Vergiss mein nicht

  • Keller - 13:00 Uhr



    Jenny hatte jegliches Gefühl für Zeit verloren, solange wie sie nun schon hier war. Die Luft war kühl und feucht, es roch modrig und hin und wieder hatte der Kerl ihr auch mal die Augenbinde abgenommen, so dass sie Tag und Nacht unterscheiden konnte. Jetzt aber hatte er ihr ein weißes stinkendes Tuch vor die Augen gebunden. Sie spürte das verkrustete Blut an ihrer Wange, das von einem Cut über der Augenbraue nach unten gelaufen war an dem Tag, als sie entführt wurde und in dieses Verlies gesperrt wurde. Die Worte des Entführers, sein Gesicht und seine Beweggründe, die Namen, die er genannt hatte... alles spuckte in ihrem Kopf, verwirrte sie, machte sie traurig und hellhörig zugleich. Doch sie konnte sie noch keinen Reim darauf machen.
    Ihre Beine und ihr Rücken schmerzte, den der Stuhl auf dem sie gefesselt war, war nicht sehr bequem. Die Arme hinter der Lehne auf dem Rücken fixiert, die Beine fest mit Klebeband an den Stuhlbeinen befestigt. Hin und wieder durfte sie sich in dem Raum frei bewegen, durfte sich auf eine schmutzige Matratze legen, durfte herum laufen und die Beine ausschütteln. Aber irgendwo, irgendwie blieb sie immer fixiert. Wenn der Mann ihr die Beine löste, blieben ihre Hände mit Klebeband auf dem Rücken verbunden. Andersherum genauso. Es gab nichts in diesem Loch, was ihr hätte helfen können, das Klebeband zu öffnen und den Täter zu überwältigen. Einen Versuch hätte sie beinahe bitter bezahlt...



    Sie hörte die Schritte, die über die Steintreppe klackerten immer bevor der Schlüssel ins Schlüsselloch gesteckt wurde, um die verriegelte Tür zu öffnen. Diesmal aber waren es mehr als eine Person, das konnte sie hören. Unbehagen machte sich in ihr breit. Hin und wieder war er zu zweit gekommen, aber die zweite Person hatte nie ein Wort gesagt, und auch immer dann hatte Jenny die Augen verbunden. Dann geriet die junge Polizistin in Panik, dass die Kerle sie berühren, anfassen und verletzen könnten. Eine Vergewaltigung, die erst ein knappes Jahr zurücklag, kam ihr auf einmal wieder zurück in ihre Gedanken, ein schlimmes Erlebnis, das sie eigentlich komplett verdrängt hatte... mit Hilfe von unerschütterlicher Liebe zu einem besonderen Polizisten, und dessen Fürsorge... aber auch mit Ablenkung aufgrund dessen eigener Probleme.
    Doch diese Welt war zerstört worden, innerhalb weniger Wochen. Der Mann, den sie liebte, war tot... abgestürzt von einer Brücke im kolumbianischen Urwald, ertrunken, verschollen... nur Gott und der Teufel würden wissen, was wirklich geschehen ist. Ihr gemeinsames Kind war tot... Jenny hatte es in einer Stresssituation am Flughafen verloren. Sie hatte ihre Freunde, ihr gewohntes Umfeld verlassen und war zur Abteilung für Eigentumsdelikte nach Hamburg in ihre Heimatstadt gegangen... eher geflüchtet.



    Ihr Leben neu ordnen, am liebsten ohne Erinnerung an die schlimme Zeit. In ihrer neuen Wohnung erinnerte nur ein Foto von Kevin an ihn, der Karton in ihrem Schrank und der dunkelblaue Koffer, in dem seine Klamotten waren. Sie konnte die Hoffnung, die nur noch minimal in ihr glühte einfach nicht löschen. Die Kollegen waren nett, die Arbeit war unterhaltsam, wenn auch lange nicht so aufregend wie bei der Autobahnpolizei... doch die Aufregung und der Nervenkitzel fehlte ihr nicht. Zusammen mit Gregor und dem jungen Kommissar Timo, mit dem sie sich angefreundet hatte, nahm sie Einbrüche auf und hatte vor kurzem den ersten Erfolg zu verzeichnen, als man einen Einbrecherring aus dem Ausland dingfest machen konnte. Ohne große Verfolgungsjagd, mit viel Ermittlungsarbeit in den zwei Monaten, in denen sie jetzt in der Hansestadt war.
    Doch wieder war alles mit einem Schlag anders, als sie vor der eigenen Wohnung am Abend entführt wurde und in diesem Kellerverlies aufwachte, und seitdem beinahe eine Tortur mit dem Entführer auf sich nehmen musste. Wie sehr wünschte sie sich zurück nach Köln, wo sie sich in so einer Situation auf ihre Freunde hätte verlassen können. Semir und Ben, Hotte und Dieter, Andrea und die Chefin... sie hätten jeden Stein auf links gedreht, bis sie die junge Kollegin gefunden hätten. Ob Timo und Gregor, ihr neuer Chef Kauptzke überhaupt Nachforschungen anstellen würden? Vielleicht nach einigen Tagen, und dann auch nur auf dem Dienstweg der Vermisstenmeldung.



    Knarrend öffnete sich die Tür, und die Schritte kamen näher. Sie näherten sich von hinten, was die Sache für die blinde Jenny noch unangenehmer machte. "Hallo, mein Liebes. Heute ist der große Tag, den ich dir schon so lange verspreche.", konnte sie die Stimme ihres Entführers hören, die sie kannte, die sie so sehr verfluchte. Sie bekam eine Gänsehaut, als sie für einen Moment den schweren kalten Lauf einer Waffe an ihrem Nacken spürte, der über ihren Hinterkopf strich bis zu ihrer Stirn. "Und ich hab eine ganz besondere Überraschung für dich."
    Jennys Lippen zitterten, sie hatte Angst... große Angst. Angst vor ihrem Peiniger, Angst davor zu sterben. So schwer die letzte Zeit auch war, sie war ein grundsätzlich so lebensfroher Mensch, dass sie zwar hin und wieder verzweifelte, aber nie den puren Lebensmut verlor. Sie war sich innerlich sicher, dass noch etwas Großes auf sie wartete... aber jetzt war sie dem Tod so nahe, wie nie zuvor in ihrem Leben. Sie konnte spüren, dass die Mündung der Waffe nun ganz leicht an ihre Stirn gehalten wurde. Durch ihr Zittern spürte sie immer eine leichte Berührung... oder zitterte die Hand des Mannes, der die Waffe hielt auch? Würde er sie jetzt einfach erschiessen? Was für einen Sinn hatte dann die Entführung?



    Als sie spürte, dass sich der Knoten des Augentuches an ihrem Hinterkopf lockerte, und die Binde über ihre Brust in ihren Schoß fiel, wusste sie die Antwort. Ihre Augen mussten sich nur einen Augenblick an das einfallende Licht durch die Gitterstäbe gewöhnen, doch dieser Augenblick, dieser Moment vor ihren Augen brannte sich in ihr Gedächtnis. Sie sah zuerst das Oberteil des Mannes, der vor ihr stand, dessen Jacke und ihr Herz begann sich zu überschlagen und ihr wurde übel. Je höher sie blickte, die Kette an seinem Hals, der Ohrring an seinem linken Ohr... die erleichterte Freude, die eigentlich in ihr aufkommen sollte, wurde von der blanken Panik verdrängt, als sie sah, dass er und nicht ihr Entführer die Waffe auf sie richtete. Seine Haare waren länger als vorher und er trug sie immer noch wild durcheinander, jedoch anders als damals... doch es war der Blick, auf dessen nun tränengefüllte Augen Jennys blickten. Der Blick, kalt wie ein Eisblock, hellblau wie Eiskristalle. Aus ihm sprach keine Regung, keine Emotion und sein Finger legte sich um den Abzug. Jennys Mund formte sich zu einer Frage, doch es wollte kein Ton entweichen, nur wie in Zeitlupe schüttelte sie ungläubig den Kopf. Das entsetzte "Nein... bitte nicht..." kam tonlos und geflüstert über ihre Lippen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

    Einmal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Einige Tage zuvor



    Dienststelle - 14:00 Uhr



    "Oh Mann, Semir. Bitte verschone mich... warum müssen wir auf diesen saublöden Lehrgang fahren?" Bens Stimme klang gespielt weinerlich, als er mit gefalteten, bittenden Händen Semir durch das Großraumbüro folgte, und Andrea ein neckisches Grinsen nicht verbergen konnte. "Keine Widerrede.", sagte Semir beharrlich, der zwei Ordner mit Unterlagen unterm Arm trug und in das kleine Nebenbüro, wo die beiden Autobahnpolizisten arbeiteten, hinein ging. Dort warf er einen der beiden Ordner auf Ben's Seite. "Die Chefin hat angeordnet, dass wir beide diesen Lehrgang durchlaufen. Fertig, aus, Feierabend." Ben zog eine Schnute. Nicht nur, dass er sich mehrere Stunden durch langweilige Vorträge quälen musste... sie mussten auch noch über Nacht weg. Eine Nacht, die er mit seiner Freundin Carina verpasste. Er genoß jede Sekunde mit ihr, seit sie vor einem Monat zu ihm gezogen war und schweren Herzens das Elternhaus verkaufte.
    "Warum überhaupt wir? Wir arbeiten mit dem Programm so gut wie gar nicht, das machen in erster Linie Dieter und Hotte." Semir seufzte über die ständige Meckerei seines Partners und ließ sich in seinen Drehstuhl fallen. "Weil das Ministerium die Lehrgangsbudgets gekürzt hat, und Beamte über 50 deswegen, was das angeht, kürzer treten sollen. Wir beide fahren hin, hören uns das an und arbeiten die beiden dann ein. Ausserdem können wir im Streifendienst niemanden entbehren, zur Zeit." "Kein Beamter über 50? Warum darfst du dann hin?"



    Ben hatte Glück, dass sein Grinsen an den Ohren aufhörte, sonst wäre ihm der Kopf abgefallen. Semirs flammender Blick traf ihn, Witze über sein Alter hörte er in den letzten Monaten, bevor er das halbe Jahrhundert voll machte, überhaupt nicht gerne. "Deswegen fahren wir ja jetzt schon, und nicht erst im September, du Knaller. Also nimm jetzt den Ordner und les dich etwas ein, damit du nicht nur Bahnhof und Abfahrt verstehst. Wir haben nie mit dem Vorgänger-Programm gearbeitet, und es wäre gut wenn wir wenigstens die Grundbegriffe der Software schon kennen." Das Grinsen verschwand wieder und missmutig schlich Ben um den Schreibtisch herum, an Kevins Bild mit der Kerze vorbei auf seinen Platz.
    Für einen Moment war es still im Büro, nur das leise Rauschen der Autobahn drang durch das geschlossene Fenster. Es war ein trüber, regnerischer und kalter Mai-Anfang. DBEreits der März und April hatte perfekt die Stimmung der Dienststelle widergespiegelt, nachdem einen Monat zuvor erst Kevin verschollen und zwei Wochen später Jenny das Baby verloren hatte. Aber mit der Zeit heilten die Wunden, und dass es der jungen Polizisten in Hamburg immer besser ging, wie sie am Telefon erzählte, besserte sich auch die Stimmung bei Ben und Semir wieder.



    Jetzt flitzten Semirs Augen konzentriert über die Buchstaben in dem Ordner, der sie auf den Lehrgang in zwei Tagen vorbereiten sollte, doch nicht einmal nach 5 Minuten wurde er abgelenkt. Erst war es Bens Handy, das scheinbar ständig WhatsApp-Nachrichten empfing, die von dem jungen Polizisten natürlich auch prompt beantwortet wurden, dann hörte er auf einmal das schnelle Geklacker von Bens Fingern auf der Tastatur. "Welches Wort verstehst du denn nicht, dass du googlen musst?", fragte Semir süffisant, obwohl er genau wusste, dass sein bester Freund sich gerade wieder hervorragend ablenken ließ. Dessen Blick gab Semir dann endgültig recht. "Ich... hab grad noch ne Online-Auktion laufen, und wollte mal kurz..."
    Semir klappte den Ordner zusammen. "Gut, na schön.", meinte er lächelnd, stand auf und nahm seine Jacke vom Stuhl. "Ich will meinem Partner ja keine Arbeit aufhalsen, die er nicht mag. Komm, wir fahren." Ben lächelte, hatte er Semir doch soweit bekommen lieber eine gemütliche Streifenrunde zu drehen, statt diesen langweiligen Mist zu lesen. Doch er wurde enttäuscht. "Machen wir doch heute Nachmittag die allgemeine Verkehrskontrolle auf dem Rastplatz, die wir schon länger geplant hatten. Es regnet ja nicht soviel. Ich hol nur schnell unsere Regen-Capes, frag du Hotte mal wo er die Gummistiefel hingetan hat von dem letzten Unwetter."



    Ben blickte resigniert zum Fenster raus, dann wieder zu Semir, und wieder aus dem Fenster. Es regnete Bindfäden und das Thermometer hielt sich ganz und gar nicht an die Jahreszeit, hielt es vor den zweistelligen Zahlen doch noch gebührenden Respektabstand. Semir stand bereits in der Tür und sah zu Ben. "Na, was ist?" "Schon gut, schon gut. Du hast gewonnen.", grummelte er, ließ sich wieder auf den Stuhl herabsinken und nahm den Ordner wieder zur Hand. Semir wusste... wenn es etwas gab, was Ben noch mehr hasste als langweilige Unterlagen durchzulesen, dann war es im Regen arbeiten... oder Hunger haben. Beinahe schon selbstzufrieden ob seiner pädagogischen Maßnahme setzte sich auch der erfahrene Beamte wieder auf seinen Platz und zog die Jacke wieder aus.
    Das Telefon ließ Ben erneut seinen guten Vorsatz, wenigstens eine halbe Stunde am Stück zu lesen, unterbrechen. "Jäger, Autobahnpolizei. Ach, Jenny... wie gehts dir." Er hörte die gut gelaunt klingende Stimme seiner ehemaligen Kollegin... wobei sie ja eigentlich noch Kollegen waren, nur nicht mehr auf der gleichen Dienststelle im gleichen Bundesland. Jenny war vor knapp 2 Monaten nach Hamburg gezogen, weil sie einen Bruch, einen Schnitt von ihrem "alten" Leben wollte, um über den Verlust ihres Babys und ihres Freundes besser weg zu kommen. Und es schien zu funktionieren, denn übers Telefon hörte sich die junge Frau so selbstsicher und lebensfroh an, wie früher.



    "Na, alles klar bei euch? Klappt das bei euch übermorgen?", fragte sie, denn sie hatte Ben vor einigen Tagen geschrieben, dass sie zufälligerweise ebenfalls auf den Lehrgang nach Hannover fahren musste und sich die drei dort begegnen würden, zusammen mit Jennys Partner Timo. "Ach Jenny, die Aussicht darauf dich zu sehen ist das Einzige, was mich nicht in den unauffälligen Krankenschein übermorgen treibt.", sagte er ein wenig übertrieben schmeichlerisch und grinste in Semirs Richtung, der wieder über den Rand des Ordners sah und Jennys Lachen fast durch den Hörer mithören konnte. "Du Schwätzer. Das wird bestimmt lustig.", sagte die junge Polizistin und Ben ging das Herz ein wenig auf. Er hatte sie schon lange nicht mehr so unbeschwert gehört, und er freute sich darauf, endlich wieder die "alte" Jenny zu sehen... die fröhliche Jenny, die sie war, als Ben und Kevin sie kennengelernt hatten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Wohnung - 16:30 Uhr



    Der durchdringende Ton des Akkuschraubers röhrte durch die kleine 3-Zimmer-Wohnung in der Innenstadt von Köln. Patrick Heuser hielt die Tischplatte mit einer Hand, das Tischbein mit der anderen und versuchte beide Bauteile des IKEA-Esszimmertisches zusammen zu fügen. Sein Freund und Mitbewohner, Carsten Kolke, beobachtete ihn dabei vom Sofa aus... aus sicherer Entfernung. Wohlwissend, denn die Gedulds-Zündschnur von Patrick war kurz und immer nah am Feuer. Aus diesem Grund brauchten sie auch einen neuen Tisch, der alte war einem wütenden Fußtritt von dem braunhaarigen Patrick zum Opfer gefallen. Wenn jetzt der Zusammenbau nicht klappte konnte es durchaus sein, dass auch ein anderes Möbelstück dran glauben musste oder der Akkuschrauber durch die Wohnung flog.
    Patricks Gesichtsausdruck war verkniffen. Der junge Mann, gerade Anfang 30 wie sein bester Freund, schnaubte wütend und Carsten wusste, dass dessen Wut nicht vom Tisch herrührte. "Jetzt komm endlich darüber weg. Er ist tot, begreif es endlich. Genau das, was Peter mit ihm gemacht hat, macht er jetzt mit dir." Der Glatzkopf fing den Blick seines Freundes auf, dessen Augen böse funkelten. "Naja... zumindest unabsichtlich." "Hör doch auf mit dem Blödsinn.", warf ihm der Tischbauer entgegen und hantierte weiter an dem wackeligen Tischbein.



    Patrick war wütend, über ein Jahr Arbeit war umsonst. Er war dem Kerl gefolgt, beinahe jeden zweiten oder dritten Tag, immer bewaffnet mit seiner Spiegelreflexkamera. Er hat seinen Alltag nachgezeichnet, seine Wege studiert, seine Arbeit verfolgt und kennt all seine Freunde. Nur er war unsichtbar, als Phantom, als unsichtbarer Geist. Zwei ganze Ordner, unzählige gespeicherte Fotos auf seinem PC hatte er gesammelt und angefertigt. Ohja... Patrick wusste mehr über das Leben des Mannes, den er beschattete, als er vermutlich von sich selbst wusste. Er war es seinem besten Freund schuldig, seinem Freund der von diesem Mann umgebracht wurde, der von ihm vom Dach eines Fabrikgeländes gestoßen wurde. Und mit seinem Freund teilte er das dunkle Geheimnis.
    Und jetzt war alles umsonst gewesen. Der Mann war weg... verschwunden, auf mysteriöse Art und Weise mochte man meinen. Doch Patrick hatte Kontakte, in die Drogenszene von Köln, die wiederrum Kontakte in der Polizei hatte. Er war jahrelang in der Szene aktiv, genauso wie eben jener Polizist, den er verfolgte. Sie hatten miteinander gesprochen, gefeiert, im Ring geboxt und Drogen genommen. "Bei der Polizei gilt er als vermisst. Verschollen, verstehst du? Verschollen ist nicht tot."



    Carsten schüttelte den Kopf. Er kannte Patrick schon seit 8 Jahren, sie saßen zusammen 3 Jahre im Knast und hatten sich angefreundet. Sie konnten sich lauthals streiten, waren grundsätzlich bei jedem Thema anderer Meinung, waren aber wenn es hart auf hart kam ein unschlagbares Duo, das sich blind verstand. "Verschollen im kolumbianischen Dschungel. Vergiss es... mach die Akte zu. Du wirst die Rache nicht mehr bekommen, du hast zu lange gewartet." Er kratzte sich an seinem kahlen Schädel. "Wobei ich nicht verstehe, warum du so lange gewartet hast." "Das verstehst du nicht... der Typ verdient es nicht, sich einfach eine Kugel einzufangen. Er hat Peters Bruder, der damals hilflos war, tot geprügelt. Er hat Peter, meinen besten Freund, umgebracht." Patricks Stimme wurde leiser, während er zu einem unbestimmten Punkt im Zimmer schaute. "Der Kerl soll leiden..."
    "Hallo... ist jemand zu Hause dort oben? Er ist t-o-t!", buchstabierte ihm der, wesentlich rationaler denkende Teil des Duo. "Du hast doch Zack gehört. Er hat gesagt, sein Freund der mit ihm in Kolumbien war, sei sich ganz sicher." "Der hat auch nur gesehen, dass er in den Fluss gefallen ist. Mehr nicht.", widersprach ihm sein Freund, und Carsten schüttelte den Kopf. Er wusste, dass Patrick in gewisser Weise eine Schraube locker hatte und sich in Dinge verbeißen konnte, und dabei jegliche Realität ausblendete. Deswegen nutzte auch alles Diskutieren nicht.



    "Na schön. Angenommen er lebt noch. Er ist unauffindbar... versteckt er sich irgendwo? Hier in Köln, in Deutschland, überhaupt in Europa? Und warum ist er verschwunden? Hat er was bemerkt?" "Nein, hat er nicht. Das hat Annie uns doch erzählt, warum er da hinten war.", sagte Patrick und schraubte endlich die letzte Schraube ins künstlich wirkende Holz. Endlich, ein Tischbein hatte er dran. "Die glaubt übrigens auch nicht daran, dass er tot ist." "Warum wohl...", spottete Carsten und lehnte sich auf der Couch wieder zurück. "Was ich damit sagen will, ist dass ich nicht glaube, dass du etwas erreichst wenn wir seine Freundin entführen. Wenn die wüsste, wo er ist, hättest du ihn längst gesehen, so intensiv wie du sie beschattet hast. Sogar bis Hamburg bist du gefahren." "Ja, und es hat sich auch gelohnt, mein Freund."
    Der Freund zog die Augenbrauen hoch. Er wusste nicht alles über Patricks Leben, zumindest ein Detail hatte er ausgelassen... nämlich den ersten Teil von Peter Beckers Rache an dem jungen Polizisten für den Tod seines Bruders... nämlich die Vergewaltigung dessen kleiner Schwester und ihr anschließender Tod. Neben Peter und Timmy war Patrick der dritte Beteiligte, was aber niemals herausgekommen war, sonst wäre der Mann heute nicht mehr am Leben. Timmy kam durch einen Unfall im Gefängnis ums Leben.



    Carsten stand kopfschüttelnd von der Couch auf. "Ich muss mal los. Jetzt versuch mal ein bisschen runter zu kommen, und überleg dir das nochmal, ob du das morgen wirklich durchziehen willst. Ob es wirklich Sinn macht.", sagte er mit beinahe beruhigender Stimme und klopfte seinem Freund, der auf dem Boden saß, den demontierten Tisch vor sich, auf die Schulter. Der sah Carsten nicht an, nickte aber zustimmend. "Ja, das tue ich. Okay?" "Gut...". Langsam, mit der Jacke in der Hand ging der tättowierte Glatzkopf Richtung Ausgangstür. "Aber egal, wie du dich entscheidest...", sagte er an der Tür und drehte sich nochmal zu Patrick um. "Du kannst auf mich zählen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Dienststelle Hamburg - 18:00 Uhr einen Tag später



    Jenny packte gerade ihre Sachen vom Schreibtisch zusammen in ihre modische Umhängetasche. Schreibblock, ihre Brieftasche, zwei Kugelschreiber. Morgen würden sie direkt zu dem Lehrgang nach Hannover aufbrechen, ohne nochmal in der Dienststelle vorbei zu fahren, deswegen nahm sie alles, was sie brauchte mit. Heute war ihr und Timo noch ein toller Zufallsfund geglückt, als sie auf den Tipp eines Informanten hin ein Warenlager ausfindig gemacht hatten, dessen Besitzer tatsächlich die Hütte im Hamburger Hafen auf seinen Namen angemietet hatte. Er gestand erst vor wenigen Stunden 14 Einbrüche in Hamburgs nobelsten Vororten, und verschafften so den beiden Ermittlern ein äusserst befriedigendes Gefühl vor Feierabend.
    "Kannst du morgen gleich bei deinen Kollegen prahlen.", kicherte Timo, als er im Türrahmen gelehnt stand und auf Jenny wartete. Sie machten eine Fahrgemeinschaft zusammen, da sich herausstellte dass der blonde junge Mann ganz in der Nähe wohnte, wo Jenny ihre Wohnung gefunden hatte. Jetzt stand er mit dem Autoschlüssel in der Hand parat, um die junge Beamtin mit nach Hause zu nehmen, dabei lächelte er... was er eigentlich fast immer tat.



    Timo war das, was man eine Frohnatur nennen konnte. Seine grünen Augen blickten immer freundlich, sein Mund lächelte oft. Dazu war er immer höflich und es schien, als käme der Ausdruck "schlechte Laune" überhaupt nicht in seinem Wortschatz vor. Selbst, wenn er Verbrecher verhörte, blieb er höflich und verkörperte so perfekt den Part des "guten Bullen.", den bösen Part übernahm dann sein Kollege Gregor, der diesen Part nicht mal spielen musste, denn Grefor hatte oft die Laune, als wenn sich die ganze Welt gegen einen verschworen hätte. Jenny fühlte sich zwischen beiden sehr wohl, waren sie doch beide die Extreme, zwischen denen ihr Gemüt oft ausschlug. Timo brauchte sie vor allem, um gut gelaunt arbeiten zu können.
    Der Junge, der aus Hamburg stammte, war erst vor zwei Jahren von der Polizeischule gekommen, war dann im Streifendienst und erhielt jetzt die Chance, sich in den Kriminalpolizei-Abteilungen zu empfehlen. Wo er, wegen seines jungen Aussehens und mangelndem Durchsetzungsvermögen seiner Ausstrahlung auf der Straße oft Probleme hatte, half ihm jetzt sein Spürsinn, seine Beharrlichkeit und seine Cleverness. Oft kam er auf Zusammenhänge, die so vorher keiner im Kopf hatte. Was man ihm ausserdem nicht ansah, war sein schwarzer Gürtel in Karate. Diesen Selbstverteidigungssport betrieb er schon, seit er 10 ist. Seine hellblonden Haare trug er oft in einem modischen Seitenscheitel und er betonte oft, dass sie trotz der Helle nicht gefärbt waren. Seine Eltern kamen ursprünglich aus Schweden, erzählte er Jenny.



    Die beiden jungen Polizisten stiegen vor der Dienststelle ins Auto und Timo fädelte sich in den Feierabendverkehr in Hamburg ein. "Ich bin wirklich so gespannt auf deine ehemaligen Kollegen. Nachdem, was du alles über sie erzählt hast, müssen das ja echt dufte Jungs sein." Die junge Frau nickte. "Das sind sie. Und die besten Freunde, die man sich vorstellen kann.", fügte sie hinzu und dachte an die vielen Momente, die sie mit Ben und Semir erlebt hatte... und natürlich mit Kevin. Aber von ihm hatte Jenny noch niemandem hier in Hamburg erzählt. Sie versuchte, das Thema erstmal gar nicht an sich ranzulassen. Natürlich dachte sie oft an ihn, natürlich vermisste sie den jungen Mann in ihrem Bett, wenn sie nachts alleine einschlief. Aber darüber reden... anderen zu erzählen. Nein, das wollte sie momentan noch nicht.
    Und so wusste auch Timo nichts von dem dritten Polizisten, mit dem Jenny nicht nur zusammen gearbeitet hatte, sondern den sie auch geliebt hatte, mit dem sie zusammen gelebt hatte. Nach nur 15 Minuten Fahrzeit hielt er den privaten Opel vor einem modernen, beinahe neu gebauten Mehrfamilienhaus an, wo Jenny wohnte. Ihr Vater, noch mit guten Kontakten nach Hamburg, hatte ihr die Wohnung besorgt und mit dem befreundeten Vermieter Sonderkonditionen ausgehandelt. "Wir sehen uns dann morgen, okay?", sagte Timo und lächelte, wie immer... diesmal ein wenig schüchtern. Er hoffte insgeheim immer ein wenig darauf, dass Jenny ihn mal fragte, ob er noch mit nach oben kommen will... einen Kaffee trinken. Er selbst würde sich wohl niemals trauen zu fragen. "Ja. Kommst du mich abholen?", fragte Jenny und schaute durch das offene Fenster nochmal ins Auto. Der junge Polizist nickte, und sie verabschiedeten sich.



    Die Treppenstufen nach oben hatte Jenny erst einmal gesehen... beim Einzug. Seitdem nahm sie immer den Aufzug in den zweiten Stock, wo ihre Wohnung lag. Modern geschnitten, modern eingerichtet mit einem schönen Balkon in Richtung eines Waldstücks, aus dem morgens der Nebel aufstieg und den man bei Wind herrlich rauschen hören konnte. Es war hier alles ein wenig offener, weiter und nicht so eng zugeschnürt wie im Ruhrgebiet. Jenny warf die Tasche an die Garderobe, legte sie dann aber wohlwissentlich, sie morgen zu vergessen, doch direkt vor die Wohnungstür. Ihr blick schweifte den kurzen Flur bis zum Wohnbereich, und sie stutzte einen Moment. Die Badezimmertür war nur angelehnt... etwas, was Jenny niemals tat.
    Sie hatte den Tick, dass das Badezimmer aus hygienischen und Wärmegründen (für einen Frau gab es nichts schlimmeres, als abends vorm Duschengehen ein kaltes Badezimmer) immer geschlossen war. Sie hätte jetzt hingehen können, und die Tür einfach zu ziehen... doch sie war eine Polizistin. Und so drückte sie die Tür auf um hineinzusehen, ob sie vielleicht das Fenster vergessen hatte zu schließen.



    Auf diesen Umstand warteten Carsten und Patrick. Sie warteten nämlich in einer Art Vorrats- und Gerümpelkammer, die direkt neben der Eingangstür lag und rechneten damit, dass Jenny im Bad nachschauen würde. Genauso leicht, wie sie das Schloß des Eingangs ohne Schaden geknackt hatten, so schnell bewegten sie sich jetzt aus ihrem Versteck heraus. Beinahe lautlos waren sie an Jenny herangetreten, die erst zu spät ein Geräusch hinter sich realisierte. Ihr kurzer Schrei wurde erstickt vom beißenden Chloroform-Geruch aus dem Tuch, das Patrick ihr aufs Gesicht drückte. "Süße Träume, Kleines.", war das letzte, was sie vernehmen konnte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienstwagen - 10:30 Uhr



    Heute konnten die Hamburger Kommissare ausschlafen, denn der Lehrgang in Hannover begann erst um 13 Uhr, damit die Beamten aus weiter entfernten Bundesländern genügend Zeit für die Anfahrt hatten. Manche, die aus München und Baden-Würtemberg reisten sogar schon am Vorabend an. Timo saß in seinem Dienstwagen und sah ein wenig ungeduldig auf die Uhr, denn Jenny ließ sich Zeit, was eigentlich überhaupt nicht ihre Art war. Er war gestern ein wenig enttäuscht, hatte er doch diesmal das Gefühl gehabt, vielleicht einen Schritt auf die junge Beamtin zu zu gehen, die ihm nicht mehr aus dem Kopf ging, seit sie ihren Dienst in der Hansestadt angetreten war. Aber der Typ war Timo nicht, dazu war er zu schüchtern, und so genoß er es, mit Jenny zu arbeiten.
    Als er ausstieg, um an dem Mehrfamilienhaus zu klingeln, fiel ihm auf dass Jennys Kleinwagen nicht auf dem angestammten Anwohnerparkplatz stand. Der junge Polizist zog verwundert die Augenbrauen hoch und drückte nochmals auf den Klingelknopf hinter Jennys Familienname. Ein wenig Ratlosigkeit und Unbehagen zog in ihm auf, als sich auch niemand am Handy meldete... im Gegenteil. Die Mailbox sprang sofort an, das Handy war also ausgeschaltet. Für einen Moment stand Timo auf der Eingangstreppe und wusste nicht, was er tun sollte.



    Langsam bewegte er sich in seinen modischen Turnschuhen zurück zum Auto und wählte die Nummer seines Vorgesetzten. "Ähm Chef... Jenny ist nicht zu Hause, geht nicht an ihr Telefon und das Auto ist auch weg. Eigentlich waren wir verabredet, dass wir zusammen nach Hannover fahren.", sagte er beinahe pflichtbewusst. "Hmm, komisch. Vielleicht ist sie krank und zum Arzt gefahren. Hat das Handy aus, und noch niemanden angerufen, weil sie nicht weiß, wie lange sie Krankenschein bekommt. Mach dir keinen Kopf, Junge. Fahr halt alleine nach Hannover, ich melde mich wenn ich was von ihr höre." Wirklich beruhigen konnte das den blonden Polizisten mit schwedischen Wurzeln nicht. Er hatte erwartet, dass Jenny sich vorher bei ihm meldet, vor allem um ihm zu sagen, dass er nicht extra bei ihr vorbeifahren musste. "Alles klar.", gab er durch das Telefon und startete den Motor.
    Mit einem mulmigen Gefühl steuerte er den Wagen Richtung Süden auf die A1, um später auf die A7 zu wechseln. Seine Gedanken kreisten dabei weiter um Jenny, und obwohl er sie noch nicht in und auswendig kannte, so kam ihm das Verhalten komisch vor. Hätte er vielleicht öfters nochmal klingeln sollen? In ihre Wohnung reingehen, um nach zu sehen, ob etwas passiert war? Nein, das wäre nicht legal... aber zumindest würde er sich dann keine Sorgen mehr machen. Die Fahrtzeit von knapp 2 Stunden flog an ihm vorbei, so intensiv dachte er über seine Kollegin nach.



    Beim LKA Hannover parkte er auf dem Besucherparkplatz und stiefelte mit Notizblock bewaffnet in Richtung der Schulungsräume. An der Pforte bekam er Namensschild und Wegbeschreibung, als "Pfand" musste er seinen Dienstausweis abgeben. In einem Vorraum tumelten sich jede Menge Leute, alle mit Namensschildern auf denen auch die unterschiedlichen Dienststellen aufgedruckt war. Man unterhielt sich, man trank eine Tasse Kaffee aus dem Automaten im Flur oder nahm sich eine Stärkung Kekse von den aufgebauten Tischen. Im Schulungsraum selbst saß noch kein Mensch, nur der Beamer lief schon mal warm.
    Jenny hatte Timo auf dem Smartphone Bilder von Semir und Ben gezeigt und nach denen hielt der Polizist nun Ausschau. Sie fielen ihm sofort auf, sie standen beide an einem Stehtisch und spielten "Stein - Schere - Papier." Der Kleine mit den kurzen Haaren gewann mit Stein gegen die Schere und winkte grinsend Richtung Flur, während der größere mit den etwas zersausten langen Haaren beinahe missmutig das Gesicht verzog und in Richtung Kaffeeautomat ging. Eindeutig... das waren Semir und Ben, Jennys ehemalige Kollegen.



    Mit wenigen Schritten war Timo bei dem Polizisten, den er vielleicht um einen halben Kopf überragte. "Hallo... sind sie... Semir Gerkhan aus Köln?", fragte er dann fast wie ein Fan einen Superstar anspricht. Semir sah ein wenig gespielt auf sein Namensschild, wo der komplette Name und auch "Autobahnpolizei NRW" stand, bevor er grinsend antwortete: "Sieht ganz so aus." Die lockere und freundliche Stimme ließ Timo sofort ebenfalls lächeln und er hielt ihm die Hand hin. "Mein Name ist Timo Söderberg. Ich bin der Kollege von Jenny... sie hat viel über euch erzählt." "Ach sieh an...", sagte der erfahrene Polizist freundlich und schüttelte die ausgestreckte Hand. Sofort danach sah er sich aber verwundert um. "Und wo ist Jenny? Du wirst sie doch nicht unterwegs verloren haben..." "Tja..."
    Noch bevor Timo antworten konnte, kam Ben mit zwei Tassen Kaffee in der Hand zurück. "Dafür gehst du in der Pause die Kekse holen, mein Lieber.", krakeelte er und wollte Semir eine Tasse Kaffee herüberreichen. Der griff aber, für Ben überraschend, mit beiden Händen beide Tassen und reichte eine an Timo weiter. "Ich lad dich ein.", meinte er lächelnd und sah dann in das Gesicht seines perplexen Partners. "Das ist Timo, der Partner von Jenny." Ben sah zu Timo und grinste schon absichtlich geschauspielert. "Hallo Timo. Ich bin Ben, der Partner von "Hab ich gerade vergessen."", wobei er Letzteres deutlich unfreundlich in Semirs Ohr zischte. "Lass dir den Kaffee schmecken.", brummte er grinsend und nicht unfreundlich, bevor er den Weg zum Automaten ein zweites Mal antrat.



    "Ja, wo ist Jenny denn nun?" "Tja... ich sollte sie eigentlich zu Hause abholen... aber sie war nicht da.", erklärte der blonde junge Mann. "Nicht da? Obwohl ihr verabredet wart? Das ist eigentlich nicht Jennys Art.", meinte Semir und das Lächeln und die Lockerheit verschwand ein wenig. "Eben... ich hatte mir ein wenig Sorgen gemacht, aber mein Chef meinte, dass sie vielleicht krank ist und zum Arzt. Ihr Wagen war jedenfalls nicht da." "Hast du sie mal versucht anzurufen?" Timo nickte: "Ja, aber ihr Handy ist ausgeschaltet. Ich hab es ein paar Mal versucht."
    Semir machte einen etwas besorgten Gesichtsausdruck, als der Dozent die Menge in den Schulungsraum bat. Ben kam gerade noch als Letzter rein, mit einer dampfenden Tasse Kaffee und vier Keksen zwischen die Finger geklemmt, als würde es bis morgen Nachmittag nichts mehr zu essen geben. Timo setzte sich zu den beiden Autobahnpolizisten, und Semir erzählte seinem Partner leise, was er gerade erfahren hatte...

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Schulungsgebäude Hannover - 13:30 Uhr



    Die Schulung hatte noch keine halbe Stunde gedauert, da hatte Semir den Raum schon das zweite Mal verlassen. Vor der Tür versuchte er, Jenny zu erreichen... doch jedes Mal meldete sich sofort nach Verbindungsaufbau die Mailbox der jungen Frau. "Jenny, hier ist Semir. Melde dich doch bitte, sobald du das hier hörst. Wir machen uns Sorgen." Als er in den Raum zurückkehrte bemerkte er die sorgenvollen Gesichter von Ben und Timo... und ein wenig wunderte er sich, dass beide scheinbar gleich besorgt waren. Ben, der Jenny schon über Jahre kannte und viel mit ihr erlebt hatte, und Timo der Jenny gerade mal ein paar Wochen kannte... und dem die junge Frau scheinbar sehr am Herzen lag.
    Nach einer Stunde läutete der Dozent die erste Kaffeepause ein. "Ich kann nicht mehr ruhig sitzen, Semir. Da stimmt was nicht.", sagte Ben leise zu seinem Partner, als im kompletten Saal Stühlerücken zu hören war, als ob sich eine wütende Meute gleich auf den Kaffee stürzen würde. "Seh ich genauso.", meinte der erfahrene Polizist ein wenig kurz angebunden und ging zu dem Dozenten nach vorne zum Schreibtisch. "Sie müssen uns leider entschuldigen. Wir sind von unserer Dienststelle zurück beordert worden, wegen eines drigenden Einsatzes.", sagte er lächelnd aber überzeugend, in einem Tonfall der keine weiteren Fragen duldete oder gar Widersprüche. "Okay Herr Gerkhan. Ich trage sie und Herrn Jäger dann aus. Kommen sie morgen dann zum zweiten Teil?" Semir sah kurz zu seinem Partner der eine kurze "Hals-ab"-Geste zeigte und den Kopf schüttelte. "Ich... ähm... denke dass das länger dauern wird." meinte er versöhnlich und schüttelte dem Mann die Hand. "Herrn Söderberg nehmen wir mit, den brauchen wir zur Unterstützung.", sagte der kleine Polizist noch schnell, bevor er zu den beiden Männern zurückkehrte. Erst, als sie bereits im Auto waren, fiel dem Dozent auf, dass die beiden Präsidien eigentlich zu weit auseinander lagen für gegenseitige Unterstützung.



    Timo war positiv überrascht, dass Semir ihn völlig selbstverständlich miteinbezog. Als junger Kommissar, der auch noch recht jung und unbedarft aussah, war er es oftmals gewohnt, einfach übergangen zu werden, vor allem von alteingesessenen Polizisten mit ihren jahrzehntelang erprobten Routinen. Ihn hätte es jetzt nicht gewundert, wenn die beiden Männer von Cobra 11 den blonden Jungen beiseite geschoben, ihm auf die Schulter geklopft und gesagt hätten: "Mach du mal den Lehrgang, wir kümmern uns drum." Doch der kleine Polizist, den er wie Ben sofort gut leiden konnte, spürte dass Timo sich ebenfalls ernsthafte Sorgen um Jenny machte. Und nichts war schlimmer, als dann ausgegrenzt und unwissend sitzen gelassen zu werden. Nein, das kam für Semir überhaupt nicht in Frage. Ausserdem war bei einer eventuellen Suche ein Polizist mit Ortskenntnis immer von Vorteil.
    Zu dritt verließen sie schnellen Schrittes das Schulungsgebäude der Hannoveraner Polizei, und Ben konnte nicht anders als auf seine eigene Art und Weise erleichtert auf zu atmen. Er konnte aus jeder Situation immer etwas Gutes gewinnen. "Wenn du gesagt hättest, dass wir morgen wieder kommen... ich hätte dich auf links gezogen." "Blabla... um mich auf links zu ziehen müssen Maschinen kommen, keine Ersatzteile.", frozzelte Semir und grinste Timo an, als der in seinen Dienstwagen stieg. "Ich wusste, dass Hamburg sparen muss, aber dass es so schlimm ist.", meinte auch Ben nun scherzhaft, als die beiden Kommissare mitleidvoll auf den Opel blickten, in den der blonde jungen Mann einstieg... aber ebenfalls lachen musste.



    Innerhalb von knapp zwei Stunden fuhren sie im Konvoi in Richtung Hansestadt. Bei einem kurzen Handy-Telefonat besprachen sie miteinander, dass sie zunächst nochmal zu Jenny in die Wohnung fahren würden, um zu sehen, ob sie vielleicht mittlerweile vom Arzt zurückgekehrt war, und vielleicht einfach nicht bemerkt hatte, dass ihr Handy nicht funktionierte. Vorbehaltlich informierte Ben danach aber auch ihren Technik-Kollegen Hartmut, der Jennys Handy einer Ortung unterziehen sollte. Noch bevor sie in Hamburg an kamen war das nichtssagende Ergebnis, dass der letzte Funkkontakt gestern abend an einem Funkmast in der Nähe von Jennys Wohnung war. Das brachte die Kommissare natürlich nicht weiter, und so parkten sie hintereinander auf den Anwohnerparkplätzen vor Jennys Wohnung.
    Ben nickte anerkenned. "Nettes Häuschen hat sie sich da ausgesucht." "Gemessen an deinen oder normal-sterblichen Standards.", fragte Semir und steckte den Schlüssel in die Jeanstasche. "Ach, der Neid.", hauchte der junge Polizist seinem blonden Nebenmann zu, der den Witz nicht verstand weil er nicht wusste, dass Ben aus einer ziemlich reichen Familie kam und sich deshalb von Haus aus einen ganz anderen Standard erlauben konnte, als Semir in Bens Alter. Trotzdem gab es natürlich keinen Neid zwischen den beiden, Ben schämte sich manchmal ein wenig seiner Herkunft, und Semir nutzte das zu einigen Frozzeleien.



    Auch von innen machte das Haus den hochwertigen Eindruck, den man von aussen schon erkennen konnte. Wohl wissentlich umgang Ben den Aufzug und führte den Zug durchs Treppenhaus an, bis man vor Jennys Wohnungstür stand. "Hast du mal nach nem Schlüssel geguckt? Normalerweise versteckt Jenny immer einen für den Notfall.", sagte der Polizist, nachdem man vergeblich angeklopft hatte, und schaute sich um, bis ihm ein ziemlich großer Blumentopf auffiel. "Hmm... nein... ich...", stotterte Timo ein wenig, als Ben die Pflanze im Topf hochhob und einen Schlüssel aus der Erde puhlte. Jennys Gewohnheiten hatten sich nicht verändert, dachte er lächelnd und steckte den Schlüssel ins Schloß. "Ähm... ich wäre auch nicht reingegangen... ich kann doch nicht einfach bei einer Kollegin in die Wohnung eindringen." Semir verstand Timo und merkte nun auch, dass das Verhältnis der beiden zwar freundschaftlich war... aber auch noch als normale "Kollegen." "Jenny ist keine Kollegin von uns. Sie ist Familie.", wurde der junge Mann von Semir ein wenig belehrt. "Und für die Familie gibt es keine verschlossenen Türen."
    Timo war einigermaßen beeindruckt... nicht nur von der Art Semirs, sondern von dem Verhältnis was zwischen den ehemaligen Kollegen herrschte. "Familie...", ein Wort das er auf der Arbeit nie gehört hatte. Das Klima bei der Hamburger Polizeiabteilung war zwar gut, und man verstand sich untereinander... aber dass er die Kollegen als Familie bezeichnen würde, das kam ihm nie in den Sinn. "Vielleicht...", dachte er laut "...bin ich dazu noch nicht lange genug dabei."



    Ben lief voran. "Jenny? Jenny, bist du da?" Vor jedem Raum, in den er sah, setzte sein Herz kurz aus, jedes Mal hatte er die Befürchtung, er würde die bewusstlose junge Frau irgendwo finden. Er wollte es eben während der Fahrt nicht sagen, aber er hatte immer wieder den Anflug einer grauenhaften Befürchtung, dass Jenny im Bezug auf Kevin und den Verlust des gemeinsamen Kindes einen Rückfall erlebt hatte... einen Rückfall, der ohne Stütze ihrer Freunde vielleicht anders endete. Er wollte den Gedanken verdrängen, doch er war wie ein Bumerang, der immer schneller zurückkam, je weiter man ihn versuchte weg zu werfen. Doch die Befürchtung bestätigte sich nicht... alle Räume waren leer. Timo bewegte sich eher vorsichtig durch die Wohnung, man spürte dass es ihm unangenehm war. Interessiert blieb er vor einem Bild stehen, neben dem eine erloschene weiße Kerze stand.
    "Am Schloß sind Kratzer. Schwierig zu sagen, ob das von einem Einbruch ist, oder ob sie einfach mal mit dem Schlüssel daneben gestochert hat...", sagte Semir nachdenklich und richtete sich von der Eingangstür wieder auf. "Schlüsselbund ist keiner da... und das Auto ist auch weg. Als wäre sie irgendwohin gefahren." Dann richtete sich Ben an Timo, der von dem Bild aufsah: "Aber dann hätte sie dir garantiert Bescheid gesagt..." "Bei unserm Chef hat sie sich auch nicht gemeldet... ich hab vorhin nochmal gefragt." Die drei Männer standen nachdenklich in der Wohnung und stemmten die Hände in die Seite. "Irgendwas stimmt hier nicht... soviel steht fest.", sagte Semir, als wäre es eine unumstößliche Tatsache... nur helfen tat sie den Beamten nicht.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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  • Keller - 14:00 Uhr



    Das Betäubungsmittel hatte ihre Wirkung nicht verfehlt, denn Jenny schlief tief und ausgiebig. Es wurde fast mittag, bis sie erwachte und Carsten hatte Patrick bereits angeraunzt, als sie nach Jenny schauten: "Hoffentlich hast du ihr mit dem Zeug von deinem Dealer nicht das Licht ausgeknipst... dann war der ganze Aufwand umsonst." Carsten winkte nur ab und zog an seiner Zigarette. "Wird schon nicht. Das ist Betäubungsmittel und kein Gift." Dann verließen sie den dunklen und kühlen Kellerraum wieder, wo die junge Frau auf einer Matratze lag, eine nicht ganz saubere Wolldecke neben sich liegen hatte, die Arme mit einem Tuch zusammengebunden... zum Bauch, nicht auf dem Rücken. Zusätzlich war dieser Fessel an der Wand fixiert... sie konnte sich aufrichten, hinsetzen, aber nicht weglaufen.
    Als sie langsam erwachte, blinzelte sie, denn das bisschen Licht was durch dicke Glasbausteine hinterm Gitter in den Raum fielen, blendete sie ein wenig. Ausserdem schmerzten ihre Augen wegen des langen Schlafes, schmerzten die Handgelenke trotz der recht weichen Fesseln und schmerzte ihr Genick, weil sie recht unbequem so lange gelegen hatte. Es fühlte sich an wie eine durchzechte Nacht mit viel Alkohol und dem Einschlafen auf einer unbequemen Couch. In der Jugendzeit hatte sie so etwas hin und wieder mal erlebt.



    "Ich bin entführt worden.", kam ihr sofort in den Sinn. Die offene Badezimmertür... eine Falle. Gott, wie konnte sie so blöd sein... die Gangster waren in ihre Wohnung eingedrungen, hatten auf die gewartet und Jenny war ihnen eiskalt auf den Leim gegangen. Aber wer dachte denn sofort an sowas, statt daran dass sie einfach vergessen hatte, die Badezimmertür zu schließen. Die junge Polizistin hatte niemanden erkannt, niemanden gehört... absolut nichts. Sie blickte sich um, nachdem sie wieder vollständig zu sich war. Die Beine schüttelte sie aus, es kribbelte denn sie waren in der unbequemen Haltung eingeschlafen. In dem kalten, scheinbar recht alten Kellerraum war nichts... absolut nichts. Kein Regal, keine Flaschen, nur die Matratze, ein Holzstuhl und der Ring an der Wand an dem sie angebunden war. Keine Möglichkeit sich zu befreien.
    Jenny seufzte entmutigt. Sie hatten gestern den Serieneinbrecher festgenommen... war dessen Verschwinden etwa in der Szene schon aufgefallen? War es eine Entführung aus Rache? Aber Einbrecherringe gingen normalerweise niemals das Risiko einer Entführung ein... sie rächten sich nicht, wie es vielleicht Drogenbanden oder Mörder taten, die sie von ihrer Zeit bei der Autobahnpolizei noch kannte. Einbrecher zogen es vor, den Kopf in der Deckung zu behalten, und wenn man nicht gerade zu einer Familie gehörte, war der Zusammenhalt auch nicht gerade besonders.



    Weil Jenny keine Uhr am Arm trug, und auch hier Handy verschwunden zu sein schien, hatte sie kein Gefühl dafür, wie viel Uhr es war. Sie konnte nur erahnen, wie lange sie bereits wach war, bis sie zum ersten Mal Stufen hörte, die eine nahgelegene Treppe herunterkamen. Nur wenige Augenblicke danach schwang die Tür auf, nachdem sich ein alter Schlüssel im Schloß ein paar mal umgedreht hatte. Jennys Herz begann schneller zu schlagen, fester zu schlagen. Sofort tauchten Bilder in ihrem Kopf auf... Bilder, die sie schon längst verbannt hatte in die letzte Ecke ihrer Seele, die aber immer mal wieder hervorkrochen in Alpträumen, die sie hatte. Aber immer, wenn sie dann schweißgebadet wach wurde, war neben ihr im Bett jemand, der sie sofort festhielt... tröstete... und beschützte.
    Dieser Jemand war nicht mehr da. Er lag ertrunken irgendwo am Flussufer von Kolumbien... und Jenny musste mit dem gelegentlichen Alptraum ihrer Vergewaltigung alleine zurecht kommen. Jetzt stürmten diese Bilder wieder an die Oberfläche, denn sie lag hilflos auf der Matratze und wusste den Grund ihrer Entführung immer noch nicht. Wie oft wurden Frauen entführt, nur um die abartigsten Fantasien mancher Menschen zu erfüllen. Sie blickte den noch recht jung wirkenden Mann mit den braunen Haaren angsterfüllt an, der ihr eine Tüte an die Matratze lag, dazu eine Flasche Wasser.



    "Na? Ausgeschlafen?", fragte er selbstverständlich, als sei er ein Zimmerservice, und ein verwirrter Blick traf ihn. Erleichterung einerseits in Jenny... zumindest fiel der Typ nicht sofort über sie her... andererseits stieg die Angst. Der Mann hatte sich nicht maskiert, machte sich scheinbar keine Sorgen von Jenny irgendwann nochmal erkannt zu werden. Scheinbar hatte er nicht vor, sie so schnell wie möglich nach Erhalt eines Lösegeldes wieder frei zu lassen. "Was... was wollen sie von mir?", fragte die junge Frau zaghaft aber mit einer gewissen Sicherheit in ihrer Stimme. Der Typ hatte sich verkehrt auf den Holzstuhl gesetzt, dicht bei Jenny und hatte sich mit den Armen auf die Lehne gelehnt. Der Stuhl knackte dabei bedrohlich.
    "Ich will von dir nur wissen, wo er sich versteckt?", sagte Patrick mit einer unglaublich ruhig wirkenden Stimme. Er hatte nach aussen nichts brutales an sich, als könne er kein Wässerchen trüben. Dass er damals zusammen mit Timmy und Peter Kevins Schwester brutal vergewaltigt hatte, bevor Peter ihr die Kehle aufschnitt, würde man ihm niemals zutrauen... wenn man ihn nicht kannte. "Wo sich... wer versteckt?", fragte Jenny, denn sie stand bzw saß wortwörtlich auf dem Schlauch. Sie hatte sich in ihrem möglichen Bewegungsradius möglichst bequem mit dem Rücken an die Wand gesessen.



    "Ich will von dir wissen, wo Kevin ist. Und jetzt erzähl mir nicht auch noch, er wäre in Kolumbien von einer Brücke gefallen." Jennys Herz setzte nun endgültig aus, ihr Puls beschleunigte sich und ihr wurde gleichzeitig heiß und eiskalt. "A... aber... sie hatten es... es gesehen. Kevin ist tot.", sagte die junge Frau zitternd und ihr Hirn dachte nicht richtig nach. Sie war plötzlich, fernab der Entführung, in einer mentalen Ausnahmesituation. Dieser Mann glaubte nicht, dass Kevin tot sei? Warum glaubte er das nicht? Warum war er sich so sicher, dass der junge Polizist noch lebte? Jenny konnte nicht ahnen, dass es rein der Rachegedanke in Patrick war, der diesen Glauben aufrecht erhielt... und das Denken, den jungen Mann zu kennen.
    "Annie hat es gesehn... und sie würde jede Lüge verbreiten, um an noch mehr Drogen zu kommen." Jennys Lippen zitterten. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte. "Pass auf... es bringt nichts mich anzulügen. Ich weiß alles über dich und ihn... dass er vor einigen Monaten zu dir gezogen ist, dass er Annie und ihre stinkigen Punks verraten hat und mit wem er wann und wo zusammenarbeitet. Dass er im Knast war und einen Polizisten fast umgebracht hat. Ich kenne ihn besser, als er selbst.", sagte der Mann, und seine Stimme klang zunehmend bedrohlicher, während Jenny immer weiter in einen schwarzen Abgrund zu fallen schien. "Wer hat es noch angeblich gesehen?", fragte Patrick, und Jenny dachte über die Antwort nicht weiter nach... es war wie eine Reaktion. Ihre piepsige Stimme nannte Juans Namen...

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  • Dienststelle Hamburg - 15:00 Uhr



    Semir und Ben waren schon fast beeindruckt von dem großen gläsernen Gebäude, wo das Landeskriminalamt Hamburg untergebracht war. Obwohl die Behörde nur für den Stadtstaat Hamburg zuständig war, war es ziemlich imposant anzusehen. Timo redete die Erscheinung aber sofort herunter. "Wir haben davon nur einen kleinen Teil. Es sind noch einige Firmen in dem Komplex untergebracht." Die Polizeibehörde hatte einen abgetrennten Gebäudebereich mit eigenem Eingang, der durch einen Transponder gesichert war. Gerade als Timo den Transponder an den Aufzug halten wollte, machte Ben eine Handbewegung mit ausgestrecktem Finger. "Ich nehm die Treppen, ich muss mich ein wenig bewegen." Semir grinste nur, was der blonde Junge nicht ganz verstand.
    Im zweiten Stock angekommen musste Timo einen weiteren Sicherungsbereich mit dem Transponder öffnen, auf dem langen modernen Flur kam ihm sofort ein etwas älterer Mann gestikulierend entgegen. "Timo, was machst du denn hier? Du solltest doch auf dem Lehrgang sein." Die Stimmlage war mehr überrascht, weniger vorwurfsvoll. "Hi Gregor. Das sind Semir Gerkhan und Ben Jäger von der Autobahnpolizei in NRW.", stellte der junge Kommissar die beiden Fremden erstmal vor, während sich der ältere Mann als "Gregor" vorstellte und den beiden Kollegen die Hand schüttelte.



    Erst dann rückte Timo mit der Sprache raus, weshalb sie nicht mehr in Hannover waren. "Jenny ist verschwunden." "Wie verschwunden? Der Chef hatte doch gemeint, sie sei sicher krank.", sagte Gregor verwirrt und versenkte die Hände in die Taschen seiner Stoffhose. Er war vielleicht Ende 40, die Haare hatten einen grauen Ansatz und er war offenbar der Überzeugung, dass es bereits jetzt der richtige Zeitpunkt wäre, Shirt und Jeans gegen Hemd, Krawatte und Stoffhose einzutauschen. Sein Bauchansatz und die hohe Stirn verstärkten diesen Eindruck zusehends, und für einen Moment wirkte der ungefähr gleichaltrige Semir 10 Jahre jünger und drahtiger als Gregor.
    "Wir glauben, dass da etwas nicht stimmt.", meinte Timo. "Nicht stimmt?" "Wir haben über zwei Jahre mit Jenny zusammengearbeitet. Und wir können mit Sicherheit sagen, dass sie nicht einfach zu Hause bleibt oder irgendwohin zum Arzt fährt, ohne sich abzumelden.", versicherte Semir nun und sein bester Freund fügte hinzu: "Ausserdem war ihr Handy gestern abend zuletzt eingeloggt auf einem Funkmast in der Nähe ihrer Wohnung, seitdem ist es ausgeschaltet. Und ihr Handy hat sie normalerweise immer dabei, mit vollen Akkus. Es ist alles sehr merkwürdig." Gregor dachte nach, wobei er eine Hand in die Seite stemmte und sich mit der anderen durch die grauen Haare fuhr. "Das ist es tatsächlich. Kommt in mein Büro, wir müssen uns hier nicht im Flur auf die Füße treten."



    Im geräumigen Drei-Mann-Büro bot der Polizist den beiden Besuchern erst einmal einen Kaffee an, bevor alle einen Platz zum Sitzen fanden... Semir auf Jennys Stuhl und Ben auf der Fensterbank mit einem herrlichen Blick auf die Elbe. Dem erfahrenen Polizisten fiel an Jennys Platz auf, dass sie die Vergangenheit komplett zu Hause gelassen hatte. Kein Bild von Kevin, kein Hinweis auf die Autobahnpolizei, wie etwa das Mini-Polizeiauto, das er ihr zum Abschied geschenkt hatte. Scheinbar nahm sie den Schnitt so ernst, sich auf der Arbeit von nichts ablenken zu lassen, schon gar nicht von der vergangenen Zeit. Auf der einen Seite löblich und nachvollziehbar, auf der anderen Seite für Semir auch ein wenig schmerzhaft. Er konnte sich vor dem Gedanken "Aus den Augen, aus dem Sinn" nicht genügend schützen.
    In Kurzform erzählten sie, was an diesem Tag bisher aus ihrer Sicht passiert war, und dass sie bei Jenny in der Wohnung waren. Als Timo das erzählte, bekam auch Gregor große Augen. "Mann Timo, da kannst du aber Schwierigkeiten bekommen. Du kennst die Frau doch kaum... was ist, wenn...", doch Semir fiel ihm sofort ins Wort. "Das war unsere Entscheidung, und wir wissen, dass Timo sich da gar keine Sorgen bei Jenny machen muss. Nämlich eben, weil wir dabei waren. Das ist gar kein Problem. Wichtiger ist, dass wir uns überlegen, was wir jetzt tun."



    Wieder war es Verwirrung, die aus Gregors Gesicht sprach. "Was wir jetzt tun? Na, wir werden wohl eine Vermisstenanzeige aufgeben, wobei ihr ja wisst dass die Behörde erst ab 48 Stunden aktiv wird." Ben konnte sich ein Augenrollen beinahe nicht verkneifen und seufzte hörbar. "Und wenn wir das auswendig gelernte Gesetzbuch jetzt mal auf Seite legen...?" "Ich weiß nicht, wie es bei euch ist, aber wir haben hier klar abgetrennte Zuständigkeitsbereiche. Und verschwundene Personen ist kein Fall für die Dienststelle für Eigentumsdelikte und organisierte Verbrecherbanden.", meinte der Polizist schnippisch.
    Wieder mal merkten Semir und Ben, dass es in vielen Dienststellen anders lief als bei ihnen. Klar, Jenny war neu hier und ein unbeschriebenes Blatt, dass die Bindung zu den Kollegen nicht so eng war wie die zu Semir und Ben nach all dem Erlebten, war nicht verwunderlich. Trotzdem wäre die Reaktion auf der Dienststelle der AUtobahnpolizei anders. Hier würden alle möglichen Kräfte mobilisiert werden, um die junge Kollegin so schnell wie möglich zu finden, auch wen vielleicht gar keine Gefahr ausging, aber das wusste man ja jetzt noch gar nicht.



    In diesem Moment erschien an der Tür ein weiteres Gesicht, noch älter als das von Gregor, wenn auch der Rest des Mannes weitaus fitter und vitaler schien. Groß, dunkel gebräunte faltige Haut und graue Haare, sowie ein grau-glänzender Schnurrbart im Adel-Stil. Dazu passte dann der Anzug besser, als zu Gregor. "Timo? Wieso bist du hier? Und was ist das für ein Besuch?" "Das sind ehemalige Kollegen von Frau Dorn, Chef. Sie... ähm... sie denken, ihr wäre etwas zugestoßen.", sagte Gregor, während sich Semir und Ben auch dem Leiter der Dienststelle, Wilhelm Schwandt, vorstellten. "So? Dann müssen die Herren das bei unseren Dienststellen für Vermisstensuche beanzeigen.", meinte er freundlich und lächelte in die Runde, wobei seine Stimme dominant und kernig erschien.
    "Herr Schwandt, wir wollten vielleicht versuchen, Hinweise zu finden, was mit Je... aua!" Der kurze Fusstritt unterm Tisch, der Timo zum Schweigen brachte, kam von Semir, der dicht an den jungen Polizisten herangerückt war. "Timo, dafür haben wir hier bei der Polizei Spezialisten. Die werden sich darum kümmern, und eure Arbeit wird nicht weniger. Ich werde mich darum kümmern." Diese Art der Antwort hatte der erfahrene Autobahnpolizist bereits vermutet, und hatte Timo deswegen "gestoppt." Der sah nun etwas beleidigt in Semirs Richtung, der aber nur in seiner vertrauensvollen Art kurz nickte. "Meine Herren, darf ich sie kurz in mein Büro bitten...", bat Wilhelm Schwandt noch kurz, bevor er das Büro der drei Beamten verließ...

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  • Büro - 15:30 Uhr



    Wilhelm Schwandt führte die beiden Männer von Cobra 11 in das größte Büru der Etage, das der Leiter der Abteilung Eigentumskriminalität für sich beherbergte. Typisch für das Büro des Chefs waren der große Schreibtisch, mit zwei Stühlen davor, falls sich einer der armen Mitarbeiter mal einen Anschiss abholen musste, sowie eine Kunstledersitzecke in der anderen Ecke, für lockere Gespräche oder kleinere Sitzungen. Der grauhaarige Mann bat die beiden Kommissare allerdings in die Stühle, während er sich auf seinen, deutlich komfortableren aber quietschenden Drehstuhl setzte. Semir und Ben waren gespannt, was er ihnen zu sagen hatte, auch wenn Semirs Gefühl eher in Richtung "Ansage" statt in Richtung "Hilfe" tendierte.
    "Meine Herren...", begann er höflich, nachdem die beiden Männer Platz genommen hatten, und einen aufmerksamen Eindruck machten. "Unsere Dienststelle hat mit die höchste Aufklärungsquote an Eigentumsdelikten in der Bundesrepublik." "Beeindruckend...", nickte Ben, sein leises aber deutlich hörbares "bei der Größe des Einsatzgebietes." in Semirs Richtung untermauerte allerdings seine Ironie, und Semir konnte sich, trotz mahnenden Blickes ein Grinsen nicht verkneifen.



    "Richtig, Herr Jäger. Aber es liegt auch an der konzentrierten und guten Arbeit meiner Ermittler." "Was wollen sie uns damit sagen?", fragte Semir nun wieder sachlicher, denn ihm war der Sinn dieser Information nicht sofort erschließbar. "Ich will damit sagen, dass ich ihnen sehr verbunden wäre, wenn sie die Arbeit meiner Ermittler nicht behindern. Zum Beispiel einen jungen, talentierten Kollegen von einem Lehrgang zu... ähm... entführen, um in die Wohnung einer Kollegin einzudringen." Scheinbar hatte er diesen Satz vorher noch mitbekommen, bevor er in das Büro seiner Mitarbeiter gekommen war. "Wir sind nicht eingedrungen, sondern haben ganz normal die Tür aufgesperrt, da wir... als Jennys Freunde, einen Zweitschlüssel besitzen.", sagte Ben schlagfertig und legte die Wahrheit ein wenig großzügig aus. Auch seinem besten Freund passte der mahnende Ton überhaupt nicht.
    "Ich habe mich damals, als Frau Dorn zu uns gekommen ist, über ihre Dienststelle informiert." Als würden die beiden bei einem Verhör sitzen, zog Schwandt aus einem Stapel Klemmakten einen Umschlag heraus und begann zu blättern. Scheinbar gab es tatsächlich über jede Dienststelle einen Info-Ordner, über den sich Dienststellenleiter erkundigen konnten, aus welchem "Stall" ein neuer Kommissar kam.



    "Ich würde sie eher als berühmt-berüchtigt bezeichnen. Berühmt für eine beeindruckende Aufklärungsquote verschiedenster Verbrechen im kleinen, wie im großen Stil. Sogar Anerkennungen von verschiedenen Ministern des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen." Sein Ton klang dabei nicht schmeichelnd, empfand Semir... sondern eher gespielt beeindruckt mit Hang ins Ironische. Der Dienststellenleiter wirkte gerade nicht sehr sympathisch, fand er. "Berüchtigt allerdings eher für Sachschäden in Millionenhöhe, Alleingänge und Disziplinarmaßnahmen. Da liest man von Kollegen aus kriminellem Umfeld und Drogenproblemen." Der Mann sah auf und traf auf kalte Blicke von Semir, und wütende von Ben. Bevor dieser seinem Herzen allerdings freien Lauf lassen konnte, war Semir schneller.
    "Ich finde, für Kritik und Anschiss-verteilen haben wir eine eigene Chefin. Und die bekommt das ganz gut hin.", sagte er mit ernster Miene, während Ben sich auf die Zähne biss, bis der Kiefer schmerzte. "Ebenso steht ihnen nicht zu, unsere Kollegen zu bewerten, wenn sie ihre tägliche Arbeit nicht kennen." "Nein, ich lese nur, wie es Beobachter bewerten.", sagte Wilhelm Schwandt seelenruhig und klappte den Ordner zu. "Was ich ihnen sagen will ist... halten sie sich von meinen Ermittlern fern. Überlassen sie die Sache mit Frau Dorn den Spezialisten. Ich habe diese Abteilung mit Wille und guten Mitarbeitern von einer Chaostruppe zu einer Vorzeige-Dienststelle gebracht, und die soll es auch bleiben." An den Gesichtern der beiden Ermittlern erkannte der Dienststellenleiter, dass sie relativ unbeeindruckt ob dieser Ansage waren, weshalb er nachlegte. "Ansonsten müssen sie mit ernsten Konsequenzen rechnen."



    "Herr Schwandt, ich will ihnen nicht zu nahe treten.", sagte Semir nun mit ruhiger Stimme, denn er wusste dass Ben in solchen Momenten mit dem Bauch statt mit dem Kopf redete. Er war schon froh, dass sein bester Freund mit zunehmendem Alter besser wusste, wann er schweigen musste und wann nicht, so wie jetzt. Diplomatisch ausdrücken konnte er sich aber selten, wenn er erregt war... Ben wurde dann entweder wütend, oder extrem sarkastisch. "Aber ich bin selbst stellvertretener Dienststellenleiter unseres Reviers, und spreche mit ihnen deshalb auf Augenhöhe. Und ich kann ihnen sagen, dass eine Vorzeige-Dienststelle sich nicht an der Anzahl gelöster Fälle misst, oder ob die Krawatte des Beamten akkurat gebunden ist." Nun konnte sich Ben ein Grinsen nicht verkneifen.
    Semir redete weiter: "Eine Vorzeige-Dienststelle zeichnet sich durch Zusammenhalt aus. Durch Familie und Vertrauen. Und auch wenn Frau Dorn kein Mitglied der Dienststelle mehr ist, ist sie immer noch ein Mitglied der Familie. Und wenn ihre Dienststelle und ihre Mitarbeiter einfach wie immer ihrer Arbeit nachgehen, und das Schicksal ihrer Kollegin, Frau Dorn, irgendwelchen Leuten überlassen, die Jenny nicht mal kennen..." Semir stand auf und rückte den Stuhl zurecht, ein Zeichen für Ben, sich ebenfalls zu erheben. "... dann ist ihre Dienststelle noch sehr weit von einer Vorzeige-Dienststelle entfernt. Den jungen Herrn Söderberg mal ausgenommen.", endete der erfahrene Kommissar und nickte Wilhelm Schwandt zu. "Schönen Tag noch."



    Ben war mal wieder beeindruckt von seinem älteren Partner. Mit guten Worten hatte er es beeindruckend geschafft, den Befehl des Dienststellenleiters abzulehnen, ohne "Lecken sie mich am Arsch" zu sagen. Diese Formulierung hätte wohl Ben gewählt, und wäre schneller aus dem Büro wieder draussen gewesen, als er reingekommen war. Schwandt setzte der Rede auch nichts entgegen und ließ die beiden Beamten ziehen. "Was für ein ignorantes...", murmelte Semir auf dem Flur, und wurde von seinem Kollegen kurz angestupst. "Nana, wer wird denn..." Dabei grinste er.
    Vor der offenen Bürotür zu dem Drei-Mann-Büro hielten sie noch einmal an, um herein zu sehen. "Timo...?", fragte Semir freundlich in Richtung des blonden Mannes, der den Kopf über einer geöffneten Akte hatte. "Tut... tut mir leid. Ich habe zu tun.", sagte er beinahe eingeschüchtert. Er wagte es nicht, sich gegen den erfahrenen Gregor oder gar den Dienststellenleiter aufzulehnen, das spürte der erfahrene Polizist sofort, und er wollte den Jungen auch nicht in die Bredouille bringen. "Alles klar. Bis dann.", sagte er nur lächelnd und grüßte, bevor sie den Weg über die Treppen nach draussen nahmen. "Du willst ohne ihn weitermachen?", fragte Ben ein wenig verwundert. "Ach was. Dem Jungen liegt etwas an Jenny, der hat nur etwas Angst. Die werden wir ihm schon noch nehmen. Nach Feierabend treffen wir uns mit ihm.", sagte sein Partner, als sie das Gebäude verließen.

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  • Besetztes Haus - 18:30 Uhr



    Obwohl der Frühling ganz deutlich die Fühler ausstreckte, so dunkelte es doch immer noch recht früh. Patrick musste die Lichter seines Wagens anschalten, denn die Sonne war gerade hinter den letzten Häuserzeilen Kölns verschwunden. Er war gerade angekommen in der Stadt am Rhein und machte sich nun Gedanken, wo er die Suche nach diesem Juan beginnen konnte. Natürlich kannte er, aufgrund seiner Observation, Kevins Kontakt mit Zack. Die Geschäfte, die er mit dem Drogenboss machte und dass er kurz vor seinem Abflug nach Kolumbien bei ihm war. Aber hatte der auch etwas mit diesem Juan zu tun? Hatte Zack den Kontakt vermittelt? Patrick kannte Zack von früher, in ihrer Gang-Zeit hatten viele Drogen genommen und mussten die natürlich auch irgendwo beschaffen, meistens aber eben nicht bei Zack, da dieser zu teuer war. Kevin hatte den Kontakt erst geknüpft, als er aus der Gang verschwand und das, damals zum Spaß eingeworfene Zeug wie LSD, gegen härtere Sachen zum Vergessen eintauschte.
    Doch der erste Weg wollte Patrick zu Annie führen. Sie war dabei, sie würde Juan sicher kennen und ihm vielleicht sagen können, wo er steckte... wenn er überhaupt noch in Deutschland war. Während er die Straßen entlang rollte, überlegte er sich einen gut ausgedachten Grund, den er Annie vorgaukeln konnte, warum er Juan suchte...



    In der WG für Drogenabhängige war die junge Punkerin mit den auffallend roten Haaren nicht. Es war schließlich kein Gefängnis, und die Bewohner konnten sich frei bewegen. Patrick grummelte, als er zurück in den Wagen stieg. "Jetzt darf ich die blöde Kuh in der ganzen Stadt suchen gehen... verdammt." Er hatte sich nicht die Handynummer geben lassen, als er sie vor einigen Wochen traf. Also startete der Mann den Wagen wieder und fädelte sich in den Feierabendverkehr ein. Sein Weg führte ihn zu einem ehemals besetzten, immer noch leerstehenden Haus in der Innenstadt. Früher wehten hier rot-schwarze Antifa-Plakate aus den Fenstern, fand man ihn jedem Raum Punks und laute Musik drang durch die teilweise kaputten Fenster. Heute waren die Punks fast alle weg, ausser in der Lagerhalle konnte man sie noch finden.
    Das Haus stand immer noch leer, Graffiti-besprüht und mit halb zersplitterten Fenstern. Aus einem der Fenster flackerte Licht, mal ging es aus, mal wieder an... es könnte eine Taschenlampe sein, die langsam den Geist aufgab oder eine Kerze, die so ungünstig stand, dass sie bei jedem Windstoß neu entzündet werden musste. Hoffentlich hatte Annie genug Streichhölzer dabei, dachte Patrick als er den Wagen abstellte und langsam ausstieg.



    Die Tür des Hauses war nie verschlossen. Es war ein Mehrfamilienhaus, von einem Immobilienhai in den 70ern gebaut, im Leerstand gelassen und hatte somit Ende der Siebziger die Punks auf den Plan gerufen, dagegen zu demonstrieren in dem man das Haus besetzte. Es wurde eins der berühmtesten besetzten Häuser der Stadt, war oft in den Nachrichten, wenn es Krawalle gab, zwischen Punks und Nazis, zwischen den Punks und der Polizei. Patrick wurde hier oft rausgetragen, Kevin genauso, wie auch Patricks bester Freund Peter Becker. Das Knarren der Tür hatte noch den gleichen Klang wie in den 80ern als der Vandalismus immer mehr Einzug hielt, und die nie vermieteten Wohnungen als Schlaf- und Partystätte missbraucht wurde.
    Heute zeugte nur noch viel Schutt, Müll und Wandschmierereien von den damaligen Zeiten. "Punks not dead", Anarchiezeichen, ACAB oder "Haut die Bullen platt wie Stullen" standen an den Wänden. Doch auch drogenabhängige Junkies bezogen immer öfter Quartier hier, so war auch das Bild einer Spritze zu sehen, aus der einige Tropfen oben herausliefen. Patrick ging leise durch die Flure, alles war ruhig, das Haus schien leer... nur das Licht, das er im Fenster gesehen hatte, versprach Leben.



    Er konnte keine Stimmen hören, während die Taschenlampe die Dunkelheit zerschnitt, als er sich der offenen Tür näherte, , aus der das Licht flackerte. Nur hin und wieder ein leises Stöhnen, als hätte jemand Schmerzen, konnte er vernehmen. Seine Waffe steckte im Hosenbund, er hatte sie aus Vorsicht mitgenommen, wenn er auf Juan traf und Zwang durchsetzen musste, für seine Informationen. Bei Annie würde er sie hoffentlich nicht brauchen, er würde aber auch nicht davor zurückschrecken. Die Rache in seinem Kopf gegen Kevin ließ ihn gewissenlos werden. Doch jetzt hielt er kurz inne. Das leise kurzzeitige Aufstöhnen hörte sich männlich an, und ganz und gar nicht nach Annie.
    Der Mann griff nach hinten, umklammerte den Griff seiner Waffe und zog sie langsam aus dem Hosenbund. Er hielt sie aber nicht sichtbar für denjenigen, der gleich vor ihm stehen, sitzen oder liegen würde, wenn er um den Türrahmen trat um zu sehen, von welcher Person die Laute ausgingen, von welcher Person das Licht herrührte. Es waren nur noch wenige Schritte, wenige Sekundenbruchteile, bis Patrick in den Raum sah, in das Gesicht sah, das von der Kerze und seiner Taschenlampe erhellt wurde. Die Person presste die Augen zu und stöhnte nun etwas lauter, als er sich abwehrend die Hand vors Gesicht hielt. Patrick schien zu erstarren. In Zeitlupe richtete sich die Taschenlampe in Richtung Boden. "Kevin...?"



    Für einen Moment wusste Patrick nicht, was er tun sollte. Sollte er jetzt die Waffe auf ihn richten, und abdrücken. Würde er damit seine Rache befriedigen? Aber Kevin, der vor einer Kerze auf dem Boden saß, die Beine überkreuz in mitten einiger Schmerzmittelschachteln... er sah nicht aus wie den Kevin, den er bis vor zwei Monaten verfolgt hatte. Er hatte nichts gemein, mit dem selbstsicheren, arrogant wirkenden Polizisten. Einige Pflaster waren von der Stirn am Auge vorbei fast bis zum Ohr an seiner linken Schläfe angebracht, amateurhaft und notdürftig. Dass der Riss schlecht genäht und verheilt war, konnte Patrick sofort erkennen, und Kevins Augen wirkten desorientiert. Nur langsam schien er das Gesicht zu erkennen.
    "P... Patrick? Patrick, bist du es?", fragte er zögerlich, und die Stimme klang vertraut für den Mann, der die Waffe weiterhin im Dunkeln ließ. "Natürlich... was machst du hier?" Die Frage war ernst gemeint... denn er hätte den Polizisten hier nicht vermutet. Oder versteckte er sich hier? Vor ihm? So jämmerlich und abgeschieden... Nein, das konnte nicht sein. Hier stimmte etwas nicht, und Kevins nächster Satz machte es deutlich: "Ich... ich weiß nicht." "Wie? Du weißt nicht?" Die blauen Augen des jungen Mannes wanderten von Patrick einmal herum, durch den Raum, er sah auf den Boden und wieder zurück zu Patrick, ohne Anstalten zu machen, auf zu stehen. "Ich weiß überhaupt nichts mehr..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Besetztes Haus - 18:45 Uhr



    Wie ist es, wenn man sein Gedächtnis verliert? Den Zustand zu beschreiben fiel Kevin in diesem Moment schwer, denn er wusste nicht mehr, wie es vorher war... der Zustand zuvor, bevor er von einer Steinbrücke in den Rio Cauca gefallen war, und wie durch ein Wunder durch den Schlag auf die im Wasser befindlichen Felsen überlebt hatte, war gelöscht. Ein Schädelbasisbruch, gebrochene Rippen, Prellungen. Es war sein Glück, dass Juan ihn und Annie erst wenige Stunden zuvor mit den Urwaldbewohnern bekannt gemacht hatte. Zwei Jungs, die flußabwärts geangelt hatten, sahen und erkannten den jungen Polizisten, der sich blutend und mit letzter Kraft an einem Stein festgehalten hatte, um nicht irgendwann zu ertrinken. In Windeseile hatten sie Hilfe geholt.
    Kevin konnte sich daran nicht erinnern. Dass die Medizinerin des Dorfes ihn mit Heilkräutern und Tränken, teilweise auch mit harten Drogen in eine Art Koma versetzt hatte, dass er pures Glück hatte, dass der Bruch nicht verschoben oder kompliziert war, sondern glatt, und dass die gebrochenen Rippen nicht die Lunge durchstoßen hatten. All das behandelte die erfahrene Frau nur durch Ertasten und auf Verdacht... würde er sterben, dann starb er halt. Doch Kevin starb nicht. Er lebte, zwischen Fiebertraum, Alptraum und kurzen Momenten des Erwachsens. Ohne Zeitgefühl, ohne Erinnerung hatte er das Gefühl, er läge auf einem flammenden Bett, schweißüberströmt und gefesselt, während tausende Empfindungen auf ihn hereinströmten. Wut, Trauer und Freude, doch keines der Gefühle konnte er zuordnen.



    Als Kevin zum ersten Mal wirklich wach wurde, hatte er das Gefühl, ein Baby zu sein. Hilflos, völlig orientierungslos, wusste er nicht mal welche Gliedmaßen er bewegen musste, um aufzustehen. Erst langsam funktionierte das Gehirn wieder, er ging durch die Hütte, er ging hinaus und kippte durch die hellen Sonnenstrahlen sofort mit einem Kreislaufkollaps um. Erst beim zweiten Versuch konnte er einige Minuten an der frischen Luft verbringen, als es abend war und die Sonne nicht ganz so stark. Die Bewohner hatten seine Kleider aufgehoben, die er trug, als sie ihn fanden. Ein Handy hatte er nicht dabei, aber einen Geldbeutel. Die ersten Erinnerungsstücke kamen noch, bevor er sich diesen besah, in dem er Geld, Ausweis und Führerschein fand. Den Dienstausweis hatte er nicht mit nach Kolumbien genommen. Er sprach Deutsch, er kannte seinen Namen... und viele Dinge aus längerer Vergangenheit waren klar in seinem Kopf. Doch je näher die Vergangenheit kam, desto verschwommener, desto mehr Durcheinander herrschte.
    Jetzt sah er Patrick vor sich stehen, und er konnte das Gesicht sofort einem Namen und einer Geschichte zuordnen... zumindest dachte er, dass er das könne. Patrick war ein Freund... aus seiner Gruppe. "Was... wie... du weißt nichts mehr?", fragte dieser verwirrt. "Ich... ich kann es nicht sagen. Es ist alles durcheinander." Patricks Herz schlug bis zum Hals, und er durchblickte die Situation noch nicht ganz. Seine Waffe hatte er, unauffällig für Kevin, wieder in den Hosenbund gesteckt, kam näher zu dem jungen Polizisten, bevor er vor diesem in die Hocke ging.



    Er merkte, dass Kevin ihn nicht als Feind sah. Er erkannte ihn als Patrick, als einen Bekannten, der ihm damals freundlich gesinnt war. Hatte diese Story, mit der Brücke doch etwas Wahres? Hatte er sich den Kopf zu fest angeschlagen? Die Narbe schien dafür zu sprechen. Und der junge Mann erkannte schnell, dass er seinen Plan ändern musste... und wollte. "Okay... dann sag mir mal, an was du dich erinnerst. Was du noch im Kopf hast. Ich meine, du hast mich ja auch erkannt." Kevins Pupillen flitzten durch den Raum, als suche er Antworten. Er dachte nach, Schmerzen durchzuckten immer wieder seinen Kopf, so dass er immer mal wieder die Augen krampfhaft schloß. "Ich... ich weiß meinen Namen... ich weiß wo ich herkomme. Was früher war ist ganz klar vor mir, deswegen hab ich dich erkannt." Für einen Moment blieb er still und Patrick beobachtete ihn gebannt, immer bereit, doch einzugreifen, wenn Erinnerungen aufkamen, die für ihm zum Nachteil wurden.
    "Ich... ich weiß dass Janine tot ist. Dass Unbekannte uns überfallen haben." Er blickte zu Patrick auf, für einen Moment trafen sich die Blicke und der Mann, der Kevins Schwester festgehalten hatte während sein Freund Peter Becker ihr die Kehle aufgeschlitzt hat, nickte nur langsam und bekam einen trockenen Mund. Er wusste nicht, ob Kevin überhaupt vorher wusste, wer der Dritte im Bunde war, bevor er sein Gedächtnis verloren hatte.



    Irgendwann schüttelte der Polizist nur noch den Kopf. "Danach... ich weiß nicht. Es ist so... undeutlich. Gesichter habe ich vor mir... und Namen... und..." Seine Stimme stockte, sein Puls beschleunigte sich und der pochende Schmerz in seinem Kopf nahm zu. Er spürte Empfindungen und Bilder traten vor sein Auge, die er bereits im Fiebertraum gesehen hatte. Der dunkle Turm, das Mädchen, das verurteilt wurde, der Mann in der Blutlache. Das Weinen eines Babys drang in sein Ohr, als hätte es etwas zu bedeuten... aber er wusste nicht was. Was hatte er erlebt, was diese Bilder in seinem Kopf auslösten. Selbst die Namen blitzten immer nur kurz in seinem Kopf, wie ein Gewitter... man sah den Blitz, konnte aber schon Sekunden danach nicht mehr exakt beschreiben, wie er aussah.
    Patrick wartete gebannt... jede Information, die er bekommen konnte, war wichtig für ihn. Wie weit konnte er sich zurück erinnern, wie weit würde er Patrick selbst als Freund oder Feind einschätzen können. Irgendwann aber gab der Polizist das Nachdenken auf, denn der Schmerz in seinem Kopf raubte ihm den Atem. "Patrick, du musst mir helfen. Ich hab auf meinem Pass gesehen wie alt ich bin, und ich weiß, dass ich 18 war, als Janine umgebracht wurde. Ich muss wissen, was passiert ist... und wer ich bin."



    Kevins Bitte beantwortete Patrick mit einem Nicken. Es sah von aussen aus, wie das Nicken eines Freundes, stark und selbstverständlich. "Ja natürlich. Natürlich helfe ich dir, Kevin. Bleib ganz ruhig, das kriegen wir hin.", sagte er und streckte dem Polizisten die Hand aus, um ihm auf die Beine zu helfen. Kevin war dafür, dass er fast 2 Monate "krank" war, körperlich noch in einer okayen Verfassung, hatte nicht viel abgenommen, stand aber etwas wackelig. "Hast du sonst noch irgendwas hier?" "Nein... alles was ich hatte, als ich aus Kolumbien gekommen bin, waren meine Kleider und etwas Geld in meinem Geldbeutel. Ich hab keine Ahnung, wo der Rest abgeblieben ist." Er war nach der Ankunft hier, wie ein Gespenst durch die Straßen gewandelt. Hatte die Adresse, die im Ausweis stand, aufgesucht doch das Haus weckte keine Erinnerungen, die Namen auf den Klingelschildern ebenso wenig. Die einzige Erinnerung war ein Plattenbau, doch als er zwischen den Häusern stand, fühlte er sich wie in einer fremden Welt. Wirklich vertraut war ihm nur das besetzte Haus, in das er sich verkroch.
    "Erst mal musst du hier weg. Hier wirst du dich bestimmt an nichts erinnern. Pass auf, du kommst mit mir nach Hamburg. Da kannst du bei mir wohnen, dich mal ausruhen und ich erkundige mich von dort hier bei den Behörden. Und dann kannst du dich bei mir in Ruhe versuchen zu erinnern." Vor allem wollte Patrick, dass Kevin nicht jemandem begegnete, an den er sich tatsächlich erinnerte... wie Semir, Ben oder Annie. Vorher musste er die Weichen in Kevins Erinnerung stellen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienstwagen - 19:00 Uhr



    Ben trommelte auf dem Lenkrad herum, als sei er nervös, während sein Partner auf dem Beifahrersitz durch das Seitenfenster auf das große Gebäude sah, in dem das LKA Hamburg beherbergt war. Sie hatten dem jungen Kollegen Timo eine Nachricht geschickt, dass er sich kurz vor Feierabend melden sollte, doch seine Antwort zog sich hin. Erst vor einer Viertelstunde bekamen sie die Nachricht, dass er gleich frei hätte. Sie wollten den Mann nicht im Unwissen lassen, hatten sie doch das Gefühl dass ihm als Einzigem daran gelegen war, so schnell wie möglich herauszufinden was mit Jenny passiert war. Deswegen wollten sie keine Aktion ohne Timo starten, ausserdem konnten sie ein wenig Verstärkung gut gebrauchen.
    Untätig waren die beiden Männer von Cobra 11 allerdings auch nicht. Sie hatten Hartmut mehrfach angerufen, dass dieser regelmäßig checken sollte, ob sich Jennys Handy nochmal über GPS bemerkbar machte, doch dies war bis jetzt nicht der Fall. Kurz vor Feierabend hatte Semir auch Andrea erreicht, die sehr besorgt reagierte, als sie von Jennys Verschwinden erfuhr. Die Chefin war eh in Urlaub, Semir als stellvertretener Dienststellenleiter für wichtige Anrufe erreichbar. Andrea sendete ihrem Mann die letzten Haftentlassungen aufs Handy, an deren Verhaftung Jenny bereits beteiligt war.



    Im Dunkeln des Wagens hatte Semir die Einträge durchgelesen und stieß auf Benno Kalzcyak. Der 35jährige hatte bei einem Überfall auf einen Geldtransporter einen Wachmann schwer verletzt und zwei Frauen danach als Geiseln genommen. Jenny war maßgeblich an der Verhaftung beteiligt gewesen, und der Kerl galt als extrem brutal, kam aber nach nur zweieinhalb Jahren wegen guter Führung vor wenigen Wochen wieder frei. Er war der Einzige, dem Semir und Ben eine Rachetat zutraute, ausserdem war er in der Nähe von Hamburg gemeldet. So schnell wie möglich wollten sie dem Mann einen unangemeldeten Besuch abstatten. "Es beunruhigt mich irgendwie, dass sich niemand meldet. Lösegeldforderung oder irgendwas.", murmelte Ben, während sie auf Timo warteten.
    Es war immer schwer, im Unwissen zu sein. Gab es eine Forderung, wusste man, dass ein Entführungsopfer noch lebte, dass das Opfer wichtig für den Entführer war, als Druckmittel. Verschwand aber jemand einfach so und es gab keine Forderung, dann war eine Entführung nur eine Möglichkeit. Eine andere Möglichkeit war, dass das Opfer schon irgendwo im Wald vergraben lag. Mit dieser grausigen Wirklichkeit mussten sich Polizisten oftmals auseinandersetzen, auch wenn Ben und Semir es versuchten, zu vermeiden überhaupt nur daran zu denken.



    Endlich erschien der blonde Schopf von Timo im Licht der Ausgangstür und kam mit schnellen Schritten auf den Mercedes-Dienstwagen von Ben zu, in den er nach hinten einstieg. "Na, Überstunden?", fragte Semir lächelnd und Timo seufzte. "Als Dank dafür, dass ich die Schulung geschwänzt habe, hat mir mein Chef eine besonders spannende und kurzweilige Observation aufs Auge gedrückt.", sagte er ein wenig zerknirscht und seine Ironie in seinen Worten war nicht überhörbar. "Dein Chef ist ja ein richtiger Sonnenschein. Uns hat er auch schon versucht, einzunorden... wir sollten dich nicht von der Arbeit abhalten.", sagte Ben grinsend und sah in den Rückspiegel. "Genau, deshalb haben wir extra bis nach Feierabend gewartet."
    Timo konnte schon wieder lachen, war er doch froh mit in die Suche nach Jenny einbezogen zu werden... auch wenn das vielleicht Ärger mit seinem Chef geben würde. Aber irgendwie hatte er das Vertrauen in die beiden erfahreneren Polizisten vor sich, ihn irgendwie rauszuboxen, wenn es hart auf hart kam. Semir gab Timo sein Handy, damit dieser sich die Akte von Benno durchlesen konnte, und erklärte kurz den Sachverhalt. "Wir gehen den netten Mann mal besuchen. Bist du dabei?" "Na klar.", ließ Timo keinen Zweifel aufkommen, auch wenn er innerlich nervös war. Viele Einsätze hatte er noch nicht mitgemacht, und beim Lesen der Adresse überkam ihn ein Schaudern.



    Die Adresse, unter der Benno gemeldet war, lag im Viertel "Osorfer Born". Ein sozialer Brennpunkt, Plattenbausiedlung und hässliche Seite Hamburgs. Abends trauten sich hier nur die wenigsten hin und böse Stimmen behaupteten, die Polizei hätte die Siedlung längst aufgegeben. Sie unterschied sich äusserlich nicht von anderen Großstadtghettos, Schmiereien an den Wänden, Müll auf den Gehwegen und Drogenjunkies im Treppenhaus. Timo spürte sein Herz schlagen, als die drei aus dem Wagen stiegen und in Richtung der Plattenbauten gingen. Ein betrunkener Penner kam ihnen entgegen gewankt, fragte nach Schnaps und roch dementsprechend.
    Die Beleuchtung im Inneren des Plattenbaus hatte teilweise den Geist aufgegeben, und das immer wieder aufflackernde Licht der Neonbeleuchtung hatte etwas Gespenstisches. Selbst wenn Ben nicht unter Platzangst leiden würde, würde er diesen Aufzug meiden wie der Teufel das Weihwasser, und seine beiden Kollegen stimmten dem zu. "Hattest du hier schon einmal einen Einsatz?", fragte Semir den jungen Timo an seiner Seite, als sie die Treppen zum 4. Stock hochstiegen. "Zum Glück noch nicht. Aber ich kenne das Viertel aus meiner Schulzeit.", sagte er ein wenig in gedankenversunken. Die beiden Polizisten hatten seinen Stimmungswechsel, seit er von der Örtlichkeit gelesen hatte, bemerkt. Sie schoben es auf eine allgemeine Nervosität.



    Endlich kamen sie an der Tür des Verdächtigen an. Der lange Flur, die dünnen Holztüren, das Geschrei in den Wohnungen rechts und links... alles erinnerte Ben und Semir an Kevins letzten Wohnort in Köln, wo er unter ähnlichen Bedienungen hauste, bis Jenny ihn aus diesem Loch quasi befreite. Kevin hatten sie verloren... um Jenny würden sie kämpfen, dachte Semir, als er an der dünnen Tür klopfte. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sie geöffnet wurde und ein bulliger Mann mit Glatze und Bart um seinen Mund in der Tür stand? "Was ist?", fragte er mit deutlichem Hamburger Dialekt. "Gerkhan, Kripo Autobahn, das sind meine...", weiter kam Semir mit dem Ausweis in der Hand nicht, denn die Tür wurde wuchtig zugeworfen... so fest, dass die Klinke abfiel. Timo erschrak kurz bei dem Knall, während Ben sofort die Waffe zog...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Osorfer Bonn - 19:30 Uhr



    So oft hatten Ben und Semir diese Art der Reaktion auf ihren Besuch, oder das Erwähnen ihres Berufsstandes, erlebt... und immer wieder war die Situation stressig und sorgte für eine gewisse Angespanntheit. Den jeder Verdächtige, der es für besser hielt, Reißaus zu nehmen, tat dies auf unterschiedliche Weise und verhielt sich anders. Manche waren in Panik, manche handelten kontrolliert... und beide Fälle waren auf ihre Art und Weise gefährlich. Ben ging mit gezogener Waffe sofort einen Schritt zur Seite, während Semir sich ebenfalls von der Tür weg an die Wand bewegte. Timo tat es Ben aus einem Reflex heraus gleich, was sein Leben schnell rettete, denn die ersten zwei Kugeln durchsplitterten die dünne Holztür und sorgten für zwei formschöne Löcher in der Gipskartonwand.
    Semir zog seine Dienstwaffe ebenso, Timo tat es ihnen gleich. Mit einem Handzeichen wies Semir den jungen Beamten an, sich an der anderen Seite der Tür zu positionieren, damit Ben freie Bahn hatte. "Herr Kalzcyak! Werfen sie die Waffe weg und geben sie auf!", rief der Polizist und die drei Männer lauschten. Keine weiteren Kugeln knallten durch die Tür, nur ein leises Klacken war hinter der Tür zu hören. "Ich glaub, der verpisst sich.", knurrte Semir und nickte seinem Partner zu, der mit einem kräftigen Tritt der dünnen Tür den Rest gab, aber sofort zu Semir sich in Deckung drehte.



    Die Luft war rein und Timo erkannte zuerst dass die Balkontür im Wohnraum, von der man aus Sicht der Eingangstür direkten Blick hatte, offen stand. "Das Fenster! Er ist durchs Fenster raus!", rief Timo aufgeregt. Semir rannte vor, während sich der junge Hamburger Polizist ein wenig im Hintergrund hielt, schließlich kannte er solche Situationen nur von Übungen. Der erfahrene Kommissar riss die Balkontür auf und sah nur noch die Feuerleiter, die sich zwischen den Balkonen nach unten schlängelte. Mit zwei schnellen Schritten war er am Geländer des Balkons und sah, dass Benno sich bereits erstaunlich weit nach unten gehangelt hatte. "Hiergeblieben!!", schrie Semir laut und musste sofort hinterm Geländer in Deckung gehen, weil ihm zwei weitere Kugeln um die Ohren flogen, während Ben den Fuß, den er gerade auf den Balkon gesetzt hatte, wieder zurückzog.
    "Wir müssen runter! Von hier aus holen wir ihn nicht mehr ein!!", rief Semir und drückte seinen Partner, der noch im Türrahmen der Balkontür stand, zurück in die Wohnung. Zu dritt sprinteten sie durch die aufgebrochene Wohnungstür, fielen beinahe die Treppen herunter, weil sie sich so sehr beeilten und dicht beeinander liefen und erreichten nach gefühlten hundert Etagen endlich die Ausgangstür. Sie konnten das Quietschen von Autoreifen und zwei rote Rückleuchten gerade aufblitzen sehen, als sie mit schwerem Atem die Tür herauskamen. Benno Kalzcyak war wahrlich von der schnellen Sorte.



    Ben stöhnte: "Das gibts doch nicht!" Seit Kevin nicht mehr da war, hatte er sein Sport- und Fitnessprogramm vernachlässigt, was nicht dazu führte, dass er etwa dick wurde, aber er merkte es dann jetzt doch ein wenig. Sein Partner war da schon noch etwas fitter. Selbst Timo pumpte noch nicht zu sehr, und so war es dass Ben als Fahrer als Letztes am Auto ankam und sich hinter das Lenkrad klemmte, den Motor aufheulen ließ und auf die noch gut befahrene Stadtstraße fuhr, wo sich Benno bereits versuchte mit seinem Mittelklassewagen einen Weg durch den Verkehr zu bahnen. Semir überlegte kurz, das Blaulicht anzuschalten, da sie hier nicht offiziell im Dienst waren, entschied sich aber dafür. Es war einfach sicherer, Unbeteiligte zu warnen.
    Timo hatte sich bisher wacker geschlagen, hatte sich nichts von seiner Nervosität anmerken lassen. Doch jetzt fiel es ihm deutlich schwerer, denn dieses Kapitel gab es in der Polizeischule nirgends zu trainieren. Natürlich machten sie Fahrsicherheitstraining und ein sogenanntes "Verfolgungstraining", doch da gab es keine anderen Autos... und man fuhr selbst. Jetzt fühlte er sich ausgeliefert und beinahe hilflos auf dem Rücksitz, versuchte sich festzukrallen und wurde bei jedem Abbiegen herumgewirbelt. Die anderen Autos, denen Ben auswich, taten ihr Übriges dazu, dass sich der blonde Mann zusehends unwohler fühlte. So gut kannte er die zwei eben doch nicht, dass er ihnen zutraute, alles im Griff zu haben. Als dann die ersten Kugeln die Motorhaube trafen, war es ganz vorbei mit seiner Entspanntheit.



    Nun bekamen auch Ben und Semir ein mulmiges Gefühl. Eine Schiesserei mitten im Verkehr barg immer Risiken, vor allem für Fußgänger die weitaus ungeschützter waren als andere Autofahrer. Ben bremste ab und ließ Abstand, so dass Benno das Feuer schnell einstellte. Erst, als er auf die Autobahn auffuhr, die recht ruhig und frei war, fuhr der Autobahnpolizist wieder heran, und wie erwartet eröffnete Benno sofort das Feuer wieder, in dem er den linken Arm aus dem Fenster nach hinten hielt, und ziemlich blind feuerte. "Warten wir jetzt, bis er sein Pulver verschossen hat, oder schießt ihr auch mal zurück?", rief der Mann mit der Wuschelfrisur genervt, als er wieder einer Kugel auswich, was zur Folge hatte, dass Timo wiederholt mit dem Kopf gegen die Scheibe donnerte.
    Semir lehnte sich rechts aus dem Fenster, und der junge Beamte hinten dran wollte weder seine momentane psychische Situation preisgeben, noch untätig bleiben. Also betätigte er seinerseits das Fenster auf der linken Seite und lehnte sich dort ebenfalls ein wenig hinaus, geradeso, dass er schnell den Kopf wieder einziehen konnte. Für Semir war es schwierig zu zielen, er fokussierte sich auf die Reifen, doch der Kombi war tiefergelegt und gab nur wenig von den Gummis preis. Nur wen Ben versetzt fuhr, konnte er zielen, doch dann waren meist vereinzelte andere Autos im Weg.



    Timo brauchte nur zwei Schüsse, um sich an seine Schussübungen zurück zu erinnern, die er stets als Bester abgeschlossen hatte. Er hatte eine beeindruckend ruhige Hand und Konzentration, doch beides war gerade in einem schaukelnden Auto im vollen Fahrtwind schwer zu bewerkstelligen, vor allem da er ständig den Kopf zurück ziehen musste, wenn Benno schoß. Doch der dritte Schuss kam im richtigen Moment, zum richtigen Zeitpunkt und die Kugel traf das Metallgehäuse von Bennos Waffe, dass die Funken flogen und der Verbrecher dass Schießeisen fallen ließ. Innerlich ballte Timo die Fäuste vor Freude, ein anerkennendes "Guter Schuss!" von Ben tat sein Übriges dazu, dass er sein Unwohlsein für einen Moment vergaß.
    "Und jetzt? Die Reifen treffen wir so nicht!", meinte Semir, der sich gerade wieder in den Wagen zog. "Ausbremsen?", überlegte Timo laut, was er von der ein oder anderen Actionserie kannte... da sah das immer ganz einfach aus. "Das ist ein großer Kombi, der ist schwerer als unserer. Dazu sind wir auch zu schnell.", widersprach Semir und sah auf die Tachonadel, die bei 170 festhing. "Ich hab eine andere Idee. Timo, ziel auf das Kofferraumschloß!", sagte der erfahrene Polizist dann und beide lehnten sich wieder rechts und links aus dem Fenster. Welche Kugel der beiden nun der endgültige Treffer war, konnten sie nicht sagen als mit einem Mal die Metallteilchen flogen und der Kofferraumdeckel des Kombis sich öffnete. "Und jetzt?", fragte Timo verwirrt, während Semir seinem besten Freund zuzwinkerte. "Der Klassiker..." "Na schön...", meinte Ben und drückte den Knopf für das elektronische Schiebedach.

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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  • Autobahn - 19:40 Uhr



    Die Lichter der anderen Verkehrsteilnehmer brannten Kevin in den Augen, jedesmal wenn sie ihm auf der Gegenfahrbahn entgegen kamen. Jedesmal schloß er die Augen verkrampft und hatte das Bedürfnis, aufzustöhnen, denn immer dann begann sein Kopf stärker zu hämmern. Doch neben Patrick wollte er sich keine Blöße geben, es reichte dass der ihn schon so gefunden hatte... schutzlos, beinahe wehrlos. Im Kopf des jungen Mannes herrschte ein totales Chaos, und je mehr er darüber nachdachte, desto größer und undurchsichtiger wurde es. Es war, als wären die Erinnerungen Puzzlestücke, und nun lag ein riesiges Puzzle in Einzelteilen vor ihm. Allerdings passten weder die Puzzlestücke ineinander, noch konnte er sich an irgendwelchen Bildern auf den Puzzlestücken orientieren und zu allem Überfluss fehlten auch noch die wichtigsten Teile.
    Als er sich mehrfach über die Stirn runzelte, sah Patrick zu ihm rüber. "Ist alles klar?" "Hmm? Jaja... nur etwas Kopfschmerzen.", murmelte er vom Beifahrersitz aus und versuchte sich wieder zu konzentrieren. Doch immer wenn ihm etwas in den Sinn kam... ein Gesicht, ein Name, ein Ort oder nur ein Satz, der sich anhörte wie ein Deja-Vue, war er schon verschwunden in den unendlichen Tiefen seines Gedächtnis. Er entschwand in Schubladen, in denen Kevin niemals Zugriff haben würde.



    "Was ist mit den letzten Tagen? Kannst du da was sagen?", fragte Patrick dann irgendwann, als sie Essen und Dortmund hinter sich hatten. Wieder strich Kevin sich mit den Fingern über die Stirn. "Ich bin mit dem Flugzeug gekommen und bin zu der Adresse gefahren, die in meinem Ausweis steht. Aber da waren Menschen, die hab ich noch nie zuvor gesehen." "Im Flugzeug? Von wo?", fragte der Mann am Steuer, obwohl er genau wusste, dass Kevin direkt aus Kolumbien gekommen sein muss. Dorthin, wo er geflogen war um Annie zu retten, und er dann auf mysteriöse Art verschollen war... dieses Kapitel fehlte Patrick in seiner perfekten Aufzeichnung von Kevins letzten Monaten. "Ich weiß nicht... es ist so undeutlich. Als hätte ich das Ganze nur geträumt."
    Es war zum Verzweifeln, wenn man sich versuchte an etwas zu erinnern, und es kam einfach nur Leere. Keine Idee, kein Plan, kein Hinweis. "Scheinbar hast du dir irgendwo den Kopf angestoßen.", sprach Patrick nun Kevins Riss im Gesicht, an der Stirnseite an. "Ja, das ist mir auch schon aufgefallen. Wenn ich träume, höre ich manchmal einen Wasserfall." "Wasserfall?", murmelte der Mann neben ihm nachdenklich, doch in Wahrheit dachte der Verbrecher über ganz andere Dinge nach.



    Die nächsten Minuten blieben beide still. In Patricks Kopf reifte der Plan zur absoluten Rache. Ein Kevin, der die letzten Jahre seines Lebens vergessen hatte, war wohl immer noch der Kevin, der er nach dem Attentat auf Janine war, wenn auch 13 Jahre älter. Gewalttätig, beinahe gewissen- und gefühllos. Empfänglich für Drogen und durch seinen Gedächtnisverlust leicht manipulierbar, dazu stand er auf der falschen Seite des Gesetzes. "Was ist das absolut Letzte, an was du dich klar erinnern kannst?", fragte er nochmal, um diesen Zustand quasi nochmal zu erfahren. Wo, an welchem Punkt in seinem Leben stand Kevin gerade. "Ein Rausch. Ich war alleine in dem Haus, sie hatten Janine umgebracht und ich wollte nicht mehr zurück zur Gang, weil mich alles an sie erinnerte. Ich hatte einen Einbruch gedreht in... warte... in der Innenstadt." Plötzlich waren Details vor Kevins Auge sichtbar, die er benennen und greifen konnte. "Ich hatte Bargeld gefunden, alles andere ließ ich da. Davon hab ich mir Pillen gekauft." Patrick reichte diese Antwort.
    Kevin würde schlucken, was er und Carsten ihm vorsetzten, wenn sie es nur glaubhaft verpackten. Er würde seine Feinde nicht von seinen Freunden unterscheiden können und umgekehrt. Beinahe geriet auf Patricks Gesicht ein selbstzufriedenes Grinsen, doch nach aussen wirkte er in diesem Moment mitfühlend und einfühlsam auf Kevin.



    Der kämpfte weiter mit sich und seinem Kopf, ausserdem spürte er sowohl Hungergefühl, als auch Entzug. Wie kam er hierher? Warum saß er im Flugzeug, er musste doch noch wissen wie er in die Maschine kam. Und was er, verdammt, die letzten Jahre getan hatte. Immer wieder erschienen ihm Gesichter vor den Augen, doch sobald er es nur wagte, über den Namen nach zu denken, war es verschwunden. Kam ihm ein Name nur bekannt vor, fehlte ihm der Bezug zu dieser Person. Und dachte er an einen Menschen mit gewissen Charakterzügen, fehlte ihm das Aussehen und der Name. Es war zum Davonlaufen, und je mehr und je länger er nachdachte, desto stärker wurden die Kopfschmerzen, desto schlimmer wurde die Fahrt. Er hatte das Gefühl in einem Backofen gefangen zu sein.
    Doch selbst wenn der junge Polizist sich zwang, aufzuhören, zu denken... es ging nicht. Immer wieder fiel ihm etwas ein, was er nicht deuten, nicht erklären konnte. Immer wieder war da ein kleiner Fetzen eines großen Tischtuchs... ein kleines Stück Rasen einer Hektargroßen Wiese. Er wusste nicht wohin damit, er wusste nichts anzufangen damit. Andere Dinge dagegen waren völlig klar. Er hatte Janines Gesicht vor Augen, das Gesicht seines Vaters... Jerry... und viele seiner Freunde. Warum war alles, was so lange her war, so nah?



    "Patrick, ich brauch was...", murmelte Kevin irgendwann, als er merkte dass der Entzug und die Schmerzen überhand nahmen. "Was? Was zu essen?", fragte Patrick, bemerkte dann aber die zitternde Hand auf Kevins Oberschenkel. "Nein... irgendwas, was mich beruhigt. Was mich ablenkt, oder dass ich schlafen kann." Der Verbrecher sah auf das Ausfahrtsschild, auf dem Bielefeld in 30km stand. Hier kannte er einen Dealer, bei dem er bekommen würde, was sein Freund neben ihm jetzt brauchte. "Hälst du es noch 20 Minuten aus? Dann besorg ich dir was." Ein stummes Nicken im Dunkeln war Kevins Antwort...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 19:40 Uhr



    Der Wind war noch kalt, der Frühling hatte ja gerade erst kalendarisch begonnen und als Semir seinen Kopf und danach seinen Oberkörper aus dem Dachschiebefenster brachte, schnitt der kalte Fahrtwind sofort durch sein Gesicht. Die enorme Geschwindigkeit, die das Auto dabei noch hatte, tat sein Übriges dazu. Semir setzte sich ein wenig nach hinten um die Beine ebenfalls noch nach draussen zu bringen und legte diese über die Öffnung nach vorne auf die Windschutzscheibe, an der er dann langsam mit dem Po herabglitt. Auch die Scheibe war kalt, das spürte der erfahrene Polizist an den Händen und hinterließ ein paar unschöne Schmierabdrücke an Bens Dienstwagen, der hinter dem Lenkrad scherzhaft fluchte.
    Sofort ergriff Semir mit der linken Hand einen der Scheibenwischer zum Halten. Diese waren stabiler als man meinen würde, und einfaches Ziehen würde sie nicht aus der Verankerung reißen. Mit der anderen Hand stützte Semir sich auf der Motorhaube ab und ging in die Hocke. Mit zwei schnellen Schritten könnte er nun zum kurzen Sprung über die Haube ansetzen um sich dann in den offenen Kofferraum zu werfen. Ein Vorteil, dass er nicht ganz so groß war und weniger Mühe hatte, sich klein zu machen. Ben hätte hier mehr Probleme gehabt.



    Der hatte aber jetzt die schwierige Aufgabe, auf Millimeter-Abstand zu dem Fluchtauto zu fahren, und zwar zusätzlich mit dem Hindernis Semir, der die Hälfte der Frontscheibe bedeckte, zumindest die Sicht aus selbiger. Ausserdem wich Benno immer wieder anderen Fahrzeugen aus, so dass es schwierig war, für einige Sekunden direkt dahinter zu sein. Einen Fehlsprung konnte sich der kleine Polizist ganz und gar nicht leisten, er würde hart auf dem Asphalt enden was bei dieser Geschwindigkeit garantiert mit schweren Verletzungen enden würde. Der Fahrtwind riss an seinem Körper, seiner Jacke und seiner Gesichtshaut, die Augen hatte er zu Schlitzen verengt und ein paar Tränen liefen ihm deswegen an der Wange herunter.
    Timo auf dem Rücksitz war in die Mitte gerückt und hatte sich zwischen den Vordersitzen nach vorne gelehnt. "Das ist doch Wahnsinn... das ist doch Wahnsinn.", stammelte er immer wieder, als er sah was Semir auf der Motorhaube veranstaltete. Seine Hände hatten sich rechts und links in den Sitz neben die Kopfstütze vergraben und plötzlich war das eigene Unwohlsein von der wilden Fahrt nicht mehr so wichtig. "Keine Bange, Timo. Semir weiß was er tut.", versuchte Ben ihn zu beruhigen, während er sich konzentrierte, dicht und direkt hinter dem flüchtenden Kombi zu bleiben.



    Benno allerdings hatte natürlich gemerkt, was hinter ihm vor sich ging. Nachdem er seine Waffe durch Timo verloren hatte, konnte er sich mehr aufs Fahren konzentrieren, und natürlich bekam er auch mit dass Semir zum Übersteigen ansetzte. Der offene Kofferraum und ein Blick in den Rückspiegel verrieten den Plan, also fuhr der Verbrecher auch, wenn die Autobahn mal für einen Moment frei war, Schlangenlinien. Ben blieb mit der Stoßstange dicht an ihm und versuchte, exakt die Spur nachzufahren, doch solange die Autos sich wild nach links und rechts bewegten, sprang Semir nicht. Gerade, als er sich innerlich gerade zum Sprung fertig machte, fuhr Benno in eine so enge Lücke zwischen zwei Fahrzeuge, dass Ben abbremsen musste, und den Weg außen herum bevorzugte. Semir verstärkte den Griff um den Scheibenwischer und stoppte sich gerade nochmal in Gedanken.
    "Was ist denn? Bleib doch hinter ihm!", rief er dabei laut nach hinten in Bens Richtung, der die Stimme durch das offene Schiebefenster gut verstehen konnte. "Ja ja...", raunte er zur Antwort und zog sofort wieder hinten den Flüchtenden, während Timo dachte, sein Herz sprang ihm aus der Brust, so aufgeregt war er. Er kannte Semir erst wenige Stunden, aber er fieberte mit und hatte Angst, dass etwas Schlimmes passieren konnte, wenn der kleine Polizist bei diesem mörderischen Tempo vom Auto fiel.



    Als die Sirenen sich vervielfachten und hinter den beiden Autos nun zwei weitere Polizeiwagen mit Blaulicht auftauchten, merkte auch Benno, dass die Flucht immer schwieriger wurde. Scheinbar hatten einige Autofahrer, an denen die Verfolgungsjagd vorbeilief, die Polizei gerufen. "Die Kavallerie ist hinter uns.", sagte Timo, nachdem er einen Moment nach hinten sah. "Hmm, vielleicht schaffen wir es dann, wenn wir ihn vorne und hinten aus...", meinte Ben und wollte in Gedanken Semir schon zurückrufen, als der sich nun endlich zum Absprung entschlossen hatte. Die Gelegenheit war günstig, den man fuhr gerade für eine Sekunde zwischen zwei LKWs durch, und Benno hatte keine Chance, Schlangenlinie zu fahren.
    Mit einem Satz drückte Semir sich von der Motorhaube ab und rollte sich nach vorne. Den kleinen Spalt, der zwischen dem Ende von Bens Haube und dem Beginn von Bennos Kofferraum war, spürte er deutlich am Rücken. Der Schwung reichte aus, dass Semir bis an die Rücksitze fiel, über die er schnell drüber stieg, und dabei seine Waffe aus der Innentasche zog. Benno konnte gar nicht so schnell reagieren, wie es geschah und er die Öffnung der Waffe seitlich an seinem Kopf spürte. "So! Und jetzt halten wir schön auf dem Seitenstreifen! Und wir vergessen nicht, die Warnblinkanlage anzuschalten."



    Benno leistete keinen Widerstand, als Ben zur Tür kam und den Verbrecher aus dem stehenden Auto zog. "Was wollt ihr überhaupt von mir!", wütete der Kerl, der gerade geflüchtet war, während die uniformierten Kollegen ebenfalls dazu kamen. "Wo ist unsere Kollegin Jenny Dorn! Los, rück raus damit!", knurrte Ben, als er den Kerl gegen das Auto drückte, ihn nach weiteren Waffen durchsuchte und Handschellen anlegte. "Keine Ahnung! Ich kenne die überhaupt nicht!" "Red kein Blech. Sie hat dich verhaftet und jetzt ist sie verschwunden!" Benno zog an seinen Fesseln und schüttelte wild den Kopf: "Ich hab damit nichts zu tun!!" "Und warum bist du dann so schnell abgehauen?", fragte Semir, der gerade um den Wagen herumgelaufen kam.
    Jetzt erst merkte Benno, dass die Polizei gar nicht wegen seines gestrigen Tankstellenüberfalls hinter ihm her war und schaut verwirrt hin und her. "Ich... ich... ich wusste ja nicht, wer ihr seid." Ben und Semir sahen sich stirnrunzelnd an. Der Kerl war erst abgehauen, als sie die Ausweise gezeigt haben. "Meine Herren, was soll das bitte?", fragte der ältere der vier Streifenbeamten und schaute etwas verdattert aus der Wäsche, als er die Ausweise der beiden Kollegen sah. "Sind sie unter Amtshilfe unterwegs?" "Nein, wir sind privat unterwegs.", meinte Ben sarkastisch. "Söderberg, was soll das? Du weißt doch, dass du so etwas anmelden musst." Timo sah auf einmal aus, als wäre ihm schlecht. Er wusste, dass diese Aktion ein Riesendonnerwetter geben würde... spätestens morgen früh.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Autobahn - 22:00 Uhr



    Patrick nahm einen kräftigen Schluck aus der RedBull-Dose... eine andere Art des Dopings. Andernfalls würde er wohl Mühe haben, wach zu bleiben, denn er war den ganzen Tag auf Achse und so langsam wurden die Augen schwer. Ein paar Kilometer waren es noch bis Hamburg, und seit anderthalb Stunden herrschte Ruhe im Auto. Nur ein gelegentliches Stöhnen vom Beifahrersitz war in der Dunkelheit zu hören, während das Auto über die fast leergefegte Autobahn flog. Der Stammdealer des Verbrechers war in Bielefeld tatsächlich anzutreffen und von ihm kaufte er einige der kleinen bunten Pillen, auf denen Kevin als Jugendlicher hängen geblieben war. Sie halfen beim Einschlafen, sie halfen zu vergessen, Kummer zu unterdrücken, Sorgen wegzuschieben.
    Und sie sorgten für Bilder im Kopf. Bilder, die manchmal beruhigten, die müde machten, die schläfrig und stimulierend wirkten. Aber sie konnten auch, wenn man einen schlechten Trip erwischt hat, beunruhigend wirken und ängstigen. Von kleinerem Unwohlsein bis zu realitätsnahen Alpträumen beinhaltete dieses Teufelszeug alles, was man an negativen Drogenerfahrungen erleben konnte. Und sie machten sehr schnell abhängig, wirkten auf den Körper aber nicht zerstörerisch, wie etwa Heroin oder Crystal Meth.



    Auf Kevin wirkten sie diesmal gut, denn er gab irgendwann keinen Laut mehr von sich, sein Zittern hörte er auf und er schlief ein. Das Stöhnen klang nicht beunruhigend, sondern erschöpft und er wurde nicht unruhig. Dass er sich im Trip an etwas erinnern konnte, glaubte Patrick nicht. Er kannte die Wirkung der Drogen recht gut, wusste aber nicht wie sie bei Amnesie-Patienten wirkten. Doch er war spontan genug, Kevins Erinnerung in richtige Bahnen zu lenken, davon war er überzeugt. Wenn sein Plan klappen sollte, war das sowieso von Nöten, denn der junge Polizist müsse seinem alten Weggefährten vertrauen. Ansonsten war dieser immer bereit, dem Spiel vorzeitig ein Ende zu bereiten... aber nicht ohne Kevin psychisch noch einmal richtig leiden zu lassen, in dem er sehen sollte, wie seine Freundin stirbt.
    Ganz selten wurde Patrick mal von einem Auto überholt, die Autobahn war ein dunkler Schlauch der sich ewig hin zu ziehen schien. Er würde Kevin in seinem Haus unterbringen, die Kellertür gut zusperren genauso wie sein Arbeitszimmer. Doch er war sich auch so sicher... Kevin hatte sein Gedächtnis verloren, und Patrick war für ihn gerade der einzige, der ihm helfen konnte, irgendetwas von den letzten 10 Jahren wieder zu erlangen. Er würde einen Teufel tun, und dem besten Freund von Janines Mörder zu misstrauen...



    "Ein Baby...", murmelte Kevin plötzlich vom Beifahrersitz, so dass Patrick auf ihn aufmerksam wurde. "Was sagst du?" "Ich... ich kann ein Baby schreien hören." Kevin unterschied gerade nicht zwischen Wirklichkeit und Traum, und in seinem inneren Ohr konnte er das Schreien und Weinen eines Neugeborenen vernehmen. "Was ist das?", sagte er mit ermatteter Stimme und Patrick tätschelte fürsorglich und beruhigend seinen Oberschenkel. Im Dunkeln konnte er nicht genau sehen, ob Kevin nun wirklich wach oder im Halbschlaf war, ob er träumte? "Wir sind gleich da..."
    Doch die Geräusche im Rauschen des Wagens hörten für Kevin nicht auf. Was hatte das zu bedeuten? Wieder versuchte sich der junge Polizist zu erinnern, wieder spielten sich Bilder vor seinem Auge ab, die einfach wild und konfus durcheinander gewirbelt waren. "Patrick... habe ich ein Kind?", fragte er beinahe flüsternd. "Ich weiß es nicht, Kevin. Aber mit wem? Mit wem solltest du ein Kind haben?" Da war eine Frau... Kevin konnte sie nicht beschreiben, sie nicht beim Namen nennen... aber er konnte sie fühlen, sie wahrnehmen und sie trug ein Kind auf ihrem Arm. Gleichzeitig befiel ihn aber eine unendliche Traurigkeit, die er sich nicht erklären konnte. Die Verzweiflung aber konnte er sich erklären, er wusste woher sie kam, denn egal wie viel er nachdachte, es fügte sich kein echtes Bild zusammen, dass er erklären könnte. Auf dem Beifahrersitz zog er sich weiter zusammen, kauerte beinahe und drehte den Körper zum Beifahrerfenster, wobei er leise schniefte: "Ich kann ein Baby hören..."



    Die Zieladresse rückte näher, und bis Patrick den Wagen ausschaltete, hörte er von Kevin kein Wort mehr. Langsam ging er um den Wagen herum und öffnete die Beifahrertür, ebenfalls langsam, weil er Angst hatte, sein Opfer könnte einfach herauskippen. Doch Kevin war diesmal vollständig wach, hielt sich am Obergriff fest und stieg selbst aus dem Auto aus. "Alles klar soweit?", fragte Patrick und bot seinen Arm als Gehhilfe an, doch der junge Polizist lehnte stumm ab und ging selbstständig, langsam aber wackelig hinter Patrick in Richtung der Eingangstür des Hauses, das Patricks Freund Carsten gehörte.
    Drinnen knipste Patrick das Licht im Wohnzimmer an. "Ist nichts besonderes, aber hier liegst du wenigstens warm." Dann legte er Kissen und Decke für Kevin aufs Sofa, der schnell darunter erneut einschlief. Die Drogen wirkten auf ihn heute nur mit Schläfrigkeit und Beruhigung, keinerlei Alpträume oder sonstige negative Nebenwirkungen. Er lag auf der Couch und schlief, während ein Stockwerk tiefer, in einem dunklen Kellerraum, Jenny auf einer Matratze lag und immer mehr das Gefühl für Raum und Zeit verlor.



    Hier hatte der Verbrecher vieles aufbewahrt, was in seiner kleinen Wohnung in Köln keinen Platz hatte. So besah er sich kurz zufrieden den schlafenden jungen Mann, bevor er das Wohnzimmer verließ und eine Tür mit einem Schlüssel von seinem Schlüsselbund aufschloß. Dahinter war eine Art Büro, ein Computer und mehrere Ordner. Hier stand Kevins letztes Jahr, fein aufsortiert und protokolliert, mit Bildern und Handyvideos auf dem PC, seit vorletztem Winter Peter Becker von einem Fabrikdach gefallen war. Patricks säuberliche Vorbereitung auf seine Rache, die nun noch perfider und grausamer ausfallen sollte, als geplant. Die zwar etwas mehr Zeit benötigte und Vorsicht... sich aber lohnen würde.
    Er schaltete den PC an und klickte sich in die Fotos von Jenny. Seit Kevin wie aus dem Nichts von der Bildfläche verschwunden war, verlagerte er sein Stalking auf die junge Polizistin. Kevins Gemurmel im Wagen hatte ihn verunsichert, und er klickte Foto für Foto in der Galerie durch. Das Foto, als Jenny aus der Praxis einer Frauenärztin kam... das Foto von Jenny, als sie gerade auf einer Bahre aus dem Frankfurter Flughafengebäude geschoben wurde. Sollte das etwas mit einem Kind zu tun haben? Hatte Kevin das noch gewusst, davon erfahren? Aber da war er doch schon gar nicht mehr da...?
    Den jungen Polizisten zu fragen hielt Patrick für gewagt... er wollte erst austesten, wann und unter welchen Umständen Kevin sich an mehr erinnern konnte, damit er selbst ihm keine Hilfestellung gab. Aber ein Stockwerk tiefer konnte die Antwort auf seine Frage sitzen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


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  • Polizeirevier - 8:00 Uhr



    Polizeirat Wilhelm Schwandt hatte persönlich Semir um 7 Uhr aus dem Hotelbett geklingelt. Natürlich war der Leiter der Dienststelle für Eigentumsdelikte am Morgen als allererstes über die Vorkommnisse in der Nacht informiert worden, vor allem weil einer seiner Beamten, sowie die beiden Autobahnpolizisten Gerkhan und Jäger an diesem Einsatz beteiligt waren. Sofort hätten sie sich auf dem Revier einzufinden, um die Sache zu klären, und seine Tonlage duldete keinen Widerspruch. Semir näselte ein verschlafendes "Immer mit der Ruhe" in den Hörer, bevor er sich erstmal richtig aufsetzte und gähnte. Dann ließ er sich Zeit, duschte, putzte sich die Zähne und rief erst dann seinen Partner und Zimmernachbar Ben an.
    Dieser reagierte ähnlich genervt und meckerte: "Was willst du, mitten in der Nacht?" Als Semir ihm erklärte, dass sie zu einer Audienz gebeten wurden, wollte Ben spontan aufzählen, warum er keineswegs für Schwandt springen würde. "Der ist überhaupt nicht für uns zuständig. Ausserdem müssen wir jetzt zum Lehrgang, und ein Frühstück ist jetzt erstmal das Allerwichtigste. Dann kommt Jenny, und wenn wir dann Zeit haben, schauen wir auf nen Kaffee beim Kollegen Schwandt rein.", redete er sich in Rage, wobei er die Reihenfolge nicht ganz ernst meinte.



    "Ben, ich geb dir recht. Zu sagen hat der uns gar nichts. Aber lass uns da jetzt hinfahren. Ich befürchte, je länger er auf uns warten muss, desto mehr muss Timo es büßen. Und das hat der Junge nun wirklich nicht verdient." Gegen dieses Argument kam Ben nicht an, und nickte für Semir nicht sehbar am Telefon. "Na schön, gib mir ne Viertelstunde.", sagte er grummelnd und schälte sich nach dem Auflegen ebenfalls aus den Federn. Seine Reihenfolge vom Aufstehen bis zum wachen Ben war exakt gleich wie die von Semir, nur dass er noch ein paar Minuten den Föhn bemühte, was sein türkischer Partner am Morgen nicht benötigte. Also trafen sie sich gleichzeitig halbwegs munter auf dem Parkplatz an ihrem Dienstwagen und brachen zur Dienststelle in Hamburg auf.
    Semir ging voran, als sie an die Tür des Dienststellenleiters klopften und traten nach einem harschen "Herein" ein. Die Laune nach solchen Alleingängen schien bei den jeweiligen Dienststellenleitern offenbar fest im Vertrag vorgeschrieben zu sein. Vorher hatten sie in das Büro geschaut, wo normalerweise Jenny und Timo arbeiteten, doch der blonde Kommissar war heute nicht an seinem Platz, was bei dem erfahrenen Türke ein mulmiges Gefühl auslöste. Das böse Wort der Suspendierung schwebte durch seinen Kopf.



    Wilhelm Schwandt war tatsächlicher schlechter Laune und sein Gesicht verfinsterte sich zusehends, als die beiden Kommissare in das Büro eintraten. "Setzen sie sich." Auf das "Bitte" verzichtete Schwandt, und die beiden Autobahnpolizisten kamen dem Befehl eher aus Bequemlichkeit nach, als aus Ehrfurcht. Schwandt stand vom Stuhl auf und verschränkte die Arme auf dem Rücken, wie ein Feldwebel der jetzt zum Anschiss ausholte. "Ich dachte, ich hätte mich klar genug ausgedrückt gestern." Semir hatte ein Bein quer über das andere gelegt und die Hände im Schoß gefaltet, als könne er kein Wässerchen trüben, als er sagte: "Ich kann mich gerade nicht genau erinnern...", während Ben sich das Grinsen verkneifen musste.
    "Ich sagte, dass sie sich aus unserer Ermittlungsarbeit raushalten sollen. Und vor allem sollten sie meine Mitarbeiter nicht in ihre wahnwitzigen Einsätze verstricken und in Lebensgefahr bringen. Was haben sie sich dabei gedacht, eigenmächtig eine Verfolgungsjagd über die Hamburger Autobahn zu veranstalten und dabei das Leben Unschuldiger zu riskieren.", redete er sich in Rage und ging hinterm Schreibtisch hin und her. "Wir hatten den berechtigten Verdacht, dass der Verdächtige etwas mit der Entführung von Jenny D..." "Ich hatte ihnen doch gesagt, dass dies Sache unserer Vermissten-Dienststelle ist.", fiel der Leiter Semir ins Wort.



    "Die erst nach 48 Stunden aktiv werden. Aber soviel Zeit haben wir nicht.", knurrte Ben, dem das Lachen vergangen war. "So sind die Dienstvorschriften. Daran haben sie und ich mich zu halten." "Scheiss auf die Dienstvorschriften, die von irgendwelchen Anzugträgern wie ihnen vor 100 Jahren mal gemacht wurden. Unsere Freundin ist spurlos verschwunden, und wir werden sie auch finden, ob es ihnen passt oder nicht." Schwandt zischte in Bens Richtung: "Hüten sie ihre Zunge, wenn sie nicht demnächst die Klohäuschen auf der A1 kontrollieren wollen." "Jetzt mal halblang!", unterbrach Semir das Geplänkel und legte seinem Partner beruhigend eine Hand auf den Unterarm. "Haben sie uns jetzt nur hergebeten, um uns das zu sagen? Dann können wir ja wieder gehen."
    "Nicht ganz. Ich werde jetzt ihre Dienststellenleiterin Anna Engelhardt anrufen, und von ihrer unmöglichen Verhaltensweise berichten, und so lange bleiben sie hier sitzen." Die beiden Männer sahen sich an und zuckten mit den Schultern, ährend Schwandt wieder hinter seinen Schreibtisch ging, sich setzte und die, bereits vorbereitete, Nummer der Chefin wählte.



    Nach kurzen Freizeichen drang eine Frauenstimme durch den Hörer. "Sekretariat Autobahnpolizei, sie sprechen mit Frau Gerkhan, was kann ich für sie tun." Bei dem Nachnamen warf Schwandt einen vernichtenden Blick auf Semir. "Schwadt, LKA Hamburg. Ähm... ich würde gerne Frau Engelhardt sprechen. Es ist dringend." "Frau Engelhardt hat Urlaub, aber ich verbinde sie mit ihrem Stellvertreter, einen Moment." Danach hörte der Dienststellenleiter Fahrstuhlmusik in der Warteschleife, während Semirs Handy klingelte. "Sorry...", entschuldigte der sich kurz, während Ben hinter vor gehaltener Hand grinsen musste. "Gerkhan?" "Du, Semir. Ich weiß, ihr seid im Lehrgang, aber hier ist jemand vom LKA Hamburg... hört sich dringend an. Kannst du kurz?" "Hmm ja, kein Problem.", sagte er ernst und blickte zu Wilhelm Schwandt, der natürlich nur Semirs Worte hörte, mit der Dudelmusik im Hintergrund.
    Erst als diese aufhörte und er im Echo Semirs: "Gerkhan, stellvertretender Dienststellenleiter Autobahnpolizei, was kann ich für sie tun?", hörte, dessen Stimme im Raum und aus dem Telefonhörer erklang, verfinsterte sich sein Gesicht weiter, und mit dem Hörer am Ohr blickte er den Türken an. "Hallo? Ist da jemand?", fragte der völlig unbeeindruckt, und Ben schaute gespielt verwundert, als Schwandt langsam bedrohlich den Hörer auflegte. Danach sah Semir verwundert auf sein Handy: "Einfach aufgelegt." Ben schüttelte den Kopf: "Leute gibts..."



    Schwandt kochte. Er hasste es, so vorgeführt zu werden, und er merkte dass er auf dem Dienstweg nichts gegen die beiden Kölner Kollegen tun konnte, ausser über den Polizeipräsidenten ein Dienstaufsichtsverfahren zu erwirken. Doch dafür war zu wenig passiert, und aufgrund der Tatsache, dass Benno den Tankstellenüberfall im Verhör mit den Kollegen gestanden hatte, war die Verfolgungsjagd sogar ein Erfolg. Warum sollte man seine drei Beamten dann bestrafen? Sein "Raus! Lassen sie sich hier nie mehr blicken.", war kurz, knurrend und prägnant. Die beiden Polizisten ließen sich nicht zweimal bitten, grinsten sich an und verließen die Dienststelle.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Hamburg - 8:30 Uhr



    Heimgeschickt, wie in der Schule. Missmut und Unverständnis war es, was Timo an diesem grauen Morgen durch die Straßen der Hamburger Innenstadt trieb. Zusammengefaltet hatte Schwandt ihn, im vorausgesagt dass seine hoffnungsvolle Karriere als Polizist schnell Geschichte sei, wenn man sich mit solchen Leuten wie den Chaoten von Cobra 11 einlässt. Er sollte nach Hause fahren, sich den Kopf mal unter kaltes Wasser halten und sich fragen, auf welches Gesetz er seinen Eid als Polizist geschworen hatte. In dem stand nämlich nichts von solchen halsbrecherischen Alleingängen drin, so wie er gestern mit Semir und Ben an einem teilgenommen hatte, um den flüchtenden Benno zu stellen.
    Dabei war sich Timo sicher, alles richtig gemacht zu haben. Sie mussten doch etwas unternehmen, um Jenny zu finden. Sie konnten doch nicht den Kopf in den Sand stecken und hoffen, dass die Kollegen der Vermisstendienststelle irgendwann mal anfingen, zu suchen. Es gab doch nun genügend Hinweise, dass etwas passiert sein musste, und er war doch nur mit den Kollegen einer Spur nachgegangen, und hatten obendrein einen gesuchten Tankstellenräuber gefasst... wenn auch zufällig. Nein, in Timos Verständnis hatten sie alles richtig gemacht... aber im Verständnis seines Chefes war er der schwarze Peter. Das ärgerte den jungen Polizisten, er fand es ungerecht und ein Stück weit entmutigte es ihn sogar...



    Timo stieg in den Bus um etwas ausserhalb der Innenstadt nach Hause zu fahren. Er hatte sich gerade hingesetzt, da begannen die Gedanken schon wieder um Jenny zu kreisen. Nein, es war richtig, was sie getan hatten, und sie dürften nicht aufhören zu suchen. Er würde sich schreckliche Vorwürfe machen, wenn er die junge Frau jetzt aufgab. Ja, er empfand etwas für sie, auch wenn er noch nicht recht im Klaren mit sich war, was er empfand. Freundschaft, gesteigerte Sympathie, oder mehr? Jedenfalls wurde er immer aufgeregt, wenn er alleine mit ihr war und er freute sich jedes Mal, wenn sie etwas zusammen unternahmen. Er wollte sich selbst nicht unter Druck setzen und genoß die Freundschaft aus Angst, etwas zu zerstören wenn er einen Schritt weiterging.
    Als der Bus zwei Haltestellen weiter hielt, stiegen einige Fahrgäste zu. An einem Mann blieb Timos Blick hängen. Es war wie ein Deja-Vue, er hatte den Mann schon einmal gesehen, aber konnte nicht sofort sagen, wo. Die kalten blauen Augen blickten unsicher durch den Bus, ein weiterer Mann stand bei ihm und beide hielten sich nun an einer der Haltestangen fest, als der Bus anfuhr, während Timo seinen Blick wieder senkte. Der Bus rumpelte durch die vollen Hamburger Straßen, und der junge Polizist dachte nach, kramte in alten Karteikarten im Kopf um das Gesicht einer Person, einem Namen zu zuordnen.



    Plötzlich ging ihm ein Licht auf. Er konnte das Gesicht keinem Namen, aber einem Herkunfsort zuordnen, wo er es zum ersten Mal gesehen hatte. Auf dem Foto in Jennys Wohnung, das neben einer erloschenen Kerze stand. Er schaute nochmal, und nochmal, immer für Sekundenbruchteile auf, einmal trafen sich die Blicke kurz. Von der Kälte in den hellblauen Augen war Timo geschockt und das war es auch, was ihn verunsicherte, denn der Blick auf dem Bild war ein anderer. Jennys Freund? Jennys Ex-Freund? Sie hatte nie von einem Lebenspartner erzählt, sie wohnte alleine und hatte nie mal erwähnt dass sie vergeben oder Single war. Timo hatte aber auch nicht gefragt. Er hatte die Haare ein wenig länger, ein wenig anders durcheinander als auf dem Bild und er schien vor kurzem eine Verletzung im Gesicht gehabt zu haben.
    Er sprach nur wenig mit seinem Bekannten, der bei ihm stand, Timo schenkte er keine Beachtung mehr. Sie unterhielten sich ruhig, nicht angeregt und sie schienen befreundet zu sein. Der junge Polizist zwang sich nun, nicht mehr zu genau hinzusehen, um keine Aufmerksamkeit zu erregen, und so bekam er nicht mit, dass der Mann mit den abstehenden Haaren noch einmal mit einem Kopfnicken auf Timo deutete, woraufhin sich auch sein Begleiter kurz umdrehte und Timo ansah. Wegen des Lärms im Bus konnte er das leise Gespräch der beiden Männer nicht verstehen.



    Gedanken schossen wild durch Timos Kopf. Wenn Jenny einen Freund hatte... warum hatte der sich noch nicht bei der Polizei gemeldet? Warum hatte der sich noch nicht auf die Suche gemacht... oder tat er das gerade? Und wenn er nicht ihr Freund, sondern der Ex-Freund war... hatte er etwas mit der Entführung zu tun? Wusste er was davon? Sein Herz begann schneller zu schlagen, während er nach draussen blickte und die Großstadthäuser an sich vorbeiziehen sah. Wenn man sich im schlechten trennte, waren Eifersuchtsgedanken, die in Hass umschlugen, keine Seltenheit. Aber warum hatte sie dann noch ein Foto von ihm, wenn sie sich getrennt hatte, was zu einer Kurzschlussreaktion seinerseits führte? Das ergab im ersten Moment keinen Sinn.
    Doch der junge Polizist war plötzlich getrieben von diesem Gedanken. Es wäre der entscheidende Hinweis, Kommissar Zufall, der ihnen half um vielleicht auf die richtige Spur zu kommen. Wieder riskierte er einen Blick, den er aber sofort senkte, als bemerkte dass die beiden Männer gerade in seine Richtung sahen. Eine Observation alleine war zu gefährlich, er musste Semir und Ben anrufen. Gerade als er das Handy aus der Hosentasche gezogen hatte, hielt der Bus und die beiden Männer stiegen aus. Timo stand schnell auf, um ihnen aus dem Bus heraus zu folgen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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  • Hamburg - 8:45 Uhr



    Semir hielt die Kaffeebecher in der kleinen Bäckerei mit beiden Händen und pustete gegen den aufsteigenden Rauch, während er an den Stehtisch zu Ben zurückkehrte, der sich gerade das zweite Frühstück einverleibte. Beide hatten noch im Büro des LKAs erfahren, dass ihr junger Kollege Timo nach Hause geschickt wurde, und drüber nachdenken sollte, ob er weiter mit den beiden Rambo spielen wollte, oder ob ihm seine Polizei-Karriere wichtiger ist. Die Information hatten sie von Timo älteren Kollegen Gregor, der einerseits nicht einverstanden war mit dem, was Timo getan hatte, da er gegen die Dienstvorschriften verstoßen hat, andererseits aber auch entrüstet über seinen Vorgesetzten war, wie dieser mit Timo umgesprungen war. Einzig, der erfahrene Polizist hatte nur noch wenige Jahre Dienst zu tun und hatte keinerlei Interesse sich mit seinem Vorgesetzten anzulegen.
    Semir konnte das verstehen, denn manche Vorgesetzte konnten einem dann auch noch die letzten Jahre zur Hölle machen, andererseits war es ein Verhalten, was für ihn selbst oder auch für Ben niemals in Frage kommen würde. Sie würden füreinander einstehen und sowohl Ben als auch Semir würden der Chefin widersprechen, wenn sie einen der beiden unfair behandeln würde... was aber bei Anna Engelhardt nur in Ausnahmefällen vorkam, bei starken Zahnschmerzen ihrerseits. Aber es war selten.



    Sie wollten dem jungen Beamten ein wenig Zeit für sich lassen, und nicht sofort wieder zu irgendwelchen Dummheiten verführen, denn ein wenig fühlte sich der ältere Semir auch verantwortlich für die Probleme, die der Junge jetzt hatte. Schließlich hatte er ihn sofort miteinbezogen, nachdem er merkte, dass ihm Jenny nicht total egal war. Ungefragt. Doch natürlich war Timo erwachsen und für sich selbst verantwortlich, für alles was er veranstaltete, trotzdem hatte Semir ein schlechtes Gewissen. "Na komm schon. Du hast ihn doch nicht gezwungen.", sagte Ben mit halbvollem Mund und sein Partner sah ein Stück zu ihm auf. "Ab 200 Gramm im Mund wird es undeutlich.", raunzte er und schubste seinen besten Freund gegen die Schulter.
    "Lass mich. Wer sein Gewicht halten will, der muss auch mal essen, wenn er keinen Hunger hat." "Soso. Sag mir lieber, wo und wie wir jetzt weitermachen." Am besten konnte Ben beim Essen denken... zumindest war das auch eine seiner Ausreden, wenn er mal wieder über die Stränge schlug. "Was ist, wenn nicht einer ihrer alten Fälle bei uns, sondern einer ihrer neuen Fälle hier in Hamburg die Ursache für ihre Entführung ist?", äusserte er dann doch seine Gedanken, nachdem er einen Bissen untergeschluckt hatte.



    Semir strich sich mit den Fingern über die Lippen und nickte nachdenklich. "Möglich. Kontakt aus dem Knast heraus, denn die Verhaftungen dürften noch nicht lange her sein." "Ja, zum Beispiel. Bekanntschaften im Knast, der Inhaftierte beauftragt einen seiner Freunde, die gerade rauskommen." Der erfahrene Polizist seufzte. "Das könnte dann aber jeder sein, der aus der JVA Hamburg in den letzten Tagen oder Wochen rausgekommen ist. Dort die Verbindung zu den, von Jenny oder der Abteilung Inhaftierten rauszubekommen... das ist ne ganze Menge Ermittlungsarbeit. Wenn wir uns da ständig als Kripo Autobahn vorstellen, könnte das ne ganze Menge Fragen aufwerfen." "Wer sagt denn, dass wir uns vorstellen müssen?", meinte Ben grinsend. "Witzbold. Willst du ins Gefängnis einbrechen? Oder in die Ab...".
    Seine Stimme stockte und er sah das immer noch grinsende Gesicht von Ben. "Ben... Nein." "Warum nicht? Der Glaskasten wird sicherlich nicht so bewacht wie das Casino von Monaco. Wenn wir nur an die Unterlagen der Verhaftungen in den letzten Wochen kommen und die Namen der Verbrecher haben. Die Kartei der Typen an sich ist für alle offen, und eine Verbindung zu Freunden die aus Hamburg entlassen wurden, kann uns Andrea bestimmt herstellen. Nur die Namen der Verhaftungen sind bei laufenden Verfahren meist nur für die Bundesländer sichtbar."



    Semir sah skeptisch drein... das würde einen Riesenärger geben, wenn man erwischt würde. "Timo kann uns sicher helfen, da rein zu kommen." "Timo hat sich schon genug Ärger wegen uns eingefangen. Ich will nicht dafür verantwortlich sein, wenn der Junge seine Karriere gegen die Wand fährt.", sagte der erfahrene Kommissar und nahm einen weiteren Schluck heißen Kaffee zu sich. "Ach was. Wenns hart auf hart kommt, dann holen wir ihn eben zu uns. Die Chefin hat es sogar geschafft, Kevin vor dem Aus im Polizeidienst zu bewahren, und der hat sich nicht nur illegal irgendwelche Akten beschafft." Der Gesichtsausdruck von Bens Partners erhellte sich nicht. "Na komm. Wir fragen ihn einfach. Wir drängen ihn zu nichts. Dann hören wir, was er sagt, in Ordnung?" "Na schön."
    In diesem Moment klingelte Semirs Handy und Timos Nummer erschien auf dem Display. "Das trifft sich ja gut.", meinte er für sich murmelnd und nahm das Gespräch an. "Hey Timo, wir haben grad über dich gespro..." "Hallo Semir. Ich kann nicht gut reden gerade." Semirs Herzschlag beschleunigte. "Was ist los?" "Ich hab nachgedacht... könnte es sein, dass Jennys Freund... oder Ex-Freund etwas mit der Sache zu tun hat?" Ben bemerkte den verwirrten Gesichtsausdruck seines Partners.



    "Wie meinst du das?" "Na, der Typ auf Jennys Foto in ihrer Wohnung? Ich hab ihn im Bus gesehen und folge ihm gerade. Vielleicht hat er etwas mit der Entführung zu tun, wenn er von sich aus nicht zur Polizei gegangen ist um..." Jetzt erst bemerkte Semir, was Timo ihm da versuchte zu sagen, und sein Gesichtsausdruck wurde nun ungläubig wie seine Stimme. "Halt, Moment, Stop! WEN verfolgst du gerade?", fragte er nochmal und jetzt merkte auch Ben, das irgendetwas gerade nicht stimmte. Semir schaute so ungläubig, so entsetzt, das war er von seinem Partner nicht gewohnt. Auch schaltete er jetzt den Lautsprecher ein, damit Ben mit eigenen Ohren hören konnte, was Timo sagte: "Den Typ, der mit Jenny zusammen auf dem Bild in ihrer Wohnung ist."
    Ben nahm nun den gleichen Gesichtsausdruck an, sein Herzschlag setzte aus und er hatte das Gefühl, dass der Boden unter ihm zu einer wackeligen Puddingmasse wurde. "Nein...", flüsterte er leise. "Das kann nicht sein, Timo. Kevin ist tot. Bist du dir ganz sicher?" "Ja... das heißt... also, seine Haare sind etwas anders. Und er hat eine Wunde oder Narbe am Kopf... aber der Gesichtsausdruck... doch, ich denke schon." Man merkte, dass Timo vom Charakter her nicht mit dem größten Selbstbewusstsein gesegnet war und Sorge mitschwang, einen falschen Alarm wegen eines Irrtums zu fabrizieren. "Doch, ich glaube schon, dass er das ist." "Wo bist du? Wir kommen sofort." Timo nannte ihnen den Stadtbereich, wo er gerade versuchte unauffällig die beiden Männer zu verfolgen. "Du lässt dich auf keinen Fall erwischen. Wir sind gleich da." Irgendetwas in ihm sagte ihm, dass etwas nicht stimmte... wenn er tatsächlich Kevin war, musste es einen Grund geben, warum er sich nicht bei ihnen gemeldet hatte. Aber es konnte eigentlich nicht Kevin sein... irgendetwas in Semirs Kopf weigerte sich, zu glauben, dass Kevin noch lebte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hamburg - 8:45 Uhr



    Bevor Patrick mit Kevin das Haus in Hamburg verließ, um mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrem Ziel zu fahren, musste er telefonieren. Dazu schloß er sich in einen kleinen Nebenraum im Keller ein, noch bevor Kevin auf der Couch von seinem Drogentrip erwachte, denn er gestern abend begonnen hatte, und dessen Nachwirkungen sich bis tief in die Nacht zogen. Der Nebenraum war aber in dem großen Haus auch weit genug weg von Jennys Verlies, so dass der Verbrecher zwar leise, aber ungestört reden konnte. "Du hast WAS gemacht?", klang die Stimme seines besten Freundes durch das Handy, laut und ungläubig. Carsten fiel aus allen Wolken, als Patrick ihm erzählte, was gestern vorgefallen war und in welchem Zustand das Objekt ihrer Begierde war.
    "Damit ich das jetzt richtig verstehen... der Typ pennt jetzt bei dir auf der Couch, quasi ein Stockwerk über seiner Freundin und kann sich an nichts erinnern? An gar nichts? Bist du eigentlich wahnsinnig? Weißt du, wie gefährlich das ist?", polterte Carsten in den Hörer und Patrick verdrehte genervt die Augen. "Mann, jetzt krieg dich doch mal wieder ein. Kevin hat nen kompletten Blackout. Da ist nichts mehr da von den letzten Jahren. Er weiß nicht, wer seine Schwester gekillt hat, er sieht mich als Freund, weil er sich an mich erinnern kann. Besser kann es gar nicht laufen."



    "Und wenn er sich doch an etwas erinnert? Wenn plötzlich der Groschen fällt, und er einen seiner Kollegen, seine Freundin oder... oder was weiß ich wen erkennt?" Carsten war zunächst nicht zu beruhigen. "Seine Freundin wird er zunächst mal nicht zu Gesicht bekommen. Und wir müssen seine Erinnerung jetzt so lenken, wie wir es brauchen." Der Verbrecher konnte hören, wie sein bester Freund sich am Kinn kratzte. "Ich ahne, was du vor hast. Du willst ihm Storys auftischen... die ihn nachher als was genau da stehen lassen?" Patrick wollte noch nicht alles verraten. "Das sehen wir dann. Jedenfalls brauchen wir jetzt einen weiteren Schritt... seine Zeit, die er verbracht hat. Und da kommst du ins Spiel."
    "Ich? Aber mich kennt er gar nicht." Patrick fuhr sich mit einer Hand durch die Haare. "Braucht er doch auch nicht. Wenn wir nur einen Fetzen seiner Erinnerung treffen, wird er sich beeinflussen lassen? Er hat die totale Leere und wird nach jedem Strohhalm der Erinnerung schnappen. Wenn er sich gar nicht erinnern kann, dann ist es halt so. Es kann uns nichts passieren, glaub mir." Und skeptisches Grummeln war Carstens Antwort. "Und selbst wenn... wenn etwas Unvorhergesehenes passieren sollte, dass er sich erinnert oder irgendwas... dann können wir immer noch kurzen Prozess machen." Diese Aussicht stimmte den Gesprächspartner zwar nicht milde, aber er lenkte ein.



    Mit kurzen Worten erklärte Patrick seinem besten Freund den Plan, bis er über ihm die Dusche hörte. Kevin war scheinbar wach, also beendete er das Gespräch nach kurzer Verabschiedung, die sich bei Carsten eher nach "du Wahnsinniger..." anhörte. Als der junge Polizist mit Gedächtnisverlust aus dem Bad kam, standen seine Haare wie früher in alle Richtungen und er zog sich eins von Patricks Oberteilen über den Kopf. "Blöd, wenn man nicht weiß, wo man seine Klamotten gelassen hat, hmm?", versuchte der damalige Gangfreund lustig zu sein, Kevin quittierte es allerdings nur mit einem sarkastischen Grinsen und Nicken. Sein Kopf dröhnte, und ihm war nicht nach Scherzen zu Mute nach einer Nacht auf Trip, vielen Bildern im Kopf die noch mehr Fragen hinterließen als Antworten brachten.
    "Ich hab etwas, was dich aufheitert. Ich hab mal ein bisschen rumtelefoniert zu den alten Kontakten, die ich noch habe. Und Carsten sagte, er hätte in den letzten paar Jahren mit dir gearbeitet.", erklärte Patrick und schenkte Kevin, der sich langsam an den Küchentisch setzte eine Tasse Kaffee aus. "Gearbeitet?", fragte er ahnungslos und sofort begann sein Kopf wieder zu denken. "Ja... also... naja, wie soll ich das jetzt sagen. So wie früher." Der junge Polizist zog die Augenbrauen nach oben. "Brüche gedreht?" "Unter anderem." Kevin stöhnte auf und ließ den Kopf nach hinten fallen, und sein Hirn gaukelte ihm plötzlich Erinnerungen vor. Erinnerungen, die tatsächlich da waren, in seinem Kopf jedoch ohne Zeitangabe. Denn die Brüche hatte er wirklich gedreht... als Jugendlicher mit der Gang, und er vermischte es mit dem Chaos in seinem Kopf, dem Chaos in den Erinnerungen der letzten Jahre.



    "Er will sich mit uns treffen, dann reden wir. Vielleicht kann er dir mit der Erinnerung auf die Sprünge helfen." Die Aussicht darauf, endlich ein wenig Licht ins Dunkel von Kevins Gedächtnis zu bringen, ließ die Müdigkeit verschwinden. Der Kaffee verschwand in Rekordgeschwindigkeit und innerhalb weniger Minuten standen die beiden Männer an der Bushaltestelle. "In Hamburg kommt man mit den Öffentlichen besser voran, vor allem um die Uhrzeit.", erklärte Patrick. Diesmal waren Erinnerungen sofort da... an Busfahrten, meistens schwarz, als Kevin jung war. Vom einen Viertel ins andere, von einem Dealer zur anderen Kneipe. Er begegnete Leuten im Kopf, deren Namen er nicht wusste und deren Geschichte er nicht kannte.
    Während sie im Bus standen fiel Kevin irgendwann auf, dass ein junger Mann, der ein gutes Stück weit von ihnen auf einem der Sitzplätze saß, ihn ansah. Im ersten Moment interessierte er sich nicht für den blonden Mann, doch er sah aus dem Augenwinkel, dass das Interesse nicht abklung. Unauffällig murmelte er in Patricks Richtung. "Kennst du den Typen da hinten? Den Blonden?" Während der junge Polizist sich wegdrehte, damit es nicht auffiel dass beide zu Timo sahen, riskierte nun Patrick einen Blick. "Ach du Kacke...", war die eindeutige Antwort auf Kevins Frage.



    Natürlich kannte Patrick den blonden Jungen. Zu lange hatte er Jenny in den letzten Wochen hier in Hamburg beschattet und beobachtet, als dass ihm Timo entgangen wäre. Persönlich hatte er mit dem Jungen noch nie zu tun, aber das würde sich jetzt scheinbar ändern, wobei er sich wunderte, warum er auffallendes Interesse an Kevin hatte. Scheinbar war bei diesem Timo auch persönliches Interesse am Verschwinden von Jenny im Spiel... und wer weiß, was die Polizistin über ihren vorherigen Freund erzählt hatte. Verdammt. "Wer ist das?", wurde er von Kevins leiser Stimme wieder aus den Gedanken gerissen. "Das ist ein Bulle.", war seine Antwort und beide drehten sich endgültig von Timo weg, um Desinteresse zu zeigen.
    "Und was will der von dir?" "Von mir? Dich beobachtet er." "Okay... was will er von MIR?" Patrick schüttelte den Kopf: "Woher soll ich das wissen. Komm, wir steigen hier aus... wir müssen den Typ kaltstellen." Kevin verzog für einen Moment keine Miene... das letzte Verhältnis zur Polizei, an das er sich klar erinnern konnte, waren Strassenschlachten, Gewalt und eine Mordkommission, die ihn eingesperrt hatte als Tatverdächtigen, nachdem er aus dem Krankenhaus nach dem Attentat auf seine Schwester entlassen wurde. Skrupel hatte er nicht, aber sein Verstand setzte ein. "Ich glaube, es ist nicht so gut, wenn wir uns jetzt Ärger mit der Polizei aufladen." "Nach dem, was Carsten mir erzählt hat, ist die Befürchtung zu spät... und jetzt komm!" Die beiden Männer stiegen aus dem Bus aus, während Timo ihnen mit Abstand folgte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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