie sind!!", was Patrick betont langsam befolgte. Jenny erstarrte bei Kevins Stimme auf dem Stuhl... sie hatte ihn weinend festgehalten, als er nach einem Drogentrip vor ihr kniete und sie anflehte, ihn zu retten. Niemals mehr danach oder davor, hatte sie ihn in so einem Zustand gesehen. Selbst wenn er traurig, verzweifelt oder am Boden war, blieb er ruhig. Ließ er nichts nach aussen... jetzt sah sie ihn völlig nackt. Zitternd, tränenüberströmt und am Ende. Und sie wusste selbst nicht, was er nun tun sollte. Sie musste ihn schützen... egal was er getan hatte. Sie konnte ihn weder dazu ermutigen, Patrick abzuknallen noch konnte sie jetzt die Wut auf ihn herauslassen, wenn sie daran dachte, dass er Ben getötet hatte. Wobei es nicht wirklich Wut war, was sie fühlte... sondern ein tiefe Traurigkeit, eine absolute Fassungslosigkeit. Eine Leere, ein Vakuum im Kopf. Ihr war es auch ganz und gar unmöglich, rational darüber nachzudenken, wieviel Schuld er selbst wirklich hatte, wegen seines Gedächtnisverlustes und Patricks Intrige...



    Die junge Frau wunderte sich über sich selbst, als sie ihre Stimme hörte. Sie war noch immer tränenerstickt, zittrig und stockend... aber ihre Worte klangen so... vernünftig: "Ok Kevin. Du bist trotzdem Polizist. Du... du nimmst jetzt irgendwas, was hier herumliegt... und bindest ihn fest. Und... und dann rufen wir die Kollegen." Ihre Stimme klang für Kevin weit weg. Plötzlich hatte er es wieder... das Rachebedürfnis. Dieses Gefühl, das ihn nachts wach hielt, dass ihn nach Jennys Tod nicht in Ruhe ließ, das ihn zur Polizei trieb und in Peter Beckers Arme. Und was durch dessen Selbstmord nicht befriedigt wurde. "Du warst dabei!", sagte er zitternd und Patrick, der die Arme wieder oben hatte, nickte: "Ja, ich war dabei. Und ich habe es genossen, genau wie Peter auch." Er grinste wieder, ein überlegenes dreckiges Grinsen, das Kevin an Peter erinnerte, kurz vor seinem Tod. "Du hast Ben im Parkhaus gekillt, und ich den kleinen Bullen. Dein Leben ist vorbei, Kevin Peters. Am besten ist, du jagst dir selbst eine Kugel durch den Kopf."
    Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und die Waffe fühlte sich glühend heiß in seiner Hand an. "Kevin... Kevin, bitte tu es nicht!", begann Jenny zu flehen, denn sie hatte plötzlich eine schreckliche Vorahnung, als sie in die Augen ihres Freundes sah. Sie erinnerte sich an Bens Erzählung, wie entschlossen er wirkte, als er mit der Waffe auf Becker zielte, und sich der Freund des Polizisten sicher war, dass Kevin abgedrückt hätte. Genau so musste Kevins Blick gewesen sein, obwohl Jenny ihn selbst nie gesehen hatte. Doch plötzlich war Kevins Blick für einen Moment klar, und das Zittern schien aufzuhören. "Du entkommst mir nicht.", sagte er mit leiser Stimme. "Das wagst du nicht.", waren Patricks Worte, doch Kevin antwortete: "Ich hab nichts mehr zu verlieren..."



    "Tu es nicht, Kevin... tu es NICHT! KEVIN!! NEIN!!!" Jennys verzweifelter Schrei mischte sich mit dem dumpfen Schuss, der den Raum erfüllte. Der Polizist hatte den Kopf zur Seite gedreht, in diesem Moment versuchte Patrick noch nach der Waffe zu greifen. Mit der Hand fest um den Griff verkrampfte sein Körper, Blut und Gehirn verteilten sich durch die größere Austrittswunde am Hinterkopf an die Wand, an der der leblose Körper des Verbrechers herunterglitt und dort, gruselig zuckend, sitzend zur Seite glitt. Der Polizist ging einen Schritt zurück, sein Denken setzte jetzt völlig aus. Jenny war aus seinem Blickfeld verschwunden, war für ihn für einen Moment nicht mehr existent. Weder hörte er ihre Schreie, noch nahm er wahr, dass sie noch da war und alles mitansah, was gerade passierte.
    Er war am Höhepunkt seines mentalen Absturzes. Er sah den toten Körper von Patrick in einer Blutlache liegen, er sah Ben leblos am Boden, seinen besten Freund und er sah vor seinem inneren Auge Semir um Ben weinen. Kevin konnte das nicht ertragen. Er konnte alles nicht mehr ertragen. Er dachte an die Nächte in der Dusche, auf Drogen, die Waffe in der Hand und den Lauf in seinem Mund, und er erinnerte sich just in diesem Moment an die Sekunden, als er auf dem Dach seiner damaligen Wohnung auf dem niedrigen Vorsprung balancierte und das Schicksal entscheiden ließ, zu welcher Seite er das Gleichgewicht verlor. Damals fiel er zum rettenden Dach. Wäre er nur zur anderen Seite gekippt... alles wäre so schön gewesen. Alles wäre so einfach gewesen... und alles wäre jetzt gut.



    Kevin hielt sich die Waffe an die Schläfe. Er legte den Finger an den Abzug, ohne sich nochmal zu Jenny herumzudrehen. Er hörte ihren verzweifelten Schrei nicht. Er hörte nur den Schuss, einen lauten Knall, spürte den Schmerz und den dumpfen Aufschlag auf dem harten Boden.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Dienstwagen - 14:15 Uhr



    Semir hatte auf jegliche Dienstvorschrift, auf Vorhaltungen von Schwandt dass Hamburg nicht sein Dienstgebiet sei, gepfiffen. Mit Blaulicht, Sonderrechten und all seiner fahrerischen Routine und Erfahrung bahnte er sich den Weg durch die Hamburger Innenstadt. Mindestens zweimal hatte ein Blitzer die beiden erwischt mit deutlich überschrittenen Höchstgeschwindkeiten. Ben hielt sich neben ihm gewohnterweise mit der rechten Hand am Haltegriff oberhalb des Fensters fest und ließ seinen Partner mit den üblichen Floskeln zu seiner Fahrweise in Ruhe. Beide waren angespannt, beide waren in Sorge und immer noch über Kevins Verhalten verwirrt... auch wenn sich das geistige Dickicht langsam lichtete, und beide Polizisten ein Puzzleteil nach dem anderen zusammensetzten.
    "Wenn dieser Patrick mit Peter Becker befreundet war, hat er guten Grund, sich an Kevin zu rächen.", wiederholte Semir nochmal, während er auf der zweispurigen Hauptstraße an einem roten Mercedes vorbeizog. "Aber wie passt Kevins Gedächtnisverlust da rein? Das kann doch alles nur ein großer Zufall sein.", antwortete Ben und spürte, wie seine Stimme vor Aufregung leicht zitterte. "Mann Mann, geht das da vorne auch ein bisschen schneller!!", rief sein Partner wütend und schlug mit der flachen Hand aufs Lenkrad.



    Sie kamen am Ziel an. Der Eingang des Hauses lag nicht an der Straße, zwischen den Häuserzeilen in einer Gasse, in der nichts zu sehen war, ausser eine Motocross-Maschine. Die Gasse führte durch bis zur Parallelstraße, auf der Ben und Semir Autos fahren sehen konnten, als sie anhielten und langsam in die Gasse zwischen den zwei alten Backsteinhäusern gingen. Ben hatte ein mulmiges Gefühl... es war eine Spur, vielleicht auch eine etwas heissere Spur als letzte Nacht. Trotzdem war sein Bauchgefühl ein anderes als gestern Nacht, als sie vor dem dunklen Bauernhaus standen. Das Klopfen in seiner Brust, die feuchten Hände... als wollten ihm feine Antennen sagen, dass sie hier das finden würden, was sie suchten...
    Gerade wollten sich die beiden besten Freunde absprechen, ob man klingeln sollte, oder doch so überzeugt von der Spur waren, dass man den direkten Weg durch die Tür nehmen sollte, als sie das laute, dumpfe Knallen im Inneren des Hauses hörten. Mit aufgerissenen Augen sahen sich die beiden Männer an. "Scheisse... das klang wie ein...", begann Semir, als sein Wort von weiteren Schüssen unterbrochen wurde. Damit war die Frage, wie man das Haus betreten sollte, bereits geklärt und die Polizisten zogen ihre Dienstwaffe, bevor sie sich auf die Haustür zu bewegten.



    "Auf drei?", fragte Ben und wollte bereits eine Hand auf die Klinke legen, als Semir aus seiner Deckung nickte. "Dr...", und ein lautes Krachen folgte. Ben konnte gar nicht so schnell reagieren, als sich die alte Haustür überraschend nach aussen öffnete und eben jene Tür für eine schmerzhafte Begegnung sorgte. Das Krachen war das Geräusch, als Türkante gegen Bens Stirn und Augenhöhle knallte und der Polizist von dem heftigen Sturz nach hinten fiel, wankte und das Gleichgewicht verlor. Carsten, der aus der Tür geflüchtet kam, schien den kurzen Widerstand gar nicht gemerkt zu haben, rannte aus der Tür und bog nach rechts in die Gasse ab. "Stehn bleiben, Polizei!!", schrie Semir laut, der links von der Tür in Deckung stand und auf den Flüchtenden zielte. Carsten blickte nur für einen Moment herum, seine Augen weit aufgerissen, als stünde er unter Schock. Er riss den Arm mit der Waffe hoch und die Schüsse knallten durch die Gasse, so dass Semir sich in das Haus in Deckung wand, während Ben auf dem Asphalt liegend versuchte, so nah wie möglich ans Haus und weg aus dem Sichtfeld des Flüchtenden zu rollen.
    Carsten lief weiter, er war in der Gasse in die andere Richtung abgebogen, als die beiden Polizisten vorher gekommen waren und die Motocross-Maschine passiert hatten. Würde Semir jetzt zurück zum Dienstwagen laufen, stünde er auf der falschen Straße, und der Flüchtige wäre über alle Berge. Also lief er zur Motocross-Maschine, an der ein Helm hing und der Schlüssel steckte, als Carsten das Ende der Gasse erreicht hatte und dort in einem kleinen Lieferwagen mit Ladefläche stieg. "Alles klar, Ben?", fragte Semir gehetzt seinen Partner, der sich langsam wieder auf die Beine stemmte. Über seinem Auge war ein deutlicher Kratzer zu sehen, aus dem es leicht blutete. "Jaja...", stöhnte der. "Ich schnapp mir den Kerl! Sieh du im Keller nach Jenny!!" Dann ließ der Polizist die Maschine aufheulen, setzte den Helm auf und sauste durch die enge Gasse Richtung Hauptstraße. Natürlich war es gefährlich, Ben jetzt hier alleine zu lassen. Schließlich mussten sie vermuten, dass Patrick noch im Haus war zusammen mit Kevin. Wenn aber niemand da war, und der Flüchtige verschwand, hatten sie nichts... und das wusste auch Ben, der mit gezückter Waffe langsam das Haus betrat.



    Den Blick, dieser Ausdruck in Kevins Augen, als er die Waffe gegen seine Stirn hielt und den Finger um den Abzug legte... er hatte sich für immer in Jennys Seele hineingebrannt. Sie merkte, dass er völlig geistesabwesend war, völlig gefangen in einer anderen Welt. Selbst wenn er so etwas Schlimmes wie einen Suizid durchführen wollte... mit etwas klarem Verstand hätte er Jenny niemals angetan, dabei zu sehen zu müssen. Doch das war ihm jetzt egal... alles war egal, alles war sinnlos geworden. Er war ein Mörder.
    Der Mann, der seinem Freund half, Kevin fertigzumachen, war es der ihm das Leben rettete. Carsten stürmte gerade die Kellertreppe nach unten und kam zur Tür herein, nachdem er vorher den dumpfen Schuss im Keller hörte, mit dem Kevin seinen Freund Patrick hinrichtete. Für einen Moment stand er erschrocken, mit Entsetzen in den Augen und seiner eigenen Waffe in der Hand im Türrahmen, als er den zuckenden Körper von Patrick sah, das Blut an der Wand und Kevin mit der Waffe an seinem Kopf. Er hob den Arm und drückte ab, sah gar nicht wo er hinschoß, hörte nur das Schmerzstöhnen von dem Polizisten, der zu Boden fiel. Und der hörte nun wieder deutlicher, vom Schmerz in seiner Schulter vervielfacht, das Schreien seiner Freundin Jenny, die Panik bekam von einem Querschläger getroffen zu werden. Alles geschah in Sekundenbruchteilen, gerade am Boden angekommen griff Kevin nach der Stuhllehne und kippte Stuhl inklusive Jenny nachhinten, von dem Angreifer weg. Von seiner Position aus konnte er nun nur Jennys zappelnde Beine treffen. Es war mehr ein Reflex des jungen Polizisten, keine rationale Handlung... dazu war er in diesem Moment nicht in der Lage. Auch die zwei Schüsse, die er in Richtung des Türrahmens abfeuerte, waren weder gezielt noch gewollt... sein Hirn funktionierte einfach im Notbetrieb.



    Er spürte warmes Blut am Rücken, das aus dem hinteren Einschussloch unter seinem Oberteil lief, und er sah wie Carsten sich von der Tür abwandt und flüchtete. "Kevin?? Kevin???", schrie Jenny, die immer noch am Stuhl gefesselt nun auf dem Rücken lag. Alles passierte so schnell, und die Polizisten war sich für einen Moment gar nicht sicher, ob nun Kevin wirklich abgedrückt hatte und sich erschossen hatte, oder was überhaupt passiert war. Der Gerufene wollte etwas sagen, als er von der angestrengten Schusshaltung wieder auf den Boden zusammensackte. Sein Herz wollte explodieren, sein Kopf brannte und der Schmerz in der Schulter breitete sich über den ganzen Rücken aus. Was sollte er sagen? Er hatte Ben getötet... und er hatte nicht mal mehr die Kraft, sich eine Kugel in den Kopf zu jagen.
    Sein Blick verschwamm, das Rufen von Jenny wurde dumpfer: "Kevin? Kevin??" Und auch die Gestalt, die jetzt mit einer Waffe in der Hand im Türrahmen auftauchte, konnte er nicht sofort erkennen doch sein Kopf reagierte, und hob die Waffe. Anhand der verschwommenen Körperhaltung konnte der junge Polizist aber erkennen, dass auch die Gestalt die Waffe auf ihn richtete. Jenny konnte aufgrund ihrer misslichen, gekippten Lage die Gestalt gar nicht erkennen... aber die Stimme erkannte sie sofort.



    "Kevin... lass die Waffe fallen!" Ihr Herz setzte aus, und der Name kam nur geflüstert über ihre Lippen. "Ben..." Auch Kevin atmete schwer, das Gesicht wurde klarer je näher es kam, doch die Waffe senkte sich nicht. Die Haare ein wenig zersaust, jedoch nicht so sehr wie während ihres Kampfes im Parkhaus. Die Platzwunden noch frisch, und seine Augen diesmal nicht geschlossen, als er Ben eben verlassen hatte, sondern wach und konzentriert auf Kevin gerichtet. Und erleichtert... erleichtert dass Jenny noch lebte. Erleichtert, dass Kevin noch lebte. Nur Patrick bot einen unschönen Anblick, und die Tatsache, dass Kevin die Waffe nicht niederlegte, hielt seinen Puls aufrecht. "B... Ben...", keuchte der junge Polizist jetzt leise und ungläubig. "Erkennst du mich? Du erkennst mich!", sagte der etwas überrascht, aber setzte mit Überzeugung hinzu: "Ja, ich bins. Ben! Dein Freund!! Dein Partner!" Doch obwohl er das überzeugend sagte, ließ sein Kopf es nicht zu, dass er die Waffe senkte, zu frisch war das Ereignis im Krankenhaus. Aber er hätte sowieso verloren... denn im Gegensatz zu Kevin funktionierten bei Ben alle moralischen und ethischen Instanzen im Kopf. Er würde, er könnte niemals zuerst schiessen in dieser Situation. Er schützte sich, aber er würde so lange so stehen bleiben, bis Kevin die Waffe sinken ließ... oder schoß.
    Aber Kevin ließ seinen Partner nicht zu lange in dieser Situation... mit einem leisen, kaum hörbaren aber mit deutlichem Schluchzen versetzem "Oh mein Gott...", senkte sich die Waffe in Kevins Händen langsam zu Boden, bis die Mündung nicht etwa auf Ben, Jenny oder seinen Kopf sondern auf den Boden zeigte. Er sah Ben an, von dem er dachte, er hätte ihn umgebracht, und er sah zu Jenny, seine Freundin, die er liebte, die versuchte ihn anzusehen, so gut es ihr gelang. Und die angekettet an dem umgekippten Stuhl eine Gänsehaut bekam, die sie nicht mehr loslaß, als sich das, für sie fast immer unerschütterliche Gesicht zu einer traurigen Fratze verzerrte, bevor Kevin begann, zu weinen... hemmungslos, hilflos. Er weinte wie ein Kind, was er als Kind nie getan hatte...

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  • Hamburg - 14:20 Uhr



    Semir hatte nur für eine Sekunde ein schlechtes Gefühl, Ben alleine in das Haus zu lassen. Doch sein unerschütterliches Vertrauen in seinen jüngeren Partner ließ dieses schlechte Gefühl der Sorge sofort wieder verschwinden. Er konnte sich auf ihn verlassen, und wusste dass es jetzt auch wichtig war, den Flüchtigen nicht entkommen zu lassen. Wäre das Haus leer, weder Jenny noch Kevin hielten sich dort auf, war der Mann, der es jetzt so eilig hatte, der Einzige der Hinweise liefern konnte. Also entschied sich Semir zur Verfolgung. Wäre er in die entgegengesetzte Richtung zu seinem Dienstwagen gerannt, hätte er den kompletten Straßenzug umfahren müssen, und hätte den Klein-Transporter mit offener Ladefläche vermutlich nie wieder gefunden... also entschied er sich für die Moto-Cross-Maschine, die in der Gasse stand.
    Der erfahrene Polizist hatte den Motorrad-Führerschein, auch wenn er selbst privat kein Motorrad besaß. Von den kleinen, wendigen und schnellen Moto-Cross-Maschinen war er aber schon immer begeistert und hat diese vor allem früher öfters mal zweckentfremdet und ist damit auf Verbrecherjagd gegangen. Jetzt ließ er den Motor der Maschine heulen, als er sich vorsichtig durch die Gasse manövriert, am Ende jener abbremste um keinen Fußgänger auf dem Gehweg über den Haufen zu fahren, und gerade noch zu sehen, wie sich der Transporter in den Verkehr einfädelte.



    Carsten hatte die Nerven verloren. Das Bild seines toten Freundes, dass Kevin sich scheinbar erinnerte, wovor er die ganze Zeit Angst hatte... es hatte zum kompletten mentalen Zusammenbruch geführt, an dessen Ende nur noch die überstürzte, unüberlegte Flucht stand. Er wusste nicht wohin, er wusste nicht was er als nächstes tun sollte... er musste nur weg. Unwissend, ob er Kevin jetzt tatsächlich getötet hatte oder nicht. Unwissend, was ihm diese Erkenntnis letztendlich jetzt noch bringen sollte. Er fädelte seinen Wagen in den fließenden Verkehr ein, übertrat aber dann sämtliche Verkehrsregeln, vor allem als er die ihm bekannte Moto-Cross-Maschine im Rückspiegel sah. "Verfluchte Scheisse..", rief verzweifelt, schlug aufs Lenkrad und überfuhr eine rote Ampel. Nur um Zentimeter entkam er einem Zusammenstoß.
    Semir musste die Lenkerbremse ziehen und das querschleudernde Motorrad mit all seinem Können abfangen, um nicht in eins der havarierten Autos zu prallen. Mit schnellem Blick sah er, dass die Unfallopfer sich stöhnend aus ihren Wagen schälten und gab wieder Gas. Ihm fiel es mit der wendigen Maschine deutlich leichter, sich durch den Stadtverkehr zu zwängen und sofort wieder dicht an den Lieferwagen heran zu fahren. Und aufgrund seines Gewichsnachteils würde es Carsten auch nicht gelingen, Semir auf der Autobahn davon zu fahren.



    Nur... wie sollte Semir den schweren Transporter aufhalten? Bevor sich der erfahrene Polizist über die Frage Gedanken machen konnte, sah er einen Arm aus dem Fahrerseitenfenster herausragen, mit einer Waffe in der Hand. Semir zog am Gaszug, fuhr auf wenige Zentimeter an den Transporter heran und Richtung Beifahrerseite. Die Schüsse, die jetzt aus der Waffe knallten, konnten ihn unmöglich erreichen, sie prallten entweder gegen die Ladefläche oder sausten über Semirs Helm. Viele Autofahrer legten auf dem Weg zur Autobahn Vollbremsungen hin, als Kugeln in ihre Motorhaube einschlugen. Semir zog mit einer Hand seine Waffe aus dem Halter und entsicherte sie am Oberschenkel. Mit einem kurzen Schlenker aus seiner Deckung feuerte er mehrmals in Richtung des Seitenfensters und dem ausgestreckten Arm, bevor er wieder in Deckung fuhr. Das ganze vollführte er noch, während Carsten seinerseits Schlangenlinien fuhr, um anderen Autos auszuweichen.
    Bei der nächsten Kreuzung achtete der Flüchtende wieder nicht auf die Ampelanlage, wieder hörte Semir durch Motorenlärm und Helm das Quietschen und Krachen. Diesmal passierte der Unfall hinter ihm, und beinahe konnte er spüren, wie ein abgerissener Kotflügel eines Unfallautos seinen Rücken streifte und ihn beinahe aus dem Gleichgewicht brachte.



    Das nächste Problem für Semir deutete sich an, als er auf die Tankuhr der Maschine sah... der Zeiger hatte sich bedrohlich zur 0 und der rot blinkenden Lampe bewegte, die unmissverständlich den Zwang zum Tanken anzeigte. Gerade fuhr Carsten seinen Transporter in Richtung der Autobahn. Er hatte den Beschleunigungsstreifen bereits erreicht, der sich durch di dicken gestrichelten Linien von der Autobahn abgrenzte. Der Transporter wechselte auf die normale Autobahnspur, da der Beschleunigungsstreifen sich schnell wieder in die nächste Abfahrt verwandelte, und die AUtobahnspur und Abfahrt durch eine bewachsene Böschung getrennt wurde. Der Verbrecher sah, als er die Böschung erreichte erst wieder in den Rückspiegel und konnte für einen Moment seinen Verfolger nicht mehr sehen.
    Semir wusste, dass er die Verfolgung nicht mehr lange aufrechterhalten konnte. Verstärkung würde zulange dauern. Er wählte die Abfahrt, drehte den Gaszug bis zum Anschlag und riss das Vorderrad der leichten Maschine nach oben, als er nach links Richtung Böschung abbog. "Ready for Take-Off!", rief er sich selbst unterm Helm zu, als die profilierten Räder erst das Grün berührten und dann von den Büschen ausgehebelt wurden, und Maschine samt Fahrer, der sich gekonnt vom Sitz erhob und sein Gewicht auf die Fußpedale stützte, über den Standstreifen segelten. Im richtigen Moment drückte Semir sich mit ganzem Gewicht in den Sitz, und die Maschine ging über dem Transporter in Landeposition, das Hinterrad krachte auf die Ladefläche, die Motorradgabel schlug auf die hochstehende Flächenbegrenzung auf. Danach kippte die Maschine langsam zur Seite, den harmlosen Sturz konnte Semir mit einem kontrollierten Abrollen auffangen.



    Carsten spürte mit einem Ruck im Lenkrad, dass etwas nicht stimmte. Doch der alte Transporter hatte vom Führerhaus keine Scheibe, um auf die Ladefläche zu sehen. Nur durch seinen Seitenspiegel sah er nur das Vorderrad der Maschine, das über seine Ladefläche herausragte. "Fuck!!" Semir hatte sich in Windeseile mit gezückter Waffe über die Begrenzung geschwungen, zur Beifahrertür gehangelt und riss diese auf. "Waffe weg und anhalten!" Mit einer Hand hielt Semir sich an der Ladeflächenbegrenzung fest, mit der anderen Hand zielte er auf Carsten, der ihn geschockt ansah. Im Reflex tat er es Semir gleich, zielte auf den Polizisten und sah nicht mehr auf die Straße. "Lass die Waffe fallen, du Sackgesicht!", rief Semir nochmals, doch anhand des Zitterns bemerkte er, dass der Verbrecher nicht mehr rational dachte, geschweigedenn handelte.
    Als dieser dann immer noch keine Anstalten machte, die Waffe wegzulegen, sondern im Gegenteil den Finger um den Abzug legte, reagierte Semir schneller. Die Schulter oder den Schussarm konnte er aus dieser Position nur sehr schwer treffen, also entschied er sich für Carstens Oberschenkel. Jeder Mensch ließ würde bei diesem Schmerz erstmal von jedem Vorhaben abkommen, so auch Carsten. Die Waffe fiel klackernd zu Boden, sofort presste er jene Hand auf den blutenden Oberschenkel. Semir schwingte sich in das Führerhaus schob die Waffe mit dem Fuß Richtung Beifahrertür und zog langsam, kontrolliert die Handbremse des Transporters, der auf der rechten Spur zum Stehen kam. Carsten wimmerte und stöhnte ob seiner Schmerzen, doch der Polizist ging auf Nummer sicher. Er zerrte ihn zur Beifahrerseite aus dem Transporter, wo er ihm erstmal Handschellen anlegte, dann die Blutung stoppte und Verstärkung rief.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hamburg - 14:40 Uhr



    Es war eine unwirkliche, bizarre und verstörende Situation, als sich von allen Beteiligten langsam die Spannung löste. Das Bild von Kevin, am Boden sitzend, in die Hände schluchzend würde Ben vermutlich lange nicht aus dem Kopf bekommen. Genauso wie die Tatsache, dass weder er noch Jenny sich dazu durchringen konnten, ihren Kollegen tröstend in den Arm zu nehmen. Etwas hielt sie davon ab, eine merkwürdige Befremdheit dem jungen Mann gegenüber. Bei Ben rührte sie von der Begegnung im Parkhaus, seinem Blick als er die Hände um Bens Hals gelegt hatte und zudrückte. In Jennys Augen blickten sie immer noch in Kevins Waffe, als Ben ihre Fesseln löste und ihr auf die wackeligen Beine half. Sie schluchzte auch, ihre Augen hatten sich mit Tränen gefüllt, doch es war eher ein stummes, lautloses Weinen.
    Ben hatte die Waffen eingesammelt, Jenny an der Hand genommen und nach oben geführt. Eine kurze und stumme Geste war es, als die junge Polizistin mit der Hand nur kurz an Kevins Schulter entlang streifte und sie sich nicht sicher war, ob er diese Berührung überhaupt gespürt hatte. Semir hatte bereits von der Autobahn aus, nachdem er Carsten festgenommen hatte, RTW und Verstärkung aus Hamburg zur Adresse von Carsten geschickt. Er rief direkt in Schwandts Abteilung an, genauer gesagt bei Gregor, der alles Weitere veranlasste. Es war keine Geheimniskrämerei mehr nötig.



    Jenny hatte sich draussen auf der Steintreppe vor der Haustür niedergelassen, das Sonnenlicht blendete sie, nach Tagen im dunklen Keller, so sehr dass ihre Augen schmerzten. Gedanken prasselten auf sie ein, und wieder stiegen ihr die Tränen in die Augen, wenn sie an das völlig verstörte Bündel Mensch aus dem Keller dachte, das mal ihr Freund war. Der Mann, zu dem sie aufblickte, der äusserlich wie ein unerschütterlicher Felsen im Ozean wirkte, an dem alles abprallte. Von dem nur wenige wussten, wie verletzlich er wirklich war, weil er diesen Zustand perfekt überspielen konnte. Durch Introvertiertheit, Schweigsamkeit, manchmal auch Arroganz. Jetzt hatte er sein Inneres vollkommen nach Außen gekehrt, auf eine brutale Art und Weise.
    Dieser Anblick hatte Jenny geschockt, aber eben auch, dass Kevin sich von Carsten so sehr manipulieren hat lassen, dass der junge Polizist Jenny töten wollte. Alleine dieser Gedanke verschaffte der jungen Frau eine Gänsehaut und ließ selbst die Erleichterung, die Freude über die Tatsache dass ihr totgeglaubter Freund noch lebte, in den Hintergrund rücken. In diesem Moment auf der Steintreppe wusste sie nicht, ob sie das jemals vergessen könne, ob sie sich jemals ohne diesen Gedanken von Kevin in den Arm nehmen lassen könnte.



    Kevin hatte seine Emotionen unterdrückt, in dem Moment, als er in der Stalking-Akte, die Patrick über ihn angelegt hatte, sein Leben seit Peter Beckers Tod nachgelesen hatte. Alles, was er vergessen hatte durch die Kopfverletzung, war mit Bildern dokumentiert... genug, um die Schubladen wieder zu ordnen. Er war Polizist... er hatte seinen besten Freund umgebracht. Dieser Gedanke überstrahlte alles andere, als er wie paralysiert aus dem Zimmer herauskam um dann mit Patrick in den Keller zu gehen. Die Tatsache dass Patrick bei dem Überfall auf seine geliebte Schwester dabei war, ließ ihn in den Rachemodus wechseln, in dem er bereits auf dem Dach der Fabrik war, als er dabei war Peter zu töten, und dies nur durch Bens Lebensgefahr verhindert wurde. Diesmal war niemand da, den er retten musste... und niemand da, der ihn retten konnte.
    Bis kurz vorher war Kevin kein Mörder. Er hatte Ben nicht getötet, doch das wusste er nicht. Jetzt war er ein Mörder, den er hatte eiskalt Patrick erschossen, vor Jennys Augen. Er hatte ihre Anwesenheit komplett ausgeblendet, unbemerkt und nicht absichtlich. Alle Emotionen, die er bis dahin unterdrückt hatte, kamen zum Vorschein, als Ben auftauchte und sein Leben plötzlich wieder einen Sinn ergab. Kevin hatte ihn nicht umgebracht, er hatte Jenny nichts getan... zumindest nicht direkt. Dass er bereits seit zwei Tagen in dem Haus war, in dem sie gefangen gehalten wurde, würde ihm erst später bewusst werden.



    "Komm Kevin... wir gehen nach oben. Komm...", sagte Ben leise, dessen Gefühle nicht weniger durcheinander lagen, der aber innerlich in den Arbeitsmodus schaltete. Er griff Kevin am Oberarm um ihn mit sanfter Gewalt hochzuziehen, und mit ihm nach draussen zu gehen, wo Semir mit dem verletzten und notdürftig verarzteten Carsten auftauchte. Auch er war erschüttert und gleichzeitig erleichtert, als er sah, dass es Ben gut ging, dass Jenny noch lebte und Kevin offenbar nicht nochmal versuchte, Ben umzubringen. Der Zustand ihres jungen Kollegens aber versetzte auch Semir einen Stich in den Magen. "Jenny... ist alles okay? Bist du verletzt?", fragte er hastig, als er aus dem Transporter hüpfte und Jenny nur den Kopf schüttelte: "Es ist schon okay..."
    Ben wollte die Situation, solange sie noch unter sich waren, nutzen. Es sollte kein Verhör werden, aber es brannten dem jungen Polizisten soviele Fragen auf der Seele, dass er nicht warten wollte, bis Schwandt oder irgendein interner Ermittler diese Fragen stellte: "Kevin... was ist passiert. Kannst du dich erinnern?" Kevin sah seinen Freund nicht an. Er hatte sich beruhigt, seine Augen waren gerötet und wie nach einem Marathon schwer atmend, blickte er auf die gegenüberliegende Wand.



    "Ich... ich hab nichts mehr gewusst. Ich... ich hab niemanden mehr gekannt. Ich war wieder in Köln und bin zu dem einzigen Ort gegangen, der mir bekannt vorkam. Und dort war Patrick." Die drei um ihn herum hingen an seinen Lippen, doch Fragen stellte nur Ben. "Wieso hast du Patrick erkannt, aber uns nicht?" Kevins Sätze kamen zögerlich, stockend und mit zittriger Stimme: "Ich... ich weiß nicht. Von früher ist alles in meinem Kopf, aber die letzten... letzten Jahre sind... waren weg. Er... er hat mir gesagt dass..." Jetzt erst blickte er zuerst zu Semir, dann zu Ben. "... dass ihr Janine getötet habt. Er... er war der Einzige, den ich erkannt habe und... und ich habe ihm das geglaubt." Während er sprach, schien er selbst fassungslos darüber, dass er auf die Intrige von Patrick reingefallen war. Jetzt, wo er sich erinnerte, schien alles so einfach und klar und schien er selbst so dumm zu sein.
    "Es tut mir so leid... ich... ich hätte dich fast umgebracht... ich hatte gedacht...", stammelte er in Bens Richtung, der ihm die Hand auf sein zitterndes Knie legte. "Es ist vorbei, Kevin. Es geht mir gut, okay?" Doch auch wenn Ben Kevin verzieh... in beiden Köpfen war die Situation präsent. Kevin mit den Händen an Bens Hals, Bens Gefühl der Beklemmung. Und in den Köpfen von Semir und Jenny die bloße Fantasievorstellung dieser Situation. "Warum hast du dich plötzlich erinnert?" "Ich... ich habe ein Fotoalbum gefunden. Patrick hat mich seit Beckers Tod beschattet... er... er wollte sich rächen. Er war bei dem Überfall auf Janine dabei..."



    Kevin, der sonst schweigsam und in sich gekehrt war, der nichts von sich preisgab, vollführte einen Seelenstriptease. Sollte sein Charakter sich durch den Gedächtnisverlust geändert haben? Wurde er zurückgeworfen in seinem Denken, in seinen Moralvorstellungen? Jenny zitterte bei diesem Gedanken um eine Antwort. Hätte der Kevin, der ins Flugzeug nach Kolumbien gestiegen war, Patrick vielleicht doch festgenommen, während der Kevin direkt nach Janines Tod den Vergewaltiger erschossen hätte? Sie blickte den Mann, den sie glaubte zu kennen und zu lieben an, und hatte das Gefühl, jemand Fremdes saß neben ihr. Ein fremder Mann mit Kevins Gesicht, Augen, Frisur und Stimme. Wieder kämpfte sie mit den Tränen.
    "Kevin... hast du dort unter den Mann erschossen, oder war es Notwehr?", fragte Ben dann, als er die Sirenen in der Ferne hörte. Der Polizist wusste um Kevins Rachegefühle, und um Kevins Skrupellosigkeit wenn es um die Mörder seiner Schwester ging... eigentlich hätte er sich die Antwort auch selbst geben können. Und obwohl Jenny gerade noch das Gefühl der Befremdung im Bezug auf Kevin hatte, antwortete sie schnell: "Ja!" Sie wurde von zwei Augenpaaren, Semir und Ben, gleichzeitig überrascht angeschaut, während Kevin mit einem Blick ins Nirgendwo schwieg. "Kevin?" Er nickte stumm... Semir glaubte ihm nicht, Ben hätte ihm gerne geglaubt...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Haus - 14:55 Uhr



    Jenny war einem Zusammenbruch nahe, denn wie ein Hammer traf sie die Nachricht, als sie glaubte, sie hätte das Schlimmste überstanden. Sie und Kevin wurden noch im Krankenwagen versorgt, bevor der junge Polizist von den ankommenden Kräften in den Streifenwagen geführt wurde. Man verzichtete auf Handschellen, denn niemand ausser den beiden Autobahnpolizisten und Jenny konnten überblicken, welche Rolle der junge Mann in diesem Fall gespielt hatte, zu uninformiert waren Schwandt und sein Mitarbeiter Gregor. Ben und Semir standen zusammen mit Jenny weiterhin vor dem Haus, und warteten was passierte... würde man ihn mitnehmen? Durch die Scheiben konnten sie sehen, wie die meiste Zeit Kevin sprach, und scheinbar die gleiche Story erzählte, die er auch seinen Freunden eben erzählt hatte.
    "Ich kann das alles nicht glauben...", flüsterte Jenny irgendwann, auf der Treppe sitzend und in sich eine tiefe Müdigkeit spürend. "Als er eben vor mir stand... die Waffe auf mich richtete. Wie ein Fremder. Ein fremder Mensch." Sie sah auf zu ihren beiden Kollegen. "Das war nicht Kevin. Das war irgendjemand anderes.", sagte sie leise. Ben konnte dieses Gefühl sehr gut nachempfinden, als er sich erinnerte, wie Kevin über ihm kniete und ihm brutal den Hals zudrückte. Unweigerlich führ er sich mit der Hand über die violetten Spuren an seinem Hals.



    Weil die junge Frau die ganze Zeit mit ihren Gedanken so dicht bei Kevin war, fiel ihr das Fehlen von Timo zuerst gar nicht auf. Semir sah, wie Gregor aus dem Streifenwagen stieg und Semir heranwinkte. Er sagte ihm leise ins Ohr: "Schwandt will euren Kollegen mit aufs Revier nehmen." Der kleine Polizist beugte sich herunter und blickte durch die offene Tür zu Kevin, der ihn ein wenig hilflos ansah... ein Blick, den Semir von seinem Kollegen so nicht kannte. "Hmm okay. Wir kommen dann später nach... wir müssen mit Jenny noch ins Krankenhaus." "Zu Timo? Sie weiß nichts davon?" Semir schüttelte den Kopf. "Scheinbar nicht."
    Plötzlich erklang die monoton wirkende Stimme aus dem Fahrzeug: "Nehmt mich mit." Sowohl Gregor als auch der erfahrene Autobahnpolizist blickten überrascht in den Streifenwagen. "Was sagst du?" "Bitte nehmt mich mit. Ich... ich will wissen wie es ihm geht." "Laut seiner Aussage hat Patrick auf Timo geschossen.", merkte Gregor an. Es war für Semir unglaublich schwer, etwas aus Kevins Blick herauszulesen... sagte er seine Bitte aus Schuldgefühlen? Wollte er sehen, was er angerichtet hatte? Oder sein "Freund" Patrick? Ihn beschlich eine Gänsehaut und er fühlte das Gleiche, was Jenny gerade zu ihm gesagt hatte... vor ihm saß ein fremder Mann mit dem Aussehen eines Freundes. Ähnliches Gefühl hatte er vor vielen Monaten, als André plötzlich vor ihm stand, und sich merkwürdig verhielt.



    "Ist das für euch okay?", fragte Gregor dann in Semirs Richtung, der kurz zu Jenny herübersah... die Reaktion von ihr blieb abzuwarten, vor allem die Reaktion wenn Kevin dabei war. Es verursachte ihm Magenschmerzen. Allerdings spürte er eine Ehrlichkeit in Kevins Bitte, die er ungern ausschlagen wollte. "Versuch du erstmal Schwandt davon zu überzeugen, dass wir Kevin mitnehmen." Gregor nickte kurz und ging einige Schritte zu Schwandt, der sich angeregt mit einem der Streifenpolizisten unterhielt, die den Tatort untersuchten. Der erfahrene Polizist konnte Sprachfetzen hören. "Mordverdächtiger... Fluchtgefahr" konnte er von Schwandt verstehen, während Gregor die Worte "psychisch am Ende... sind doch auch Polizisten.", verwendete. Irgendwann winkte Schwandt mit einer Geste ab, und das Gespräch war beendet.
    Gregor kam mit verkniffener Miene. "Es ist noch nicht bewiesen, ob er den Mann dort unten vorsätzlich erschossen hat." "Jenny sagte aus, dass es Notwehr gewesen sei. Sie war direkt dabei." Beide Polizisten blickten nachdenklich in Richtung der jungen Frau. "Er darf euch nicht abhauen.", sagte Gregor so leise, dass Kevin im Auto es nicht hören konnte. Für einen Moment blickte Semir zu Kevin, und sagte plötzlich mit einer tiefen Überzeugung, als er seinen Kollegen betrachtete: "Er wird nicht abhauen..."



    Auf dem Weg zum Krankenhaus schwiegen alle. Jenny saß vorne bei Semir, Ben hinten bei Kevin. Immer wieder blickte der Polizist mit der Wuschelfrisur zu seinem Freund, der ihn nicht einmal ansah. Es schien, als sei mit dem Gedächtnisverlust auch seine komplette Fassade, mit der er versuchte jede Emotion zu unterdrücken, eingestürzt. Ein schlechtes Gewissen gegenüber Ben und Jenny, Schuldgefühle gegenüber Timos Verletzung, Selbstvorwürfe dafür, dass er auf Patrick reingefallen war... und ein wenig kämpfte er in seinem Kopf immer noch mit Lücken. Es war noch etwas... irgendetwas hatte er noch in den Erinnerungen, dass er nicht zuordnen konnte. Und je länger der junge Polizist darüber nachdachte, desto schlimmer wurden seine Kopfschmerzen.
    Semir sagte Jenny nicht, wo sie hinfuhren, und die junge Frau dachte, man fahre aufs Hamburger Revier. Doch irgendwann merkte sie, dass Semir von der Route wegfuhr, doch sie sagte nichts bis er auf dem Krankenhausparkplatz anhielt. "Was machen wir hier?", fragte sie verwirrt. Als Semir nicht sofort antwortete, blickte sie nach hinten zu Ben. "Was ist los?" "Wir gehen zu Timo. Er ist angeschossen worden." Der Schrecken stand Jenny ins Gesicht geschrieben, und sie starrte ihren älteren Kollegen an. "W... was?", stotterte sie und schaute sofort nach hinten zu Kevin, als würde sie sofort ahnen, dass er dabei gewesen ist.



    Der Weg durch die weißen Gänge des Krankenhauses kam ihr unglaublich lang vor. Erinnerungen wurden wach, als sie selbst schwer verletzt eingeliefert wurde in Köln... einmal mit einer Schusswunde im Bauch, und natürlich nach ihrer gerade erlittenen Fehlgeburt. Eine Schwester nahm sich der vier Polizisten an und führte sie auf die Intensivstation. Als Jenny durch die Scheibe auf das Bett blickte, füllten sich ihre Augen mit Tränen. Ihr Kollege, mit dem sie sich so angefreundet hatte, der immer ein Lachen auf dem Gesicht hatte... er lag hilflos im Bett, einen Beatmungsschlauch im Mund und an Geräte angeschlossen. Jenny begann zu zittern. Sie schaute langsam in Richtung Kevin, der ebenfalls sehr ergriffen auf den jungen Polizisten schaute und völlig hilflos wirkte. "Warst du dabei?", fragte die junge Frau erst mit scheinbar ruhiger, aber fassungsloser Stimme und ging einen Schritt auf den jungen Mann zu, der aussah als leide er Höllenqualen. Bens Puls beschleunigte sich. "Ob du dabei warst, habe ich dich gefragt??", sagte Jenny etwas lauter und Kevin schloß verzweifelt die Augen. Sie hatte ja im Keller von Patrick gehört, dass er den jungen Mann angeschossen hatte. "Du hast deinen Freund gekillt, und ich den kleinen Bullen.", hatte er gesagt. Jetzt wusste die junge Polizistin, dass damit Timo und nicht Semir gemeint war. Trotzdem war sie erschrocken und dachte nicht rational nach, dass Kevin sich im Kopf zu diesem Zeitpunkt auf der gegnerischen Seite befunden hatte.



    "Ja... ich war dabei.", sagte Kevin dann nach einer gefühlten Ewigkeit leise, und nun brach es aus Jenny heraus. In einer Mischung aus Wut, Trauer und Fassungslosigkeit schrie und schluchzte sie, während sie Kevin schubste: "Du verdammter Bastard!! Wie konntest du das zulassen?? Warum hast du nichts getan??? Timo hatte mit der ganzen Sache nichts zu tun!!" Ihre Worte überschlugen sich, sie schubste den jungen Mann nochmal, bevor sie nun von zwei Händen, die zu Ben gehörten, festgehalten wurde. "Jenny! Hör auf!", sagte er bestimmt und zog die junge Frau von Kevin weg, deren Wutanfall nun in einen Weinkrampf umschlug. Sie klammerte sich an Ben, der sie zärtlich umarmte.
    Kevin hatte sich nicht gewehrt... er war wie paralysiert von der Situation, von den Worten die auf ihn einprasselten, von Jennys Reaktion und dem Eindruck des schwerverletzten Timos, der, wie er selbst, ein Polizist war. Aber das wurde ihm jetzt erst bewusst, und er sah die Szene im Parkhaus vor sich. Konnte er was tun? Wollte er etwas tun? Ihm war übel, und Semirs Blick auf ihn verriet nicht das geringste Mitgefühl für den jungen Polizisten.
    Jenny beruhigte sich nur langsam, und sie bekam von der Schwester die Erlaubnis für einige Minuten in das Krankenzimmer zu gehen. Zu dritt beobachteten die drei Männer, wie Jenny mit feuchten Augen über die Hand des schwer verletzten jungen Mannes strich und Kevin spürte, welche Erinnerungen diese Geste in ihm auslöste. Dabei spürte auch er, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen. Er fühlte sich furchtbar alleine...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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  • Dienststelle - 10:00 Uhr



    Zwei Tage später waren Semir und Ben wieder in gewohnter Umgebung. Ihnen fiel der Abschied von Jenny schwer, doch die junge Frau versicherte den beiden Männern, dass alles in Ordnung sei. Ihre Kopfverletzung stellte sich "nur" als Platzwunde heraus, ein paar Tage Ruhe und alles wäre wieder in Ordnung. Diese "Ruhe" bestand für die junge Frau dann vor allem daraus, im Krankenhaus an Timos Bett zu wachen, manchmal begleitet von Gregor oder ihrem Chef. Dann wollte sie wieder arbeiten, wobei sie sich selbst nicht sicher war, ob sie in Hamburg bleiben konnte, bleiben wollte. Sie floh aus Köln, weil sie dort alles an ein Trauma erinnerte, an einen schmerzlichen Verlust. Dieser Verlust war wieder da, und nun war es Hamburg, das sie daran erinnerte. Während die junge Frau an Timos Bett saß und dem regelmäßigen Piepsen des Herzschlag-Computers lauschte, zweifelte sie an ihrem Polizisten-Job. Und sie vermied es, an Kevin zu denken.
    Semir nahm sich einen Tag frei... den Kopf freibekommen von allen Gedanken. Ben tat es ihm gleich, und sie unternahmen einen Familienausflug in den Kölner Zoo. Semir und Andrea mit den beiden Kindern, die herumliefen, tobten und sich über den unerwarteten Ausflug mit Onkel Ben und seiner Freundin Carina freuten. Die beiden Männer versuchten, alle Gedanken an den morgigen Tag, wenn sie die Geschehnisse ihrer Chefin erzählten, zu verdrängen, flachsten und alberten mit den Kindern. Es gelang ihnen meistens...
    Kevin floh sich in die Einsamkeit. Eine herzliche Umarmung seiner Ziehmutter Kalle, die ihn sofort wieder bei sich aufnahm, folgten zwei Tage seiner üblichen Therapie. Er lag viel im Bett, saß am Fenster, rauchte Joints zur Entspannung und trank bis Kalle ihm kopfschüttelnd die Decke über den Kopf zog, als der junge Polizist auf der Couch einschlief.



    Jetzt saßen Semir und Ben vor der Chefin, die sich mehr als nur einmal mit beiden Händen durch die Frisur fuhr, immer wieder tief durchatmete und an ihrem ersten Arbeitstag nach dem wohlverdienten Urlaub mit einer solchen Hammer-Meldung nicht gerechnet hatte. Kevin lebte... Gedächtnis verloren und von einem Kriminellen, den er von früher kannte, ausgenutzt worden. Viel härter traf sie dagegen die Tatsache, dass der junge Polizist scheinbar tatsächlich versucht hatte, Ben zu töten und ihn tätlich angegriffen hatte. Dass dabei ein Polizist auch noch schwer verletzt wurde, kam erschwerend hinzu. Aber vor allem ging es darum, wie es jetzt weitergehen sollte... schließlich war Kevin noch offiziell bei der Autobahnpolizei.
    "Wissen sie aus Hamburg schon, inwiefern gegen ihn ermittelt wird?", fragte die Chefin nach dem Bericht ihrer beiden Kommissare. "Soweit wir wissen... gar nicht.", sagte Semir und es hörte ich beinahe so an, als bedauere er es... so war es zumindest Bens Eindruck. "An der Entführung von Jenny war er nicht beteiligt, Ben hat wegen der Körperverletzung keine Anzeige erstattet und die Sache abgebügelt...", auch bei diesem Satz zog der Genannte die Augenbrauen nach oben "... und Jenny hat ausgesagt, dass Patrick in ihrem Beisein sich klar zu den Schüssen auf Timo bekannt hat, und dass Kevin Patrick in Notwehr erschossen hat. Der Tote hatte die Hand um die Waffe geklammert. Naja, und die Freiheitsberaubung, als er uns in die Kühlkammer eingesperrt hat... haben wir auch nicht beanzeigt."



    Die Chefin nickte, bevor Semir fortfuhr: "Die Innere wird sich mit dem Fall sicherlich trotzdem beschäftigen. Aber so wie es aussieht kommt Kevin mal wieder mit einem blauen Auge davon." "Scheint dich zu stören...", merkte Ben an und bereute den Satz eine Sekunde später schon wieder. Gestern noch hatten sie eine Menge Spaß, aber seit Semir der Chefin von den Vorkommnissen berichtete, hatte Ben wieder das Gefühl, was er vor zwei Tagen im Krankenhaus schon hatte, bevor er sie Jenny befreiten... dass Semir sich innerlich irgendwie gegen Kevin positioniert hatte, gegen den Mann, der ihm einst das Leben gerettet hatte. "Ben... was Kevin diesmal getan hat, war nicht dass er einfach ausgerastet ist und jemanden zusammengeschlagen hat. Er hat versucht dich umzubringen..."
    Ben seufzte... diese Diskussion hatten sie doch schon mal geführt. "Er wusste nicht, wer wir sind. Er wurde von Patrick manipuliert.", sagte er gespielt geleiert, weil er es schon mehrmals gesagt hatte. "Aber zumindest hatte er keine Skrupel, in diesem falschen Wissen zu versuchen sie umzubringen.", merkte die Chefin an. Semir nickte und leckte sich über die Lippen. Der Satz fiel ihm schwerer, als es den Anschein machte: "Ich weiß nicht, ob jemand mit dieser Skrupellosigkeit für den Polizeidienst geeignet ist."



    Für einen Moment überlegte Ben, wie er auf diesen Satz von seinem Partner reagieren sollte. Hätte er etwas weniger Sorgen, etwas weniger emotionale Verbindung zu Kevin, hätte er vermutlich sachlicher reagiert. Doch Ben war Ben. Und er konnte nun mal nicht aus seiner Haut. "Sag mal, hast du was am Schwimmer? Erstellst du ihm jetzt das Gutachten für seine Entlassung, oder was?", rief er wütend und stand ruckartig von seinem Stuhl auf. Sein Partner ließ sich von dieser Aggressivität anstecken. "Es ist ja nicht das erste Mal, dass ihn das in Schwierigkeiten bringt. Du kannst dich doch sicher noch an die Situation auf dem Dach erinnern... du hast selbst gesagt, dass er abgedrückt hätte, wenn dein Leben nicht in Gefahr gewesen wäre. Davon abgesehen, dass er Jennys Vergewaltiger damals fast totgeschlagen hat." Die Stimme des erfahrenen Kommissars war laut und durchdringend, aber er blieb im Stuhl sitzen.
    Ben atmete heftig, er sah fassungslos zu Semir, danach zur Chefin die mit dem Finger auf dem Mund ihre beiden Mitarbeiter beobachtete, und sich scheinbar ihre eigenen Gedanken machte. Und der junge Polizist wusste, dass die Chefin Kevin eher negativ gegenüber stand. "Wenn ihr Kevin den Job nehmt, dann nehmt ihr ihm alles, was er noch hat. Er braucht uns jetzt! Wir sind seine Freunde." Dann sah er seinen Partner, seinen besten Freund an, der nachdenklich den Kopf schüttelte: "Oder sind wir das nicht? Lassen wir ihn jetzt fallen?" "Ich weiß nicht, ob ich Kevin einfach nochmal blind vertrauen kann. Und blindes Vertrauen ist überlebenswichtig in unserem Beruf.", sagte Semir leise, bevor er den Kopf zu Ben drehte: "Kannst du ihm noch blind vertrauen, Ben?" Ben sah seinen Partner an, und plötzlich sah er vor seinem Inneren Auge Kevin... mit Hass in den Augen, die Hände um seinen Hals gelegt. "Ich... ich...", stotterte er und das Bild wollte nicht verschwinden. Der Polizist merkte, wie ihm die Stimme versagte, er drehte sich ruckartig um und verließ das Büro. Dass er sich nicht zu einem eindeutigen Bekenntnis zu Kevin hinreissen konnte, drückte ihm auf die Seele.



    Mit sorgenvollem Blick sah Semir seinem besten Freund hinterher, der nach Draussen entschwand. Nur wenige Sekunden später hörte man ihn in seinem Dienstwagen das Gelände verlassen. "Semir, ich brauche nach 20 Jahren der Zusammenarbeit wohl nicht sagen, dass ich auf ihre Meinung viel Wert lege. Und deshalb brauche ich ihre nüchterne, sachliche Einschätzung über Herrn Peters. So leid es mir tut, aber die Meinung ihres Partners ist mir momentan zu emotional geprägt." Semir konnte diese Ansicht sehr gut nachvollziehen. "Natürlich verstehe ich die Situation von Herrn Peters, und dass er weitestgehend manipuliert wurde. Aber wir können eben nicht ignorieren dass in seinem Charakter gewisse... wie soll ich sagen... schlafende Hunde existent sind, die ihn zu einem Risiko machen."
    Es war für Anna Engelhardt schwierig, die richtigen Worte zu finden, und Semir ging es ebenso: "Kevin ist nicht einfach irgendein Kollege... das wird sich nicht ändern und es würde mir unglaublich schwer fallen... da hat Ben halt Recht. Sein Beruf wäre das Einzige, was ihn über Wasser halten würde. Aber es ist irgendetwas kaputt gegangen, was ich nicht näher beschreiben kann. Dass er versucht hat Ben zu töten... macht es für mich schwer, weiter mit ihm zusammen zu arbeiten, glaube ich... auch, wenn ich weiß welche Umstände dazu geführt haben." "Sie denken also, es wäre besser, wenn er die Dienststelle verlässt?", fragte die Chefin, und ihre Worte klangen in Semirs Augen zu hart, obwohl er mit seinen Worten vorher, dass gleiche sagte. "Ich... ich weiß es nicht. Ich würde nicht mal mit Bestimmtheit sagen, ob er überhaupt weitermachen möchte..."

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 13:00 Uhr



    Ben hatte Kevin angerufen, und auf die Dienststelle gebeten. Ihm wurde gesagt, er solle sich ein paar Tage ausruhen, sich sammeln, wieder ankommen und Kevin hatte die zwei Tage genutzt. Er hatte viel geschlafen, hatte zumindest die Pillen durch harmlosere Joints ersetzt, die ihm beim Einschlafen halfen. Er ging wieder zum Sport, zumindest joggte er in der Frühlingssonne zweimal am Tag am Rhein vorbei. Und er blätterte viel in dem Bilderalbum, das er aus Patricks Wohnung hat mitgehen lassen, denn es half ihm die Erinnerung weiter zu ordnen. Ihm wurde immer klarer, welch abartiges und durchtriebenes Spiel der Verbrecher mit ihm gespielt hatte. Für alles, was Kevin fragte hatte Patrick eine Antwort und vermengte geschickt Kevins Vergangenheit, an die sich der junge Polizist erinnerte mit verlorener Erinnerung. So baute er für ihn eine eigene Geschichte, dass Kevin erst vor kurzem im Knast saß wegen Einbrüchen, und weckte somit nur dunkle Erinnerung an den Gefängnisaufenthalt wegen mutmaßlichem Mordes, was sich später nicht bewahrheitete.
    Allerdings brannten Kevin noch einige Fragen auf der Seele, Dinge die er gesehen und gespürt hatte. Eine Frage musste noch warten, die andere beantwortete er sich durch einen kurzen Anruf im Gefängnis selbst. Mit Erleichterung stellte er fest, dass Patrick zumindest hinsichtlich Jerrys Tod gelogen hatte.



    Im Inneren fühlte Kevin sich unwohl, als er die Tür zur Dienststelle aufdrückte und es im Großraumbüro ein wenig stiller wurde. Man hatte sich abgesprochen über die Vorkommnisse erst einmal Stillschweigen zu bewahren, und so waren nur die engsten Kollegen eingeweiht... Andrea wusste natürlich Bescheid und drückte dem Auferstandenen nur kurz und kühl die Hand. Der Abschied der beiden vor einigen Monaten war ebenso feindselig, nachdem herauskam, dass Kevin ausgerechnet der Frau helfen wollte, die mitschuldig an dem damaligen schlechten psychischen Zustand von Semir war. Auch Bonrath und Hotte wussten Bescheid. Der baumlange Polizist war sich unschlüssig, wie er darauf reagieren sollte und schüttelte Kevin ebenfalls nur die Hand, jedoch ohne den kühlen abweisenden Blick wie Andrea. Hotte, dessen Herz schon zu Beginn für Kevin und dessen schwerer Jugend und Vorgeschichte geöffnet war, war schockiert über die Erzählung von Ben... einerseits aufgrund Kevins Brutalität, die das Vertrauen der beiden Kommissare so schwer geschädigt hat, andererseits aber auch aus Mitleid. Kevin war dahingehend ein leichtes Opfer und in Hottes Augen wurde er für etwas Gutes bestraft... nämlich einem Menschen in Not zu helfen. Er hatte, nach Kevins Verschwinden, darüber auch mit Andrea eine Zeitlang geredet. Ein Menschenleben war ein Menschenleben und Kevin hatte mit seiner Reise nach Kolumbien in erster Linie etwas Gutes im Sinn, nämlich Annie zu helfen. Wäre er nicht gefahren, hätte er sie einfach ihrem Schicksal überlassen, hätte er sich mit der Annie, die Andrea und Semir damals verfluchten, auf eine Stufe gestellt. Für Andrea war es schwer zu akzeptieren, sie musste aber zugeben dass der lebenserfahrene Herzberger irgendwo Recht hatte. Und dieser war auch der Einzige, der ein "Schön, dass es dir gut geht", für Kevin übrig hatte.



    Ben und Semir waren zu dem Zeitpunkt unterwegs auf Streife, ihr Büro leer, und so beschloß der junge Polizist die unangenehme Sache gleich hinter sich zu bringen. Das klirrende Klopfen an der Glastür der Chefin wurde mit einem "Herein" beantwortet. Oft schon saß er auf diesem Stuhl vor den meist kritischen Augen seiner Vorgesetzten, obwohl er noch nicht so lange bei der Autobahnpolizei war. Diesmal fühlte es sich fremd an. Auch die Chefin reichte ihm die Hand, fragte nach seinem Wohlbefinden und der Polizist nickte: "Geht so.", bevor er sich setzte. "Semir und Ben haben mir schon einiges erzählt, Herr Peters. Aber es wäre vielleicht ganz gut, wenn sie das Ganze noch einmal aus ihrer Sicht erzählen. Ich möchte einfach... sagen wir, wissen was sie in der ein oder anderen Situation gefühlt haben." Und dann setzte sie nach einem kurzen Räuspern hinzu: "Denn es geht auch um ihre Zukunft bei uns."
    Anna Engelhardt hatte das Äussere des alten Kevins vor sich. In seiner verwaschenen, am Knie franseligen Jeans, seiner Lederjacke, die er noch bei Kalle hatte und seinen abstehenden Haaren sah er äusserlich aus, wie zu dem Zeitpunkt, als er Köln in Richtung Kolumbien verließ. Und so erwartete sie kurze Sätze, wenig Information und ein Einigeln hinter seine Schutzmauern. Doch Kevin erzählte, er redete und ließ nichts aus. Das, was er auch gegenüber Semir und Ben schon auf der Heimfahrt von Hamburg getan hatte. Es schien der Chefin, als wolle er etwas los werden, als könne er damit diese Geschichte von sich schütteln, als wolle er eine andere Strategie der Vergangenheitsbewältigung wählen, als früher.



    Der junge Polizist erzählte von dem Gefühl der Leere in seinem Kopf, der Qual sich an nichts erinnern zu können, Gesichter zu sehen, und nicht zuordnen zu können. Von Patrick, der ihn manipulierte, von Ben und Semir die er für die Mörder seiner Schwester hielt. Davon, dass im Parkhaus plötzlich Timo aufgetaucht sei, ihn festnehmen wollte und Patrick aus dem Hinterhalt auf Timo schoss. Nur bei der Szene im Keller log er. Er erzählte, dass Patrick zur Waffe greifen wollte, und Kevin ihn in Notwehr erschoss. Nur Jenny und er kannten die Wahrheit, und während er erzählte, sah er die Chefin mit festem Blick an. Er schäme sich für das, was er getan hatte, es tat ihm Leid... und er gab offen zu, dass er nicht genau wusste, wie er mit allem umgehen sollte.
    "Wollen sie die Hilfe eines Psychologen hinzuziehen?", fragte die Chefin, als Kevin mit seiner Erzählung fertig war. "Ich... ich weiß nicht, ob das etwas bringt.", sagte er leise und blickte wieder zu Anna Engelhardt. "Ich bin nicht so gut im Reden. Und bei einem Psychologen muss man viel reden." "Nun, sie haben schon mehr erzählt, als ich es vermutet habe.", nickte sie anerkennend, blickte auf die Kritzeleien, die sie sich während des Gespräches gemacht hatte. "Ich kann ihnen nicht sagen, was die Innere jetzt gegen sie entscheidet, aber sie wurden nicht beanzeigt. Ich gehe davon aus, dass sie weiter im Polizeidienst bleiben können." Der junge Mann nickte mechanisch und hatte kein Gefühl für diesen Satz. Kein positives, kein negatives. "Ob sie hier bleiben können...", die Chefin räusperte sich: "Das kann ich noch nicht sagen. Ich werde eine Entscheidung zusammen mit Semir fällen." Dieser Satz ließ Kevin aufblicken, und ein untrügerliches Gefühl beschlich ihn. Natürlich konnte er sich denken, dass die Chefin schon mit Semir geredet hatte. "Die beiden wollen nicht mehr mit mir zusammenarbeiten, nicht wahr?" Seine Stimme klang dabei komisch, resigniert und traurig. "Nein, das stimmt so nicht. Aber die Situation ist nicht einfach, das können sie sich vorstellen. Auch für die beiden nicht. Geben sie uns etwas Zeit, machen sie noch ein, zwei Tage frei."



    Eine tiefe Niedergeschlagenheit machte sich in Kevin breit, und er konnte selbst nicht erklären, warum er dieses Gefühl gerade hatte. Würde er sich besser fühlen, wenn die Chefin sofort gesagt hätte, er könne wieder arbeiten. Keine Ahnung. Würde er sich besser fühlen, wenn Semir und Ben ihn sofort in die Arme schließen würde, sagen würden dass alles wieder gut sei, und zu Hause Jenny auf ihn wartete... Definitiv. In seinem Innersten wünschte er sich genau das... die Zeit zurückdrehen zu können bis zu dem Zeitpunkt der Beerdigung von dem jungen Punk Sammy. Als Kevin sich für Semir entschied und Annie, die um Verzeihung bat, einfach stehenließ. Wie er Semir und Ben um Verzeihung bat. So wie er jetzt um Verzeihung bat, und von Jenny im Krankenhaus stehen gelassen wurde. Er würde seine Jugendliebe in den Arm nehmen, verzeihen und sagen, dass er für sie da ist. Annie würde nicht nach Kolumbien fliehen und Kevin wäre immer noch glücklick mit Jenny. Er stand vom Stuhl auf, drehte sich schon von der Chefin weg und blickte durch die Glasscheibe direkt zu Ben und Semir, die scheinbar von ihrer Tour kamen und nun an Andrea's Tisch standen, mit Blick in Richtung Kevin. Für eine, vielleicht zwei Sekunden blickten sich die drei Männer an, Ben und Semir in Richtung Kevin, und der junge Polizist konnte bei seinen beiden Kollegen Unsicherheit, Kälte und Skepsis im Gesicht ablesen. Er kannte dieses Gefühl, denn genau diese unbewusste Ablehnung und Kälte erfuhr er über seine komplette Ausbildung hinweg wegen den Vorurteilen seiner Vergangenheit, und führten dazu, dass er um sich herum eine Mauer der Arroganz aufbaute und niemanden in sein Herz blicken ließ. Und obwohl er sich gerade der Chefin, unüblich für ihn, geöffnet hatte, hatte er das Gefühl er müsse genauso reagieren wie damals. Bevor er das Büro verließ, drehte er sich nochmal zur Chefin und meinte leise: "Ich kann die beiden verstehen... ich würde mit mir auch nicht mehr arbeiten wollen."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 14:00 Uhr



    Sie hatten nur wenige Worte miteinander gewechselt... ein kurzes "Hallo, wie gehts?" "Geht so... muss weitergehen."... Sie fühlten sich wie Fremde, denen ein Gespräch unangenehm war, bevor Kevin sich mit den Worten "Ich hab noch was vor." verabschiedete und Semir ausser einem "Hallo" und "Tschüss" gar kein Wort rausgebracht hatte. Sogar anderen im Raum fiel diese fremdartige Atmosphäre auf. Von Vertrautheit war nichts mehr zu spüren und genau das war auch das Gefühl, was in Ben übrig blieb, als Kevin den Raum verlassen hatte. Die Chefin winkte ihre beiden besten Mitarbeiter in ihr Büro, die beiden konnten das durch die Glastrennscheibe sehen.
    Die Chefin sah die beiden an und konnte ihre Erwartungen in den Gesichtern ablesen. Nachdem Ben eben noch verschwunden war, war er eine halbe Stunde später, wesentlich beruhigter, wieder aufgetaucht. Manchmal brauchte er das eben, bevor er unsachlich wurde... da war eine Flucht und ein kurzes Abkühlen besser. Danach brauchten die beiden Freunde auch keine Aussprache oder Versöhnung. "Und? Was hat er gesagt?", fragte Ben als Erstes, nachdem sie sich auf den Stühlen niedergelassen hatten. "Er war sehr auskunftsfreudig, das hat mich überrascht. Und ich hatte das Gefühl, dass ihm die ganze Sache sehr ehrlich leid tut, und er selbst nicht begreifen kann, wie ihm das passieren konnte. Ich hege keinen Zweifel daran, dass diese Situation einzig wegen seines Gedächtnisverlustes so eskaliert ist.", erzählte die Chefin von ihren Gedanken.



    Für Ben war das eine Bestätigung, Semir nickte leicht. Der erfahrene Polizist wollte so gerne Kevin anblicken und den Kevin von früher sehen... den Kevin, der sich leichtsinnig vor eine geladene Waffe stellte, um ihn zu schützen. Den Kevin, der Semir half, seine Tochter aus den Fängen eines Entführers zu befreien und den Kevin, der ihn gemeinsam mit Ben vor Neo-Nazis rettete. Wenn er in seinen Gedanken war, sah er zur Zeit nur den Kevin, der ihn gegenüber Annie verraten hatte und der versucht hatte, seinen besten Freund umzubringen. "Wird er hier bleiben?", fragte Ben. Die Chefin seufzte kurz: "Ich habe das Gefühl, dass er hier bleiben will. Er hat sich nicht klar geäussert, nur Andeutungen gemacht. Ich kann aber auch verstehen, dass das eine schwierige Situation ist. Aber in erster Linie müssen sie mit ihm zusammenarbeiten.", verwies Anna Engelhardt und betonte das "Sie" auf die beiden Polizisten. Damit meinte sie, dass sie die Entscheidung von ihren beiden besten Beamten abhängig macht.
    Semir sah Ben von der Seite und biss sich auf die Lippen. "Du bist in erster Linie betroffen... du hattest direkte Konfrontation mit ihm.", sagte der erfahrene Polizist, und Ben nahm den Blick seines Partners auf. "Ich will das nicht alleine entscheiden.", war dessen Antwort, denn er spürte sofort, dass eine Entscheidung ihm schwer fallen würde. Er wollte mit Kevin zusammenarbeiten und er wollte, dass alles wieder so wie früher wurde. Aber er hatte Angst... Angst vor Rückschlägen, Angst davor, die falsche Entscheidung zu treffen. "Du entscheidest das nicht alleine, Ben. Aber es betrifft dich einfach eher. Und wenn du mit Kevin weiterhin zusammenarbeiten kannst... dann kann ich das auch."




    Hamburg - 21:00 Uhr



    Übelkeit war es, was Kevins Magen bestimmte. Er war den ganzen Tag unterwegs, war nach dem Gespräch sofort Richtung Hamburg aufgebrochen. Jetzt war es eine Mischung aus Hunger und Nervosität, die Kevins Finger zittern ließ, als er das Klingelschild drückte, auf dem "Dorn" stand, und der ihre Stimme an der Sprechanlage ertönte. "Ja?" "Hier ist Kevin." Kurze Stille, ein Räuspern. "Was willst du?" Die Kälte in ihrer Stimme nahm Kevin den Atem, und für einen Moment überlegte er, sich umzudrehen und zu gehen... nicht weil er beleidigt war, sondern weil der Ton ihn mitten ins Herz stach. "Ich will mit dir reden." Wo Kevin früher in solchen Situationen selbst distanziert und kühl war, hörte man jetzt bereits aus seiner Stimme, wie es ihm wirklich ging. Als müsse Jenny nachdenken, dauerte es einige Sekunden bis der Summer ertönte.
    Die junge Frau hatte eine Abwehrhaltung eingenommen, als sie im Türrahmen lehnte, die Hände vor der Brust verschränkt. Doch auch ihr ging es im Inneren nicht gut, sie spürte diese Zerissenheit... zu Kevin hin, sich Timo verpflichtet, in Erinnerung an Kevin als er sie schützte, in Erinnerung daran, wie er vor ihr stand und mit der Waffe auf ihren Kopf zielte, um Minuten danach einen Menschen eiskalt zu erschiessen. Jetzt, wo sie den Mann sah, den sie liebte, wollte sie ebenfalls am liebsten weglaufen.



    Kevin blieb vor ihr stehen und Jenny machte keine Anstalten, ihn herein zu bitten. "Wie soll das jetzt weitergehen zwischen uns?", fragte der Polizist mit trauriger Miene. Die letzte Begegnung war jene im Krankenhaus, als Jenny den jungen Mann aufs Heftigste beschimpfte. Kevin nahm es ihr nicht krumm, es war eine mentale Ausnahmesituation, aber er vermisste die junge Frau sehr. Und er wollte Klarheit. "Was denkst du denn? Wie es weitergeht?", fragte sie als Gegenfrage, weil sie auf die Frage keine Antwort parat hatte. "Wir waren ein Paar, bevor ich nach Kolumbien gefahren bin. Und was passiert ist... und was du von mir vor einigen Tagen gesehen hast und dass das nicht einfach so wegzustecken ist." Jenny musste sarkastisch kurz auflachen und sah kurz zu Boden. Es sollte Kevin nicht verhöhnen, und doch fühlte er genau das.
    "Wenn du das Buch nicht gefunden hättest... was hättest du getan?", fragte sie knallhart und traf wieder Kevins Nervenzentrum. "Hättest du abgedrückt?" Sie blickten sich an wie zwei Raubtiere, die sich nicht verletzen wollten, aber nicht drumherum kamen, weil es ihr Naturell war. Die Frage verursachte bei dem jungen Polizisten Horrorqualen. "Jenny... ich... was soll ich dir darauf antworten? Ja, ich hätte abgedrückt? Ich war nicht ich selbst... ich konnte mich an nichts erinnern."



    Sie spürte, dass sich eine Klammer um ihre Brust legte. Es tat ihr selbst weh, so herzlos zu Kevin zu sein, und doch konnte sie sich nicht überwinden, einfach alles ungeschehen zu lassen. Sie hätte sich so sehr seine Schulter gewünscht, als ihr gemeinsames Baby starb und jetzt wies sie ihn ab. "Ich weiß nicht, was ich denken soll. Ich weiß nicht, wann du du selbst bist... jetzt oder im Keller. Was ist dein wahres Gesicht?", sagte sie leise und sah ihn an. Ein fassungsloses Kopfschütteln war die Antwort: "Das kann nicht dein Ernst sein...", antwortete er in ebenso leiser Lautstärke. Ein Mann, der auch unter Gedächtnisverlust eiskalt einen Menschen erschoss... dazu musste man generell einfach skrupellos sein. Nur weil man sich an Dinge erinnerte, ändert das nicht den Charakter.
    "Du hättest auch einen Menschen getötet, wenn du klar bei Verstand gewesen wärst. Das hast du selbst gesagt, dass du Peter Becker erschossen hättest... damals.", sagte sie. Kevin schluckte. "Das hast du aber schon gewusst, bevor du die Beziehung mit mir eingegangen bist, Jenny." "Ich weiß...", meinte sie tonlos. "Aber da war ich nicht dabei. Etwas erzählt bekommen und mit eigenen Augen etwas sehen... das ist ein Unterschied." Jetzt spürte sie, dass sie das Wasser nicht mehr halten konnte. Ihre Augen wurden feucht, sie brach nicht in Tränen aus, aber Kevin konnte das Glitzern deutlich sehen.



    Auch der junge Polizist schluckte und sah kurz zu Boden. Den Blickkontakt aufrecht erhalten fiel ihm in dieser Situation unglaublich schwer. "Ich war so wütend auf dich, als du nach Kolumbien gefahren bist, um Annie zu suchen.", begann Jenny wieder mit leiser Stimme. "Aber ich habe irgendwann gewusst, dass du das tun musst. Und ich war der unglücklichste Mensch, als diese Frau mit Juan bei mir aufgetaucht ist um mir zu sagen, dass du in einem Fluss ertrunken bist." Er blickte wieder auf und hatte sofort eine Entschuldigung für diesen Kummer auf den Lippen, aber Jenny sprach einfach weiter, ließ ihn nicht zu Wort kommen: "Dann habe ich dich auf der Couch gesehen... du warst da, du warst lebendig, und du hast mir nicht geholfen. Und irgendwann stehst du vor mir, zielst auf mich... um dann vor meinen Augen einen Mann zu erschiessen... und ich höre dass du zugelassen hast, dass ein Freund von mir... ein Kollege von uns... angeschossen wird." Sie schüttelte langsam den Kopf und eine Träne tropfte von ihrem rechten Auge auf ihre Wange. "Kevin... es kann jetzt nicht einfach so weitergehen, als wäre nichts passiert. Das geht nicht..."
    Was würde es bringen, wenn er sich rechtfertigte... eigentlich wusste Jenny alles. Er konnte nichts dafür, dass man ihn irrtümlich für tot gehalten hat. Er hatte sein Gedächtnis verloren, und als er Patrick erschoss, hatte die Wut und die Rache Kontrolle für ihn ergriffen. An Timos Unglück konnte er nichts tun. Aber alle Worte, jede Rechtfertigung, wäre in diesem Moment verhallt und nichts wert gewesen. Diese Geschichte, dieses Unglück, stand zwischen ihnen, und auch Kevin wusste schon vor diesem Gespräch, dass er und Jenny nicht einfach wieder zusammenleben könnten.



    Und obwohl ihm das schon vorher klar war, fielen ihm die eigenen Worte so schwer, und sie stachen beiden unbarmherzig in die Seele. "Also... ist es vorbei?", fragte er stockend mit traurigem Blick, und mit ebenso traurigem Blick nickte die junge Frau. "Ja... ich... ich denke schon." Es war eine Endgültigkeit in ihren Worten, die zentnerschwer waren, und die beiden noch lange auf der Seele lasten würden. Der junge Polizist nickte tonlos, und wollte sich schon zum Gehen wenden.
    Aber etwas brannte Kevin noch auf der Seele, und er musste es fragen. Es war das, was in seiner Erinnerung noch offen war, und was er sich während beiden schlimmen Drogentrips nicht erklären konnte. Er drehte sich nochmal zu Jenny um, die ihn darauf eigentlich nicht ansprechen wollte. Es würde ihn und sie noch mehr belasten und beinahe hoffte sie, dass er es vergessen hatte. "Jenny... entschuldige die Frage aber...", begann er vorsichtig. "Bist du... also..." Plötzlich kam die Erinnerung, jetzt wo er Jenny sah und er intensiv drüber nachdachte... und die böse Ahnung überfiel ihn, warum sie ihn nicht darauf angesprochen hatte. "Was... was ist mit unserem Kind?" Plötzlich war das Ultraschallbild ganz klar vor seinen Augen und die Situation, sitzend an der Wand in dem kleinen Zimmer in Kolumbien, ganz real. Genauso real, wie das traurige Kopfschütteln seiner ehemaligen Lebensgefährtin, als sie leise flüsterte: "Es gibt kein Kind mehr...". Das leise "Machs gut...", als sie die Tür langsam schloß, nahm Kevin nicht mehr wahr...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn bei Köln - 4:00 Uhr



    Eigentlich wollte Kevin in Hamburg übernachten und erst morgen früh nach Köln zurückfahren, doch nach dem mentalen Tiefschlag am Abend vor Jennys Haustür wusste er, dass er sowieso kein Auge zu machen würde. Das Geld für eine Pension konnte er sich auch sparen, und so machte er sich sofort wieder zurück auf den Weg. Er weinte nicht, er brach nicht zusammen... er stand noch für einige Minuten vor Jennys Haustür und überlegte ob er nochmal klingeln sollte oder einfach gehen sollte. Ihre Sätze waren unmissverständlich und es gab keinerlei Interpretationsspielraum. Es war vorbei. Und ihr gemeinsames Kind gab es nicht mehr. Die Babyschreie, die Kevin in den Drogentrips vernommen hatte, waren ein unheilvoller Vorbote.
    Er hätte gerne gewusst, was passiert war... hatte sie es verloren, aus Kummer um Kevin? Hatte sie es abtreiben lassen, weil das Kind nicht unbedingt gewollt war, dazu auch noch der Vater tot war? Als der junge Polizist sich wieder in sein Auto setzte, wurde ihm klar, dass es allein Jennys Entscheidung war, falls sie es selbst aktiv entschieden hatte. Und er musste das wohl oder übel akzeptieren. Was würde es bringen jetzt Jenny Vorwürfe zu machen... er war dazu weder in der Lage noch in der Position.



    Wie betäubt saß er im Auto und fuhr über die menschenleere Autobahn. Bilder waren in seinem Kopf... Semir, Ben, Jenny, ein kleines Kind von dem er nicht wusste wie es aussah und er würde es auch nie erfahren. Er hatte ganz klar das Ultraschallbild auf seinem Handy vor Augen und das zerissene Gefühl in diesem Moment. Unglaubliche Freude, das Gefühl endlich eine kleine Familie zu haben und trotzdem dazu die Schuldgefühle seine Freundin gerade alleine zu lassen um seinem Herzen zu folgen und Annie zu helfen. Der kurze Moment, alles hinwerfen zu wollen und am anderen Morgen zu Juan zu sagen: "Die Sache läuft nicht. Es hat sich was geändert. Fahr mich zum Flughafen, ich fliege nach Hause." Hätte er es nur getan... aber hätte er damit leben können?
    An einer Tankstelle hielt Kevin kurz an, kaufte sich einen Sechserpack Bier in Dosen und ein Päckchen Zigaretten. Danach fuhr er weiter. Die Autobahn war komplett leer, bis auf den ein oder anderen Sattelschlepper, es war mittlerweile kurz vor Vier und die Kilometerzahl bis Köln wurde von Schild zu Schild niedriger. Irgendwann setzte der junge Polizist den Blinker und hielt auf dem Seitenstreifen, wo er das Auto abstellte. Zischend öffnete er die erste Dose Bier und nahm einen tiefen Schluck, bevor er die Tür öffnete.



    Die Nacht war tiefschwarz und es war kein einziger Stern am Himmel zu sehen, als würden sie sich vor Kevin verstecken, als hätten sie Angst vor ihm. Der Polizist lief auf der Linie entlang, die die Fahrspur vom Seitenstreifen trennte, die Dose in der Hand und eine Zigarette im Mund. Er ging sie rauf in Fahrtrichtung, den Weg zurück nahm er auf dem Mittelstreifen, wo die Linie gestrichelt war. Würde ein Sattelschlepper ihn rechtzeitig erkennen, nur mit den Scheinwerfern? Und wenn ja, könnte er noch ausweichen? Immer wieder sah der Polizist, nachdem er die zweite Dose Bier geöffnet hatte nach oben zum Himmel, als wartete er darauf, etwas erkennen zu können, doch nichts tat sich. Als er für einen Moment auf der Überholspur stand, donnerte ein LKW auf der rechten Spur an ihm vorbei.
    War das Janines Rache?, dachte er bei sich. Dass er ihr nicht geholfen hatte in der Nacht, als sie umgebracht wurde? Dass er noch nicht alle ihre Mörder zur Strecke gebracht hatte? Nach Peter Becker und Patrick war noch einer übrig... würde sie ihn dann endlich in Ruhe lassen? So schön manche Erinnerung an seine Schwester war, so grausam hatte sie sich mittlerweile tief in seinem Kopf festgesetzt und bestimmte sein Leben. Nur durch diese Schuldgefühle hatte er den selbstmörderischen Trip nach Kolumbien auf sich genommen, weil sie ihn zwang nicht den gleichen Fehler zu tun.



    Er hatte alles gehabt... endlich angekommen auf der Autobahnpolizeidienststelle. Er war mit Jenny zusammen, sie liebten, sie wohnten zusammen und Kevin schaffte es, sich endlich einem Menschen ohne Kompromisse zu öffnen. Er war glücklich... so glücklich wie zuletzt auf seinem 18. Geburtstag. Alle anderen kurzzeitigen Hochs waren niemals so eindrucksvoll wie diese Wochen mit Jenny als Freundin, mit Ben und Semir als Partner. Er hatte alles verloren. Ben und Semir würden ihm nie wieder vertrauen... wenn sie ihn überhaupt noch als Partner wollten. Eine Beziehung mit Jenny war unmöglich... er war in Köln, sie in Hamburg und sie hatte ihm nun unmissverständlich gesagt, dass es nach dieser Sache nicht mehr ging. Der nächste Sattelschlepper donnerte dicht an seinen Füßen vorbei, als er jetzt mit dem Rücken an der Fahrertür saß, zwischen Straße und Auto. Erst jetzt, nachdem er lange dort saß, umherging und nicht wusste, ob es mehr Sinn machte morgen ganz normal zur Arbeit zu gehen, seine Sachen zu packen und wegzufahren oder sich doch vor einen Sattelschlepper zu werfen, begann er zu weinen. Er weinte genauso hemmungslos, wie damals in Kolumbien, als Jennys Foto vom Ultraschall bekommen und gesehen hatte. Nur dass es diesmal keine Mischung aus Freude und Wut war, sondern ausschließlich Wut darüber, alles kaputt gemacht zu haben.



    Als drei Stunden später die Sonne aufging, stand der Wagen immer noch auf dem Seitenstreifen. Von Kevin war auf dem Seitenstreifen nichts zu sehen, er saß nicht im Auto, nicht am Auto oder stand auf der Straße herum. Der Verkehr nahm zu und bei der Autobahnpolizei ging von mehreren Autofahrern die Meldung von einer Person auf der Autobahn ein, die scheinbar entweder verwirrt oder betrunken an der Mittelleitplanke sich befand. Es war der erste Einsatz des Tages für Semir und Ben, die die Stelle anfuhren, von der sie die Mitteilung bekamen. Als erstes sahen sie das Auto, das ihnen bekannt vorkam, am Seitenstreifen stehen. "Das kann jetzt nicht wahr sein...", murmelte Ben, als Semir den BMW vor Kevins Wagen auf dem Seitenstreifen parkte, und die beiden Männer ausstiegen, um herüber zu blicken.
    Stocksteif saß er da. Unter ihm lagen unzählige Zigarettenstummel und 5 zerquetschte Dosen Bier, die letzte setzte er gerade an den Mund an, zwischen Mittel- und Zeigefinger hielt er eine weitere glimmende Zigarette. Seine Haare waren so abstehend wie früher und sie hoben sich von der Silhouette des jungen Mannes mit dem orangenen Morgenhimmel im Hintergrund ab. Er saß auf den Stahlquerrippen der beiden Mittelleitplanken im Schneidersitz... unbequem aber für den Hauptverkehr völlig ungefährlich, ausse es würde einen Unfall geben. Er tat nichts, ausser da sitzen und zu warten. Er wartete auf den Sonnenaufgang... er wartete auf einen neuen Anfang.



    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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