Tödliche Storys

  • Wanke, der inzwischen keinerlei Symptome mehr hatte und sich völlig gesund fühlte, hatte mit gekriegt, dass etwas schief gelaufen war. War Natascha jetzt tot oder nicht? Er wusste es nicht, aber als er auf einem der Monitore neben seinem Bett ihre Vitalzeichen mit ihrem Namen darüber erschienen, konnte er sogar als medizinischer Laie erkennen, dass sie zumindest aktuell noch am Leben war und als seine Bewacher nach den Hilferufen der Schwester dann plötzlich los rannten, um den Attentäter zu überwältigen, wusste er, dass er verloren hatte. Wenn Natascha eine Aussage machen konnte, wäre er dran-da konnten tausend Staranwälte um seine Freiheit kämpfen, zumindest die nächsten Jahre würde er in Ossendorf einsitzen und da hatte er überhaupt keine Lust darauf! Außerdem vertraute er auch dem Bekannten aus der Unterwelt nicht-wenn man den genügend unter Druck setzte, würde der vermutlich singen wie ein Vöglein und ihn ebenfalls ans Messer liefern. Er hatte vielleicht nur noch diese eine Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen und so schaltete er seinen Monitor auf Standby, wie er es beim Pflegepersonal beobachtet hatte, als er vorhin in Begleitung zur Toilette gedurft hatte, schnappte sich in Windeseile die Plastiktüte mit seinen Klamotten, die am Fußende des Bettes lag, zog den Zugang aus seinem Arm, machte die Überwachungskabel ab und nutzte den allgemeinen Aufruhr, um aus dem Zimmer zu verschwinden.
    Er spazierte frech ins Arztzimmer, wo er sich anzog und gleich noch einen weißen Arztkittel und ein Stethoskop ergatterte, die über einen Stuhlrücken hingen. Der Stationsarzt kümmerte sich gerade um Natascha und als Wanke wenig später durch einen Nebeneingang der Intensiv in aller Ruhe aufrechten Schrittes langsam hinaus spazierte und dabei noch huldvoll einer vorbei eilenden Schwester zunickte, war die der Meinung, er wäre zumindest Oberarzt oder Professor-in so einem großen Haus konnte man auch nicht jedes Gesicht kennen. Der Designeranzug und die edlen Schuhe, die dezente Krawatte und das farblich abgestimmte Hemd unter dem Arztkittel ließen auf eine höhere Position schließen.
    Langsam ging er übers Mitarbeitertreppenhaus nach unten, marschierte wieder freundlich grüßend, aber doch Respekt einflößend, zum Haupteingang hinaus, wo er in ein bereit stehendes Taxi stieg und dem Fahrer sein Ziel nannte. Der war überrascht und erfreut-oh das war eine gute Fuhre-da war wenigstens was verdient! Außerdem wirkte der Arzt im Fond sehr souverän und vertrauenerweckend-er gab der Zentrale sein Ziel durch und fuhr dann zügig los. Gerade als sie das Klinikgelände verließen, bogen mehrere Polizeifahrzeuge mit Blaulicht auf dasselbe ein und Wanke wunderte sich laut: „Um Himmels Willen-was ist denn da schon wieder los?“, fragte er und philosophierte dann gemeinsam mit dem Fahrer darüber, wie unsicher es doch auf dieser Welt geworden sei.


    Als Semir auf der Intensiv ankam-er hatte zwei Stufen auf einmal genommen- stand einer der beiden Bewacher wie ein begossener Pudel vor dem leeren Zimmer, alle anderen Räume der Station hatte er bereits durchsucht, während der andere immer noch den Attentäter im Auge behielt, bis die Kollegen eintrafen. „Wir haben schon den Sicherheitsdienst verständigt, die klappern die Klinik ab-weit kommt er nicht in seinem Krankenhaushemd!“, sagte er, aber als Semir nach Wanke´s Kleidung fragte, kam der Polizist erst auf die Idee danach zu sehen und stieß dann einen Fluch aus-die Tüte war verschwunden!
    Nun hielt Semir es nicht mehr aus-er musste erst nach Natascha sehen, bvor er Wanke verfolgte, aber gerade wurde ein leichenblasser Sanitäter aus dem Zimmer geschoben. „Sie wird versorgt-dieses Schwein hat sie vergiftet, ich weiss nicht, ob sie das überlebt!“, erklärte der tonlos und wies auf den Attentäter, der mit auf den Rücken gefesselten Händen auf einem Stuhl saß und schwieg wie ein Grab. Kurz erschien eine Schwester in der Tür und rief aufgeregt: „Fragt ihn, was in der Spritze ist und wie viel sie davon injiziert bekommen hat!“, aber auch als Semir ihn an den Haaren packte, seinen Kopf in den Nacken bog, ihn mit flammenden Augen ansah und ihn anblaffte, sagte der Verbrecher momentan nichts-er musste gerade überlegen, wie er aus dieser Nummer am besten wieder raus kam! Allerdings hatte er ebenfalls mitbekommen, dass sein Auftraggeber sich aus dem Staub gemacht hatte-der würde ihn vermutlich nicht mehr schützen können und er wäre wegen Mordversuchs dran. Vielleicht sollte er doch kooperieren und dadurch eine so kurze Haftstrafe wie möglich raus schlagen-einfahren würde er sowieso und nachdem Ossendorf für ihn sowas wie eine zweite Heimat war, wusste er, was nun alles auf ihn zukam. Allerdings war wiederum zu bedenken, dass Wanke´s Arm vermutlich bis in den Knast reichte und wenn heraus kam, dass er ihn verpfiffen hätte, würde er seinen Aufenthalt dort nicht überleben. Der Klügste war der Attentäter auch nicht und so dachte er erst einmal angestrengt nach, wobei ihm der kleine türkische Polizist durchaus Angst einjagte-der war ein gefährlicher Gegner.


    Semir rief in Natascha´s Zimmer hinein, denn sehen konnte er nichts, die medizinischen Maßnahmen fanden hinter dem zugezogenen Vorhang statt: „Geben sie mir die Spritze, ich bringe sie in die KTU, dort kann mein Kollege sicher den Inhalt analysieren!“, bot er an, aber in diesem Augenblick machte der Attentäter den Mund auf: „Es ist säurehaltiger Toilettenreiniger und in der Spritze waren 20ml“, verriet er und sagte auch noch den Markennamen dazu-das würde sich sicher strafmildernd auswirken.
    Inzwischen war ein zweiter Arzt hinzu geeilt, der sofort sein Telefon zückte und in der Giftnotrufzentrale anrief. Dort erfolgte eine fachliche Beratung und als der Arzt die Fachinformationen dem Kollegen und dem Pflegepersonal mitteilte, wurden zusätzlich zu den allgemeinen Notfallmaßnahmen gleich eine Blutgasanalyse und mehrere Serumröhrchen aus dem noch liegenden arteriellen Gefäßzugang entnommen und dann Natriumbikarbonat als Pufferlösung an den ZVK angehängt. Man hatte Natascha´s Bett sofort flach gestellt und ihr eine Sauerstoffmaske aufs Gesicht gedrückt. Ihre Eigenatmung funktionierte noch und sie stöhnte auch leise auf, denn es brannte jetzt wie Feuer in ihrer Brust. Allerdings machte dann ihr Kreislauf schlapp, der Blutdruck rauschte ab, sie verdrehte die Augen und so brachte man nicht nur das Bett in Kopftieflage, sondern stellte auch die Infusion sehr schnell. Sie bekam Adrenalin in Verdünnung gespritzt und als ihr Körper wieder einen Druck aufbaute, schlug sie auch sofort wieder die Augen auf. „Es tut so weh!“, stöhnte sie und nun injizierte man ihr noch ein wenig Morphin, damit sie erstens besser mit den Schmerzen zu Recht kam und zweitens wirkte das auch beruhigend.
    „Die im Giftnotruf sagen, es kann, muss aber nicht zu Herzrhythmusstörungen kommen, die Gefäßwände können beschädigt worden sein, daher vermutlich die Schmerzen in der Brust und es besteht die Gefahr einer allergischen Reaktion und des Kreislaufversagens. Wir sollen sie gut überwachen, ihr heute noch mindestens fünf Liter Infusion geben, damit die Nieren gespült werden und prinzipiell kann auch die Leber geschädigt werden, da diese Organe miteinander ja das Gift abbauen müssen. Sie denken in Bonn allerdings, bei der relativ geringen Menge von fünf Millilitern, hat sie reelle Chancen das Ganze zu überleben-hätte sie alles gespritzt gekriegt, hätten wir keine Möglichkeit mehr gehabt, sie zu retten.“, gab der Arzt weiter, was die Toxikologen in der Giftnotrufzentrale des Landes NRW in Bonn ihm gesagt hatten und als Natascha´s Werte sich jetzt langsam normalisierten, keine Symptome einer Allergie zu beobachten waren und man das Bett auch wieder in Normallage bringen konnte, atmeten alle Helfer auf. „Ich denke, wir sollten jetzt ihren Freund und Retter neben ihr Bett setzen, damit er sie noch ein bisschen beruhigt, wir machen engmaschige Laborkontrollen und stellen die Alarmgrenzen im Monitor sehr scharf, damit wir sofort symptomatisch reagieren können, wenn noch etwas nachkommen sollte“, gab der Stationsarzt die Behandlungsstrategie weiter und als wenig später der Notfallwagen heraus gefahren wurde und das ganze Personal den Raum verließ, erblasste der junge Mann zunächst und musste von Semir gestützt werden. Oh Gott-war es vorbei und Natascha war tot? Aber als man ihn dann freundlich herein bat, ihm einen Stuhl neben das Bett seiner Angebeteten stellte und ihm versicherte, dass er ihr das Leben gerettet hatte, flossen die Tränen des Glücks aus seinen Augen. Gewissenhaft wie er war, bat er noch um ein Telefon und gab in der Rettungsleitstelle Bescheid, dass er aus persönlichen Gründen leider nicht für den erkrankten Kollegen einspringen könne und als er dann neben Natascha´s Bett Platz nahm und ihre immer noch eiskalte Hand ergriff , dabei erst den Monitor und dann seine Freundin musterte, lächelte sie ihn müde an-inzwischen hatte man auch die Sauerstoffmaske gegen eine Brille ausgetauscht: „Danke mein Held!“, flüsterte sie und jetzt konnte Stefan nicht anders, sondern beugte sich über sie und ihre Lippen verschmolzen zu einem nicht enden wollenden Kuss.

  • Ben hatte sich die Decke über den Kopf gezogen. Die ganzen Informationen, die auf ihn herein geprasselt waren, waren erst einmal einfach zu viel für ihn gewesen. Außerdem hatte er eine Heidenangst vor den Stromschlägen und getraute sich fast nicht zu atmen, um so eine Elektrofolter nicht heraus zu fordern. Die ganze Zeit hörte er die Pumpe laufen, die ihn am Leben hielt und als er ganz sicher sein konnte, dass er jetzt alleine war, begannen seine Schultern zu zucken und ein trockenes Schluchzen entrang sich seiner Kehle. Die Schwester die ihn betreute warf draußen an der Zentrale einen Blick auf seinen Monitor und das verwackelte EKG, die unregelmäßige Atemkurve und noch einige andere Werte zeigten ihr deutlich, was gerade dort im Zimmer geschah, aber sie verbot sich selber hinein zu gehen. Herr Jäger hatte sie gebeten, ihn alleine zu lassen und solange das medizinisch vertretbar war, würde sie seinen Wunsch respektieren-wer wusste, wie es einem selber psychisch in seiner Situation gehen würde?

    Ben´s Tränenströme wollten nicht enden und eine absolute Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er fühlte sich alleine und verlassen mit seinem ungewissen Schicksal, dabei wusste er, wenn er nur Piep sagte, würden seine Frau und Semir an seine Seite eilen. Aber die konnten sich höchstens vorstellen, was er empfand-so richtig helfen konnte ihm niemand. Wieder einmal stellte sich für ihn die Frage, ob sein Dasein unter diesen Voraussetzungen für ihn lebenswert war. Allerdings wusste er sehr wohl zu schätzen, was viele Menschen geleistet hatten, um sein Leben zu retten. Er wollte auch nicht undankbar sein, aber dennoch war er furchtbar verzweifelt. Die grenzenlose Schwäche, die ihn umfasste, die unendliche Erschöpfung und auch die nicht unerheblichen Schmerzen im Bauch und an den Leisten forderten ihren Tribut und erst ganz allmählich versiegten seine Tränenströme und als die Schwester nach einer Weile leise nach ihm sah und eine leere Perfusorspritze wechselte, war er in einen unruhigen Schlaf gefallen.


    Sarah war von einer Kollegin in den Arm genommen worden. Sie wusste momentan nicht was sie tun sollte. Ihre ehemaligen Mitarbeiterinnen versicherten ihr wiederholt, dass sie nach Ben schauen würden. „Sarah-du kannst das doch sicher nachvollziehen. Jeder von uns ist ein Individuum und so sehr man sich in einer Beziehung auch mag-manche Dinge muss man einfach mit sich alleine ausmachen. Manchmal ist es besser, wenn man nicht alleine ist und vertraute Menschen um einen herum sind, aber dann wieder möchte man genau das absolut nicht. Dein Mann muss sich jetzt erst einmal an den Gedanken gewöhnen, dass sein Leben im Augenblick von einer Maschine abhängt und der Arzt hat ihm die Prognose ja auch klipp und klar gesagt. Ben hat keinen Hirnschaden, ist nicht verwirrt, oder so stark sediert, dass er nicht mehr Herr seiner Sinne wäre. Begegne ihm einfach als erwachsenem Menschen mit Wünschen und Bedürfnissen und ihr werdet zuhause ja auch nicht ständig zusammen hängen, sondern jeder in gewissem Maße ein eigenes Leben mit einem eigenen Beruf, Freunden, die nicht unbedingt auch die Freunde des Partners sind und persönlichem Freiraum führen!“, versuchte die ältere Schwester sich in Sarah hinein zu versetzen und nun begann die plötzlich zu schluchzen.
    „Genau deswegen, weil ich eben ein neues Hobby gefunden hatte-nämlich Geschichten zu schreiben und zu veröffentlichen-liegt mein Mann jetzt so da. Außerdem ist ein weiterer junger Mann, der absolut nichts dazu konnte tot-ich habe alles falsch gemacht!“, erzählte sie unter Tränen und ihre Kollegin hörte ihr jetzt einfach zu, als sie in wenigen Worten die Geschehnisse umriss. Dann machte sie ein ernstes Gesicht und erklärte: „Sarah-ohne deine Beteiligung an dieser schlimmen Geschichte herunter spielen zu wollen-aber du hast niemanden umgebracht. Hier liegt eine Verkettung unglücklicher Zufälle vor und was Ben betrifft-jeder kann sich eine Myokarditis einfangen, niemand kann dir sagen, ob Ben die nicht schon hatte, als er dich gesucht hat. Vielleicht wäre sie so oder so ausgebrochen, es ist müßig sich darüber Gedanken zu machen. Schau jetzt lieber nach euren Kindern und du kannst ja in ein paar Stunden mal hier anrufen, wie die Lage ist. Ich bringe deinem Mann dann auch gerne das Telefon und natürlich verständigen wir dich jederzeit, wenn Ben nach dir verlangt, aber ich glaube, du brauchst jetzt auch ein bisschen Abstand von der ganzen Sache!“, redete sie auf Sarah ein und die nickte langsam mit dem Kopf. Vermutlich hatte die erfahrene Frau Recht und so bat sie sie, Ben noch einen Gruß auszurichten und machte sich dann langsam auf den Weg zu ihrem Wagen, um zu Hildegard und den Kindern-Lucky nicht zu vergessen-zu fahren.


    Auf dem Weg dorthin fiel ihr Felix ein und sie musste einmal an den Straßenrand fahren, weil über den Verlust dieses Freundes eine erneute Aufwallung von Schuldgefühlen über sie herein brach. Dann aber atmete sie tief durch, schnäuzte sich die Nase und fuhr entschlossen weiter-ihre Kollegin hatte Recht-sie konnte ihn nicht mehr lebendig machen, Ben würde wieder gesund werden und Semir würde dafür sorgen, dass die Übeltäter, die für dieses ganze Schlamassel verantwortlich waren, zur Rechenschaft gezogen wurden.


    Hartmut hatte erneut erfolglos versucht den Computern ihre Geheimnisse zu entlocken. Verdammt nochmal-wenn Wanke tatsächlich der große Unbekannte war, nach dem sie seit Wochen suchten-und alles wies darauf hin-musste es Unterlagen geben. Um einen Verbrecherring zu leiten brauchte man genauso eine Logistik, wie wenn man eine florierende Firma betrieb. Ohne Computerdateien funktionierte das in der heutigen Zeit einfach nicht, die Daten mussten da sein! Dann begann Hartmut allerdings nochmals zu überlegen. Was war, wenn auf den Festplatten, die er seit Tagen verzweifelt untersuchte, deshalb nichts zu finden war, weil die verräterischen Daten einfach nicht drauf waren? Aber wo waren die dann? Gab es noch weitere Datenträger, die sie bis jetzt einfach noch nicht gefunden hatten und wenn ja-wo steckten die? Natürlich konnte Wanke überall in Köln eine Wohnung angemietet haben und Hartmut versuchte auch über Meldedateien eine Spur danach zu entdecken. Dann allerdings bemächtigte sich seiner ein ungeheuerlicher Gedanke und weil er sonst nicht weiter kam, rief er jetzt die Chefin an und berichtete ihr von seinem Verdacht. „Herr Freund-wenn da nichts dran ist, kriegen wir verdammten Ärger, aber ich werde mal mit Frau Schrankmann darüber sprechen und gebe ihnen dann Bescheid!“, sagte sie und nun schloss Hartmut, der sich plötzlich ziemlich sicher war zu wissen, wo die Daten versteckt waren, die Augen und machte ein wenig Powernapping, bis wenig später sein Telefon klingelte.

  • „Herr Freund-ich konnte Frau Schrankmann davon überzeugen, beim zuständigen Richter einen Durchsuchungsbefehl für Wanke´s Büro im Innenministerium zu beantragen. Allerdings wird ein Mitarbeiter des Ministeriums dabei sein, damit keine vertraulichen Daten an die Öffentlichkeit gelangen-so ist jetzt der Deal. Wir setzen gerade Himmel und Hölle in Bewegung, der Innenminister persönlich wurde informiert, aber der ist sowieso erschüttert, weil er davon ausgehen muss, dass einer seiner engsten Mitarbeiter ein Wolf im Schafspelz ist. Er beharrt allerdings darauf, dass die Unschuldsvermutung gilt, solange das Gegenteil nicht bewiesen ist. Er hält es zwar für ausgeschlossen, dass es Wanke gelungen sein könnte die Computer des Landes, die ja von einer eigenen EDV-Abteilung gewartet und betreut werden, für illegale Zwecke zu missbrauchen, aber wie Frau Schrankmann dann richtig argumentiert hat-wenn nichts zu finden ist, ist das ja ein weiteres Argument, das für den Verdächtigen spricht. Der ist allerdings vor kurzem von der Intensivstation geflohen und das Universitätsklinikum wird gerade nach ihm durchkämmt. Eine Tatsache die eher seine Schuld beweist, aber Gerkhan ist dran und so können wir uns darauf konzentrieren, in Düsseldorf nach Beweisen zu suchen. Machen sie sich bitte sofort auf den Weg, wir treffen die Oberstaatsanwältin dann vor dem Ministerium-sie bringt den Durchsuchungsbefehl mit- und warten darauf, dass uns Zutritt gewährt wird“, ordnete sie an und Hartmut stieg wenig später in seinen Wagen, in dem alle notwendigen Utensilien bereits verstaut waren.


    Gerade hatte Semir sich voller Erleichterung versichert, dass es Natascha soweit gut ging und Stefan auch bei ihr war und auf sie acht gab. Die uniformierten Kollegen waren eingetroffen und zwei davon hatten den Attentäter bereits zu einem Polizeifahrzeug gebracht, von wo er erst einmal ins Präsidium zur erkennungsdienstlichen Behandlung gebracht und später verhört werden würde. Man hatte das Krankenhaus nach außen abgeriegelt und jeder männliche Besucher oder Mitarbeiter, der die Klinik verlassen wollte, wurde kontrolliert. Der hauseigene Sicherheitsdienst durchkämmte systematisch das Krankenhaus und Semir war guter Dinge, dass sie Wanke bald wieder festnehmen konnten.
    Als der Stationsarzt, der sich erst einmal noch um andere Patienten gekümmert hatte, dann endlich mit einer frischen Tasse Kaffee ins Arztzimmer ging, um dort mit seinem Papierkram weiter zu machen, bemerkte er erst, dass sein weißer Arztkittel und ein Stethoskop fehlte. Er vermeldete das und Semir gab per Funk an alle Kollegen weiter, dass man gezielt nach Wanke als Arzt verkleidet suchen sollte. So mancher Weißkittel wurde zu seiner Verwunderung kontrolliert, aber der Flüchtige blieb verschwunden. Nach einer Weile kam eine Schwester zu Semir. Man hatte Wanke´s Foto auf die Tablets der Polizeibeamten geschickt, ein paar auch ausgedruckt und herum gezeigt und sie vermeldete, dass der Mann im Arztkittel ihr auf dem Mitarbeiterflur begegnet war, als sie von der Nachbarstation gekommen war, um sich ein Medikament auszuleihen. „Ich hätte nie bezweifelt, dass es sich um einen höher gestellten Arzt handelt-er war freundlich, hat aber Autorität und Kompetenz ausgestrahlt!“, berichtete sie und Semir seufzte. „Ich hatte die Tür aufgeschlossen und sie ihm sogar noch aufgehalten. Er hat sich zielstrebig dem Ausgang genähert-das war aber noch bevor die Polizeiwagen eingetroffen sind, ich habe da nämlich zufällig aus dem Fenster gesehen!“, vermeldete sie und jetzt wurde Semir hellhörig. Konnte es Wanke gelungen sein, die Klinik zu verlassen, bevor sie das Krankenhaus abgeriegelt hatten? Und wenn ja-wie war er weiter geflohen und wo befand er sich? Semir ließ sich von der Schwester noch den Platz zeigen, wo sie Wanke begegnet war und tatsächlich-wenn man einmal den Mitarbeiterflur betreten hatte, gelangte man auf dem kürzesten Weg zur Eingangshalle und damit zum Ausgang. Nachdem Wanke ja kein eigenes Fahrzeug auf dem Klinikparkplatz abgestellt hatte, blieben zwei Möglichkeiten, wie er geflohen sein konnte-zu Fuß oder mit einem Taxi-oder er hatte einen Wagen gestohlen. Semir verfolgte die nächst wahrscheinliche Spur, ging zum Taxistand und befragte den vordersten Fahrer in der Reihe. „Doch-mein Kollege zwei Fahrzeuge vor mir hat vor etwa einer halben Stunde einen Arzt als Passagier mitgenommen!“, beantwortete er bereitwillig die Frage und wusste auch den Namen des Kollegen. Über die Taxizentrale hatte man binnen Kurzem die Zieladresse herausgefunden-sie lag in Düsseldorf unweit des Innenministeriums.

    Aufgeregt griff Semir zum Handy: „Chefin-ich vermute, Wanke hat das Klinikgelände bereits verlassen und befindet sich auf dem Weg zum Ministerium-was immer er dort auch will!“, rief er in sein Smartphone und als ihm nun Frau Krüger Hartmut´s Verdacht mitteilte und auch den beantragten Durchsuchungsbefehl erwähnte, wurde Semir ganz aufgeregt. „Ich fahre sofort dorthin-hoffentlich erwischen wir ihn noch, bevor er Beweise verschwinden lässt und sich dann selber ins Ausland absetzt!“, verkündete er, spurtete zu seinem in der Nähe abgestellten BMW und raste mit Blaulicht und Gasfuß über die am Sonntagmittag nicht so stark befahrene A57 Richtung Norden.
    Sarah war inzwischen bei Hildegard eingetroffen. Die hatte gerade ein schnelles Mittagessen aus dem Gefrierschrank geholt, dazu Nudeln abgekocht, wirkte auf Sarah aber blass und angegriffen. „Nein, nein-alles in Ordnung-wie geht es Ben?“ winkte sie auf Sarah´s besorgte Nachfrage ab und lud sie auch gleich zum Essen ein. Kaum hatten sie sich miteinander an den Tisch gesetzt und Sarah hatte zu erzählen begonnen, rannte die ältere Frau plötzlich zur Toilette und konnte nicht mehr aufhören, sich zu übergeben. „Veflixt-habe ich mich doch bei den Nachbarn angesteckt-die haben alle Brechdurchfall!“, ächzte sie und als sie dann auch noch Bauchschmerzen bekam, packte Sarah in Windeseile die Kinder ein, die erst noch voller Appetit die Nudeln mit Fleisch und Sauce verdrückt hatten und floh regelrecht mit ihnen und Lucky nach Hause ins Gutshaus.
    Hildegard brauchte jetzt ihre Ruhe und sie konnte nur hoffen und beten, dass sich die Kinder nicht bereits angesteckt hatten, aber es kam, wie es kommen musste, im Laufe des Nachmittags begannen alle beide sich zu übergeben und Sarah hatte alle beide Hände voll zu tun, ihre Mäuse zu versorgen. Es stand völlig außer Frage, dass sie die nächsten Tage nicht zu Ben ging, auch wenn sie irgendeine andere Betreuung für die Kinder organisieren könnte, denn erstens brauchten kranke Kinder einfach die Mama und zweitens war das Norovirus so infektiös, dass sie ihren Mann dadurch in höchste Lebensgefahr bringen würde, wenn er sich damit ansteckte. Als einmal kurze Pause beim Windelwechsel war, rief sie auf der Intensiv an und berichtete Ben von der Katastrophe. „Sarah-das ist schon okay-, drück unsere armen kranken Mäuse von mir und sag ihnen, der Papa hat sie ganz arg lieb, aber bitte halte dich so lange fern von mir, bis du mir ganz sicher keinen Kotzvirus mehr übertragen kannst-das wäre so ungefähr das Allerletzte was ich gerade brauchen könnte!“, bat er sie und beteuerte, dass es ihm ansonsten ganz gut ginge. Allerdings hörte Sarah voller Kummer an seiner müden und kraftlosen Stimme, wie elend er sich fühlte. Nach jedem zweiten Wort musste er nach Luft ringen und als ihre Kollegin wenig später das Telefon wieder an sich nahm, lag er mit geschlossenen Augen und vor Erschöpfung schwer atmend auf dem Rücken und sein Gesicht war grau und spitz.

  • Semir war inzwischen am Ministerium eingetroffen. Von der Chefin und auch Hartmut war weit und breit nichts zu sehen. Semir besah sich den Haupteingang-da stand ein Kartenlesegerät und zusätzlich eine Tastatur, mit der man einen Zahlencode eingeben musste. Das Glas der Eingangstüre war Panzerglas, drinnen befand sich eine weitere Sicherheitsschleuse und ohne Zugangsberechtigung würde man schon eine Panzerfaust brauchen, um das Gebäude zu betreten. Semir hatte zwar noch keine Spur von Wanke gesehen, aber wie ein Jagdhund wusste er mit unertrüglicher Sicherheit, dass sein Zielobjekt hier irgendwo in der Nähe war. Wanke hatte einigen Vorsprung und vermutlich war er gerade dabei, dort drinnen alle Beweise zu vernichten. An der Türscheibe hing der Aufkleber eines Sicherheitsdienstes, der das Objekt betreute und Semir wollte gerade die Nummer wählen, da kam ein pickliger junger Mann im Maßanzug, der gerade seinen Wagen in der Tiefgarage abgestellt hatte, auf ihn zu.


    „Wer sind sie und was suchen sie hier?“, fragte er und obwohl er sich bemühte, selbstsicher und souverän zu wirken, schwang in seiner Stimme ein gewisse Unsicherheit mit. „Gerkhan, Kripo Autobahn-ich bin einem Verdächtigen auf der Spur, der sich mutmaßlich in diesem Gebäude hier befindet und gerade wichtige Beweise vernichtet!“, antwortete Semir wie aus der Pistole geschossen und zückte seinen Dienstausweis, den der junge Mann gründlich begutachtete. Ah das war sicher der Ministeriumsmitarbeiter, den man aus dem Frei geholt hatte, um die Türen zu öffnen und die Durchsuchung zu beobachten und auf seine Nachfrage, bejahte das der junge Mann.
    „Machen sie mir bitte auf-ich muss versuchen Wanke aufzuhalten, bevor der alle Unterlagen bei Seite geschafft hat!“, bat Semir, aber der junge Mann entgegnete: „Erst muss ich ihren Durchsuchungsbefehl sehen!“ und nun versuchte Semir ihm zu erklären, dass er an den Unterlagen selber aktuell kein Interesse habe, dafür aber einen flüchtigen Straftäter verfolgte.
    „Hören sie-lassen sie mich rein und dann können sie mich alternativ begleiten, oder auch hier draußen auf die Oberstaatsanwältin, meine Vorgesetzte Frau Krüger und den EDV-Sachverständigen warten. Ich bin an den Daten nicht interessiert, nur an dem Mann, der die hier verborgen hat. Es geht hier auch um Zeit, denn mit jeder Minute, die wir hier draußen vertun, verschwinden vielleicht mehr Beweise-falls Wanke wirklich dort drin ist!“, sprach er mit Engelszungen auf den Anzugträger ein.
    Der wurde nun hellhörig: „Dann wissen sie also nicht einmal sicher, ob der Staatssekretär sich überhaupt in dem Gebäude befindet?“, fragte er misstrauisch und nun hätte sich Semir am liebsten selber geohrfeigt. „Nun die Indizien sprechen dafür-mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit ist er da drin!“, versuchte er den Mann zu überreden, aber der hatte nun seinen Entschluss gefasst: „Nur mit Durchsuchungsbefehl-wir halten den Dienstweg ein!“, sagte er und baute sich regelrecht vor der Eingangstüre auf-etwas was einfach nur lächerlich wirkte. „Korinthenkacker-Sesselfurzer“, ach mit was für Ausdrücken Semir den Jüngling innerlich bedachte, aber nach außen hin blieb er wenigstens oberflächlich freundlich und griff nun zu seinem Handy.

    „Frau Krüger-wie weit sind sie-und vor allem, wo bleibt die Oberstaatsanwältin mit dem Durchsuchungsbefehl? Hier hindert mich ein Ministeriumsmitarbeiter gerade daran, das Gebäude ohne diesen Wisch zu betreten, dabei ist Gefahr im Verzug!“, rief er in den Hörer und leider musste ihm seine Vorgesetzte mitteilen: „Es wird noch ein wenig dauern-in Anbetracht der Brisanz dieser Sache möchte der Richter, der den Durchsuchungsbefehl ausgestellt hat, der Beweismittelsicherung jetzt doch persönlich beiwohnen und kommt gemeinsam mit Frau Schrankmann. Aber das ist schon ein älterer Herr, der muss sich erst umziehen und vermutlich seine Katze füttern, die Blumen gießen oder was auch immer, sie verstehen!“, teilte sie ihm-selber mit Ungeduld in der Stimme- mit und Semir hätte jetzt am liebsten laut zu fluchen begonnen. „Chefin-ich muss da rein, sonst gibt es keine Beweise mehr zu sichern, weil Wanke, dieser aalglatte Typ-so wie ich ihn kennengelernt habe-die bis dahin fein säuberlich vernichtet hat und dann wahrscheinlich noch mit ner Staatskarosse zum nächsten Flughafen fährt, seinen Diplomatenpass zückt und auf Staatskosten nach Südamerika verschwindet!“, malte er aufgeregt seine Zukunftsvisionen aus. „Ich schaue, was ich machen kann-Herr Freund müsste-im Gegensatz zu uns- übrigens auch bald bei ihnen eintreffen, ich melde mich wieder!“, beruhigte ihn Frau Krüger, die schon an der Stimme ihres Kriminalhauptkommissars hörte, dass der kurz vorm Explodieren war. Dann wählte sie die Nummer von Frau Schrankmann, die vertraute sich dem Richter an und der letztendlich sprach dann mit dem Innenminister persönlich.


    Während Semir nun begonnen hatte, aufgeregt vor dem Ministerium hin- und her- zu laufen, setzte der junge Mann einen arroganten Gesichtsausdruck auf. Das wäre ja noch schöner-man hielt den Dienstweg ein, richtete sich nach den Vorschriften und briet keine Extrawürste, wo würde man denn sonst hinkommen-sie lebten schließlich in einem Rechtsstaat, der nur funktionieren konnte, wenn jeder sich an die Gesetze und Regeln hielt! Dann allerdings läutete sein Telefon und er stand beinahe stramm, als er sah, wer ihn da anrief. „Herr Innenminister!“, stammelte er ins Handy und dann nickte er und beeilte sich zuzustimmen: „Natürlich-ich werde Herrn Gerkhan auf der ganzen Linie unterstützen-einen schönen Nachmittag noch!“, sagte er und als Semir ihn nun lauernd ansah, zückte er seinen Mitarbeiterausweis, der in Verbindung mit einem Zahlencode die Tür öffnete. „Sie dürfen mit mir mitkommen!“, sagte er dann in einem Ton, der huldvoll klingen sollte, aber sobald sich die Türe öffnete, schoss Semir wie ein bissiger Terrier an ihm vorbei und rief: „Wo genau ist Wanke´s Büro?“ und als er noch hinterher gerufen bekam: „Zweiter Stock!“, erklomm er schon im Laufschritt die Treppe.


    Wanke hatte den Taxifahrer entlohnt, der ihn in einer Seitenstraße unweit des Ministeriums heraus gelassen hatte. Gott sei Dank hatte man ihm seine Brieftasche gelassen und so ging er die paar Schritte zum Haupteingang des Ministeriums, steckte die Karte, gab den Zahlencode ein und eilte dann zu seinem Büro. Dort fuhr er seinen PC hoch, zog einen USB-Stick aus einer Schublade und begann gerade damit, die Daten darauf zu ziehen, da fuhr plötzlich seine Hand zum Hals-um Himmels Willen-was war da los?


    Ben hatte vor sich hin gedämmert bis Sarah angerufen hatte. Sein Verstand weigerte sich eigentlich, die Situation zu begreifen, zu unwirklich war das Ganze, aber wenn er die Augen öffnete und die Pumpe neben seinem Bett sah, dazu die blutgefüllten Schläuche, die aus seinen Leisten ragten und das Geräusch der Kreiselpumpe dazu hörte, wurde ihm immer wieder von neuem klar, in was für einer beschissenen, wenn nicht sogar aussichtslosen Situation er sich befand. Er war einerseits völlig matt und mutlos, dann aber auch wieder voller Zorn. Warum musste gerade ihm sowas passieren? Er hatte, wie vermutlich jeder Mensch auf der Welt, schon öfter eine Erkältung und auch einmal eine echte Grippe gehabt. Da ging es einem ein paar Tage schlecht, dann besserte sich der Zustand ganz von alleine und nach zwei Wochen war das Ganze meistens vergessen. Aber diese unendliche Schwäche, die ihn umfangen hielt, war damit gar nicht zu vergleichen. War das Leben, wenn sich das nicht änderte überhaupt lebenswert? Und wie fühlte es sich an, mit einem fremden Herzen zu leben oder ging das alternativ überhaupt, dauerhaft auf so eine Maschine angewiesen zu sein?


    Zudem zwickte sein Bauch und wenn er ehrlich war, durchzuckte ihn gerade in der Zwischenwelt zwischen Schlaf und Wachheit immer wieder die Erinnerung an die Stunden im Keller, als Sarah mit der Hand in ihm vor ihm gekniet war und er eigentlich mit dem Leben schon abgeschlossen hatte. Welche Frau sonst würde sowas noch für ihren Mann tun und auch wenn es gelegentlich auch zwischen ihnen Unstimmigkeiten gab-ihre tiefe Liebe war ihre gemeinsame Basis. Lohnte es sich nicht, alleine dafür zu kämpfen? Trotzdem hatte er eine Weile alleine sein wollen, aber als er dann das Telefon gebracht kriegte und Sarah ihm von der Erkrankung der Kinder berichtete, fühlte er sich plötzlich hilflos und verlassen-jetzt musste er alleine da durch und auch Semir jagte Verbrecher-er hatte schon am Rande mitgekriegt, dass einer der Täter geflohen war, nur war ihm das gerade ziemlich egal. Außerdem machte er sich auch Sorgen um seine Kinder-die waren noch so klein und er wusste, dass die leicht an Austrocknung sterben konnten. Als er sich deswegen ein wenig aufregte, bekam er wieder einen schmerzhaften Stromschlag und so traute er sich danach fast nicht zu atmen und zu bewegen, aus lauter Angst vor einer erneuten Elektrofolter. Das Pflegepersonal und die Ärzte waren sehr nett und gaben ihm auch Schmerzmittel, aber gegen diesen plötzlichen und heftigen Schmerz in der Brust und am ganzen Körper half auch kein Opiat und so lag jetzt ein vor Angst und Sorgen völlig verkrampfter dunkelhaariger Polizist in seinem Bett und hätte am liebsten wie im Raumschiff Enterprise gesagt: „Scotty-beam mich weg!“, denn wenn seine aktuelle Lage nicht unwirklich und futuristisch war-welche dann?

  • Wanke wurde es plötzlich schwindlig und wie kurz nach der Antibiotikainfusion bemerkte er, dass er am ganzen Körper ein wenig anschwoll und sein Herz zu jagen begann. „Ruhig bleiben-nicht aufregen-das vergeht schon wieder! Die haben dir doch Medikamente dagegen gegeben, die werden sicher gleich helfen!“, versuchte er sich selber ein zu reden. Obwohl seine Hände immer dicker wurden und er kaum mehr richtig greifen konnte, vollendete er sein Werk. Jetzt hatte er alle brisanten Daten auf den Stick gezogen und auch wenn es immer mühsamer wurde, löschte er systematisch die Dateien auf dem Rechner des Ministeriums. Wenn er nicht so schlecht Luft kriegen würde, hätte er laut gelacht! Er würde jetzt dann in aller Seelenruhe, sobald es ihm ein bisschen besser ging, aus dem Ministerium spazieren-nein noch viel besser-er würde sich aus der Tiefgarage einen Dienstwagen nehmen. Als Mitarbeiter mit der höchsten Sicherheitsfreigabe verschaffte ihm seine Codekarte Zugang zu allen Bereichen des Ministeriums-so auch zu dem Büro, in dem die Dienstfahrzeuge verwaltet wurden und wo die Schlüssel und Fahrzeugpapiere lagen. Seine Daten waren sicher, den Stick würde er am Flughafen notfalls einfach in den Mund nehmen-eine wasserdichte Hülle war dabei, auf den Caymans und auch in anderen Staaten hatte er Onlinekonten, so dass er von überall her auf seine Millionen zugreifen konnte. Er würde sich jetzt erst einmal ins Ausland absetzen-wohin musste er sich noch überlegen, aber aktuell tendierte er zu Südamerika oder Südostasien, das würde er am Flughafen entscheiden, wenn er vor Ort war. Mit Geld konnte man sich dort alles kaufen und wenn er da war, würde er sich entweder ein neues Imperium aufbauen, oder aus der Ferne doch noch seine Kölner Kontakte pflegen und die Erlöse aus den Spielsalons und den Bordellen, an denen er beteiligt war, absahnen. Freilich würde das vielleicht nicht mehr in dem Maße laufen wie bisher, weil ja die Insiderinformationen zu den Polizeiaktivitäten dann fehlten, aber seine Schäfchen hatte er schon lange im Trockenen, nur die Gier nach immer mehr und mehr Geld und Macht hatte verhindert, dass er sich aus dem Geschäft zurück zog. Vermutlich war es vernünftig, erst einmal ein paar Kilometer zwischen sich und das Ministerium zu bringen, den Wagen zu wechseln und sich mit einer neuen Identität, für die er aus dem Tresor in seinem Büro vorhin schon den vorbereiteten gefälschten Diplomatenpass geholt hatte, dann endgültig von einem holländischen oder belgischen Flughafen aus abzusetzen. Mit seinem Auftreten, dem Wissen, wie es bei Diplomatenreisen an den Flughäfen so abging und einer entsprechenden Menge Bargeld, das sich ebenfalls im Tresor befunden hatte und mit dem man den einen oder anderen unschlüssigen Angestellten schmieren konnte, wäre es ein Leichtes noch heute oder spätestens morgen aus Europa zu verschwinden.


    Seine Familie ließ er leichten Herzens zurück-bei seiner Frau war er nur deshalb geblieben, weil es einfach bequem war. Liebe empfanden sie schon lange nicht mehr füreinander, für seine körperlichen Bedürfnisse hatte er ja seine leichten Mädchen und wie es mit seiner missratenen Tochter weiter ging, konnte er eh nicht mehr beeinflussen. Das hatte er jetzt über viele Jahre versucht- ihr jeden Wunsch von den Augen abgelesen, mit dem Erfolg, dass sie immer mehr über die Stränge schlug-nein die sollte jetzt selber zusehen, wie sie zu Recht kam! Finanziell abgesichert waren die beiden, da musste er kein schlechtes Gewissen haben-wobei so etwas wie Gewissen hatte er vermutlich noch nie besessen. Was er wirklich bedauerte war, dass er jetzt seine Doppelidentität aufgeben musste. Wie oft hatte er sich voller Hochgefühl heimlich ins Fäustchen gelacht, wenn er in der Arbeitsgruppe des Innenministers zur Bekämpfung des organisierten Verbrechens gemeinsam mit den anderen über die Person des großen Unbekannten, der er doch selber war, spekuliert und dabei falsche Fährten gelegt hatte.


    Verdammt-war das heiß hier und der Hemdkragen war ebenfalls viel zu eng! Wanke lockerte ihn, öffnete das Fenster und lehnte sich hinaus, um frische Luft zu schnappen. Da sah er etwas, oder vielmehr jemanden, mit dem er jetzt nicht gerechnet hatte. Verdammt-woher hatte dieser Gerkhan erfahren, dass er im Ministerium war, denn so blöd war er nicht-aus keinem anderen Grund als ihn zu schnappen, stand der kleine türkische Autobahnpolizist, den er zunächst unterschätzt hatte, dort unten. Allerdings war er in eine Diskussion mit dem Schoßhündchen des Innenministers vertieft und wie er aus der Körpersprache der beiden erkennen konnte, war der picklige junge Bursche, an dem der erste Mann des Landes NRW aus irgendeinem Grund einen Narren gefressen hatte, nicht bereit, Gerkhan Zutritt zu gewähren. Das war seine Chance-er musste so schnell wie möglich verschwinden!


    So beeilte sich Wanke, dem inzwischen jeder Schritt schwer fiel, den Computer noch herunter zu fahren, denn niemand brauchte zu wissen, was er im Ministerium zu erledigen gehabt hatte. Dann verließ er eilig sein Büro, durchquerte das Vorzimmer und stieg in den Fahrstuhl. Im ersten Stock verließ er ihn wieder und gerade als Semir den Haupteingang betrat, verschwand Wanke, der inzwischen massive Atemprobleme und Schwindelattacken hatte, im Büro der Fahrzeugverwaltung. Dort griff er sich den erstbesten Schlüssel und die Mappe dazu und erst als er wieder im Aufzug stand, sah er überhaupt auf die Papiere, welchen Wagen er genommen hatte. Es war ein VW Passat mit einigen PS unter der Haube und kaum hatte er die Tiefgarage erreicht, die er wieder nur mit der Codekarte öffnen konnte, sah er auch schon sein Fluchtfahrzeug, das unweit der Ausfahrt stand. Es war sicher die Aufregung, aber Wanke klopfte das Herz bis zum Hals, als er die Tür des Autos öffnete, mehr in den Wagen taumelte, als einzusteigen und dann losfuhr. Gott sei Dank-Volkswagen waren sozusagen selbsterklärend und wer einmal einen gefahren hatte-und wer hatte das in seinem Alter nicht-der kannte alle. An der Säule vor der Ausfahrt steckte er wieder seine Karte und verließ dann mit durchdrehenden Reifen die Tiefgarage.


    Semir war inzwischen in Wanke´s Büro eingetroffen. Sowohl vom Vorzimmer, als auch vom Büro selber standen die Türen als einzige im Flur weit auf, so dass Semir nur einen flüchtigen Blick auf das Türschild hatte werfen müssen, um fest zu stellen, wo der flüchtige Verbrecher sich aufgehalten hatte-seine Ahnung war richtig gewesen! Gerade als er überlegte, wo Wanke wohl stecken könnte, denn er war ja schließlich in der letzten Viertelstunde nicht an ihm und dem Ministeriumsmitarbeiter vorbei gekommen, da hörte er einen Motor aufheulen und als er aus dem Fenster blickte, raste gerade ein dezenter dunkelblauer VW-Passat aus der Tiefgaragenausfahrt, bog in die am Sonntag wenig befahrene Friedrichstrasse ein und entfernte sich schlingernd Richtung Fürstenwall-der nächsten Hauptstraße.
    Semir stieß einen Fluch aus, rannte wie von der Tarantel gestochen wieder die Treppen hinunter und wurde von einem erstaunten Jüngling, der gerade mit dem inzwischen eingetroffenen Hartmut eine Diskussion führte, hinaus gelassen. Er sprang in seinen Wagen, den er einfach am Straßenrand abgestellt hatte, bat Hartmut lokale Verstärkung zu rufen und raste hinter dem blauen Passat her. Verdammt-wenn der einen Vorsprung bekam, hatte er keine Chance, ihn zu erwischen, aber zu seinem Erstaunen sah er, dass der Wagen seine Fahrt schon verlangsamt hatte und nun, immer noch schlingernd, durch Nebenstraßen Richtung Rhein fuhr. Verdammt-hatte Wanke getrunken oder was war sonst los? Wenn Semir und Ben üblicherweise ein Auto mit so einer unsicheren Fahrweise auffiel, holten sie das schnurstracks aus dem Verkehr und meistens hatten die Insassen ordentlich getankt oder standen unter Drogeneinfluss. Wanke hatte nun schon ein paar geparkte Autos gestreift und als Semir sich unmittelbar hinter ihm befand, ließ er die Leuchtschrift laufen, die den Fahrer in Spiegelschrift zum Anhalten aufforderte, aber das Auto schleuderte geradewegs weiter Richtung Rhein. Semir überlegte kurz, aber dann setzte er an dem Wagen vorbei und als der Fahrer auch nun keine Anstalten machte anzuhalten, trat er auf die Bremse und wenig später krachte Wanke auch schon auf sein Heck. Oh je-das würde wieder Ärger mit der Chefin geben, aber Semir blickte nun überhaupt nicht mehr durch! Von den Umrissen her, musste das Wanke sein, der dort am Steuer saß, aber der hatte jetzt nicht mehr probiert zu flüchten. Semir bremste das Fahrzeug an seiner Stoßstange nun ein wenig aus, was aber gar nicht so einfach war, denn der Fahrer dahinter stand anscheinend auf dem Gas und der Passat war seinem BMW vermutlich an Gewicht überlegen und an Leistung ebenbürtig. Semir wurde mit seinem BMW in die Grünanlagen neben dem Rhein geschoben, aber wenn er nichts unternahm, würden Wanke und er geradewegs in den mächtigen Fluss fahren, der wegen der heftigen Regenfälle der letzten Wochen gerade viel Wasser führte. Noch hatte er eine Chance, wenn er Gas gab und einlenkte und da sah er auch schon den mächtigen Alleebaum. Unbarmherzig schob der Passat mit gleichmäßiger Kraft den BMW voran, obwohl Semir mit dem Bremsfuß beinahe das Bodenblech durchbohrte, aber jetzt trat der kleine Türke plötzlich das Gaspedal durch, schoss auf den Millimeter genau in letzter Sekunde an dem Baum vorbei, um gleich darauf einen Dreher hin zu legen und auf der schmalen Straße neben dem Rheinufer zum Stehen zu kommen, während der Passat mit der Beifahrerseite voll gegen den Baum krachte und der Motor ein letztes Mal aufheulte, bevor er ausging.


    Semir sprang aus dem Wagen und entsicherte im Losspurten schon seine Waffe. Verdammt-was hatte der Verbrecher vor- und noch während Semir todesmutig zur Fahrertür rannte, verfluchte er sich, dass er keine schusssichere Weste trug. Sicher war Wanke gefilzt worden, bevor er in Untersuchungshaft kam, aber niemand konnte wissen, ob der nicht eine Waffe in seinem Bürotresor deponiert hatte! Als Semir aber nun mit gezückter Pistole die Beifahrertüre aufriss, bot sich ihm ein schrecklicher Anblick.


    Wanke war wieder aufgeblasen wie ein Luftballon-wie in der Klinik- und sah der Person, die er vorher gewesen war, kaum mehr ähnlich. Die blutunterlaufenen Augen blinzelten nur noch durch winzige Schlitze, Wanke war aschfahl und rang mühsam nach Luft. Semir zückte sofort sein Handy, gab seine Position durch und alarmierte über die Notrufzentrale einen Notarztwagen. In der Ferne hörte er auch schon die Martinshörner der Einsatzfahrzeuge, die vermutlich Hartmut gerufen hatte. Allerdings konnte jetzt nur noch ein Arzt Wanke helfen und nachdem Semir die Kollegen umgeleitet hatte, überlegt er, was er für den Mann tun konnte. Freilich war der ein Mörder und aktuell vermutlich der meist gesuchte Verbrecher in Köln und Umgebung, aber er war auch noch ein Mensch und befand sich in einer hilflosen Lage. Semir zog ihn hinter dem Steuer hervor ins Freie und legte ihn behutsam in der Wiese ab. Er überlegte verzweifelt, was er noch tun könnte, aber ihm fiel weiter nichts ein, als sich einfach neben den Sterbenden zu knien, seine aufgeschwollene Hand zu halten, den Puls, der schwach vor sich hin raste, zu fühlen und einfach da zu sein. Ein paar wenige mühsame Atemzüge entwichen noch dem Wesen, das einmal ein gutaussehender Staatssekretär gewesen war und dann war es vorbei. Semir begann zwar mechanisch mit Herzdruckmassage und auch seine uniformierten Düsseldorfer Kollegen, die nur Minuten später eintrafen, unterstützten ihn dabei. Der kurz darauf eingetroffene Notarzt führte zwar die Reanimation mit seinem Team fort, spritzte auch vielerlei Medikamente, nachdem er am Hals einen Zugang gelegt hatte und nahm sogar eine Notfallkoniotomie, im Volksmund Luftröhrenschnitt genannt, vor, aber nach fast einer halben Stunde verzweifelten Kampfes stellte er die Wiederbelebungsmaßnahmen ein, sah auf die Uhr und sagte: „Zeitpunkt des Todes: 15.03 Uhr!“


    Semir fühlte keinen Triumph, keine Genugtuung, auch wenn Wanke vielleicht bekommen hatte, was er verdient hatte. Er hätte ihn lieber in Ossendorf die nächsten Jahrzehnte weg gesperrt gesehen, aber so zu sterben war mit Sicherheit schrecklich und das wünschte man niemandem. Bei der Durchsuchung der Leiche fand Semir auch in dessen Hosentasche einen Stick und tütete den vorsichtig ein. Vermutlich würde Hartmut darauf die Daten finden, die sie so brennend interessierten, aber erst jetzt wurde es Semir bewusst-es war vorbei! Auch wenn Wanke vielleicht noch irgendwelche Helfershelfer gedungen hatte, die seine Rache vollenden sollten-spätestens wenn es sich in der Szene herum gesprochen hatte, dass er tot war-und dafür würde er sorgen- war klar dass es dafür keine Bezahlung mehr gab und war deswegen für einen Verbrecher ohne eigene Motivation uninteressant. Alles was sie bisher heraus gefunden hatten, deutete darauf hin, dass Wanke ein Einzelkämpfer gewesen war, der auch keinen engen Vertrauten hatte und die Daten, die sie jetzt gesichert hatten, würden hoffentlich diese These bestätigen. In diesem Augenblick traf auch Frau Krüger ein, während Hartmut, der Richter, Frau Schrankmann und der Ministeriumsmitarbeiter sich inzwischen in Wanke´s Büro umsahen.

    Der Notarzt stellte gerade noch eine Bescheinigung aus-der Totenschein als offizielles Dokument konnte frühestens zwei Stunden nach dem Tod ausgestellt werden, aber das würde dann der Gerichtsmediziner übernehmen. „Die Todesursache war ein schwerer anaphylaktischer Schock mit nachfolgendem Herz-Kreislaufstillstand. Wie sie mir ja erzählt haben, war unser Patient vermutlich auf ein Antibiotikum hochgradig allergisch, weswegen auch nach der Erstbehandlung die Übernahme auf die Intensivstation erfolgte. Manchmal lässt die Wirkung des hoch dosierten Cortisons bereits nach, obwohl noch Allergene im Blut kreisen und dann kommt es zur gefürchteten Zweitreaktion. In der Klinik hätte man das beherrschen können, aber so hat er sich durch seine Flucht sozusagen unwissentlich selber gerichtet. Sogar wenn er bei den ersten Symptomen wie der Schwellung, dem Engegefühl im Hals und dem Herzjagen den Notruf gewählt hätte, hätte man ihm helfen können, aber so war es einfach zu spät!“, klärte er die Anwesenden auf und während nun die Düsseldorfer Spurensicherung vor Ort tätig wurde und Semir schuldbewusst auf seinen BMW wies, winkte die Chefin ab. „Ausnahmsweise will ich dazu jetzt einmal gar nichts sagen-sie haben mit ihrer mutigen Tat zwar nicht das Leben des Verbrechers, aber doch vermutlich die wichtigen Daten gerettet und dem Steuerzahler viele Ausgaben erspart. Ich denke in diesem speziellen Fall wird da niemand deswegen böse sein, außerdem bin ich mir sicher, dass das unsere Werkstatt prima wieder hin kriegt. Kommen sie-ich bring sie nach Hause!“, bot sie ihm an, aber Semir schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt erst einmal zu Ben und danach werde ich mich von Andrea abholen lassen!“
    So nahm die Chefin Semir nach einem kurzen Abstecher ins Ministerium mit nach Köln und Hartmut hatte die ehrenvolle Aufgabe, später den Richter und Frau Schrankmann heim zu bringen.
    Semir merkte erst jetzt wie hungrig er war und kaufte sich in der Krankenhauscafeteria noch schnell einen Snack, bevor er sich auf den Weg Richtung Intensivstation machte, um dort die Lage zu sondieren.

  • Der Polizeibeamte, der vor der kardiologischen Intensiv seinen Platz eingenommen hatte, um Ben´s Leben zu schützen, sah erstaunt auf. „Sie können sich in ihrer Dienststelle melden-aktuell ist kein Personenschutz mehr notwendig, die beiden Haupttäter sind tot!“, teilte Semir ihm mit und erfreut packte der Beamte seine Stullen, die Wasserflasche und das Buch, das er mitgebracht hatte, um sich die Zeit zu vertreiben, ein. „Na Gott sei Dank-etwas Langweiligeres als so ne Bewachung gibt es fast nicht-lieber fahre ich auf Streife!“, teilte der Mann ihm mit und der kleine türkische Hauptkommissar nickte verständnisvoll. „Das kenne ich-eher ein bisschen Action und Nervenkitzel als so ein öder Überwachungsjob!“, stimmte er ihm zu und fast gleichzeitig wurden auch die anderen Bewacher abgezogen, denn Hartmut hatte bereits kurz die Daten gesichtet und die Theorie der Einzeltäter bestätigt.

    Als Semir sich nun langsam Ben´s Zimmer näherte, wurde ihm erst bewusst, dass der ihn und Sarah ja vor wenigen Stunden eigentlich raus geworfen hatte. Würde er ihn überhaupt sehen wollen? Aber er konnte jetzt nicht einfach nach Hause gehen, ohne nach seinem besten Freund zu schauen und dem auch zumindest mit zu teilen, dass die Täter tot waren und nun keine Gefahr mehr für ihn und die anderen Opfer Wanke´s und des Türstehers bestand. Die Schwester hatte ihm kurz zugenickt-sie war gerade mit einem anderen Notfall beschäftigt, der Kardiotechniker hatte, wie es mehrmals täglich vorgeschrieben war, die Pumpe gecheckt, von der das Leben des Patienten abhing und war dann zum nächsten Patienten mit einem Herzunterstützungssystem geeilt.
    Ben lag still in seinem Bett und starrte die Wand an. Er war in einen kurzen Erschöpfungsschlaf gefallen, aber von einem grausamen Stromstoß wieder aufgeweckt worden. Semir trat leise ins Zimmer und sagte: „Hi, wie geht’s dir?“ und entdeckte gleichzeitig die getrockneten Tränenspuren im Gesicht seines Freundes. Ben wandte langsam den Blick zu ihm und Semir erschrak, als er die absolute Mutlosigkeit in den Augen des Dunkelhaarigen entdeckte. „Stell dir vor-Wanke ist tot-ich habe den nach Düsseldorf ins Ministerium verfolgt, wo er die Daten verborgen hatte, aber er ist dann auf der Flucht nach einer waghalsigen Verfolgung bis an den Rhein an einem anaphylaktischen Schock gestorben-und stell dir vor, die Chefin hat sich wegen meines danach kaputten Autos nicht einmal aufgeführt!“, begann Semir zu berichten und wollte gerade ins Detail gehen, aber Ben schüttelte den Kopf und sagte wild: „Lass es-du brauchst mir nichts zu erzählen, das geht mich sowieso nichts mehr an-was interessieren mich noch Verbrecherjagden und geschrottete Wagen-das kann ich sowieso nie mehr machen, sondern werde höchstens noch nen Schreibtischjob haben, jeden Tag entweder schachtelweise Tabletten gegen die Abstoßungsreaktion fressen, ständig aufpassen, dass ich mich nirgendwo anstecke oder alternativ ein Kunstherz mit wenigen Stunden Akkuladung in einem Rucksack auf meinem Rücken herum schleppen!“, rief er, denn er hatte vorhin den Kardiotechniker ein wenig ausgehorcht und im selben Moment bekam er wieder einen Stromschlag verpasst, der ihn aufstöhnen und blass werden ließ. Die Monitore hatte zuvor Alarm geschlagen, die Schwester war ins Zimmer geeilt, aber mehr als Ben dann noch ein wenig Morphin gegen die Schmerzen zu geben, konnte sie leider auch nicht für ihn tun.

    „Ich glaube sie gehen besser-im Moment ist Aufregung nicht gut für ihn!“, sagte sie freundlich, aber bestimmt zu Semir und der erhob sich jetzt langsam von seinem Stuhl. „Soll ich wirklich abhauen?“, fragte er ungläubig, aber Ben drehte den Kopf von ihm weg, ballte die Hände zu Fäusten und schloss demonstrativ die Augen. „Wie gesagt-wir rufen sie an, wenn ihr Freund sie wieder sehen möchte!“, betonte die Schwester-eine andere als am Morgen, aber genauso freundlich und doch resolut- und langsam ging Semir zur Tür. Es tat ihm in der Seele weh, seinen Freund in so einem Zustand alleine zu lassen, aber er wollte doch auch nicht, dass der seinetwegen mit Stromstößen gefoltert wurde-oh Gott, warum hatte er nur seine Klappe nicht halten können und seinem Partner gleich von den neuesten beruflichen Entwicklungen erzählen müssen, obwohl das den nicht im geringsten interessierte, sondern nur aufregte!


    Zutiefst traurig machte Semir sich nun auf den Weg nach unten. Vermutlich hatte die Schwester Recht-Ben brauchte jetzt seine Ruhe. Er würde Andrea bitten, ihn abzuholen und vielleicht sollte er mit ihr und den Kindern noch in eine Pizzeria gehen-die mussten für seinen Job so viele Opfer bringen! So kam es, dass Semir eine halbe Stunde später von seiner Frau, Ayda und Lilly im Auto freudig begrüßt wurde und ihr Lieblingsitaliener bei ihnen um die Ecke von ihnen Besuch bekam. Als die Kinder fröhlich beim Nachtisch saßen, fragte Andrea ihn mitfühlend, die sah, wie müde und traurig Semir wirkte: „Wie geht es Ben und ist Sarah bei ihm?“ , aber ihr Mann schüttelte langsam den Kopf. „Ben geht es immer noch schlecht-physisch wie psychisch, aber er möchte zur Zeit niemanden sehen-wir respektieren seinen Wunsch!“, teilte er ihr kurz angebunden mit, aber als Andrea dann mitfühlend die Hand auf seinen Unterarm legte, erzählte er ihr wenigstens in kurzen Sätzen, ohne dass die Kinder das groß mitbekamen, von Natascha´s knapper Rettung, dem Tod des Verbrecherbosses und Ben´s momentanem Zustand.
    „Lass ihm Zeit-ich wette spätestens morgen klingelt dein Telefon und er verlangt nach dir!“, versuchte nun Andrea ihren Mann aufzumuntern. Ayda , die im Gespräch die Namen aufgeschnappt hatte, fragte munter: „Kommen Natascha und Ben bald wieder zu uns und spielen mit uns?“, wollte sie wissen und Semir nickte: „Ich denke schon, Ayda, ich denke schon!“, aber in seinem Herzen blieben große Zweifel zurück.


    Anhand der Daten, an deren Auswertung Hartmut und ein weiterer Helfer, den man kurzerhand aus dem Frei geholt hatte, sich sofort machten, konnte auch die geheime Handynummer des Verbrechers herausgefunden werden und dessen Bewegungen der letzten Tage verfolgt werden. So stürmte wenig später eine Spezialeinheit die Wohnung des Kriminellen, wo Wanke in der Nacht von Freitag auf Samstag Unterschlupf gefunden hatte. Das Handy wurde sichergestellt, der Mann verhaftet, aber als er von Wanke´s Tod hörte, sang er wie ein Vöglein und gab auch zu, Wanke den Drogensüchtigen geschickt zu haben, der nachher in dessen Wagen ertrunken war. „Ich werde sie nach Kräften bei der Aufklärung der Taten unterstützen-ich selber hatte nur Angst vor der Rache und der Macht dieses Mannes-sonst hätte ich schon lange Meldung gemacht!“, beteuerte der, aber die Chefin, die ihn verhörte, schnaubte nur verächtlich durch die Nase-na klar, das konnte jeder behaupten-der Typ versuchte ja jetzt nur seine Haut zu retten, um nicht in den Knast zu müssen, aber dennoch liefen noch in der Nacht mehrere Razzien in Spielclubs und anderen Vergnügungstempeln ab, wo Menschen verhaftet und Computer sicher gestellt wurden-es war mal wieder ein großer Schlag gegen das organisierte Verbrechen in Köln gelungen!

  • Sarah war beinahe am Verzweifeln. Die beiden kranken Kinder forderten ihre volle Aufmerksamkeit. Mit Argusaugen beobachtete sie, ob sie auch nicht zu sehr austrockneten, aber bisher bestand noch keine Gefahr, sie tranken doch immerhin ab und zu ein bisschen mit Traubenzucker gesüßten Tee, dem Sarah auch ein wenig Salz zufügte, um den Elektrolythaushalt aufzufüllen. Allerdings dankte sie Gott, dass sie einen ausreichenden Windelvorrat im Haus hatte-wenn Ben da mal fuhr, kaufte er gleich immer eine größere Menge und die brauchte sie auch. Die Waschmaschine lief, Sarah war nur am Desinfizieren und ihre größte Sorge war, sich selber anzustecken-wer sollte die Mäuse dann versorgen? Ansonsten, wenn die Kinder krank waren, wechselten Ben und sie sich ab, gerade nachts durfte dann einer ins Gästebett zum Erholen, während der andere mit dem kranken Kind im Elternbett schlief, dass es beide erwischte, war bisher noch nicht vorgekommen. Jetzt aber war sie völlig auf sich alleine gestellt und ihr ging gerade auf, wie schwierig es sein musste, alleinerziehend zu sein. Auch wenn Ben Vollzeit arbeitete-in Krisenzeiten hatten sie bisher immer zusammen gehalten und wenn es gar nicht anders ging, war er auch mal zuhause geblieben, um sie zu unterstützen-z. B. als sie selber mal eine schwere Grippe gehabt und Tim ebenfalls gekränkelt hatte. Jetzt durfte sie gar nicht daran denken, wie da die Zukunft aussehen könnte.

    Den Gedanken, dass er das Ganze nicht überleben könnte, verbot sie sich sofort. Das durfte einfach nicht passieren-sie liebte ihn doch so-brauchte seine Nähe, sein Lachen, seinen vertrauten Geruch. Die starken Arme, die sie umfingen, wenn sie sich selber schwach fühlte, ihre Auszeiten, wenn sie sich gegenseitig einfach alles erzählten, sich streichelten und küssten und wenn es sich ergab, dann auch miteinander schliefen, was immer noch so schön und aufregend war wie am ersten Tag. Aber würde Ben ihr nach diesem Vorfall jemals wieder etwas erzählen? Er hatte sich immer selbstverständlich auf ihre Verschwiegenheit verlassen und sie hatte auch sicher sein können, dass er die manchmal skurrilen Vorkommnissen im Krankenhaus nicht weiter tratschte, während sie jetzt genau das Gegenteil gemacht hatte. Außerdem-wie wahrscheinlich war es, dass Ben jemals wieder seinem Beruf nachgehen konnte? Obwohl sie ja Fachfrau war, googelte sie die Prognose von Myokarditis, aber wie der Kardiologe in der Klinik schon gesagt hatte-man konnte den Verlauf nicht vorhersehen. Von völliger Genesung bis zum Tod und alternativ alle Grade einer schweren bleibenden Herzschwäche waren möglich. Aber sehr viel wahrscheinlicher als die Gesundung, war eine eingeschränkte Lebensqualität mit der Möglichkeit eines nicht anstrengenden Schreibtischjobs ohne Aufregungen. Und wenn Ben eine Transplantation bekommen würde, müsste er zeitlebens Immunsuppressiva nehmen und seine Abwehr gegen Krankheitserreger wäre massiv herabgesetzt. Bei so einer Virenattacke wie jetzt von den Kindern müsste er vermutlich ins Hotel ziehen, bis ganz sicher keine Gefahr mehr bestand. Aber trotzdem-sie würden das hin bekommen, Hauptsache Ben blieb am Leben! Dann weinte Mia-Sophie wieder und Sarah hatte alle Hände voll zu tun, ihre kranken Kinder zu versorgen. Als sie endlich völlig erschöpft auf der Intensivstation anrief, wurde ihr mitgeteilt, dass Ben´s Zustand unverändert sei und er bereits schliefe. So legte sie sich zu den Kindern, die im Elternbett auf Ben´s Seite lagen und Tim murmelte ganz traurig „Papa?“, bevor er dann doch endlich einnickte.


    Als Semir gegangen war, hatte Ben eine ganze Zeitlang stumm die Wand angestarrt. Hätte er darum bitten sollen, dass der doch da blieb? Aber wenn er Stromschläge bekam, war er so panisch und verzweifelt, dass er alles tun würde, nur um das nicht mehr aushalten zu müssen und die Ärzte und Pflegekräfte würden schon wissen, was für ihn gut war.
    Wie es wohl Sarah und den Kindern ging? Er verzehrte sich fast vor Sehnsucht nach ihnen, aber er hörte nichts von zuhause und vermutete auch, dass man ihm gar nicht mitteilen würde, wenn die Lage kritisch wurde, damit er sich nicht aufregte. Außerdem hatte ihm Semir´s kurze Erzählung furchtbar weh getan. Er wollte doch mit seinem Partner gemeinsam Verbrecher jagen und Fälle aufklären-stattdessen lag er hier hilflos wie ein Baby und bekam schon Luftnot, wenn er sich ein wenig zu schnell im Bett bewegte. Ach seine Lage war gerade völlig aussichtslos und sein ansonsten so großer Mut wollte ihn verlassen. Nur eines wusste er-er würde sich nichts antun, auch wenn das mit den Schläuchen in seinen Leisten wohl ganz einfach gehen würde-er hatte bereits einmal versucht, sich umzubringen und in letzter Sekunde gemerkt, wie sehr er doch am Leben hing. Wenn Sarah ihn damals nach seiner Querschnittlähmung nicht rechtzeitig gefunden und gerettet hätte, läge er jetzt nicht mehr hier und auch nach diesem Unfall waren seine Chancen wieder völlig zu genesen, minimal gewesen. Aber es war geschehen-er hatte keinerlei Beeinträchtigungen und Schmerzen mehr-na ja, zumindest so lange er seine Rückenmuskulatur mit Gymnastik und Gerätetraining in Schuss hielt, was er ja prinzipiell gerne machte-aber würde er jemals wieder trainieren können?
    Er hatte die Befürchtung, dass sein ganzes Leben sich völlig verändern würde-und durfte er überhaupt jemals wieder Sex haben, wenn der Schrittmacher in Funktion bleiben würde? Er stellte sich gerade vor, wie er kurz vor dem Höhepunkt einen Stromschlag bekam-und Sarah vermutlich mit-wahrscheinlich würde sie danach nie mehr mit ihm schlafen wollen, denn wenn man Hunden etwas abgewöhnen oder sie zum absoluten Gehorsam erziehen wollte, setzte man ja auch Teletaktgeräte ein, die sie mit Stromschlägen konditionierten. Er selber lehnte sowas ja prinzipiell ab und Lucky war sowieso irgendwie mehr als ein Hund. Der folgte ihnen blind und aus Überzeugung und ließ sich jederzeit abrufen, obwohl er eigentlich nie abgerichtet und ausgebildet worden war. Er konnte alle nicht abgesperrten Türen öffnen, indem er die Klinke elegant nach unten drückte, oder mit den Zähnen Riegel vorzog, aber setzte sein Können normalerweise nicht ein, außer er musste nachts mal raus, zum Beispiel weil er Durchfall hatte und keiner hörte ihn. Dann ging er einfach selber in den Garten und lag am Morgen wieder unschuldig im Schlafzimmer vor seinem Bett, nur die immer noch offen stehende Haustür zeugte von der nächtlichen Exkursion. Aber Ben hatte das schon beobachtet, wenn ein Mann aus dem Ort, dessen Hunde keinen Schritt ohne dessen Erlaubnis machen durften, dieses Teletakt einsetzte, hatte er binnen Kurzem jeden Hund so konditioniert, dass der aufs Wort folgte aus Angst vor Strafe und so würde es vermutlich seinem kleinen Ben auch gehen-der würde sich nicht mehr getrauen aufzustehen, wenn er dann immer eine gewischt bekam. Männer waren da empfindlich und so erwartete ihn wohl ein langweiliges und freudloses Leben-falls man das überhaupt noch als Leben bezeichnen konnte. Er bat um ein stärkeres Schlafmittel, bekam dann eine Tablette und sank gegen zehn in einen unruhigen Erschöpfungsschlaf.


    Am nächsten Morgen war er irgendwie völlig gerädert, aber wenigstens hatte er keinen Stromschlag bekommen. Ein Kollege Sarah´s wusch ihn und Ben hätte schon wieder heulen können, weil er so saft- und kraftlos war. Dann kam die große Visite und der Chefarzt der Kardiologie bekam seinen Fall vom Mediziner, der ihn am Wochenende betreut hatte, vorgestellt. Aufmerksam lauschte er den Worten seines Oberarztes, besah sich Laborwerte und Geräteeinstellungen, um sich dann an seinen Patienten zu richten: „Herr Jäger-sie wissen schon-wenn man dieses Herzunterstützungssystem nicht angeschlossen hätte, wären sie jetzt vermutlich nicht mehr am Leben. Allerdings wissen wir immer noch nicht genau, was die Myokarditis bei ihnen ausgelöst hat. Es können natürlich die nachgewiesenen Keime aus dem Rachenabstrich sein, aber genauso könnten da noch andere Erreger beteiligt sein. Auch um eine Prognose abgeben zu können, müssten wir mittels einer Biopsie Herzgewebe gewinnen, um das unterm Mikroskop anschauen zu können und auch einen speziellen Erregernachweis zu führen. Das ist sozusagen der Goldstandard. Sind sie damit einverstanden?“, fragte er und Ben sah hilflos von einem zum anderen. Verdammt-seitdem er mit Sarah zusammen war, hatte die eigentlich solche Entscheidungen mit ihm gemeinsam getroffen, oder sie ihm vielmehr abgenommen. Wenn sie sagte: „Ja-lass das machen!“, dann willigte er ein und wenn sie die Stirn runzelte, nahm er Abstand. So aber war er sozusagen alleine und verlassen im Medizindschungel. Allerdings genierte er sich dann-wie sah denn das aus, wenn er zum Chefarzt sagte: „Ich muss erst meine Frau fragen, ob ich das machen lassen darf!“, dann stand er da wie ein Pantoffelheld und darum erwiderte er, auch wenn er erstens ein Zittern in der Stimme nicht verhindern und sich auch sonst nichts unter so einer Biopsie vorstellen konnte: „Wenn das notwendig ist, dann machen sie das!“, und der Chefarzt nickte dem betreuenden Intensivarzt und dem Pfleger zu: „Machen sie ihn fertig und bringen sie ihn in einer Stunde ins Katheterlabor!“, und die beiden verdrehten innerlich die Augen. Ein Transport mit laufender ECCMO war ein riesiger logistischer Aufwand, der auch nicht ohne Risiko für den Patienten war, aber Ober stach Unter und so liefen wenig später die Vorbereitungen an und Ben unterschrieb auch brav die Einwilligung.


    Als Sarah wenig später anrief, war Ben bereits unterwegs und auch Semir, der von der Chefin den Rest der Woche frei bekommen hatte und nach dem Frühstück gleich zu Ben ins Krankenhaus geeilt war, egal ob der nach ihm verlangte oder nicht, erfuhr nur, dass der gerade bei einer Untersuchung war und so machte er sich, um keine Zeit zu vergeuden, auf den Weg zu Natascha, die vermutlich noch gar nichts vom Tod Wanke´s wusste.

  • Bevor man Ben in den speziellen Röntgenraum-eben dem Katheterlabor-bringen konnte, mussten erst alle Infusionen, Perfusoren und Überwachungsmonitore so umgebaut und montiert werden, dass man sie mitnehmen konnte. Mit speziellen Halterungen wurden sie ans Bett geschraubt, man achtete darauf, dass alle Kabel und Schläuche lang genug waren und um die transportable Herz-Lungenmaschine zu bewegen, wurde ein zweiter Kardiotechniker aus dem kardiologischen OP geholt-die nächste Bypassoperation würde sich also verschieben, bis Ben wieder wohlbehalten in seinem Zimmer auf der Intensivstation lag. Weil an der Uniklinik ja mehrere Herzunterstützungssysteme liefen, musste immer und ausnahmslos einer dieser speziell ausgebildeten Techniker auf der Intensivstation sein, um sofort eingreifen zu können, wenn es technische Probleme mit den Pumpen gab. Der Techniker prüfte die Akkuladung, testete, ob genügend Sauerstoff in der Bombe war, um notfalls den Patienten auch über mehrere Stunden zu versorgen, nahm das notwendige Zubehör mit und der Intensivarzt und eine Intensivpflegekraft holten den Notfallkoffer und die Reanimationseinheit und befestigten alles am Fußende des Bettes. Gut dass sie eine Uniklinik waren, so war es möglich, noch drei Medizinstudenten aus höheren Semestern zu verpflichten, die mit anpackten, Bett, Equipement und den Patienten schonend zu transportieren, den Fahrstuhl her zu holen und die Krankenhausflure von neugierigen Besuchern, herumstehenden Betten und Mitpatienten zu räumen, so dass der überbreite Transport überall durchkam.


    Ben´s Blick wanderten von einem zum anderen. Alle waren hoch konzentriert. Jeder behielt ein anderes Ding im Auge-der Intensivarzt lief auf Höhe seiner Körpermitte und blickte die ganze Zeit auf die beiden dicken Schläuche. Man hatte aus Sicherheitsgründen nur seine Genitalien und den Oberkörper bedeckt, die Leistenregion lag beidseitig bloß. Wenn die daumendicken Zugänge aus dem Gefäß rutschten, würde es zu lebensbedrohlichen Blutungen kommen, eine Komplikation, die schon mehr als einem ECMO-Patienten das Leben gekostet hatte, denn auch wenn man nicht mehr ganz so viel Heparin wie früher brauchte, das Blut eines Patienten, der so behandelt wurde, musste immer flüssiger gehalten werden als normal, denn sonst drohten lebensbedrohliche Lungenembolien oder Schlaganfälle. Rutschte so ein Schlauch heraus, wurde zudem auf einen Schlag die Herzunterstützung unterbrochen und oft reichte das verbliebene Pumpvermögen des Herzens nicht aus, um den Patienten am Leben zu halten. Der Arzt konnte dann nur versuchen mittels eines starken mechanischen Drucks auf die Femoralgefäße ein sofortiges Verbluten zu verhindern, aber wenn es zu dieser Komplikation kam, musste der Patient sehr viel Glück haben, das zu überleben. Deshalb versuchte man Transporte mit ECMO nur dann durch zu führen, wenn es absolut nicht zu vermeiden war. Allerdings brauchte man zu einer Herzbiopsie eben spezielle Röntgengeräte, wie man sie im Katheterlabor hatte-alleine die Mobilette, das transportable Röntgengerät, reichte dafür nicht aus.


    Der Kardiotechniker schob das Wägelchen mit der eher unscheinbaren mobilen Herz-Lungenmaschine, an dem noch die 10 l Sauerstoffflasche montiert war. Er hatte Ersatzkabel und andere Dinge für den Notfall dabei und man fuhr sehr langsam und vorsichtig um die Ecken, damit nie Zug auf irgendwelche Kabel kam. Als sie dann alle miteinander im Fahrstuhl standen, wurde es eng und der Intensivarzt erinnerte sich mit ungutem Gefühl an das Erlebnis vom Wochenende, aber diesmal ging alles gut. Ben spürte die Anspannung aller Beteiligten, die Intensivschwester behielt den Monitor und die Perfusoren im Auge, schob nebenbei das Bett und die Medizinstudenten waren ganz ehrfürchtig, dass sie zu so einer verantwortungsvollen Tätigkeit heran gezogen wurden, nur Ben als Mensch mit all seiner Angst nahm irgendwie niemand wahr, obwohl doch so viele um ihn herum waren.

    Wie sehr wünschte sich der junge dunkelhaarige Polizist, der sich trotz Aufklärung überhaupt nicht vorstellen konnte, was auf ihn zu kam, ein tröstendes Wort, eine liebevolle Geste, oder noch viel lieber die Anwesenheit von jemand Vertrautem, aber er war hier mehr ein Objekt. So musste sich eine Laborratte fühlen, bevor sie seziert wurde. Das Herz schlug ihm bis zum Hals und so bekam er direkt am Eingang zum Katheterlabor nochmals einen schmerzhaften Stromschlag, der ihn sich aufbäumen und aufstöhnen ließ. Als es vorbei war, liefen vereinzelte Tränen der Verzweiflung und des Schmerzes aus seinen Augenwinkeln, aber man nahm nun die dünne Decke und sein Hemd, die irgendwie sein einziger Schutz gewesen waren, auch noch weg und wieder wurde er mehr wie ein Stück Fleisch als ein lebendiger Mensch auf den kalten und harten Röntgentisch umgelagert. Man zog ihn sehr vorsichtig Millimeter für Millimeter mit einem Rollbrett hinüber, damit das Equipement an Ort und Stelle blieb, löste dann die Befestigungseinrichtungen vom Bett und brachte die Perfusoren und Infusionen am Röntgentisch an. Ein Bleikragen als Schilddrüsenschutz kam um seinen Hals und auch seine Hoden bedeckte man mit einem kleinen Gonadenschutz. Der Monitor wurde umgebaut-alles ein Riesenaufwand, deshalb waren Intensivtransporte mit ECMO eben so unbeliebt.

    Der Chefarzt, der bereits, wie seine beiden Mitarbeiter Haube, Mundschutz und bodenlange Röntgenschürze trug, ließ sich ein Gerät anreichen, das mit zwei starken Magneten ausgestattet war, die man auf Ben´s Oberkörper legte und sobald er auf der Schrittmacherfrequenz war, schaltete er durch das Eintippen eines Sicherheitscodes in einen Monitor des Schrittmacherherstellers für die Dauer der Untersuchung die Defibrillatorfunktion aus. Undenkbar, wenn Ben sich gerade dann aufbäumte, wenn er mit einer Zange im Herzen das Biopsiematerial entnahm. Dann bestünde die Gefahr einer Durchstoßung der Herzwand, einer sogenannten Herzbeuteltamponade, einer gefürchteten Komplikation bei solchen Eingriffen.
    Weil die Leistenarterie, durch die man üblicherweise die sogenannte Schleuse legte, ja bereits belegt war, wählte man als Zugangsort für den Herzkatheter die Ellenbeuge und kaum hatte Ben die ganzen futuristischen Gerätschaften des grün gefliesten und ansonsten mit modernsten edelstahlglänzenden Geräten ausgestatteten Raumes, voller Angst in Augenschein genommen, lagerte man auch schon seinen Arm auf ein Bänkchen aus, machte ihn mit Klett fest und weil er erschauerte, legte man nun doch ein großes grünes Tuch über ihn, allerdings mit Sichtfenster in der Leiste. Der Assistent hatte sich bereits steril angezogen, strich nun Ben´s Ellenbeuge bis Mitte des Unter-und Oberarms dreimal mit Desinfektionsmittel ab und deckte ein großes gefenstertes Tuch darüber. Ohne ein Wort der Erklärung griff nun der Chefarzt zu einer bereits aufgezogenen Spritze und betäubte lokal die komplette Ellenbeuge. Ben zuckte ein wenig zusammen, als sich die Nadel mehrmals in seine Haut bohrte, aber dann wurde die Region taub wie ein Stück Holz. Der junge Polizist hatte jetzt die Augen geschlossen, er war so ausgeliefert und weil der Chefarzt absolute Ruhe wünschte, wenn er arbeitete, sprach auch niemand ein Wort der Erklärung oder Beruhigung. Nur die knappen Anweisungen, was die benötigten Materialien betraf, hallten durch den Raum und alle Begleiter bis auf den Chefarzt, den Assistenten und die instrumentierende Schwester verließen das Zimmer und gingen nach nebenan, von wo man schallgeschützt durch eine große Glasscheibe und zusätzlich noch mehrere Monitore das Geschehen beobachten und für die Studenten kommentieren konnte. Das war auch als Schutz für die Zuschauer gedacht, denn gerade wenn man in Medizinberufen tätig war, kam man doch ständig mit Röntgenstrahlen in Berührung und versuchte deshalb lebenslang die Strahlendosen so gering wie möglich zu halten.


    Der Arzt eröffnete nun mit einem etwa zwei Zentimeter langen Schnitt die Ellenbeuge, suchte dort die Basiliarvene auf, präparierte sie frei und hängte sie mit einem schmalen Gummibändchen an. Von dort schob er rasch und geschickt erst einen dünnen röntgendichten Katheter vor bis zum Herzen. Im Schulterbereich musste der Assistent immer wieder Kontrastmittel darüber einspritzen und bei der gleichzeitigen Röntgendurchleuchtung mit dem C-Bogen fand der erfahrene kardiologische Chef bald den Weg in den rechten Vorhof und dann die Herzkammer. Außer einem leichten Brennen spürte Ben nichts, aber trotzdem getraute er sich fast nicht zu atmen, so bedrohlich wirkte die Stille auf ihn. Nun wurde eine Biopsiezange auf demselben Weg nachgeschoben und wenig später knipst man die erste Probe aus der rechten Herzspitze. Als die winzige Zange, die von außen durch den Assistenten bedient wurde, dann beim Zurückziehen durch die Herzklappe die sensiblen Fasern reizte, die für den Herzrhythmus verantwortlich waren und von der anderen Seite aus durch die Schrittmachersonden berührt wurden, begann Ben´s Herz plötzlich zu flimmern, aber wegen dem ausgeschalteten internen Defi zog der Assistent erst rasch die Biopsiezange mit der ersten Probe heraus, griff dann zum bereit stehenden externen Defibrillator und jetzt bekam-während der Chefarzt die Führungssonde festhielt- Ben einen wesentlich stärkeren und sehr schmerzhaften Stromstoß durch den Brustkorb, der ihm die Luft wegbleiben und ihn, als es endlich vorbei war und das Herz wieder rhythmisch schlug, leise vor sich hinjammern und stöhnen ließ-die Verbrennungen, die gerade im Abheilen begriffen waren, brannten wie die Hölle.

    Man ignorierte ihn, der Assistent, der sich ja unsteril gemacht hatte, legte eilig einen frischen sterilen Kittel und Handschuhe an und man gewann auf demselben Weg nochmals drei Proben aus verschiedenen Bereichen des Herzens. Dann zog der Chefarzt auch die Führungssonde heraus, man verschloss den Hautschnitt mit drei Nähten, der interne Defi wurde über die starken Magnete wieder aktiviert, nun strömten die Helfer in den Raum und in umgekehrter Reihenfolge wie vorhin lagerte man Ben um und brachte ihn auf demselben Weg zurück auf die Intensivstation. Er war fix und fertig und konnte die Tränen der Verzweiflung, des Schocks und der Schmerzen kaum zurück halten. Als sie um die letzte Ecke bogen stand plötzlich Semir vor ihm und als er sah wie fertig sein Freund war, griff er ungeachtet der Proteste des Personals nach Ben´s Hand und lief neben dem Bett her. „Ich bin da Ben und gehe jetzt auch nicht mehr weg!“, verkündete er mit entschlossener Stimme und ein leichtes Nicken seines Freundes zeigte ihm, dass er genau das Richtige gesagt hatte.

  • Sarah hatte eine schreckliche Nacht hinter sich. Immer abwechselnd hatten die Kinder erbrochen, die Windel voll gehabt, oder geweint. Sie hatte eigentlich kein Auge zu gemacht. Am Morgen allerdings behielten alle beide ein wenig süßen Tee, der Durchfall und das Erbrechen hatten aufgehört und Tim verlangte gegen zehn sogar nach einem Zwieback. Mia-Sophie bekam ein wenig Heilnahrung aus der Flasche und voller Erleichterung dämmerte es Sarah, dass es mit den beiden wohl aufwärts ging. Als sie in der Klinik anrief, um Ben die positive Entwicklung mit zu teilen, bekam sie allerdings die Auskunft, dass ihr Mann im Katheterlabor zur Myokardbiopsie war. „Ruft mich an, wenn es etwas Besonderes gibt-gerade werden unsere Kinder wieder müde, ich leg mich noch ein wenig mit den beiden hin und melde mich, wenn wir ausgeschlafen haben!“, teilte sie ihren Kollegen mit und die versprachen ihr, sofort durch zu rufen, wenn es Komplikationen gab. So legte sich Sarah dann mit den Kleinen zu einem vorgezogenen Mittagsschlaf und wenig später waren die drei, eng aneinander gekuschelt, tief und fest eingeschlafen.


    Semir war auf die andere Intensivstation zu Natascha geeilt. Die lag schon wieder relativ munter im Bett und freute sich, ihn zu sehen. „Na wie geht’s dir?“, wollte er wissen und sie gab ihm bereitwillig Auskunft. „Viel besser-mein Kreislauf spinnt nicht mehr, ich habe keine Schmerzen und die Ärzte haben gesagt, dass ich vermutlich verdammt viel Glück hatte und mein Organismus den Kloreiniger gut weg gesteckt hat, aber auch nur, weil die Dosis nicht besonders groß war. Wäre Stefan nicht gekommen und hätte den Attentäter daran gehindert, mir die ganze Spritze zu injizieren, wäre ich vermutlich jetzt nicht mehr am Leben, aber so darf ich, wenn es so bleibt, morgen auf Normalstation. Die Leber- und Nierenwerte sind okay, also wie man sieht-Unkraut vergeht nicht!“, strahlte sie und lauschte dann aufmerksam Semir´s Bericht von der Verfolgung und letztendlich dem Tod Wanke´s.

    „Dann ist es jetzt wohl wirklich vorbei und ich kann wieder zuversichtlich in die Zukunft sehen?“, erkundigte sie sich und Semir nickte. „Was willst du denn danach machen-in den Club wirst du ja hoffentlich nicht mehr zurück gehen?“, erkundigte er sich nun und Natascha errötete. „Nein-und ich habe mir wirklich viele Gedanken über mein weiteres Leben gemacht. Was mir gerade wieder aufgefallen ist, als ich bei euch zuhause zu Gast war-ich mag Kinder und darum möchte ich gerne eine Ausbildung zur Erzieherin hier in Köln machen. Stefan´s Oma hat ein kleines älteres Häuschen in Dellbrück und er hat gemeint, sie würde die Einliegerwohnung gerne vermieten, aber nur an jemanden aus dem Bekanntenkreis, der ihr auch im Garten hilft. Meine Eltern haben schon angekündigt, mich finanziell zu unterstützen, ein paar Ersparnisse habe ich auch und ich denke, sobald ich wieder halbwegs fit bin, werde ich mich mal um eine Vorpraktikumsstelle bemühen.“, erzählte sie und Semir musste lächeln. So gefiel ihm die junge Frau und jetzt fiel ihm auch gleich noch etwas ein: „Bei Lilly im Kindergarten ist ein Aushang am schwarzen Brett-die suchen eine Praktikantin, soweit ich mich erinnern kann!“, teilte er ihr mit und jetzt bekam Natascha leuchtende Augen: „Oh ja-das wäre super-sobald ich hier raus bin, fahre ich gleich dorthin und bewerbe mich. Stefan hilft mir bei den Unterlagen und meine Tätigkeit im Spielclub muss ich irgendwie vertuschen, sonst nehmen mich die dort nie!“, sagte sie nun nachdenklich und ein Schatten flog über ihr Gesicht.
    „Na warte mal ab-ich werde mit deinem ehemaligen Chef mal ein Wörtchen reden-ich denke er wird dir ein neutrales Zeugnis ausstellen, dass du als Servicekraft eingestellt warst. Ehrliche Arbeit wird dir hoffentlich niemand vorwerfen und dann bietest du deinen künftigen Arbeitgebern einfach mal ein paar Tage Probearbeiten an-ich mache mich stark für dich und Andrea sicher ebenso. Die Kinder fragen nämlich schon nach dir-die waren total begeistert von deiner Art, das wäre doch gelacht, wenn wir da nichts drehen könnten!“, versprach er ihr und nun erzählte Natascha nochmals die ganzen Abläufe, soweit sie sich erinnern konnte, seitdem sie Wanke gefolgt war.

    „Aber weisst du Semir, was mir am meisten zu schaffen macht? Wanke´s Hund ist dazwischen gegangen, als der mich von seinem Grundstück entführt hat. Er hat mich als eigentlich fremde Person vor seinem eigenen Herrchen verteidigt und wurde dafür von dem erschlagen-ich bringe die Bilder nicht mehr aus meinem Kopf, ich liebe doch Schäferhunde und dieser Traumhund musste für mich sterben!“, weinte sie nun und jetzt blickte Semir überrascht auf. An den Hund hatte er gar nicht mehr gedacht. „Natascha-Jerry, so heisst der Hund nämlich-ist nicht tot, sondern in der Tierklinik. Ich habe den am Freitagabend dorthin gebracht und am Samstag ging es ihm schon besser. Ich denke, wenn du hier raus bist, wirst du ihn besuchen können!“, teilte er ihr mit und damit ließ er eine glückstrahlende junge Frau zurück, als er jetzt zu Ben eilte, der hoffentlich die Untersuchung hinter sich gebracht hatte.


    Semir kam gerade zur rechten Zeit. Soeben wurde Ben mit einem riesigen Tross um die Ecke gefahren. Es waren total viele Menschen um ihn, aber dennoch war Ben mutterseelenalleine, wie Semir auf den ersten Blick feststellen konnte. Sein Gesicht war voller Angst und sehr angespannt. In seinen Augenwinkeln konnte man Tränen der Verzweiflung und des Schmerzes erahnen und jetzt würde sich Semir von nichts und niemandem mehr wegschicken lassen, außer von Ben persönlich, aber der drückte die Hand, die Semir wie selbstverständlich ergriffen hatte und jetzt würde sie aktuell niemand mehr trennen können!

  • Semir war immer in Ben´s Nähe, als der nun wieder an seinem Platz auf der Intensivstation an die verschiedenen Geräte und Monitore angeschlossen wurde. Trotz seiner Anspannung löste wenigstens der Defi nicht aus und langsam konnte der junge dunkelhaarige Polizist sich ein wenig beruhigen. Es dauerte eine ganze Weile, bis alle Maschinen, Infusionen und Perfusoren an ihrem Platz waren, aber endlich waren die beiden Freunde alleine. „Wohin hatten die dich gebracht und was zum Teufel ist eine Myokardbiopsie?“, fragte nun Semir und jetzt versuchte Ben ihm zu erklären, was man gerade bei ihm im Herzkatheterlabor gemacht hatte. Der kleine Türke hörte aufmerksam zu und im Gegensatz zu den ganzen Ärzten bemerkte er sofort die Angst und Unsicherheit, die Ben ausgehalten hatte. Er zuckte auch rein körperlich zusammen, als Ben schilderte, wie man den Defi in seinem Körper erst wie von Zauberhand ausgeschalten hatte, aber bei der nächsten Herzunregelmäßigkeit dann die Paddels von außen wieder auf die verbrannten Hautstellen gelegt hatte, die immer noch feuerrot leuchteten. „Oh Gott du Armer!“, sagte er mitfühlend und setzte sich jetzt auf einen Stuhl ganz nahe zu seinem Freund, der nun für eine Weile erschöpft die Augen schloss.


    Nach einer kurzen Weile der Erholung, öffnete er sie wieder. „Semir-tut mir leid, dass ich Sarah und dich gestern rausgeschmissen habe, aber ich musste einfach eine Weile alleine sein, um mir über meine Zukunft klar zu werden. Jetzt allerdings habe ich gemerkt, wie gut es tut, wenn du da bist und bei der Visite heute Morgen hätte ich dringend Sarah´s Rat gebraucht. Ich habe nach wie vor keine Ahnung, was diese mega aufwändige Tortur eigentlich bezwecken sollte. Sie haben gesagt, die Proben würden untersucht, aber wenn sie doch schon wissen, was ich habe, warum musste das dann sein? Vielleicht habe ich mich da zu einer unnötigen Untersuchung überreden lassen-man sagt doch immer, dass man als Privatpatient da durchaus mal Sachen gemacht kriegt, die bei einem Kassenpatienten merkwürdigerweise nicht nötig sind. Ach weißt du, ich bin in solchen Dingen so unsicher und bisher hat mir da meine Frau immer mit Rat und Tat zur Seite gestanden, aber unsere Kinder sind so krank-Norovirus, ich mache mir Sorgen und hab heute noch gar nichts von meiner Familie gehört. Ich befürchte auch, dass sie mir aus lauter Fürsorge gar nicht Bescheid geben würden, wenn sich die Lage verschlimmert und die Kinder in die Klinik müssten. Auch habe ich ein total schlechtes Gewissen, weil ich Sarah in dieser Situation alleine lasse. Wir haben bisher solche Sachen immer gemeinsam rum gebracht und wenn Tim krank ist, ruft er sowieso immer nach mir. Ach ich vermisse sie so, alle miteinander!“, erzählte er und schon wieder wurden seine Augen feucht.


    Semir hatte ihm aufmerksam zugehört und nun erhob er sich. „Ben-ich kann das durchaus nachvollziehen, dass du dir Sorgen machst, aber Sarah ist eine gute Krankenschwester, die weiß was sie tut und sicher gut einschätzen kann, wenn es kritisch wird und dann beizeiten mit den Kleinen in die Klinik geht. Klar legt niemand Wert auf so nen Kotzvirus und du darfst da auf gar keinen Fall damit in Berührung kommen, aber ich werde mich jetzt zumindest mal telefonisch bei ihr erkundigen, ob sie Hilfe braucht!“, sagte er und wollte gerade das Zimmer verlassen, um draußen vor dem Krankenhaus, wo sein Handynetz funktionierte, Sarah zu kontaktieren, da kam eine Schwester herein.
    „Herr Jäger-bevor ich es vergesse-ihre Frau hat vorhin, als sie bei der Untersuchung waren, angerufen. Die Kinder befinden sich auf dem Wege der Besserung, sie hat sich mit ihnen zusammen noch ein wenig hingelegt und meldet sich, wenn sie aufgestanden sind“, richtete sie aus und jetzt ließ Ben, der angespannt den Kopf gehoben hatte, den erleichtert wieder sinken und schloss erschöpft die Augen: „Gott sei Dank!“, flüsterte er „Gott sei Dank!“, und damit schlief er auch schon ein.


    Semir betrachtete eine ganze Weile seinen Freund mit einer Mischung aus Sorge und Erleichterung. Wenigstens sprach aktuell niemand von akuter Lebensgefahr, aber viel besser schien es ihm noch nicht zu gehen. Nach einer Weile blickte er überrascht auf, denn plötzlich standen der Viszeralchirurg, der Ben am Bauch operiert hatte, der Intensivarzt und die betreuende Schwester vor ihnen. „Darf ich sie kurz stören, Herr Jäger?“, fragte der Chirurg freundlich und wollte gerade Semir aus dem Zimmer schicken, da öffnete Ben auch schon die Augen. „Mein Freund soll dableiben!“, bestimmte er, denn er hatte beschlossen, was auch immer für Entscheidungen ab sofort von ihm verlangt wurden, die zuvor entweder mit ihm, oder mit Sarah zu besprechen. Der Arzt nickte, schlug die dünne Decke, die seinen Patienten sowieso nur unzureichend bedeckte, zurück und betastete vorsichtig Ben´s Bauch. Dann hörte er mit dem Stethoskop darauf und erneuerte dann auch noch den Verband, nachdem er Einmalhandschuhe angezogen hatte und sich ein frisches Sterilklebepflaster hatte anreichen lassen. Dann fragte er: „Rührt sich schon was im Bauch?“, aber Ben schüttelte den Kopf. „Ich höre schwache Darmgeräusche, wir sollten ein wenig stimulieren und von meiner Seite her dürfen sie leichte Kost essen. Es sieht alles gut aus, die tiefe Drainage ziehen wir übermorgen, aber die Wunde heilt sehr schön!“, teilte er den Anwesenden mit und ordnete dann Laxanstropfen und ein Zäpfchen an, bevor er die Intensivstation wieder verließ. „Die Tropfen sehe ich ja noch ein-aber ich sage euch-Zäpfchen hasse ich genauso wie meine Kinder!“, protestierte Ben. „Und wie soll das überhaupt gehen-ich kann mit diesen blöden Schläuchen in den Leisten ja nicht aufstehen-können wir nicht einfach warten, bis es mir besser geht und die Dinger draußen sind?“, bettelte er, aber die Schwester, die nach der Visite das Zimmer kurz verlassen hatte und jetzt mit den verordneten Sachen wieder da war, schüttelte den Kopf. „Seien sie nicht kindisch, die anderen Patienten müssen ihr Geschäft auch erledigen, da sind sie nicht der Einzige!“, wies sie ihn zurecht und so schluckte Ben dann klaglos die klare Flüssigkeit aus dem Becher, trank einen Schluck Wasser nach und schickte dann Semir nach draußen. „Da brauche ich jetzt keine Zeugen-geh du was essen und wenn du zurück kommst, frag erst die Schwester, ob die Luft wieder rein ist-im wahrsten Sinne des Wortes!“, kam wenigstens ein kleines Stück seines Humors zurück und Semir verließ schmunzelnd die Intensivstation, während Ben sich ächzend am Bettgitter festhielt und zur Seite drehte. Oh nein-wie er das hasste und als das Medikament tatsächlich wenig später wirkte, musste er sich zu seiner Verzweiflung tatsächlich auf die Einmalunterlage im Bett erleichtern und danach wie ein Baby sauber gemacht werden, denn mit den Drainagen war es sogar unmöglich auf die Schüssel zu gehen.
    „Wollen sie was essen?“, fragte die Schwester danach freundlich, aber Ben schüttelte den Kopf. Im Augenblick war ihm der Appetit gründlich vergangen und er wünschte sich nur irgendwohin weit weg und außerdem war er schon wieder völlig erschöpft.

  • Semir hatte kurz Andrea angerufen, die gerade von der Arbeit gekommen war und auf dem Rückweg Lilly vom Kindergarten mitgenommen hatte. Ayda würde nach Hause laufen und Andrea schmiss gerade ein paar Nudeln in einen Topf, ansonsten hatten sie noch Reste von gestern. „Schatz-ich bin gerade bei Ben. Der hat seine Meinung von gestern wieder geändert und freut sich jetzt, dass ich ihm Gesellschaft leiste, ich weiß also noch nicht ob, oder wann ich nach Hause komme. Sein Zustand ist unverändert und Sarah fällt aus-Tim und Mia-Sophie haben Brechdurchfall!“, teilte er seiner Frau mit und die äußerte Worte des Bedauerns, trug Semir auf, liebe Besserungswünsche auszurichten und versprach später Sarah anzurufen, aber auch sie würde einen großen Bogen um alle Erkrankten machen und sich diese Viren, die gerade rumgingen, nicht ins Haus holen. Semir hatte in der Cafeteria gut gegessen und machte sich dann wieder auf den Rückweg zu seinem Freund.


    Auf der Intensiv war inzwischen Schichtwechsel und eine sehr nette, mütterliche und fürsorgliche Schwester, die Sarah auch noch von früher kannte und mit ihr schon zusammen gearbeitet hatte, übernahm Ben. „Na da haben sie heute ja schon was hinter sich!“, unterhielt sie sich mit ihm, während sie seinen Rücken mit einer belebenden Lotion einrieb, dann Fenistilgel auf die lokalen Verbrennungen vom Defi auftrug, was sofort die Schmerzen linderte und ihm eine zusammen gefaltete Decke leicht seitlich unter den Rücken schob, um eine Druckentlastung vorzunehmen, damit er sich nicht wund lag. Richtig lagern konnte man ihn wegen der dicken starren Schläuche in den Leisten nicht, denn wenn man die Hüften zu stark beugte, bestand die Gefahr, dass sich ein Schlauch an der Gefäßwand ansaugte, was zu lebensbedrohlichen Zuständen führen konnte. Aber schon diese Mikrolagerung war wohltuend und eine Knierolle aus einem zusammen gefalteten Handtuch entspannte die Oberschenkelmuskulatur und so lag Ben, als Semir zu ihm zurück kehrte, eigentlich ganz zufrieden und relativ schmerzfrei da.
    „Ich soll dir liebe Grüße und gute Besserungswünsche von Andrea ausrichten!“, sagte der und hatte kaum auf dem bequemen Stuhl neben Ben´s Bett Platz genommen, da war der auch schon eingeschlummert. Als die Pflegekraft wenig später ganz leise das kleine Fläschchen mit der Nachmittagsdosis des Antibiotikums anhängte, lächelte sie Semir freundlich an. „Das ist gut wenn er schläft, so kann sich das Herz am besten erholen, die Natur weiß schon, was sie tun muss!“, erklärte sie flüsternd, warum Ben so müde war. Semir lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück und döste trotz des Geräuschpegels auf der Intensiv sogar selber ein wenig ein.

    Die beiden erwachten erst, als plötzlich eine andere Schwester mit dem Stationstelefon in der Hand vor ihnen stand. „Herr Jäger-ihre Frau ist dran!“, sagte sie und nun streckte Ben sofort die Hand aus, um mit seiner Sarah zu sprechen. Allerdings war er anscheinend durch das plötzliche Erwachen so erschrocken, dass der Monitor Alarm schlug, erneut Kammerflimmern anzeigte und Semir voller Kummer mit ansehen musste, wie Ben einen erneuten Stromschlag bekam, der ihn aufstöhnen und das Telefon aus seiner Hand gleiten ließ. Auch wenn Semir nun schon mehrfach dabei gewesen war, schossen ihm vor Mitleid die Tränen in die Augen. Er hatte so gehofft, dass es Ben besser ging und er das nicht mehr aushalten musste, aber anscheinend war das nicht so. Ben´s betreuende Schwester war sofort bei der Alarmmeldung ins Zimmer geeilt, hatte ihm etwas Morphin und Tavor gespritzt und während Semir nun nach dem Telefon griff, redete sie beruhigend und tröstend auf ihn ein, bis er sich wieder Luft holen traute und ein bisschen locker lassen und das Schmerz- und das Beruhigungsmittel wirken lassen konnte.


    Sarah hatte das Drama sozusagen aus der Ferne miterlebt und stand jetzt selber ganz verkrampft, mit Tränen in den Augen, im Kinderzimmer, wo die in Windeseile genesenen Kinder, die nach dem Erwachen aus dem ausgiebigen und erholsamen Mittagsschlaf schon eine Suppe gegessen hatten, miteinander am Boden mit Duplosteinen spielten. Semir ging nun ran, meldete sich und Sarah fragte: „Oh Gott-ist es denn noch nicht besser?“, worauf der kleine Türke keine Antwort wusste und nur: „Ich glaube nicht!“, murmelte. Ben war nun wieder ganz blass, ein Schweißfilm stand auf seiner Stirn und als der ältere Polizist die Temperaturanzeige auf dem Monitor entdeckte, sah er, dass sein Freund erneut Fieber hatte. „Semir-gib mir bitte nachher Anita, meine Kollegin-ich habe sie an der Stimme erkannt. Und wenn Ben wieder aufnahmefähig ist, richte ihm bitte aus, dass er sich wegen der Kinder keine Sorgen mehr zu machen braucht. Die haben nach dem Mittagsschlaf schon was gegessen, der Brechdurchfall ist vorbei und in ein paar Tagen sind die sicher ganz gesund. Sag ihm, dass ich ihn liebe und vielleicht können wir später doch noch miteinander reden, aber jetzt soll er sich erst mal ausruhen!“, sprach sie in den Hörer und als die mütterliche Schwester sich nun umwandte, um den Raum zu verlassen und den Kardiotechniker zu informieren, gab ihr Semir schnell das Telefon. Er selber griff nun nach Ben´s Hand und streichelte die, woraufhin der mühsam die Augen öffnete. „Ruh dich aus-Sarah ruft dich später nochmals an und ich soll dir ausrichten, dass es den Kindern deutlich besser geht und sie dich liebt!“, teilte er ihm mit und mit einem angedeuteten Kopfnicken zeigte Ben, dass er verstanden hatte, aber dann fielen seine Augen wieder zu.


    Die Schwester hatte nun Sarah am Telefon Fachinformationen mitgeteilt und mit dem Versprechen, sie sofort zu informieren, wenn es Veränderungen, egal in welche Richtung gab, beendete sie das Gespräch und hatte inzwischen den Kardiotechniker gefunden, der gerade in der Stationsküche genüsslich eine Tasse Kaffee trank. „Ich darf sie bitten, bei Herrn Jäger die Temperatur auf 36.5°C zu senken, der hat wieder aufgefiebert!“, trug sie ihm auf und der junge Mann beeilte sich, der Aufforderung Folge zu leisten. Nach kurzer Überlegung ließ Anita nun ebenfalls eine Tasse Kaffee aus dem Automaten, nahm ein paar Zuckerpäckchen und Dosenmilch mit und ging zurück ins Patientenzimmer. Der Freund ihres Patienten sah aus, als könnte er einen Kaffee vertragen und Semir bedankte sich überrascht und erfreut. „Wir senken die Temperatur über die Maschine-dann fühlt Herr Jäger sich vielleicht bald ein bisschen besser!“, sagte sie und der Kardiotechniker hatte die Einstellung an der ECMO inzwischen vorgenommen. Manchmal verwendete man das Gerät auch, um Patienten bei massiven Unterkühlungen, z. B. nach Ertrinkungsunfällen im eiskalten Wasser schonend zu erwärmen und genauso funktionierte das auch umgekehrt. Nach einem routinierten Blick über alle Geräte verließ dann die Schwester das Zimmer wieder. „Ich komme nachher zu ihnen, aber jetzt soll Herr Jäger sich erst einmal ausruhen!“, sagte sie im Hinausgehen und Semir nickte zustimmend. Anscheinend würde Ben´s Genesung doch noch eine Weile dauern und so setzte er sich wieder bequem in seinem Stuhl zurück und nippte hin und wieder an seinem Kaffee. Wie schön war es gesund zu sein-das wusste man erst wieder zu schätzen, wenn man mit schwerer Krankheit konfrontiert wurde!

  • Inzwischen war Milena aus der Schutzwohnung entlassen worden und hatte mit dem Zug ihren Weg in den hohen Norden angetreten. Auch wenn der Kriminalfall noch aufgearbeitet werden würde, aber zu einer Anklage würde es nicht mehr kommen, da die Mörder und Verbrecher beide tot waren und die Gefahr vorüber war. Frau Krüger hatte ihr das höchstpersönlich mitgeteilt und ihr auch den Koffer mit ihren persönlichen Habseligkeiten, den man inzwischen aus dem Keller geborgen hatte, gebracht. „Aber die Dinge, die Sarah da rausgenommen und versaut hat, bekomme ich ersetzt!“, beharrte sie und die Chefin hatte daraufhin kopfschüttelnd gefragt, um welche Summe es sich denn handle. „Mindestens 200€!“, behauptete die Frau daraufhin. In einem ersten Impuls wollte Frau Krüger ihr das Geld in die Hand drücken, nur damit sie Ruhe gab, aber dann regte sich in ihr der Trotz-da sollte die Tussi mal sauber versuchen das Geld von einer Versicherung zu kriegen. „Und wenn ich zuhause bin ist das Erste, dass ich mich von der Autorenseite lösche! Die sind dort doch alle doof. Ich habe inzwischen recherchiert und werde meine hervorragenden Geschichten bei Amazon gegen Geld veröffentlichen. Ich werde doch keine Perlen mehr kostenlos unter die Säue werfen und mir dafür noch kritische Feedbacks gefallen lassen-für sowas bin ich viel zu gut!“, teilte sie dann der Chefin mit, die innerlich mit den Augen rollte. Sie hatte zwar noch nie etwas von dieser Frau gelesen und würde das auch nie tun, aber diese Überheblichkeit nervte sie ungemein! Trotzdem fuhr sie sie sogar noch zum Bahnhof, nicht dass die nächsten Regressansprüche geltend gemacht würden. Während der Autofahrt erfuhr Frau Krüger so auch noch, dass nicht nur weitere Kriminalgeschichten mit sprechenden Pferden in der Planung waren, sondern auch Erotikromane und beinahe hätte sie sich daraufhin übergeben. Gott sei Dank schaffte die Frau genau den für die Rückfahrt geplanten Zug, für den die Fahrkarte im Koffer gelegen hatte, so dass man wenigstens wegen der Kosten der Heimreise nicht herumstreiten musste.

    Elisa ging es auch besser, die Isolierung würde in Kürze aufgehoben werden. Auch wenn sie noch mindestens 10 Tage in der Klinik bleiben musste, wenigstens war der Brechdurchfall vorüber und die Schmerzen waren erträglich, wobei ihr immer noch niemand Sachen aus ihrer Wohnung gebracht oder sie besucht hatte. Ja es war schwierig, wenn man keine echten Freunde hatte, sondern nur welche aus Social Medias, die aber leider nur in guten Zeiten und völlig unverbindlich zu einem standen. Aber in Kürze würde hoffentlich ihre Tochter aus dem Urlaub zurück kommen und sie versorgen.
    Der Polizist, der vor dem Zimmer Wache geschoben hatte, hatte der Schwester ausrichten lassen, dass er jetzt nach Hause gehen würde, weil die Bewachung nicht mehr notwendig war, aber so im Detail wusste Elisa immer noch nicht, was überhaupt geschehen war und sie hoffte nur, dass es kein weiterer Attentäter auf sie abgesehen hatte. Auf Milena war sie stocksauer-die hätte ihr ja schließlich was bringen können, dass die selber auch verletzt worden war, blendete sie völlig aus und freute sich nur auf den Tag, an dem sie wieder ihre Geschichten auf der Autorenseite veröffentlichen und den anderen zeigen konnte, was eine gute Story war. Ihre Stammleser würden sie sicher schon vermissen und sie malte sich aus, wie die gerade jeden Tag verzagt anfragten : „Pen-wo steckst du-wir können ohne deine Geschichten nicht leben!“ Sie hatte wieder tausend Ideen gesammelt, aber eines würde mit Sicherheit in ihren Storys nicht vorkommen-Krankenhauskapitel und dieses emotionale Gewäsch, das Sarah von sich gab. Bei ihr war Action angesagt und das war auch das einzig Wichtige, was zu schreiben und lesen lohnte, das würde sie den anderen Lesern und Autoren schon noch einbläuen!


    Als Ben nach einiger Zeit die Augen wieder aufschlug, fühlte er sich ein klein wenig besser, aber immer noch unendlich erschöpft. Schwester Anita hatte wenn nötig leise die Perfusoren und Infusionen gewechselt und mit routiniertem Blick die Temperaturanzeige auf dem Monitor gemustert. Durch die Kühlung war die Körpertemperatur wieder auf 36,5°C, wie eingestellt. Allerdings war der erfahrenen Schwester auch klar, dass das Fieber einen Grund hatte und der Körper sicher dadurch versuchte, irgendwelche Keime anzugreifen, was für einen Gesunden auch überaus sinnvoll war. Privat hatte sie bei ihren eigenen Kindern früher nie fiebersenkende Medikamente gegeben, höchstens einmal Wadenwickel gemacht, denn das alte Volkswissen: „Das Fieber ist der Freund des Kindes!“, war überhaupt nicht verkehrt und durchaus auch auf Erwachsene übertragbar. Da senkte man immer viel zu früh in der heutigen Zeit, aber das Problem bei dem jungen Polizisten war, dass sein angegriffenes Herz-Kreislaufsystem es einfach nicht schaffen würde, mit hohen Temperaturen umzugehen, viel zu schwach wäre er dazu, trotz des Herzunterstützungssystems. Allerdings war es merkwürdig, dass er wieder auffieberte, trotz der Breitbandantibiose, die er seit Tagen bekam. Eigentlich müsste den Bakterien, die man in seinem Rachenabstrich nachgewiesen hatte und die man ja gezielt nach Antibiogramm behandelt hatte, schon lange der Garaus gemacht worden sein, also war hier noch irgendein anderer Mechanismus im Gange. Nun gab es ja auch noch viele möglichen Ursachen für Fieber und Anita hoffte auf Genesung für den Mann ihrer Kollegin, die sie in deren Zeit auf der kardiologischen Intensiv, währenddessen sie damals auch Ben kennen gelernt hatte, woran Anita nicht ganz unschuldig war, zu schätzen gelernt hatte.

    An bestimmte Alternativen wollte sie gar nicht denken-zu oft hatte sie in ihrer langen Berufslaufbahn auf der kardiologischen Intensiv schon junge Menschen sterben sehen, oder alternativ als kaum belastbare Pflegefälle entlassen, die kaum mehr ein paar Schritte alleine und ohne Atemnot gehen konnten. Klar war sowas in den Augen der Ärzte dennoch ein Erfolg, denn immerhin lebten diese Menschen, aber ob man diesen Zustand der minimalen körperlichen Belastbarkeit, wo der Gang zur Toilette einer Bergbesteigung gleichkam, als erstrebenswert ansehen konnte, wusste auch sie nicht. Es kam vielleicht auf den Einzelnen an, aber dieser junge Mann hier vor ihr war sportlich und aktiv gewesen und hatte einen auch körperlich anstrengenden Beruf, der ihn aber laut Sarah´s Erzählungen sehr glücklich machte. Sie konnte nur hoffen, dass bald erste Ergebnisse der Myokardbiopsien vorlagen, die erstens das Fieber erklärten und zweitens wenigstens ein wenig Anlass zu Hoffnung boten.
    Sie lächelte also Ben an, als er sie wach ansah und fragte: „Na haben sie ein schönes Mittagsschläfchen gemacht?“, wohl wissend, dass das das Morphin und das Tavor gewesen waren, die ihn ausgeknockt und schlafen gelegt hatten. „Doch war ganz okay!“, antwortete der und mit Hilfe seines Freundes, machte sie Ben wieder frisch, erneuerte die verschwitzte Unterlage, rieb seinen Rücken ein, lagerte ihn ein wenig auf die andere Seite und bot ihm zu trinken an, was er diesmal auch nicht verschmähte. Als er ein paar Schluck Wasser getrunken hatte, fiel sein Blick sehnsuchtsvoll auf Semir´s Kaffeetasse, die sie vorhin einfach wieder aufgefüllt hatte. „Möchten sie auch einen Kaffee?“, fragte sie nun und als Ben nickte, bekam er wenig später ebenfalls frischen dampfenden Kaffee aus dem Vollautomaten, den sich die Schwestern und Ärzte der Intensivstation eigentlich für sich selber gönnten und auch finanzierten. Er war zwar in einer Schnabeltasse, denn so weit aufrichten, dass er normal trinken konnte, ging mit den starren Schläuchen nicht, aber trotzdem genoss Ben den Geschmack des starken und belebenden Getränks, aß dann auch zwei kleine Kekse dazu, die Anita ihm ebenfalls gebracht hatte und Semir überkamen beinahe Glücksgefühle-wenn Ben wieder Kaffee mochte, musste es einfach aufwärts gehen.


    Anita rief nun selber Sarah an, die im ersten Augenblick fürchterlich erschrak, als sie die Krankenhausnummer auf dem Display sah, aber dann ein liebevolles längeres Gespräch mit ihrem Mann führte und auch Tim mit ihm sprechen ließ, während Semir sich draußen ein wenig die Beine vertrat und mit der PASt telefonierte. Als er zurück kam, war Ben allerdings von dem Telefonat und dem kleinen Imbiss schon wieder so erschöpft, dass er nur noch seine Ruhe wollte und als der Abend herein brach und Anita ihn ein letztes Mal vor der Nacht frisch gemacht und gelagert hatte, sagte er: „Semir, dass das klar ist-ich bin kein Baby und hier in guten Händen. Geh du nach Hause zu deiner Familie und schlaf in deinem eigenen Bett. Wenn du mich morgen besuchen kommst, würde ich mich freuen, aber du kannst hier eh nichts machen und ich bin schon wieder furchtbar müde!“, und so machte sich Semir gegen acht auf den Weg nach Hause zu seiner Familie-hoffentlich ging es Ben morgen wenigstens ein kleines bisschen besser!

  • In der Nacht bekam Ben erneut zwei Stromstöße und starrte danach stundenlang die Wand an-innerlich voller Angst und Panik. Trotzdem versuchte er, sich nicht aufzuregen oder anzustrengen, aber er konnte das einfach nicht kontrollieren wann, oder aus welchen Gründen sein Herz zu flimmern begann. Es war einfach furchtbar, seinem eigenen unberechenbaren Körper ausgeliefert zu sein. Er konnte jetzt verstehen, warum Häftlinge in Gefängnissen in Südamerika, oder wo sonst auch immer die Stromfolter angewendet wurde, nachher oft gebrochen und psychische Wracks waren-es war einfach nur schrecklich. Außerdem war der Pfleger, der ihn heute Nacht betreute, zwar sicher fachlich okay, aber ihm fehlte jede Empathie. Der machte seinen Job, wechselte Infusionen und Perfusoren, nahm Blutgase ab, beobachtete den Monitor und die ECMO, machte ihn auch einmal frisch und lagerte ihn, aber es fehlte der menschliche Aspekt. Dieser junge Mann klopfte seine Schicht herunter und erledigte seine Arbeit sicher völlig korrekt, aber diese kleinen liebevollen Worte und Gesten, die zum Beispiel Schwester Anita, oder auch andere Pflegekräfte für ihre Patienten aufbrachten und so dafür sorgten, dass die sich auch als Mensch wahrgenommen fühlten, fehlten hier komplett. Ben verstand nun, was ihm Sarah schon oft versucht hatte zu erklären, dass man in der Pflege, oder auch als Arzt eben ehrliches Interesse an seinen Patienten haben musste und sich auch für deren Sorgen und Nöte interessieren musste, um gut zu sein. Er hatte da früher manchmal darüber gelächelt, wenn sie von der Arbeit erzählte und wie sie sich bei schwerst kranken, beatmeten Patienten sogar auch um die Angehörigen kümmerte und versuchte, etwas über die Menschen, die sie oft bis zu deren Tod versorgte, zu erfahren, um ihnen gerecht zu werden. Aber jetzt erlebte er es am eigenen Leibe, wie wichtig sowas war und als er irgendwann doch wieder eindämmerte, einfach weil er furchtbar erschöpft und todkrank war, sehnte er sich wahnsinnig nach Sarah´s liebevollen Berührungen und kleinen Gesten. Aber das Wissen, dass Semir ihm morgen wieder beistehen würde, gab ihm wenigstens ein bisschen Kraft nicht völlig aufzugeben und als die Frühschicht kam, hatte er doch ein bisschen geschlafen, auch wenn er sich immer noch wie gerädert fühlte.


    Als er gewaschen wurde, versuchte er, selbst seine Zähne zu putzen, aber er musste nach wenigen Sekunden abbrechen, weil sogar das zu anstrengend war. Dabei war sein Geist vollständig auf der Höhe, es langweilte ihn, nur immer im Bett zu liegen und den Geräuschen auf der Intensivstation zu lauschen. Er trank wieder eine Tasse Kaffee aus dem Schnabelbecher und nötigte sich selber, wenigstens eine halben Marmeladentoast zu essen, damit er zu Kräften kam. Verdammt-wenn er gesund war, war das eine Menge für den hohlen Zahn, aber jetzt hatte er überhaupt keinen Appetit. Auch musste man ihm sogar beim Essen und Trinken helfen, weil sein Herz zu jagen begann, wenn er nur den Becher zum Mund führte. Manchmal, wenn er die Augen schloss, wünschte er sich, einfach einschlafen zu dürfen, damit es vorbei war, die Sorgen um eine ungewisse Zukunft damit gelöst waren und er seiner Familie nicht zur Last fallen musste.
    Aber ganz im Gegensatz dazu, war da ein Teil in ihm, der unbedingt leben wollte. Er wollte doch seine Kinder groß werden sehen, keine Sekunde verpassen, mit Semir über die Autobahn jagen, Sport treiben, mit seinem Hund lange Spaziergänge machen, mit Freunden feiern, Skifahren, Schwimmen, Joggen und Sex haben. Er wollte mit Sarah alt werden und stellte sich vor, wie die wohl mit 60 einmal aussah. Eines wusste er mit Sicherheit-er würde sie immer noch lieben, wenn er das nur erleben durfte. Sie beide hatten sich gefunden und ihre Ehe hatte schon so manche Stürme überstanden, aber sie hatten fest zusammen gehalten und deswegen würde es weiter gehen-aber nur wenn er das erleben durfte. Die Schwester, die ihn heute Morgen versorgte war auch nett, aber er freute sich schon ein wenig auf den Nachmittag, wenn Schwester Anita wieder kam. Das hatte sie ihm gestern gesagt, als sie ihn an die Nachtschicht übergeben, ihn mit Handschlag verabschiedet und ihm eine gute Nacht gewünscht hatte. „Herr Jäger-ich komme morgen Nachmittag wieder zu ihnen und vielleicht geht es ihnen da schon ein ganz kleines bisschen besser!“, hatte sie ihm mit einem Lächeln Hoffnung gemacht und ihre mütterliche Art hatte ihn in seinen Bann gezogen. Er hatte sich bei ihr geborgen gefühlt. Sie machte an ihm sicher nichts anderes als die anderen Pflegekräfte, aber die Chemie stimmt einfach zwischen ihnen beiden und wenn sie ihn nackt sah, war das völlig ok, während er sich vor der jungen Schwester, die ihn am Morgen überall gewaschen hatte, genierte. Ach war das doof, wenn man nicht selber einfach unter die Dusche springen konnte-etwas, was so selbstverständlich war, wenn man gesund war.


    Als nach dem Frühstück dann die Visiten kamen, teilte ihm der Professor mit: „Die ersten Ergebnisse der Herzmuskelbiopsien können wir morgen erwarten und dann unsere weitere Behandlungsstrategie planen. Bis alle Befunde da sind, kann es bis zu zwei Wochen dauern, weil das Gewebe teilweise angezüchtet wird, aber vorerst machen wir weiter wie bisher!“, teilte er ihm und dem ganzen Schwarm von Weisskitteln mit, die in einem beeindruckenden Aufmarsch die Chefvisite begleiteten. Ben sagte nichts darauf-er hatte keine Ahnung nach was man bei dieser Untersuchung überhaupt fahndete und als er zwei Wochen hörte, kroch in ihm eine Ahnung hoch, dass er noch sehr lange Zeit auf der Intensivstation verbringen würde-oh mein Gott! Als die Truppe den Raum verlassen hatte, hörte er von draußen, wie eine Schwester einem Krankenpflegeschüler erklärte: „Wenn man sich zu einer Herztransplantation entschließt, müssen die Patienten, um auf der Liste ganz oben zu stehen, bei uns auf der kardiologischen Intensiv bleiben, bis ein Spenderorgan zur Verfügung steht, auch wenn sich ihr Befinden zwischenzeitlich leicht bessert. Manche verbringen Monate bei uns und sterben dann doch, bevor ein Organ zur Verfügung steht. Manchmal entschließt man sich deshalb heute eher für die dauerhafte Kunstherzvariante. Allerdings gibt es da noch nicht so viele Langzeiterfahrungen-ich wüsste auch nicht, was ich lieber hätte. Wir haben allerdings immer wieder Patienten, die schon sehr lange transplantiert sind und denen es gut geht!“, erklärte sie dem jungen Mann und als Semir am späten Vormittag endlich bei Ben eintraf, hatte der sich die Decke über den Kopf gezogen und versuchte an etwas Schönes zu denken, was ihm aber einfach nicht gelingen wollte. Vor ihm lag vermutlich eine sehr lange Zeit als schwer kranker Patient und der Mut wollte ihn so langsam verlassen.


    Semir hatte eigentlich gleich nach dem Frühstück zu seinem Freund fahren wollen, dann hatte aber die Tierklinik, wo er natürlich seine Handynummer hinterlassen hatte, bei ihm angerufen. „Herr Gerkhan-wir müssten jetzt einmal so langsam wissen, wie es mit Jerry weiter gehen soll. Er ist ein sehr lieber Hund und zügig auf dem Wege der Besserung. Sie haben ja bereits gesagt, dass er in sein altes Zuhause nicht zurück kann-und da würden wir ihn auch nicht herausgeben. Wenn ein Besitzer seinen eigenen Hund dermaßen schwer verletzt, würden wir immer die Behörden einschalten, wenn der die Herausgabe fordert. Allerdings kommt er dann ins Tierheim und nachdem sie ja den Behandlungsvertrag unterschrieben und ihn auch abgegeben haben, können wir ihn-nur so als kleiner Tipp- wenn sie die Rechnung begleichen, ihnen aushändigen, denn eigentlich wissen wir offiziell ja gar nicht, wem der Hund nun wirklich gehört!“, teilte ihm der behandelnde Tierarzt am Telefon mit.


    Semir versuchte nun mit Andrea, die heute frei hatte, zu verhandeln, ob sie sich nicht vorstellen könnte, ihr weiteres Leben mit einem Schäferhund zu teilen, aber wie so oft kamen sie auf dasselbe Ergebnis. „Semir-ich will jetzt keinen Hund und schon gar keinen großen! Nicht dass ich Hunde nicht mag, aber du weißt ja, dass die meiste Arbeit dann an mir hängen bleibt. Du verbringst so viele Stunden im Dienst, die paar Mal am Wochenende, wenn du mit ihm gehen würdest, wären bei weitem nicht ausreichend. So einen großen Hund kann man auch nicht mit den Kindern Gassi schicken und wenn der zudem als Schutzhund ausgebildet ist, hätte ich da nie ein gutes Gefühl dabei. Wenn das so ein ganz Kleiner wäre, wie ihn unsere Nachbarn haben, könnten wir ja vielleicht nochmals drüber reden!“, spielte sie auf den Malteser an, den die Leute im Nebenhaus kürzlich als Welpen gekauft hatten. „So ne Fußhupe-niemals, das ist doch kein richtiger Hund!“, empörte sich daraufhin Semir und so teilte ihm Andrea nun unmissverständlich mit, dass er sich gerne einen Hund zu legen dürfe-wenn er mal in Rente war!

    So war Semir ziemlich deprimiert, als er zur Klinik fuhr, um den prachtvollen Schäferhund zu besuchen. Der lag in einer kleinen Krankenbox, erhob sich aber sofort schwanzwedelnd, als Semir ihn ansprach. Er führte ihn dann auf dem Gelände der Klinik ein wenig an der Leine herum und ihm brach es fast das Herz, als der kluge Hund, der ihn sofort am Geruch erkannt hatte, ihn aus ruhigen dunklen Augen ansah. „Ach Mann-ich würde dir so gerne ein Zuhause bieten, aber es geht nicht!“, erzählte er ihm und kraulte ihn hinter den Ohren und am Bauch, was der Rüde sichtlich genoss. „Aber ich verspreche dir-ich suche dir einen guten Platz und bis dahin komme ich jeden Tag zu dir!“, teilte der türkische Polizist dann dem Tier mit und besprach das dann auch noch mit dem leitenden Tierarzt. „Bis Ende der Woche kann er noch bei uns bleiben, aber dann müssen wir eine Lösung haben, ansonsten geht er ins Tierheim und ich sage ihnen gleich-bis die Behörden die Eigentumsverhältnisse geklärt haben und der Hund dann von dort vermittelt werden kann, vergehen Monate. Darum habe ich sie auch angerufen, dem prachtvollen und charakterlich einwandfreien Tier zuliebe, sollten wir eine andere Lösung finden. Die Rechnung ist auch nicht sonderlich hoch-wir haben die Wunde gereinigt, ihm ein paar Infusionen und Schmerzmittel gegeben und ihn geröntgt, aber ansonsten hat die Natur sich selber beholfen!“, sagte der Arzt und Semir versprach, sich bis Ende der Woche etwas zu überlegen.


    So fuhr er von der Klinik aus direkt zu Hartmut in die KTU „Einstein-du wolltest doch immer schon einen Hund haben-sieh mal, der könnte mit dir zur Arbeit kommen und hier brav in der Ecke liegen, während du am PC sitzt!“, versuchte er ihm einzureden, aber der Rothaarige schüttelte entschieden den Kopf. „In meinem ganzen Leben wollte ich noch keinen Hund haben. Mich hat als Kind mal einer gebissen und ich muss mich jedes Mal überwinden, wenn ich zu Ben fahre und dieser große graue Riesenköter mich begrüßt, obwohl der ja nun wirklich nichts macht!“, teilte er ihm mit und Semir zog nun unverrichteter Dinge weiter.
    In der PASt versuchte er es ein zweites Mal: „Dieter-so lange dauert es ja nun gar nicht mehr, bis du in Rente gehst. Du möchtest doch sicher gesund und aktiv bleiben, dich jeden Tag an der frischen Luft aufhalten und einen Garten hättest du auch!“, begann er seine Rede und Bonrath sah ihn misstrauisch an. „Auf was willst du raus?“, fühlte er Semir dann auf den Zahn, aber als der nun mit seinem Anliegen rausrückte, schüttelte er heftig den Kopf. „Nein Semir-wenn ich in Pension bin möchte ich reisen-vor Hotte´s Tod wollten wir gemeinsam aufs Schiff, das er sich gekauft hat und stell dir vor-er hat mir das Boot vermacht, als wenn er wissen würde, was geschieht. Ich werde eine große Reise machen-in Memoriam Horst Herzberger, ich weiß noch nicht, wer mit mir auf Tour geht, aber mit Sicherheit kein Hund!“, beschied er seinem Freund und so machte sich Semir nun schweren Herzens auf den Weg zum Krankenhaus. Es musste einfach ein neues Heim für Jerry finden-das war er ihm schuldig!

  • Als Semir bei Ben ankam, bemerkte er sofort die düstere Stimmung bei seinem Freund. „Was ist los und wie geht’s dir heute?“, wollte er daher wissen. Ben schwieg erst eine Weile, aber dann brach es aus ihm heraus und auch wenn er zwischendrin lange Pausen machen musste, weil ihn sogar das Sprechen anstrengte, erzählte er von der Visite, von dem Gespräch zwischen der Schwester und dem Krankenpflegeschüler, das er voll auf sich gemünzt hatte und von seiner Angst vor einem monatelangen Krankenhausaufenthalt, den er vielleicht letztendlich doch nicht überleben würde. Als er schwer atmend geendet hatte und sein Augen schloss, bekam er aus heiterem Himmel wieder einen Stromstoß und diesmal schrie er seinen Schmerz und seine Verzweiflung heraus, so dass die halbe Station erschrocken zusammen lief. „Ich halte das nicht mehr aus!“, weinte er, als es vorbei war und der Stationsarzt spritzte ihm nun höchstpersönlich eine größere Dosis Morphin und Tavor, die ihn weg beamte, ob er es wollte oder nicht. Semir war erschrocken und erschüttert und als Sarah wenig später anrief und ihren Mann sprechen wollte, beschied man ihr, dass das im Moment nicht möglich wäre, was sie in große Sorge versetzte. „Sein Freund ist aber bei ihm und wacht neben seinem Bett!“, erzählte die Schwester, die Ben vormittags betreute, aber noch nicht sehr lange auf der Intensivstation arbeitete und Sarah deshalb auch nicht kannte.


    Sarah legte bedrückt das Telefon wieder zurück in die Station. Sie hätte wenigstens gerne mit Semir gesprochen, aber der hatte mit dem Handy ja keine Verbindung innerhalb des Stahlbetons und ihre junge Kollegin, die ihr leider unbekannt war, hatte zügig den Hörer aufgelegt. Allerdings machte sie sich nicht allzu große Sorgen-wenn etwas Schlimmes wäre, hätte man sie sicher verständigt. Dabei hätte sie nur positive Neuigkeiten für Ben gehabt. Die Kinder waren bereits wieder topfit und futterten was das Zeug hielt, sie selber hatte sich anscheinend nicht angesteckt, denn ansonsten hätte sie fast mit Sicherheit bereits erste Symptome gehabt und auch Hildegard war wieder halbwegs auf dem Damm und hatte ihr angeboten, ab dem morgigen Tag immer ein paar Stunden zu ihnen nach Hause zu kommen und auf die Kleinen aufzupassen, damit Sarah Ben wenigstens besuchen konnte. „Tim und Mia-Sophie den ganzen Tag zu betreuen, traue ich mir noch nicht zu-auch wenn ich es immer nicht wahrhaben will, ich bin nicht mehr die Jüngste und stecke solche Infektionen nicht so weg wie früher. Aber so zwei oder drei Stunden geht schon, dann bringe ich auch Frederik mit, der kann derweil mit Lucky im Garten spielen, dann sind die Hunde ebenfalls versorgt!“, hatte sie Sarah ihren Vorschlag unterbreitet und die hatte freudig zugestimmt.

    Dann beschloss Sarah, es am Nachmittag mit dem Telefonieren wieder zu versuchen, wenn Anita da war-mit der konnte man wenigstens reden und vielleicht machte Ben auch einfach nur ein Nickerchen. Während die Kinder sich freiwillig zu einem ausgiebigen Mittagsschlaf hinlegten, begann Sarah wie eine Wilde mit Desinfektionsmittel zu putzen, etwas was sie normalerweise nicht machte-aber bei Noroviren gab es andere Regeln. Außerdem würde sie, bevor sie Ben besuchte, noch duschen und sich komplett frisch anziehen. Sogar das Lenkrad und die Autositze reinigte sie und freute sich schon sehr auf den morgigen Tag, wenn sie endlich ihren Mann wieder sehen würde.


    In der Klinik hatte Semir´s Magen inzwischen laut und vernehmlich zu knurren begonnen und zwar so, dass es sogar die Schwester hörte, als sie Blutgase bei dem jungen Polizisten abnahm, der aber wie in Narkose da lag und davon nichts mit bekam. Es war aber auch Punkt zwölf-gerade die Zeit, zu der sie normalerweise nach einer Dönerbude, oder einem Imbiss Ausschau hielten, wenn Ben und er auf Streife waren-und der Magen seines jüngeren Freundes war da normalerweise sogar noch pünktlicher. „Gehen sie doch was essen-er wird noch eine ganze Weile schlafen. Er hat 2 mg Tavor bekommen und 3 mg Morphin, das wird ihn mindestens die nächsten zwei Stunden ausruhen lassen und das ist nur gut für ihn!“, sagte sie mit einem Lächeln und nach kurzer Überlegung erhob sich Semir. „Ich gehe dann mal in die Cafeteria, mache danach noch einen Besuch hier in der Klinik und dann komme ich wieder. Falls er inzwischen aufwacht, richten sie ihm bitte aus, dass ich noch nicht nach Hause gegangen, sondern bald wieder zurück bin!“, beauftragte er die Schwester und die versprach, das Ben zu erklären, falls er vorher wach würde, aber sie war sich ziemlich sicher, dass das nicht passieren würde.


    So machte sich Semir auf in die Cafeteria und traf dort zu seinem Erstaunen Natascha und Stefan, die sich gerade einen leckeren Capucchino genehmigten. „Wie ich das vermisst habe!“, lächelte die junge Frau, die zwar noch ein wenig blass war, aber ansonsten ganz normal aussah-vermutlich auch, weil sie jetzt eine Leggins und ein buntes T-Shirt trug-diese Krankenhaushemden zog wohl keiner auch nur eine Stunde länger an, als unbedingt nötig. Man hatte vor der Verlegung auf Normalstation auch ihren ZVK und den Blasenkatheter gezogen. Sie hatte nur für den Notfall einen abgestöpselten Venenverweilkatheter im Handrücken stecken, aber wenn die Laborwerte sich weiter verbesserten, würde sie Ende der Woche die Klinik verlassen dürfen. „Stefan´s Oma freut sich schon auf mich und sobald ich hier raus bin, stelle ich mich sofort wegen der Vorpraktikantenstelle im Kindergarten vor!“, berichtete sie und während Semir sich eine Kleinigkeit schmecken ließ, beobachtete er gerührt, wie liebevoll der junge Mann und Natascha miteinander umgingen. „Meine zwei Lebensretter an einem Tisch versammelt!“, fiel der nun ein und sie bedankte sich nochmals herzlich. „Ohne euch würde ich nicht hier sitzen-ich wünsche mir für meine Zukunft nichts mehr, als einfach ein ganz normales bürgerliches Leben mit geregelter Arbeit und später vielleicht auch mal einer Familie-ich denke meine Sturm- und Drangzeit ist vorbei!“, erklärte sie und als sie sich nun nach Jerry erkundigte, flog ein Schatten über Semir´s Gesicht.
    „Ich war heute bei ihm in der Tierklinik, ihm geht es schon wieder sehr gut und er soll Ende der Woche ebenfalls entlassen werden-ich weiß nur nicht wohin. Wenn ich nicht bald ein Plätzchen für ihn finde, kommt er ins Tierheim!“, berichtete er nun und jetzt wurde Natascha plötzlich ganz aufgeregt. „Der arme Hund-der hat ebenfalls versucht mich zu beschützen und wenn der Wanke nicht aufgehalten hätte, wären wir schon weg gewesen und der Verbrecher hätte mich im Rhein ertränkt, ohne dass es jemand mitgekriegt hätte. Der ist also sozusagen mein dritter Lebensretter-Stefan-das dürfen wir einfach nicht zulassen, dass er ins Tierheim kommt, das hat er nicht verdient, das ist so ein toller und hübscher Hund-und lieb noch dazu!“, ereiferte sie sich und wenig später saß der junge Mann, der heute frei hatte, bei Semir im Wagen und sie waren unterwegs zur Tierklinik.
    „Wenn Frauen sich etwas einbilden!“, grinste er und Semir konnte sich nun ein Lächeln nicht verkneifen. „Na da gewöhn dich nur beizeiten dran, das wird sich auch nie ändern-aber genau deshalb lieben wir sie ja so!“, philosophierte er nun und kurz darauf bogen sie in den Hof der Praxisklinik ein. „Guten Tag Herr Gerkhan-haben sie so Sehnsucht nach Jerry?“, fragte die junge Dame am Empfang und als Stefan wenig später bei dem Hund auf dem Boden saß und der ihm abwechselnd die Pfote reichte, seine Hand ableckte und sich an ihn schmiegte, war es um den jungen Mann geschehen. „Ich werde mit Oma reden! Sie und Opa hatten früher sogar mal einen Dackel-ich kann mich an den allerdings nicht mehr erinnern. Aber ein Bild von dem hängt immer noch im Hausflur, also denke ich, die wird nicht grundsätzlich gegen einen Hund eingestellt sein. Ich mache jetzt schnell ein paar Fotos von dem Hübschen und zeig sie ihr nachher“ sagt er, und wie als wenn Jerry wüsste, worum es ging, posierte er wie ein Model. Semir machte auch mit Stefan´s Handy noch ein paar Aufnahmen von den beiden beim Bäuchlein kratzen und Pfote geben-wenn das nicht das Herz einer alten Frau erwärmte, was dann! Anschließend fuhren sie wieder zurück zur Uniklinik und Stefan ging geradewegs zu Natascha aufs Zimmer, um ihr erst einmal die Fotos zu zeigen und sich dann mit U-Bahn und Straßenbahn auf den Weg zu seiner Großmutter zu machen.


    Semir ging inzwischen gut gelaunt zu seinem Freund, aber als er wenig später die Intensivstation betrat, gefror ihm fast das Blut in den Adern-was er hörte war Ben´s Stimme, die erst panisch um Hilfe schrie und dann gurgelnd erstarb.

  • Ben war nach seinem Ausraster und der darauf folgenden Ruhigstellung einfach eingeschlafen, ob er das wollte oder nicht-die Medikamente waren einfach stärker. Er war zwar nicht völlig weg, wie durch einen dichten Nebel vernahm er Stimmen und spürte auch Berührungen, aber es war ihm egal. Irgendwann, eine ganze Zeit später, befand er sich dann in einem unruhigen Traum. Er begann im Schlaf zu murmeln und sich ein wenig hin- und her- zu werfen, soweit es die körperliche Schwäche zuließ. Allerdings bemerkte das niemand. Die Intensivschwester, die ihn betreute, assistierte gerade bei der Notfallversorgung eines neu aufgenommenen Patienten, der Monitor zeigte keine Auffälligkeiten und so ging man davon aus, dass alles in Ordnung war.


    Ben durchlebte wirre Szenen aus seiner Vergangenheit, aber leider war keine einzige Schöne dabei, sondern es gab nur eine willkürliche Aneinanderreihung von Prügeln, Folterungen und Verfolgungsjagden-die aber immer gemeinsam hatten, dass er der Gejagte war. Sein Verstand war so vernebelt von dem Ganzen, dass er der Überzeugung war, gerade mit einem Taser gequält worden zu sein. Er stand mit freiem Oberkörper, nur mit Jeans bekleidet und die Arme über dem Kopf zusammen gebunden und an der Decke befestigt, in einem Raum und ein paar Verbrecher, die ihn geschnappt hatten, probierten aus ihm heraus zu pressen, was er wusste. Er war verprügelt worden und hatte versucht, sich seine Angst nicht anmerken zu lassen, indem er flotte Sprüche abließ, dabei wütete in seinen Eingeweiden die pure Panik. Der Verbrecher kam, den Taser drohend gezückt, nun langsam auf ihn zu, um ihn erneut zu schocken und Ben wusste nur eines-er musste sich mit aller Kraft wehren und dann abhauen, denn er konnte das nicht mehr aushalten. „Hey-wenn ich mit dir fertig bin, leuchten deine Eier im Dunkeln!“, höhnte sein Entführer. Diese Schmerzen würden ihm den Verstand rauben und deshalb nahm Ben seine ganze Energie zusammen, befreite seine Hände aus den Fesseln, riss sich die Stricke, mit denen man ihn gebunden hatte, ab und trat wild um sich. Er musste weg hier-nur weg! Die Angst hatte von ihm Besitz ergriffen und setzte ungeahnte Kräfte frei. Er war in seinem Alptraum gefangen und während er die Monitorkabel abriss, den ZVK aus seinem Hals zog und der arterielle Zugang aus seinem Unterarm flutschte, begann er laut und panisch um Hilfe zu schreien.

    Auf der Intensiv hielten die Ärzte und Pflegepersonen inne. Oh je-da tickte erneut jemand aus-mal sehen, welchem Kollegen man da zu Hilfe eilen musste. Meistens sedierte man den Patienten ab, wie vorhin diesen Ben Jäger, dem leider die unglückliche Kombination von implantiertem Defi und Herzunterstützungssystem immer wieder schmerzhafte Stromstöße bei vollem Bewusstsein bescherte und der deswegen einen kleinen Nervenzusammenbruch erlitten hatte, dann aber sofort eingeschlafen war. „Wer braucht was?“, rief der Intensivpfleger, während er schon den Medikamentenschrank aufriss und nach einer Ampulle Propofol griff. Das war das Beste um tobende Patienten augenblicklich schachmatt zu setzen, damit man sie dann in Narkose liegend, ordentlich fixieren konnte. In diesem Moment sah man dann auf dem Monitor an der Zentrale und auch in den anderen Patientenzimmern, wer da so schrie und den Alarm auslöste. Es war wieder der junge Polizist und wer konnte es ihm auch verdenken! „Ich kann grad nicht weg, schaut bitte mal jemand nach Herrn Jäger!“, rief seine betreuende Schwester, die steril gewaschen gerade einem der Ärzte assistierte, aber ihre Kollegen würden das schon machen-deswegen war man ja auf Intensiv ein Team.


    Der Pfleger mit der Propofolampulle und eine weitere Pflegekraft eilten in das Zimmer und trafen dort gleichzeitig mit Semir ein, der ausnahmsweise nicht geläutet hatte, weil die Schiebetür offen gestanden war und er sofort die Stimme seines Freundes erkannt hatte. „Um Himmels Willen-wenn er aufsteht, reißt er sich die Schläuche der ECMO heraus und das kann seinen sofortigen Tod durch Verbluten bedeuten!“, rief der Pfleger entsetzt und zog, ebenso wie seine Kollegin so rasch er konnte Einmalhandschuhe und eine Plastikschürze an, denn aktuell war schon der ganze Patient voller Blut und Eigenschutz ging in der Medizin immer noch vor Patientenwohl. Semir allerdings war egal, ob er mit dem Blut seines Freundes in Berührung kam. So eklig das war, aber er konnte da jedes Gefühl unterdrücken und außerdem war er sich völlig sicher, dass er sich bei seinem Partner nichts holen würde. So oft wie der schon medizinisch untersucht worden war, konnte er kein HIV, keine Hepatitis oder eine andere ansteckende und durch Blut übertragbare Krankheit haben und sogar wenn es so gewesen wäre-Semir wäre es egal gewesen! Hier ging es um das Leben seines Freundes und so warf er sich mit dem Mut der Verzweiflung auf den, packte seine beiden Handgelenke und fixierte ihn mit aller Kraft auf dem Bett. Überall war Blut, plötzlich alarmierte die ECMO, der Kardiotechniker rannte ebenfalls dazu und Ben verdrehte die Augen.
    „Oh Gott, was ist geschehen-lebt er noch?“, keuchte Semir, der plötzlich merkte, wie sein Freund, der gerade noch panisch gegen ihn gekämpft hatte, erschlaffte.


    Sarah sah auf die Uhr. In Kürze müsste die Übergabe laufen und später würde sie erneut auf der Intensiv anrufen. Gerade schliefen die Kinder noch, aber sobald sie wach waren, würde sie ihnen Banane, Tee und Zwieback geben und dann mit ihnen ein wenig raus gehen. Heute war ein herrlicher Frühlingstag und wenn sie Mia-Sophie in den Kinderwagen setzte, konnten sie Lucky mitnehmen und ein wenig durch den Ort laufen. Sie brauchte frisches Brot und Milch und Gott sei Dank existierte hier noch ein kleiner Tante- Emma-Laden, in dem man alles bekam, was für den täglichen Bedarf notwendig war. Die Kinder gingen da sehr gerne mit, denn sie bekamen immer eine Süßigkeit von der Besitzerin geschenkt und Sarah erinnerte sich immer an ihre Kindheit, wenn Tim mit großen Augen auf das Glas mit den Gummibärchen sah. Auch bei dem Bäcker bei ihnen zuhause um die Ecke war das so gewesen, dass man was kriegte und darum machten dort alle Kinder gerne Besorgungen. Kaum hatte sie in diesen Erinnerungen geschwelgt, hatte sie sich traurig daran erinnert, dass Ben so etwas laut eigener Aussage nie erlebt hatte. In der hochherrschaftlichen Villengegend in Düsseldorf, in der er aufgewachsen war, gab es keinen normalen Bäcker, nur eine hochherrschaftliche Konditorei und außerdem war er als Kind auch nie mit seinen Eltern beim Einkaufen gewesen. Das hatte die Haushälterin erledigt und sobald er nur ein wenig älter gewesen war, war er ins Internat gekommen und auch dort existierte sowas einfach nicht. Darum war es ihr sehr wichtig, dass ihre Kinder diese Normalität erlebten, überall hin mitgenommen wurden und sich auch zu benehmen wussten. Sie sollten trotz des Geldes, das ihr Vater besaß, einfach völlig normal aufwachsen, Tim ging ja auch in den regulären Kindergarten im Ort, hatte die Nachbarskinder zu Freunden und würde auch in der Regelschule eingeschult werden. Wie alle Kinder hier würde er mit dem Bus fahren, wenn er schulpflichtig war, zur Haltestelle auch laufen und sie würde nicht zu diesen Übermamis gehören, die ihre Kinder jeden Tag mit dem Auto zur Schule brachten.
    Nun hörte sie Mia-Sophie fröhlich vor sich hin singen, die Kleine war hoch musikalisch-ganz wie der Papa-und mit einem Lächeln holte Sarah ihre bezaubernde Tochter, wechselte noch deren Windel-auch der wehe Popo heilte Gott sei Dank-und als dann auch noch Tim dazu stieß, machten sie sich fertig, schnappten sich Luckys Leine und gingen gemeinsam los. Das Handy lag achtlos auf dem Küchentisch, in dem ganzen Trubel vergaß Sarah völlig das einzustecken und als sie draußen die Vögel singen hörte, genoss sie den schönen Tag und hoffte einfach, dass alles gut werden würde.

  • „Verdammt noch mal was ist los!!“, schrie Semir, als niemand ihm Antwort gab, aber Ben unter ihm sich nicht mehr regte. Eines war klar-der war im Moment keine Gefahr mehr für sich selber und Semir verstand auch gar nicht, was genau hier abging-er hatte nur seinen gesunden Menschenverstand eingeschaltet und das getan, was ihm am Vernünftigsten erschien, nämlich seinen Freund daran zu hindern aufzustehen und die restlichen Schläuche heraus zu reißen. Aber war ihm das auch gelungen? In diesem Moment bekam Semir einen Stromschlag, als wenn er an ein Weidezaungerät gefasst hätte und das ließ ihn erschrocken aufschreien und zurück zucken. Nun war ihm klar, warum Ben so panisch reagierte-das war ja furchtbar! Warmes Blut bedeckte seine Vorderseite und Hände und hatte als Leiter gedient. Der Stationsarzt der inzwischen ebenfalls ins Zimmer gehetzt war, rief ihm allerdings beruhigend zu: „Keine Angst-ihnen droht durch den Defi ihres Freundes keine Gefahr, aber bitte gehen sie jetzt zur Seite, damit wir an ihn ran können!“, was Semir dann auch machte.


    Als der türkische Polizist sich jetzt langsam von seinem Freund löste, erschauerte er. Es sah hier aus wie in einem Schlachthaus-konnte ein Mensch zum zweiten Mal innerhalb kurzer Zeit so einen Blutverlust überstehen und was war eigentlich genau passiert? Er hatte ja schon gedacht, dass die Situation im Keller völlig aussichtslos wäre, war dort aber eines Besseren belehrt worden. Aber jetzt waren die Profis gefragt und die begannen jetzt auch, angstvoll beobachtet von dem kleinen Türken, mit ihrer Arbeit.


    Eine Schwester klebte in Windeseile frische Elektroden für die EKG-Ableitung auf Ben´s Brust, Arme und Beine und schloss die Kabel an. Das Gesicht ihres Patienten war wächsern mit einem Ton ins Graue, der Muskeltonus schlaff und während der Kardiotechniker fluchend versuchte, heraus zu finden, was der Grund für den lauten Alarmton der ECMO war, begann der Pfleger, nachdem man das Reabrett unter den jungen Mann geschoben hatte, bereits mit Herzdruckmassage. Eine weitere Schwester hatte den Notfallwagen gebracht und beatmete den jungen Polizisten nun mit der Maske, denn auf dem inzwischen wieder aussagekräftigen Monitor war zu erkennen, dass das Herz nicht richtig arbeitete, sondern nur gelegentlich einzelne Kontraktionen im Wechsel mit Kammerflimmern zu sehen waren. „Au-verdammt-jetzt hats mir auch gerade eine verbraten!“, schimpfte der Pfleger, der nun ebenfalls, trotz seiner isolierenden Handschuhe einen Stromschlag bekommen und kurz inne gehalten hatte, um aber dann unverdrossen weiter zu machen.


    Der Arzt hatte inzwischen das Laken von Ben gezogen, begutachtete nun die beiden Leisten und kontrollierte die dicken Zuleitungen zur Herz-Lungen-Maschine, aber noch steckten sie in Ben-ob sie allerdings noch im Gefäß waren, wusste im Augenblick keiner. Außen waren sie jedenfalls nicht beschädigt und als nun die Schwester, die den jungen Mann beatmete, nebenbei eine Kompresse auf seine Halsseite drückte, wo er den ZVK samt Annaht heraus gerissen hatte, man einen Druckverband auf den Unterarm machte, wo aus der Arterieneinstichstelle das Blut in Strömen gelaufen war, man am Bauch nach dem Wegwischen des Blutes den abgerissenen Verband und die ebenfalls mitsamt Annaht ausgerissene Drainage entdeckte und den Katheter noch mit prall gefülltem Blockungsballon auf dem Boden liegen sah, war klar, wo das ganze Blut herkam. Immerhin lief inzwischen ja ein niedrig dosierter Heparinperfusor, um die gefürchteten Thrombosen und Embolien während des ECMO-Betriebs zu verhindern und sorgte so für eine verstärkte Blutungsneigung. Aber warum funktionierte die ECMO nicht und warum war Ben nach seinem Ausraster kollabiert?


    Der Arzt staute einen Arm und suchte dort nach einer Vene, damit man Ben kreislaufstützende Medikamente verabreichen konnte. Bald hatte er sie gefunden, nahm zuvor noch kurz Blut aus dem nun liegenden Zugang ab, damit man wusste, wo man stand und spritzte dann sofort eine Ampulle Suprarenin-also pures Adrenalin, das Notfallmedikament schlechthin, hinein. Für einen kurzen Moment begann das Herz wieder zwar schnell, aber geregelt zu schlagen und während der Pfleger die Reanimation für den Moment einstellte, kam Ben sogar für einen Augenblick kurz zu sich und musterte mit Panik im Blick die vielen Menschen, die an ihm herum machten, ohne zu begreifen, was los war, aber dann versagte das Herz von Neuem und nun übernahm eine Schwester die Herzdruckmassage-sowas war nämlich saumäßig anstrengend und der Pfleger rang selber schon mühsam nach Atem.


    „Die ECMO zeigt Druckalarm an-ich vermute, einer der dicklumigen Katheter hat sich an der Gefäßwand angesaugt. Ich werde die Maschine zurücksetzen und einen Neustart versuchen!“, vermeldete nun der Kardiotechniker und wieder unterbrach man für einen Augenblick die Herzdruckmassage, die Kreiselpumpe versuchte sich zu drehen, aber anstatt einer geregelten Funktion, kam erneut der schrille Alarmton. Wieder drückte die Schwester-entsetzt beobachtet von dem geschockten Semir, der nur betete, dass Ben den verzweifelten Kampf um sein Leben nicht verlor- und jetzt kam Schwester Anita zur Türe herein, die schon ein wenig vor Schichtbeginn erschienen war, denn sie kam mit dem Auto zur Arbeit und plante immer einen großzügigen Zeitpuffer ein. Lieber trank man gemütlich vor Dienstbeginn eine zweite Tasse Kaffee, als zu spät zu kommen, aber auch wenn sie offiziell noch gar nicht im Dienst war, bei einer laufenden Rea konnte sie sich doch nicht den Hintern im Stationszimmer platt sitzen und außerdem hatte sie am Zentralmonitor gesehen, dass es um ihren augenblicklichen Lieblingspatienten ging.


    Mit geübtem Blick hatte sie die Situation erfasst und sogar fast automatisch die Blutmenge berechnet, die Ben wohl verloren hatte. Das war nicht dramatisch-Blut sah immer nach wesentlich mehr aus und das war vielleicht ein viertel bis maximal ein halber Liter, obwohl alle, die an dem jungen Mann arbeiteten aussahen wie Fleischer bei der Arbeit. Der Kardiotechniker war einer der Neuen, der noch nicht so viel Erfahrung hatte, der Intensivarzt, der gerade seine Arbeit machte, war zwar bereits ausgebildeter Internist, aber noch nicht lange bei ihnen und deshalb im Umgang mit der ECMO nicht geübt und ihre Kollegen reanimierten zwar professionell, warteten aber auf die Ansage der beiden Fachleute Arzt und Techniker, was sie weiter machen sollten.


    Ohne den Arzt bloß zu stellen, hatte sie schnell Handschuhe angezogen und sogar die Zeit, Semir mit einem aufmunternden Lächeln zu bedenken, der gerade schreckliche Minuten durchlebte und außerdem ebenfalls voller Blut war-aber das würde sie später herausfinden, was eigentlich geschehen war. Jetzt musste man erst die ECMO wieder zum Laufen bringen und nachdem die von ihr persönlich am meisten gefürchtete Komplikation, nämlich der Abriss der Zuleitungen nicht vorlag-das überlebten nämlich die meisten Patienten nicht- hatte sich vermutlich der Schlauch auf der venösen Seite angesaugt und konnte so kein Blut mehr aus dem Organismus entnehmen und so das Herz unterstützen, das aber durch die schwere Myokarditis im Augenblick einfach noch zu schwach war, um den Kreislauf alleine aufrecht zu erhalten. Ben lag auch ganz merkwürdig verdreht da, als wenn er um sich getreten hätte und so zog sie erst einmal seine beiden Beine gerade nach unten, stellte das Bett komplett flach und nahm alle Lagerungskissen heraus. Dann übte sie mechanisch einen leichten Zug auf den venösen Schenkel aus und forderte dann den Kardiotechniker auf: „Jetzt nochmal starten!“, und kaum hatte der das gemacht, lief die Maschine wieder.


    Alle Anwesenden wären jetzt am liebsten in lauten Jubel ausgebrochen und als nur eine Minute später der erfahrene Kardiologe ins Zimmer stürzte, der gerade den neuen Patienten versorgt und just in diesem Augenblick nicht weg gekonnt hatte, begann Ben sich bereits wieder zu regen und verwirrt um sich zu blicken. „Gehen sie zu ihrem Freund-so dass er sie sieht!“, forderte Anita jetzt Semir auf und wie in Trance trat der in Ben´s Gesichtsfeld. Ohne zu zögern machte Anita nun die beiden Hand- und Fußgelenke des jungen Polizisten fest, redete ihm dabei beruhigend zu und so langsam begann Ben zu begreifen, dass hier nicht Verbrecher um ihn herum waren, die ihn foltern wollten, sondern er sich im Krankenhaus befand und außerdem sein Freund Semir auf ihn aufpasste.

  • Der Arzt legte rasch einen Zugang an Ben´s Unterarm, damit man wenigstens die allerwichtigsten Medikamente verabreichen konnte, man warf schnell ein Laken über den blutigen Patienten, bat die Putzfrau den Boden zu wischen, der lauter blutige Fußabdrücke aufwies und nach einem Blick auf die Uhr stellte Anita fest: „So Herr Gerkhan-wir lassen sie jetzt kurz mit ihrem Freund alleine und machen Übergabe, danach werde ich die Schweinerei hier beseitigen und dann müssen wir sie leider wieder verkabeln, Herr Jäger!“, beschrieb sie, was in nächster Zeit auf den jungen Polizisten zukommen würde. Jeder der den Raum verließ, reinigte und desinfizierte seine Schuhsohlen mit den überall herum stehenden, fertigen Flächendesinfektionsmitteltüchern, benutzte danach den Desinfektionsmittelspender an der Schiebetür und kurze Zeit später waren die Freunde alleine.

    Ben hatte eine Sauerstoffbrille in der Nase, die Stellen, wo er etwas heraus gerissen hatte, waren mit dicken sterilen Kompressenpacks provisorisch verbunden und man hatte das Bettkopfteil wieder ein kleines bisschen höher gestellt. Allerdings waren nach wie vor seine Extremitäten fest gebunden, aber im Moment war er einfach zu erschöpft und fertig, als dass ihn das maßgeblich gestört hätte. So ganz fit im Kopf war er immer noch nicht, die letzten Reste des Beruhigungsmittels benebelten sein Hirn, aber eines war ihm klar geworden-er war weder auf der Flucht, noch wollten ihn Verbrecher foltern, aber seine ganz spezielle Situation verbesserte sich dadurch kein bisschen-es war egal, ob einem ein Taser oder ein implantierter Defi einen Stromschlag verpasste-es tat immer gleich weh!
    Semir, dessen Shirt, Hände und Gesicht immer noch Blutspuren aufwiesen-Ben´s Blut- hatte sich einen Stuhl näher gezogen und so neben ihm Platz genommen, dass der Jüngere sein Gesicht sehen konnte. Er wollte nach der Hand seines Freundes greifen, aber dann verharrte er einen Moment, bevor er dann doch entschlossen zupackte. Sein Instinkt hatte ihn gerade gewarnt: „Vorsicht, nicht anfassen-das kann sehr weh tun“, wie Rinder oder Pferde eben einen Heidenrespekt vor einem Weidezaun hatten, wenn sie kurz zuvor einen Stromschlag erhalten hatten. Aber dann rief Semir sich sozusagen selber innerlich zur Ordnung. Es war ihm nichts passiert und ihm war vorhin erklärt worden, dass der elektrische Impuls zwar unangenehm und schmerzhaft für ihn gewesen war, aber keinerlei Gefahr darstellte. „Die Spannung ist viel zu schwach, als dass sie anderswo als genau vor Ort im Herzen des Patienten etwas bewirkt!“, hatte der Arzt zu ihm gesagt, aber nun hatte er am eigenen Leib erfahren, was Ben mehrmals täglich durchstehen musste und er erschauerte, wenn er nur daran dachte, was sein Partner aktuell mitmachte. Außerdem würde im Normalfall ja der Monitor vorher Alarm schlagen und dann hatte er noch Zeit genug, Ben los zu lassen. Und so hielt er mit seiner warmen Hand die seines Freundes, die nach den durch gestandenen Strapazen ganz kalt war und nach einer Weile schloss der getröstet die Augen. Es tat gut, nicht alleine zu sein.


    Anita hatte nach der allgemeinen Übergabe im Stationszimmer erst ihre beiden anderen Patienten am Bett übernommen. Bei Ben waren sie ja gerade gewesen, da machten sie und die übergebende Schwester anhand der Patientenkurve draußen Übergabe, um ihm noch ein wenig Zeit zum Erholen zu lassen. Der Stationsarzt hatte bestimmt, dass ein junger Kollege den neuen ZVK und den frischen arteriellen Zugang zu Übungszwecken legen sollte. Den Blasenkatheter würde Schwester Anita erneuern und ihren jungen Patienten auch von dem ganzen Blut befreien und das Bett beziehen, aber zuvor sollte sie vielleicht noch kurz Sarah Bescheid sagen. Sie hatte der versprochen, ihr alles mit zu teilen und es war ja Gott sei Dank auch gut ausgegangen. Allerdings erreichte sie sie weder auf dem Handy noch auf dem Festnetztelefon und so legte sie schulterzuckend den Hörer wieder auf.


    „Mir ist gerade eingefallen-hoffentlich waren der ZVK und die Drainage vollständig-nicht dass wir da noch Reste davon aus ihm rausholen müssten-gerade beim ZVK wäre das extrem unangenehm und gefährlich!“, hatte es gerade den jungen Arzt wie ein Blitz durchzuckt und er sah sich schon seinen Patienten von oben bis unten durch röntgen, um zunächst die abgerissenen Teile zu suchen und dann je nach Lokalisation eine Strategie zur Entfernung zu finden. Beim ZVK würde das auf einen erneuten Herzkatheter herauslaufen und im Bauch eventuell auf eine Laparotomie, was auch wegen der damit verbundenen Transporte und Narkose wieder sehr gefährlich für den Patienten werden konnte, aber Anita konnte den Arzt beruhigen. „Das war das Erste, was ich nachgeschaut habe, bevor ich die Infusionen und den anderen Kladderadatsch in den Müll geworfen habe. Er hat ganze Arbeit geleistet und den Zentralen, die Arterie und auch die Drainage komplett mitsamt Annaht entfernt. Das blutet jetzt zwar ein bisschen mehr, aber besser so als anders!“, teilte sie dem Doktor mit und schüttelte innerlich den Kopf. Wenn dem das jetzt erst einfiel, wo der Müllsack mit den ganzen blutigen Dingen vielleicht bereits entsorgt war, war er ja früh dran. Sowas lernte eine Schwesternschülerin im ersten Jahr und weder sie noch vermutlich der Arzt hatten Lust, den blutigen Inhalt eines Müllsacks in Schutzkleidung auf einem Tuch am Boden auszubreiten, um nach diesen Dingen zu fahnden. Gerade im OP kam sowas trotz aller Vorsichtsmaßnahmen gelegentlich vor, wenn die OP-Schwester noch vor dem Verschluss des Bauches oder Brustkorbs eine Klemme oder ein Bauchtuch vermisste und man dann intensiv danach suchte, aber das wurde eigentlich immer irgendwo gefunden und sie persönlich hatte es noch nie erlebt, dass das dann im Patienten war.


    Allerdings, erinnerte sie sich zurück, hatten sich Ben und Sarah vor etwa fünf oder sechs Jahren genau wegen so eines Zwischenfalls hier auf der Station kennen gelernt, als bei Ben das abgerissene oder abgeschnittene Ende eines ZVK mittels Herzkatheter entfernt worden war. Aber das war auch das einzige Mal gewesen, wo so eine Sache noch einen positiven Effekt gehabt hatte. „Sie müssen sich keine Sorgen machen, in diesem Fall ist das folgenlos abgelaufen, aber merken sie es sich fürs nächste Mal, da sofort nach zu schauen-sowas liegt auch in der ärztlichen Verantwortung!“, bekam der Arzt sozusagen durch die Blume noch eine kleine Rüge, aber von Schwester Anita konnte er sie annehmen, die ritt da nicht darauf herum und er wusste jetzt genau-in Zukunft würde er daran denken!


    Sarah war nach einem wundervollen Spaziergang bei strahlendem Sonnenschein mit den Kindern und dem Hund wieder zurück. Tim war am Hinweg brav gelaufen, aber am Rückweg merkte man doch, dass er noch ein wenig schwach war, aber genau zu diesem Zweck hatten sie ein Mitfahrbrett am Kinderwagen montiert. Sie besaßen sowieso mehrere Kinderkarren-ein Dreirad fürs Gelände das Ben am liebsten nahm und das sie schon gleich nach Tim´s Geburt erstanden hatten. Das war sozusagen das Geländefahrzeug mit speziellen Federn und sehr wendig. Damit konnte man sich auch abseits befestigter Wege fort bewegen und Ben nahm das, um mit den Kindern bergauf und bergab joggen zu gehen. Sie allerdings bevorzugte das Fahrzeug im Retrolook, das eben eine Mitfahrgelegenheit für Tim bot und durch seine vier Räder perfekt auf befestigten Wegen zu rangieren war. Als sie den Wagen genommen hatte, der in der Remise neben dem Geländegängigen stand, hatte es ihr erneut einen Stich versetzt. Ob Ben jemals wieder kräftig genug sein würde, um den zu schieben? Aber sogar wenn das der Fall sein würde-vermutlich würde Mia-Sophie keinen Kinderwagen mehr brauchen, bis Ben wieder gesund war. Als sie dann ins Haus ging, sah sie plötzlich ihr Handy auf dem Küchentisch liegen, von dem sie angenommen hatte, es befände sich in ihrer Hosentasche und gleichzeitig bemerkte sie das Festnetztelefon blinken-oh Gott-die Nummer des Krankenhauses. Erst hörte sie die Mailbox ab, aber da war keine Nachricht drauf und dann wählte sie mit zitternden Fingern die Nummer der Intensivstation-um Himmels Willen, was war geschehen?


    Schwester Anita hatte derweil in aller Ruhe erst alles zum Katheterlegen vorbereitet und dann die komplette Infusionstherapie mit allen Leitungen, Hahnenbänken und Perfusoren frisch aufgezogen. Wenn man einen neuen ZVK legte, wurde immer ein sogenannter Systemwechsel mit gemacht, um keine Keime vom alten auf den neuen zentralen Zugang zu übertragen. Das Zubehör zum Arterienlegen befand sich im Eingriffswagen und nachdem sie mit dem Arzt ausgemacht hatte, dass der sich in etwa einer halben Stunde bereit halten würde, versorgte Anita erst ihre beiden anderen Patienten und fuhr dann den ganzen Aufbau auf einem kleinen Wagen aus Edelstahl ins Patientenzimmer. „Herr Jäger-ich möchte ihnen jetzt zunächst einen neuen Blasenkatheter legen und werde sie dann erst einmal waschen und das Bett beziehen. Danach kommt der Arzt und sie bekommen von ihm einen neuen ZVK und einen frischen arteriellen Zugang-Herr Gerkhan-würden sie bitte draußen warten?“, bat sie freundlich, aber Ben schüttelte heftig den Kopf. „Er soll dableiben!“, bestimmte er und Anita nahm das gleichmütig zur Kenntnis. Jungs genierten sich meistens weniger voreinander als Frauen und ihr sollte es Recht sein-der kleine Türke würde ihr vermutlich sogar zur Hand gehen, wie sie ihn kennen gelernt hatte.

    Kurz überlegte sie, aber dann machte sie als Erstes Ben´s Arme und Beine los. „Ich denke, sie sind inzwischen wieder wach genug, um keinen Blödsinn mehr zu machen!“, bemerkte sie und Ben sah sie dankbar an. Er hatte die Fesselung hingenommen, aber angenehm war das natürlich nicht gewesen und inzwischen waren die Medikamente in seinem Organismus, die seinen Verstand vernebelt hatten, auch ziemlich abgebaut, was allerdings auch bedeutete, dass die Schmerzen wieder gekommen waren. Zusätzlich zu den frischen Wunden, die er sich zugefügt hatte, tat sein Brustkorb von der Reanimation weh, der Bauch zwickte und sein Tiefparterre brannte wie das Höllenfeuer. „Oh Gott-muss das denn sein?“, fragte er verzagt, als Anita, die eine Plastikschürze und Einmalhandschuhe angezogen hatte, seinen Unterleib aufdeckte und ihn dort erst einmal mit ein paar Einmalwaschlappen vom Blut befreite. „Doch das muss sein, Herr Jäger-erstens müssen wir sie bilanzieren und die Nierenfunktion beobachten und das geht nur mit einer externen Harnableitung und außerdem hätten sie vermutlich massive Probleme damit, normal zu pinkeln, weil erfahrungsgemäß die Harnröhre anschwillt und ein wenig einreißt, wenn man einen geblockten Katheterballon da durchzerrt. So tuts einmal weh und dann ist Ruhe!“, bemerkte sie gleichmütig, während sie schon geschickt die sterilen Handschuhe anzog, das Steriltuch über ihn breitete und das betäubende Gleitgel in die Harnröhre einspritzte. Man merkte, dass die Schwester sowas schon tausendfach gemacht hatte und das sehr professionell und unaufgeregt erledigte. Auch wenn sie eine Frau war, genierte sich Ben kaum, allerdings tat es trotz Betäubungsgel kurz weh und er keuchte auf, als der Katheter eingeführt wurde. Semir, der die ganze Zeit das Gesicht seines Freundes beobachtet hatte, verstärkte den Druck seiner Hand und dann war es auch schon vorbei.

    Nachdem Anita die sterilen Handschuhe ausgezogen hatte, holte sie eine Waschschüssel und frische Wäsche aus dem Schrank und begann jetzt-unterstützt von Semir- das ganze Blut von ihrem Patienten abzuwaschen. Sie erneuerte auch die Verbände und die Blutungen hatten fast völlig aufgehört. „So leid es mir tut, aber das haben sie sich selber zuzuschreiben, wenn wir sie jetzt noch ein bisschen plagen müssen!“, bemerkte sie kurz, aber dann befragte sie ihn und Semir ein wenig zu ihrem Beruf und wenn Ben auch sehr schwach war, man merkte aus seinen Erzählungen, dass er mit Leib und Seele bei der Autobahnpolizei war. Als das Bett frisch bezogen war und sie die kleinen Blutspritzer am Gitter und am Nachtkästchen ebenfalls noch entdeckt und mit Desinfektionstüchern beseitigt hatte, sagte sie mit einem Lächeln zu Semir: „Der Einzige, der jetzt noch voller Blut ist sind sie-ich würde vorschlagen, ich gebe ihnen einfach ein blaues Oberteil, so wie es unsere Pfleger tragen, sie waschen sich auf der Personaltoilette und nehmen ihr blutiges Shirt zum Waschen mit nach Hause!“, befahl sie regelrecht und Semir nickte mit dem Kopf. „Widerstand ist bei ihnen sowieso zwecklos!“, sagte er dann mit einem kleinen Lächeln und die Schwester lächelte zurück. „Das sagt mein Mann auch immer!“, antwortete sie schlagfertig und Ben schloss jetzt erschöpft die Augen. Auch wenn er schon ein wenig Schiss vor dem hatte, was als Nächstes gemacht würde, aber insgesamt fühlte er sich aufgehoben und fast ein wenig zuhause-und so sollte es sein.

  • Wie befohlen ging Semir auf die Personaltoilette, zog sich erst sein blutiges Shirt aus, dann das blaue Pflegeroberteil an, das ihm Schwester Anita überreicht hatte und wusch sich Gesicht und Hände. Die Spritzer auf der Lederjacke konnte er auch entfernen, nur seine Jeans war nicht ganz sauber zu kriegen, aber die größte Schweinerei konnte er immerhin beseitigen. Er spritzte sich nochmals Wasser mit beiden Händen ins Gesicht, sparte auch die kurz geschorenen Haare nicht aus und als er sich dann abgetrocknet hatte, stützte er sich auf dem Waschbecken ab und sah in den Spiegel. „Ben mein Freund-es muss jetzt einfach langsam aufwärts gehen mit dir-so viel Aufregung halte ich in meinem Alter nicht mehr die ganze Zeit aus!“, sagte er mehr zu sich selber, bevor er die Türe aufsperrte, sein Shirt in der Plastiktüte verstaute, die ihm die erfahrene Schwester mitgegeben hatte und ins Einzelzimmer zurück kehrte.


    Dort war inzwischen ein junger Arzt eingetroffen, der zwar versuchte ruhig zu bleiben, dem man aber die Aufregung durchaus ansah. Er hatte bisher erst wenige Male unter der Aufsicht eines erfahrenen Oberarztes eine Arterie und einen ZVK gelegt-heute sollte er es das erste Mal alleine probieren. Der Eingriffswagen stand ebenfalls bereit und nun wollte der Arzt Semir weg schicken. „Was fällt ihnen ein, einfach ohne Anmeldung hier herein zu platzen!“, herrschte er den kleinen Türken an, aber noch bevor der etwas erwidern konnte, hatte sich Anita zwischen ihm und dem Doktor aufgebaut. „Herr Gerkhan ist nicht herein geplatzt, sondern der war sozusagen die ganze Zeit da-er hat sich nur kurz frisch gemacht. Wenn er nicht wäre, würde Herr Jäger vermutlich jetzt keinen ZVK und keine neue Arterie mehr brauchen, denn wenn er in seinem verwirrten Zustand nach der Sedierung, die meines Wissens sowieso nicht so stark sein sollte, die Schläuche, die ihn mit dem Herzunterstützungssystem verbinden, heraus gerissen hätte, wäre er wohl nicht mehr am Leben. Also mäßigen sie sich und falls Herr Jäger seinen Freund zur Unterstützung dabei haben möchte, steht da auch nichts dagegen!“, sagte sie mit Autorität in der Stimme und schenkte dabei den beiden Freunden ein warmes und fast ein bisschen verschwörerisches Lächeln.

    Der Arzt brummte irgendetwas Unverständliches, zog es aber vor, sich nicht mit Anita anzulegen-dieser Schuss konnte, wie er aus Erzählungen wusste, ordentlich nach hinten los gehen. Erfahrene Schwestern konnten einem jungen Arzt einerseits manchmal den Hals retten, wenn der im Dienst den Überblick verlor, weil es so zuging und andererseits das Leben zur Hölle machen. Jeder Assistenzarzt erfuhr das von seinem einarbeitenden Kollegen an seinem ersten Tag auf einer Intensivstation, wenn er genauso heillos überfordert war wie jeder andere. Die alten Hasen, die ihre Ruhe haben wollten hielten sich an die Pflege, stellten sich gut mit der und hatten wenig Probleme, weil ihnen zugearbeitet wurde, man sie auf Versäumnisse und Fehler hinwies und Verbesserungsvorschläge gab-die man ja auch nicht unbedingt ausführen musste, aber zumindest freundlich zur Kenntnis nehmen konnte. Wer allerdings die Pflege überging musste sehr gut und schnell sein, um alle Patienten gleichzeitig im Auge zu behalten und jederzeit auch unter extremen Bedingungen den Überblick bewahren, um keinen Fehler zu machen. Aber manche Ärzte mussten das schmerzhaft lernen, während andere mit einer netten Art da nie Probleme hatten. Dieser noch recht neue Arzt war nicht unnett, aber manchmal doch etwas hochmütig und von sich eingenommen. So aufgeregt und unsicher er gerade auch war-er würde das nie offen zugeben und ehrlich gesagt, hätte er lieber weniger Zeugen gehabt, falls etwas nicht so gut klappte. Aber er hatte Anita´s Wink mit dem Zaunpfahl verstanden und murrte jetzt nicht mehr, weil dieser kleine Türke, der rätselhafterweise über der Jeans ein Pflegeroberteil trug, wie der Arzt erst jetzt bemerkte, dabei bleiben wollte. Der sollte nur nicht umkippen, denn dann hätte man wesentlich mehr Arbeit mit ihm als gewünscht!


    „Ich möchte zunächst die Arterie legen, Schwester!“, sagte er deshalb an und Anita nickte. Das war in Ordnung und während der Doktor nun an Ben´s beiden Unterarmen nach dem Radialispuls tastete und sich dann für die rechte Seite entschied, hatte sie schon die dafür benötigten Dinge routiniert aus dem Eingriffswagen genommen. Wie viele tausend Male in ihrem Leben sie schon beim Legen einer Arterie oder eines zentralen Venenkatheters assistiert hatte, konnte sie nicht mehr sagen. Nur wenn so ein junger Arzt sich bemühte, das Gefäß zu treffen, war sie so manches Mal versucht, ihm die Nadel einfach aus der Hand zu nehmen. Sie kannte nämlich noch die Zeiten, als man keine dauerhaft liegenden Arteriensysteme benutzte, die ja gleichzeitig die Möglichkeit der kontinuierlichen Blutdruckmessung und der Entnahme von Blutgasen boten, sondern früher war der Blutdruck immer nichtinvasiv mit einer Manschette gemessen worden und die Pflege entnahm-gerade bei beatmeten und kritischen Patienten- mehrmals pro Schicht arterielle Blutgase und hatte deshalb mehr Routine im Punktieren einer Arterie als diese ganzen jungen Ärztegreenhorns. Aber jeder hatte mal angefangen und so würde sie jetzt einfach hoffen, dass er sich nicht blöd anstellte und ihren Lieblingspatienten quälte.


    Nachdem der Arzt sich für einen Arm entschieden hatte, lagerte er, wie man es ihm gezeigt hatte, den so mit einer kleinen Rolle unter dem Handgelenk, dass der Daumen nach oben zeigte und das Handgelenk leicht überstreckt war. Unter den Arm hatte er zuvor eine Einmalunterlage gelegt, denn beim Punktieren eines arteriellen Zugangs konnte es immer bluten. Und eine Schweinerei die ein Arzt verursachte, wurde streng mit einer Kuchenlieferung an die Pflege geahndet. Dann zog der Doktor rasch Haube und Mundschutz an, desinfizierte sich am Desinfektionsmittelspender mehrfach die Hände, schlüpfte dann in den Kittel, den Anita anreichte und zog sich die sterilen Handschuhe an.
    Ben beobachtet misstrauisch das Tun des Arztes, aber weil Semir ihn beruhigend anlächelte, auch Anita ganz locker war und der Arzt jetzt konzentriert seine Arbeit machte, hielt sich dann doch seine Aufregung in Grenzen-und tatsächlich-der Doktor desinfizierte, deckte ab, nahm die Punktionsnadel zur Hand und nach einem einzigen gezielten Pieks, der durchaus auszuhalten war, tropfte hellrotes Blut im Rhythmus von Ben´s Herzschlag aus der Kanüle. „Bravo!“, sagte Anita und auch der Seldingerdraht ließ sich vorschieben. Dann wurde die Kanüle entfernt und der arterielle Zugang aus Kunststoff, der in Ben liegen bleiben würde, über den dünnen Draht aufgefädelt, den man dann wieder heraus zog. Schnell spülte der Doktor den Schlauch mit steriler Kochsalzlösung aus einer Spritze, verschloss die Schiebeklemme, wischte alles Blut auf Ben´s Haut mit sterilen Kompressen ab und verklebte dann gemeinsam mit Anita die Arterie nach Standard. Die Schwester schloss das inzwischen von ihr vorbereitete und mit dem Monitor verbundene und genullte Arteriensystem an und entnahm gleich eine Blutprobe, während der Arzt alle spitzen Dinge in den Spritzenabwurf entsorgte und den Rest seines Arbeitsmaterials wegwarf. Anita entfernt noch das grüne Tuch und den Bettschutz und sagte: „Na das ging aber gut-sehen sie Herr Jäger, den ersten Eingriff haben sie schon hinter sich. War´s schlimm?“, fragte sie freundlich, aber Ben schüttelte den Kopf. Da hatte er in den letzten Tagen wahrlich Schlimmeres ausgehalten!


    Milena war inzwischen in ihrer Heimat eingetroffen. Mit dem Bus fuhr sie zu ihrer kleinen Wohnung, in der die Luft schal und abgestanden roch, obwohl sie doch gar nicht so lange weg gewesen war. Ihre Hand schmerzte und es war ganz schön mühsam gewesen, den schweren Koffer die Treppe herauf zu tragen, denn wie immer hatte sie ja viel zu viel mitgenommen. Ihre Hand tat unangenehm weh und so nahm sie erst einmal eine Schmerztablette, um dann den Computer hoch zu fahren, bevor sie damit begann den Koffer auszupacken und eine Verlustliste zu schreiben.
    Als sie auf die Autorenseite ging, war da eine PN vom Forenbetreiber, der sie aufforderte, zu Vorwürfen, die ein anderes Mitglied, dessen Namen er nicht nannte, ihm mitgeteilt habe, Stellung zu nehmen. Er hatte auch noch bemerkt, dass er die betreffenden Posts bereits nachgelesen habe, ihm bekannt war, dass Elisa und sie einen Doppelaccount betrieben, der nur zu einem Zweck angelegt worden war, nämlich bestimmte Personen, besonders Sarah zu beleidigen und er jetzt wissen wollte, was sie dazu zu sagen habe. Nach kurzer Überlegung schrieb sich Milena ihre ganze Wut von der Seele, was darin gipfelte, dass sie Elisa anschwärzte und dann auch noch kund tat, dass der Typ, der alles aufgedeckt hatte, nun tot und daran selber schuld war. Ihr war zwar schon irgendwie bewusst, dass das eine sehr persönliche Auslegung der Sache war, aber sie wollte mit diesen ganzen Dingen und dem blöden Forum sowieso nichts mehr zu tun haben-und was konnte sie dazu, dass der Mann ihrer Feindin Polizist war und da ein Verbrecher ohne ihrer aller Wissen mitgemischt hatte? Sie war sich keiner Schuld bewusst und so löschte sie dann den Doppelaccount und ihren eigenen und ging danach zufrieden schlafen.


    Als der Forenbetreiber wenig später die Antwort las, blieb ihm beinahe der Mund offen stehen, aber er wohnte auch in Köln, hatte von den Morden und der Beinahe-Gasexplosion gehört, ein wenig in Sarah´s Geschichte rein gelesen und begann so langsam eins und eins zusammen zu zählen. Um Himmels Willen-hier war etwas Schreckliches geschehen, aber wie konnte nur eine Frau so mitleidlos sein? Seit Tagen versuchte er vergeblich Felix zu erreichen, aber so langsam wurde ihm bewusst, dass das wohl der Tote war von dem Milena soeben erzählt hatte. Oh Gott-natürlich würde er auch mit Elisa Miller noch Kontakt aufnehmen, aber es bemächtigten sich seiner große Schuldgefühle. Völlig unbeabsichtigt war sein Forum zu einer Plattform für ein schreckliches Verbrechen geworden, aber indem Milena nun selber ihre Accounts gelöscht hatte, konnte er gegen sie keine Strafe mehr verhängen. Nie im Leben hätte er sich träumen lassen, dass es auf seiner Plattform eines gab, nämlich tödliche Storys!

  • Der junge Arzt war überaus stolz auf sich. Wie hatte er auch nur eine Sekunde an sich zweifeln können? Er hatte die Arterie mit Bravour gelegt und genauso würde er jetzt mit dem ZVK verfahren. Er musterte Ben´s Oberkörper, von dem Anita bereits das lose darüber gelegte Hemd entfernt hatte. Die eine Halsseite war immer noch von einem dicken Verband bedeckt, wo der junge Polizist sich den Cava-wie man im Krankenhausslang einen zentralen Venenkatheter in Kurzform auch nannte, weil dessen Spitze ja-egal von welchem Lokalisationsort man ihn in den Körper einbrachte, immer in der Vena cava, kurz vor dem Herzen lag. Genauso war das auch mit den arteriellen Zugängen-kurz „Arterie“ gesagt und jeder wusste was gemeint war.


    So ganz beiläufig schoss dem nicht so sportlichen Arzt durch den Kopf, dass sein Patient einen Body hatte, der ihn eigentlich vor Neid erblassen ließ. Er selber hatte es nicht so mit Sport und die deutlich ausgeprägte Muskulatur ließ erahnen, dass der junge Mann vor ihm auf seinen Körper achtete und den auch im Training hielt, genauso wie der kleine Türke, der immer noch neben dem Bett stand und seinen Freund gerade freundlich anlächelte. Der war zwar nicht mehr ganz jung, aber auch dessen muskulöse Oberarme, der ganze Körperbau und die geschmeidigen Bewegungen ließen darauf schließen, dass sich der gerne bewegte. Er selber dagegen war eher ein Couchpotatoe und legte sich nach Feierabend am liebsten mit einer Tafel Schokolade, oder ner Tüte Chips aufs Sofa vor den Fernseher und das sah man leider auch an seiner Figur.


    Der Doktor besah sich die möglichen Zugangsorte und entschloss sich, die Vena subclavia, direkt unter dem Schlüsselbein, als Punktionsort zu wählen. Gemeinsam mit der Schwester schob er eine Bettunterlage unter Ben´s Oberkörper. Auch hier konnte Blut fließen und einen Kuchen zu backen war sozusagen das Allerletzte, was er tun wollte-insofern hatte die Erziehung der Schwestern schon gefruchtet. Nachdem die Betthöhe bequem auf seine Körpergröße justiert war, desinfizierte der Arzt erneut seine Hände chirurgisch. Die Haube und den Mundschutz hatte er gleich aufbehalten und Anita hatte mit wenigen geübten Handgriffen die benötigten Materialsets, Sterilkittel Handschuhe und Medikamente aus dem Eingriffswagen geholt. Das Ultraschallgerät stand unmittelbar vor der Zimmertür, falls man es zur Orientierung brauchte und wenig später begann der junge Arzt Ben´s Schlüsselbeingegend dreimal mit sterilen, desinfektionsmittelgetränkten Tupfern abzustreichen.

    Semir hatte sich auf die gegenüberliegende Bettseite verzogen, wo ihn Anita mit einem Augenzwinkern hin bugsiert hatte, damit er nicht im Weg war. „Sie kriegen jetzt erst eine Lokalanästhesie!“, informierte der Arzt seinen Patienten. Gerade war ihm eingefallen, dass sein Oberarzt ihn immer ermahnte mit den Patienten zu sprechen-sogar wenn die intubiert und beatmet waren.
    „Sie wissen nie, was ein Patient mitkriegt, sogar wenn er sediert ist. Auch wenn es vielleicht nur der beruhigende Klang einer menschlichen Stimme ist, der die Berührungen und Eingriffe begleitet-sie vergeben sich nichts und durch den Mundschutz wird eine Keimübertragung vermieden, nehmen sie sich ein Beispiel an den Schwestern!“, hatte der ihm eingebläut und der Assistenzarzt hatte genickt. Er gehörte normalerweise nicht zu der eloquenten Sorte Mensch, aber er würde tun, was man ihm auftrug, um eine gute Beurteilung zu kriegen. Die meisten Schwestern und Pfleger hingegen gingen mit ihren Patienten ganz anders um. Sie informierten sich-falls die Kranken das selber nicht mehr sagen konnten-sogar über Vorlieben, Familienstand, Beruf und Hobbys ihrer Schutzbefohlenen-als wäre das für den Heilverlauf wichtig. Auch wenn eigentlich nicht anzunehmen war, dass der Patient noch irgendetwas mitkriegte, sogar wenn der Sterbeprozess bereits begonnen hatte, wurden die Menschen respektvoll und höflich behandelt. Man bezog sie in Gespräche ein, auch wenn sie nicht antworten konnten und der junge Arzt hatte sich da schon mehr als einmal ein Lachen verkneifen müssen. „Ich habe gehört, dass sie ganz alleine fünf Kinder aufgezogen haben, weil ihr Mann sehr früh gestorben ist-da haben sie aber was geleistet!“, hatte er erst vorhin Schwester Anita belauscht, als sie eine alte Patientin versorgte, die seit Wochen nicht mehr angab und das Krankenhaus vermutlich nicht mehr lebend verlassen würde. Na gut-wenn die Pflegekräfte auch immer sprechen mussten-vielleicht hörten sie sich einfach selber gerne reden, er würde gelegentlich auch was sagen, aber er war keine Labertasche und bei dem jungen Mann vor ihm mussten kurze Informationen genügen.

    Er ließ sich nun von Schwester Anita die restlichen Sterilsets anreichen, solange das Desinfektionsmittel antrocknete, zog das Lokalanästhetikum in eine 5ml-Spritze auf und befüllte die Hohlräume des ZVK mit steriler Kochsalzlösung, um beim Einbringen eine Luftembolie zu vermeiden. Er musste zwar noch nachdenken, was er Schritt für Schritt nacheinander machen musste, aber auch Anita, die ihm ganz beiläufig auf die Finger sah, wie ihr der Oberarzt aufgetragen hatte, konnte keinen Fehler entdecken.
    Auch wenn der junge Arzt manchmal ein wenig arrogant rüber kam-aber den würden sie alle gemeinsam schon richten und wenn seine sechsmonatige Intensivzeit vorüber war, die er für die Facharztanerkennung brauchte, würde er, wie die meisten seiner Vorgänger, fachlich und menschlich dazu gelernt haben. Außerdem schien er ganz geschickt zu sein und das war ebenfalls etwas, was den Patienten zu Gute kam und sie hoffte für ihren jungen Lieblingspatienten, der mit Argwohn die Vorbereitungen des Arztes beobachtete, dass sich der ZVK gut legen ließ. Herr Jäger brauchte unbedingt ein wenig Ruhe, um sich zu erholen-in der letzten Stunde war so einiges geschehen, was ihn sowohl physisch, als auch psychisch belastete. Aber ohne Frage-der ZVK war unbedingt notwendig, das konnte man jetzt nicht stundenlang aufschieben, die periphere Vene, durch die aktuell ja nur die absolut notwendigen Medikamente liefen, war nach der kurzen Zeit bereits gereizt und gerötet-lange würde die nicht durchhalten.

    Als der Arzt alle Vorbereitungen hinter sich gebracht hatte, deckte er Ben´s Oberkörper mit dem sterilen Einmallochtuch ab, so dass das Schlüsselbein hervor ragte. Er trat dazu hinter den Kopf des Patienten. „Jetzt stichts!“, erinnerte er sich an seine Informationspflicht und Semir, der Ben´s Hand ergriffen hatte, bemerkte, wie sich der kurz anspannte, als die Nadel mit dem Lokalanästhetikum sich in seine Haut bohrte. Allerdings gab er keinen Mucks von sich und sah der Sache doch ganz gelassen entgegen. Das Legen der Arterie vorher war überhaupt nicht schlimm gewesen, er hoffte jetzt einfach, dass auch dieser Eingriff bald überstanden war und er sich endlich ausruhen konnte. Er wollte einfach nur noch schlafen und wenn Semir bei ihm war, würde der auf ihn aufpassen und ihn würden dann sicher keine Alpträume mehr verfolgen. Nachdem die Lokale saß, griff der Doktor zu einer zur Hälfte mit isotonischer Kochsalzlösung gefüllten Spritze und setzte auf die die dicke lange Punktionsnadel auf. Mit der ging er direkt oberhalb des Schlüsselbeins ein und begann unter Aspiration in der Tiefe nach der Vena subclavia zu suchen. Anita runzelte die Stirn. Aus ihrer Erfahrung sollte der Einstichwinkel relativ flach sein, damit man am Schlüsselbein vorbei kam, denn genau unter diesem lagen die Schlüsselbeinvene und ein wenig tiefer die Arterie. Der junge Arzt allerdings stach relativ gerade nach unten-da lag mit Sicherheit keine Vene! Er begann herum zu stochern und zu bohren und Ben´s Mund entwich nun ein Stöhnen. Die Lokalanästhesie saß überall, nur nicht da, wo sich die Nadel schmerzhaft in seinen Körper bohrte. „Wollen sie nicht unter Ultraschallkontrolle arbeiten, es scheinen ein wenig schwierige Gefäßverhältnisse zu herrschen?“, warf Anita einen Rettungsanker aus, der weder den jungen Arzt bloß stellen würde, noch dem Patienten und seine Freund signalisierte, dass da etwas nicht völlig korrekt lief. „Das lassen sie mal meine Entscheidung sein-wer von uns beiden hat studiert?“, entgegnete nun der Doktor störrisch und bohrte verbissen weiter. Er würde sich doch von einer Schwester nichts vorschreiben lassen!


    Ben traten nun vor Schmerz die Tränen in die Augen, aber er versuchte still zu sein, nur Semir bemerkte, wie sich die Hand seines Freundes um die seine krampfte. Ach du liebe Güte-das schien ja ziemlich weh zu tun! Anita schob nun den Unterkiefer vor-so hatten sie nicht gewettet! Dass es irgendwann einmal zu einem Machtkampf zwischen ihr und dem kleinen Schnösel kommen würde, dem von seinen Eltern anscheinend nur immer der Hintern gepudert worden war, anstatt ihm Manieren bei zu bringen, hatte sie fast geahnt, aber dass die nun auf dem Rücken ihres Lieblingspatienten ausgetragen wurden, tat ihr leid. Aber jetzt galt es Schadensbegrenzung zu betreiben und entweder der junge Arzt würde sich etwas sagen lassen, oder sie würde den Oberarzt holen! Entschlossen schob sie deshalb das Sonographiegerät herein, öffnete die Umverpackung eines sterilen Einmalüberziehers mit Ultraschallgel, im Klinikslang Verhüterli genannt und warf denselben auf den Instrumententisch. In scharfem Ton sagte sie. „Wenn sich die Vene nicht sofort punktieren lässt, ist es üblich, das unter Sicht zu machen!“, und Semir hatte genau bemerkt, dass hier Dinge ausgetragen wurden, die mit Ben persönlich nicht im Geringsten etwas zu tun hatten. Der junge Arzt bohrte nun nur noch verbissener als vorher in Ben´s Fleisch herum, so dass der laut zu stöhnen begann und wie es nicht anders zu erwarten gewesen war, durch die Ausschüttung der ganzen Stresshormone begann just, als der Assistenzarzt irgendein Gefäß erwischt hatte, sein Herz zu flimmern und alle traten nun aus Selbstschutz einen Schritt zurück-auch der junge Arzt, aber die Nadel ließ er stecken und während sich Ben´s Körper unter dem Stromschlag aufbäumte, schoss hellrotes Blut im Rhythmus des Herzschlags aus der Nadel, die wie ein Zeiger in die Luft ragte.

  • Sarah lauschte auf das Tuten im Hörer-verdammt, warum ging denn da keiner ran? Oh Gott, sie kannte diese Situation aus der Erfahrung. Wenn man am Patienten war, gerade reanimierte, oder sonst irgendein Notfall eintrat, kam man einfach nicht dazu ans Telefon zu gehen. Es musste etwas Schreckliches passiert sein, ansonsten hätte man sie sicher nicht versucht anzurufen. Endlich-sie hatte schon nicht mehr daran geglaubt, dass noch jemand rangehen würde, meldete sich ein junger Pfleger, den sie leider auch nicht persönlich kannte. Auf Intensivstationen herrschte immer eine hohe Personalfluktuation, weil man schon sehr stabil in jeder Hinsicht sein musste, um dort langjährig zu arbeiten. Viele kehrten dem Job sofort den Rücken, wenn sie ein verlockenderes Angebot, gerade aus der privaten Wirtschaft, oder von einem Heimbeatmungsservice bekamen, denn auf Intensivstationen musste man wesentlich mehr Nachtdienste leisten als auf Normalstation, weil der Arbeitsaufwand ja bei Tag und bei Nacht in etwa gleich war. Dazu kam noch, dass dort einfach viel gestorben wurde und nicht jeder verpackte das psychisch gleich gut. Wenn man begann, zu viele tragische Fälle sozusagen mit nach Hause zu nehmen, deswegen nicht mehr schlafen konnte und das Leben sich nur noch um die Arbeit drehte, war es an der Zeit den Absprung zu suchen. Nur wenige, wie z. B. Anita schafften das langjährig, aber soweit sich Sarah erinnern konnte, arbeitete die auch nicht Vollzeit, sondern 75%. Dadurch hatte sie mehr freie Tage zum Erholen und um sich um ihr Privatleben zu kümmern und das brauchte man auch.

    „Bitte-kann ich Schwester Anita sprechen, oder können sie mir sagen, was mit meinem Mann, Ben Jäger los ist-ich wurde angerufen!“, sprudelte sie geradezu heraus. „Es tut mir leid, aber am Telefon darf ich ihnen keine Auskunft geben!“, beschied ihr der junge Mann, streng nach der Klinikvorschrift. Da konnte ja jeder anrufen und sich einfach nach Patienten erkundigen! „Schwester Anita ist auch gerade beschäftigt-ein Notfall, sie verstehen? Am besten kommen sie persönlich vorbei und erkundigen sich beim Arzt nach dem Befinden ihres Angehörigen!“, sagte der junge Mann sein Sprüchlein auf und Sarah sah fassungslos auf den Telefonhörer-er hatte einfach aufgelegt.
    Eine eisige Hand griff nach ihrem Herzen, wahrscheinlich war Ben gestorben, während sie mit den Kindern unterwegs gewesen war und jetzt wollte ihr das niemand am Telefon sagen. Ein paar Tränen bahnten sich ihren Weg über ihre Wange und während Mia-Sophie auf der Krabbeldecke am Boden saß und mit ein paar Bauklötzen spielte, kam Tim zu ihr gelaufen und wollte auf den Arm. Wie in Trance hob Sarah ihn hoch und drückte das Ebenbild ihres geliebten Mannes an sich. „Mama, warum weinst du?“, wollte der Dreijährige wissen und versuchte ihre Tränen mit seinen kleinen Händchen weg zu wischen. „Einfach so Tim, einfach so!“, flüsterte Sarah, denn erstens wusste sie ja noch nicht wirklich was geschehen war und zweitens konnte sie doch Tim nicht einfach so nebenher an den Kopf werfen, dass sein geliebter Papa nicht mehr da war.
    Sarah wurden die Knie weich und sie setzte sich jetzt auf einen Stuhl, während Tim von ihr herunter kletterte. „Ich male für Papa ein Bild!“, verkündete er jetzt und holte auch schon geschäftig Papier und Wachsmalkreiden, die in einer Schublade verborgen waren, wo Mia-Sophie nicht ran kam, aber er als der Große sich jederzeit bedienen durfte, denn er aß die Stifte nicht mehr auf, wie seine kleine Schwester das regelmäßig versuchte. Sarah reichte ihrer kleinen Tochter die jetzt auch mitmachen wollte ein leeres Blatt Papier, das die vergnügt zu zerfetzen begann. Lucky, der die Szene von seinem Korb aus beobachtet hatte, erhob sich, trottete zu ihr, legte seinen grauen Kopf auf ihre Knie und sie begann ihn geistesabwesend zu streicheln, während sie verzweifelt nachdachte, wie sie es anstellen sollte, zeitnah ins Krankenhaus zu gelangen. Vielleicht konnte Hildegard doch heute schon kommen, allerdings hatte ihre Stimme am Telefon noch schwach geklungen. Oder sollte sie Andrea bitten? Aber wenn ihre Kinder jetzt doch noch ein bisschen ansteckend waren-die legte sicher keinen Wert darauf, sich die Seuche ins Haus zu holen. Gerade wollte sie voller Verzweiflung trotzdem die Nummer ihrer Kinderfrau wählen, als das Telefon vor ihr zu läuten begann und sie wie hypnotisiert auf die Rufnummernanzeige blickte. Es war das Krankenhaus und voller banger Sorge nahm sie jetzt den Hörer ab.


    Ben´s verzweifeltes Stöhnen, nachdem er erneut einen Stromschlag erhalten hatte, durchzog den Raum. Anita war mit zwei Schritten bei ihm und gab ihm eine geringe Dosis Morphin, die ihm die Schmerzen wenigstens ein bisschen nehmen würde, ohne ihn völlig auszuknocken und das üble Spiel-Schlaf-verwirrtes Aufwachen zu wiederholen. „Raus mit der Nadel und feste drücken-die liegt arteriell!“, herrschte sie den jungen Assistenzarzt an, der eingeschüchtert sofort machte, was die Schwester ihm regelrecht befahl. Semir hatte derweil wieder die Hand seines Freundes ergriffen und Anita schob das grüne Tuch, das sein Gesicht zur Hälfte bedeckte, zur Seite und erfrischte seine schweißbedeckte Stirn mit einem kühlen Waschlappen. „Herr Jäger, alles halb so schlimm-wir holen jetzt den Oberarzt dazu, dann haben sie es in ein paar Minuten überstanden und danach dürfen sie sich ausruhen!“, stellte sie ihm in freundlichem Ton und mit viel menschlicher Wärme in Aussicht und Ben nickte schwach.

    Er war jetzt wirklich mit seinen Kräften am Ende und während der Assistenzarzt weiter fest mit einem Stapel Kompressen auf die Einstichstelle drückte, um eine allzu große Hämatombildung zu vermeiden, ging Anita kurz hinaus und kam nur eine Minute später mit dem Oberarzt im Schlepptau wieder zurück. Mit wenigen Worten hatte sie ihm draußen erzählt, was geschehen war und der hatte aufmerksam zugehört und genickt. „Herr Jäger-ich werde ihnen jetzt selber schnell einen ZVK legen, aber es kann jedem passieren, auch mir, dass man anstatt der Vene erst einmal eine Arterie trifft“, nahm er die Schuld von seinem Assistenzarzt. Der hatte inzwischen unter seinem Kompressenstapel nachgesehen und tatsächlich hatte die Blutung aufgehört. Freilich würde das einen fetten blauen Fleck geben, aber ansonsten war anscheinend nichts passiert. Schnell klebte man ein Sterilpflaster auf die Einstichstelle, entfernte die Abdecktücher und nun wusch sich der Oberarzt, ließ sich neben einem kompletten neuen ZVK-Set auch die Ultraschallsonde anreichen, verpackte die in den speziellen Sterilbeutel und zeigte dem Assistenten, der jetzt aber nur noch so daneben stand und zusah, wie er das Gefäß auf der anderen Körperseite zunächst mit Ultraschall darstellte, dann rasch genau dort die Lokale spritzte, wo er eingehen würde und dann unter ständiger Ultraschallkontrolle mit nur einem Stich die Vena Subclavia punktierte. Dann schob er den Führungsdraht durch die dicke Nadel, zog die rasch heraus, fädelte den ZVK über den Draht und nur Sekunden später lag der ZVK an Ort und Stelle. Er wurde noch an der Haut angenäht, die Wundumgebung mit Desinfektionsmittel sauber gemacht und wenig später bestellte man das Röntgen zur Kontrollaufnahme. „Die brauchen noch ein paar Minuten, ich nehme noch vorsichtshalber Blut aus dem ZVK ab und kontrolliere, ob der auch wirklich venös liegt!“, erklärte Schwester Anita, nachdem sie den neuen Zugang fachmännisch verbunden hatte, dem jungen Assistenzarzt.


    Semir hatte erleichtert aufgeatmet. Er hatte schon das Schlimmste befürchtet. Der Oberarzt verschwand mit einem freundlichen Gruß auf den Lippen, der Assistenzarzt räumte noch den Steriltisch ab, entsorgte alle spitzen Teile im Nadelabwurf und sah überrascht auf, als Anita mit gerunzelter Stirn, den Ausdruck des Blutgases in der Hand, das Zimmer erneut betrat. „Irgendetwas stimmt hier nicht!“, murmelte sie, aber Ben, der jetzt einfach nur noch fix und fertig war und außerdem das Gefühl hatte, immer mehr Probleme beim Atmen zu bekommen, hörte gar nicht zu-er wollte doch einfach nur seine Ruhe haben, aber es sah nicht danach aus, dass das so schnell geschehen würde.

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