Tödliche Storys

  • Die vier Frauen waren aufgeschreckt, als plötzlich Ben zu ihnen ins Kellerverlies geworfen wurde. „Ach du heilige Sch…., mir wird schlecht!“, murmelte Milena und zog sich, gefolgt von ihrer Freundin Elisa, in die hinterste Kellerecke auf eine der Matratzen zurück, möglichst weit weg von dem schwer Verletzten, der blutete wie ein Schwein. Sarah und Natascha riefen wie aus einem Mund: „Ben!“, und Sarah gab es einen Stich ins Herz-ja sie war mit ihrem Verdacht richtig gelegen, es handelte sich um ihren Mann mit dem Natascha ein Verhältnis hatte. Bis zuletzt hatte sie noch gehofft, dass das irgendwie ein großes Missverständnis wäre, aber hiermit war es bewiesen. Nun allerdings schob Sarah alle persönlichen Gefühle beiseite-hier vor ihr lag ein schwer verletzter Mensch, es war keine Zeit für Eitelkeiten oder beleidigt sein, wenn er nicht ganz schnell Hilfe bekam, war es vorbei mit ihm, wenn er denn überhaupt noch eine Chance hatte.


    Rasch drehte sie ihn-unterstützt von Natascha- auf den Rücken und tastete ihn ab, um sich einen Überblick über seine Verletzungen zu verschaffen. Er war schweißüberströmt, seine Augen lagen in tiefen Höhlen, sein Puls raste vor sich hin und als Sarah ihn anfasste, fühlte er sich heiß an, aber das Fieber war aktuell nicht sein Hauptproblem, sondern der klaffende Schnitt in seinem Bauch, der vom Schambein bis ein Stück über den Nabel reichte. Das Blut sprudelte regelrecht heraus und Sarah wusste, dass er schnellstmöglich in einen OP musste, damit die Blutungen gestillt wurden, denn da lief eindeutig arterielles, weil hellrotes Blut aus ihm. Allerdings war es ihnen unmöglich, professionelle Hilfe zu erhalten und so musste sie mit ihren begrenzten Mitteln, eigentlich nur ihrem Wissen, ihrer Kaltblütigkeit in Notfallsituationen und ihrem Können, versuchen die Ursache der Blutung herauszufinden und wenn möglich zu stoppen. Natürlich könnte sie jetzt einfach ihr Shirt auf den Bauch drücken und hoffen, so die Blutung zum Stehen zu bringen, so hätte es vermutlich jeder Laie gemacht, aber Sarah war klar, dass die allgemeine Kompression nur begrenzten Wert haben würde-diese Blutung würde so nicht zu stoppen sein und ihr Mann, den sie immer noch liebte, auch wenn er sich mit einer anderen Frau abgegeben hatte, würde ihr unter den Händen verbluten. Wenn sie zuvor nicht alles Menschenmögliche getan hätte, um ihn zu retten, dann könnte sie sich das nie verzeihen.


    So sagte sie zu Natascha, die ihr als Einzige eine Hilfe war, denn die anderen Weiber saßen schreckensbleich in der Ecke und konnten gar nicht hersehen: „Ich muss mir die Bauchwunde näher ansehen, sonst stirbt er in wenigen Minuten-hilfst du mir?“, fragte sie ruhig und Natascha, die zwar ebenfalls bis in ihr Innerstes zitterte, nickte. „Ich brauche den Inhalt des Koffers, da ist vermutlich saubere Wäsche drin!“, befahl sie und noch bevor Milena protestieren konnte, hatte Natascha den Rollkoffer herangezogen, geöffnet und nun lag er ausgebreitet vor ihnen. Sarah überlegte noch kurz, ob es Sinn machte, Ben, der nur noch ein kleines bisschen bei Bewusstsein war und leise vor sich hin stöhnte, auf eine der Matratzen zu legen, aber dann entschied sie sich dagegen-das würde nur kostbare Zeit kosten, das konnten sie später immer noch machen-wenn es denn ein später für ihn überhaupt gab.


    Sie hatte rasch das blutige Hemd nach oben geschoben und die Hose geöffnet. „Natascha-du musst seine Hände fest halten, denn ich muss ihm jetzt sehr weh tun!“, befahl sie und richtete noch schnell das Wort an die beiden Grazien in der Ecke. „Würdet ihr uns bitte auch helfen?“, fragte sie, aber als Antwort kamen Geräusche von hinten, als wenn sich jemand gerade übergeben musste-das konnte sie also vergessen. Seitlich in dem Koffer lag eine kleine Taschenlampe und nach der griff nun Sarah, machte sie an und nahm sie in den Mund. Gott sei Dank hatte sie Beleuchtung, denn im schwachen Licht der Glühbirne, die von der Decke baumelte, würde sie nichts erkennen können. Kurz nahm sie die Lampe noch einmal heraus, postierte Natascha so, dass die von oben Ben´s beide Hände festhalten konnte, beugte sich über ihren Mann und sagte mit aller Liebe, die sie immer noch für ihn empfand: „Schatz, ich muss mir deine Verletzung näher ansehen, das wird sehr weh tun-aber ich liebe dich, vergiss das nicht!“, dabei wusste sie überhaupt nicht, ob er überhaupt noch so weit bei Bewusstsein war, um das verstehen zu können.


    Natascha war derweil der Mund offen stehen geblieben. Das durfte doch nicht wahr sein-sie hatte gedacht, das wäre ihr Ben, aber nun war da diese andere Frau, die aber anscheinend medizinische Kenntnisse hatte und als einzige ihren Mr. Sexy retten konnte und betitelte ihn als „Schatz!“ Allerdings war der Zeitpunkt für Eifersüchteleien nun denkbar schlecht und wenn er starb, würde ihn keine von ihnen bekommen und so setzte sie jetzt alles daran, mit um sein Leben zu kämpfen und die blonde fremde Frau wusste anscheinend sehr genau, was zu tun war und das war wohltuend-sich in so einer Situation einfach einer Führung zu überlassen.
    Ben´s Augenlider flatterten kurz und mühsam öffnete er sie. Ihm war unendlich kalt, sein Bauch schmerzte und er merkte, wie sein Lebenssaft aus ihm heraus floss. Er würde sterben, aber das musste er seiner Sarah noch mitteilen, deren Liebhaber tot vor dem Kellerverlies lag. „Ich liebe dich auch und habe dich immer geliebt!“, flüsterte er, aber jetzt fügte ihm seine Sarah einen dermaßen brutalen unmenschlichen Schmerz zu, dass er nur noch laut aufbrüllen konnte, wie ein waidwundes Tier.

    Einmal editiert, zuletzt von susan () aus folgendem Grund: Rechtschreibfehler

  • Sarah hatte nicht lange gefackelt, so leid es ihr tat, aber es war Ben´s einzige Chance zu überleben, wenn sie die starke Blutung sobald wie möglich stoppte und so hatte sie jetzt einfach die Taschenlampe eingeschaltet, wieder in den Mund genommen und dann mit beiden Händen die Bauchwunde gespreizt. Ben schrie wie am Spieß, aber Sarah machte mit Tränen des Mitleids in den Augen einfach weiter, sonst würde er in wenigen Minuten tot sein. Sie arbeitete sich in die Tiefe vor, immer dem Sprudeln des Blutes nach. Voller Entsetzen sah sie, dass der Dünndarm an einer Stelle verletzt war, aber das würde Ben nicht in Kürze das Leben kosten, sowas konnte man in einem OP reparieren, aber die starke Gefäßverletzung würde ihn töten, wenn sie jetzt nicht tat, was sie tun musste. Sie griff mit einer Hand nach einem weißen T-Shirt aus Milena´s Koffer und nutzte es wie ein Bauchtuch, um die Eingeweide beiseite zu schieben. Binnen Kurzem war es völlig durchtränkt, sie nahm das Nächste und blendete in ihrem Kopf aus, dass Ben inzwischen ächzte und stöhnte, dass es zum Gotterbarmen war. Natascha musste all ihre Kraft aufwenden, um seine Hände fest zu halten, er hätte zwar mit Sicherheit nicht nach Sarah geschlagen, aber versucht sie weg zu schieben, auch wenn er vom Verstand her wusste, dass sie ihm ja nur helfen wollte. Oh mein Gott-warum konnte er nicht ohnmächtig werden? Aber das viele Adrenalin in seinem Körper hinderte ihn daran.


    Endlich konnte Sarah ziemlich weit hinten, fast schon in Nähe der Wirbelsäule, das sprudelnde Blutgefäß erkennen. Noch einmal verschaffte sie sich, diesmal mit einem frisch gebügelten Slip, Übersicht und dann hatte sie das Blutgefäß mit zwei Fingern gepackt-und die Blutung stand! Freilich sickerte noch aus vielen kleinen Wunden das Blut und Sarah kam das auch ziemlich komisch vor, aber immerhin war der große Blutverlust jetzt erst einmal unterbunden. Ben tat es so wahnsinnig weh, dass sie die Wunde irgendwie gespreizt hatte und jetzt erinnerte sich Sarah an die Aussage ihres Chirurgielehrers. „Meistens ist das Schmerzhafteste der Hautschnitt, viele innere Organe haben eigentlich wenige schmerzleitenden Nerven, sie reagieren eher auf Druck und Lageveränderungen!“, hatte der gelehrt und so drückte Sarah jetzt zwar weiter das verletzte Blutgefäß ab, das direkt unterhalb der Bifurkation der Bauchaorta abging, da musste sie nachher darüber nachdenken, welches das wohl war, aber ansonsten entfernte sie rasch alle behelfsmäßigen Bauchtücher aus Ben und die Wundränder zogen sich wie von selber zusammen.

    Ben´s Jammern und Stöhnen wurde jetzt leiser, völlig erschöpft schloss er die Augen und seine Gegenwehr erlahmte. Natascha konnte den Griff um seine Hände lockern und Sarah wies sie jetzt an: „Hol die Decken und versuche ihn warm zu halten, ich kann hier nicht mehr loslassen bis Hilfe kommt!“, teilte sie der jungen Frau mit und der lief es kalt über den Rücken-wer sagte denn, dass überhaupt Hilfe kommen würde? Hatte Ben noch jemanden angerufen, bevor er sich mit dem Türsteher angelegt hatte? Er war vermutlich gerade am Spielclub angekommen, als sie entführt wurde und war dann dem Wagen gefolgt, anders war seine Anwesenheit hier nicht erklärlich, aber wusste da jemand anderes davon? Der andere Zocker war inzwischen sicher von einem Kollegen vor die Tür gesetzt worden, aber wo sollte der ansetzen, sie zu suchen-außer Ben hatte ihn wirklich telefonisch verständigt.
    Sie holte nun tatsächlich die beiden Wolldecken und deckte ihn zu. Aus dem nun fast geleerten Koffer nahm sie einen Pyjama, rollte ihn zusammen und legte ihn wie ein Kissen unter Ben´s Kopf, dann holte sie eine Wasserflasche, befeuchtete einen Waschlappen, der sich ebenfalls in dem Koffer befunden hatte und wusch Ben´s Gesicht damit ab, das schweißüberströmt war und dessen Lippen immer noch fest zusammen gepresst waren. „Soll ich ihm zu trinken geben?“, fragte sie dann Sarah und unterwarf sich wie selbstverständlich deren Führung, aber die schüttelte den Kopf. „Er muss nachher sofort operiert werden!“, teilte sie den Anwesenden mit, was Elisa ein trockenes Lachen entlockte: „Wenn es denn für ihn noch ein Nachher gibt!“, bemerkte sie und Sarah wäre ihr nun am liebsten ins Gesicht gesprungen. „Aber meine Sachen will ich ersetzt haben-ihr könnt doch nicht einfach meine ganzen Klamotten einsauen-nur mit ner Reinigung gebe ich mich da aber nicht zufrieden!“, protestierte nun auch Milena und jetzt entwich Sarah ein ungläubiger Laut. Wer dachte in so einem Moment an Kleidung-das war doch nicht zu fassen!


    „Natascha, sieh doch mal nach, ob mein Mann irgendwo sein Handy hat!“, bat sie nun und jetzt erstarrte die junge Frau. „Dein Mann?“, stotterte sie. „Ja mein Mann mit dem ich zwei wundervolle Kinder habe und den ich liebe, egal, was er getan hat!“, bekräftigte nun Sarah und jetzt verharrte Natascha einen Moment. Na war ja klar, dass so ein Supertyp nicht alleine war, aber trotzdem hatte er sich mit ihr mehr als nur einmal getroffen! Ihr hatte es gerade einen Schlag in die Magengrube versetzt, aber jetzt reagierte sie dennoch vernünftig und begann Ben´s Hosentaschen zu durchsuchen, allerdings erfolglos. Ben öffnete seine Augen einen kleinen Spalt, atmete flach ein, um irgendwie den Schmerz, den ihm seine Frau immer noch zufügte, deren Hand in ihm steckte, zu ertragen und flüsterte dann: „Handyakku leer, liegt im Wagen!“, aber Sarah schüttelte wild den Kopf. „Das macht nichts, Ben, Semir wird ganz einfach den Dienstwagen orten lassen-der findet uns“, aber nun bewegte der junge Mann leicht den Kopf nach links und rechts. „Porsche!“, wisperte er dann, bevor er vor Erschöpfung erneut die Augen schloss und verstummte.


    In Sarah´s Kopf fuhren die Gedanken Karussell und ihr wurde einen Augenblick schwindlig. Sollte das bedeuten, dass niemand wusste, wo man nach ihnen suchen sollte? Dann war Ben´s Schicksal besiegelt. Sie hatte hier nichts, womit sie das doch recht große Blutgefäß abklemmen oder unterbinden konnte. Sie hatte zwar Milena´s Koffer nach irgendwelchen derartigen Dingen gescannt, aber da war nichts darin, was sich verwenden ließ. Lange würde Ben nicht mehr durchhalten und ehrlich gesagt wusste auch sie nicht, wie lange sie in dieser unbequemen Position, vor ihrem Mann kniend, verharren konnte-und vor allem auch, wie lange sie Kraft in ihrer Hand hatte. Man konnte so einen statischen Druck nur eine gewisse Zeit aufrecht erhalten, dann ermüdeten die Muskeln und sie bezweifelte, wenn sie das Gefäß los ließ, dass es ihr ein zweites Mal gelingen würde, das zu finden und die Blutung zu stillen. Außerdem wurde Ben von Minute zu Minute schwächer und schläfriger und die Sickerblutungen hielten nach wie vor an. Auch brauchte er auch dringend ein Antibiotikum, Volumen und Kreislauf stützende Maßnahmen. Immerhin war er zwar noch bei Bewusstsein und konnte verstehen was sie sagten, aber wie lange würde das noch so bleiben?
    Fakt war-wenn keine Hilfe kam, würde sie ihn verlieren und daran wagte sie nicht zu denken, allerdings liefen ihr nun doch vereinzelte Tränen über die Wangen und sie schniefte-nein so durfte es einfach nicht enden, aber ihre Situation war momentan völlig aussichtslos!

  • Der Türsteher hatte sich erst einmal schwer atmend gegen die Wand gelehnt. So-diesem Typen hatte er gezeigt, dass es nicht ratsam war, sich mit ihm anzulegen, allerdings musste er anerkennen, dass der ein würdiger Gegner gewesen war, wenn er das Messer nicht gezückt hätte, hätte er nicht gewusst, wie es ausgegangen wäre, aber so verließ er erst einmal den Keller und ging zu seinem Wagen. Er musste jetzt unbedingt den Chef erneut anrufen und ihm mitteilen, was geschehen war. So zog er sein Handy heraus und wählte ein weiteres Mal die geheime Nummer. „Was gibt’s-hast du meinen Auftrag weisungsgemäß erfüllt?“, wollte der hellwach wissen-er war nicht mehr ins Bett gegangen und hatte sich neben seine tief schlafende Frau gelegt, sondern hatte nachgedacht. „Na ja, den Auftrag habe ich ausgeführt-Natascha sitzt bei den anderen Weibern im Keller, aber ich wurde danach von dem jüngeren der beiden Spieler, die ich im Club abweisen sollte, attackiert-der hat jetzt ein Messer in den Bauch gekriegt und verblutet gerade da drin-ich habe ihn zu den Frauen geworfen, aber so langsam wird die Menschenansammlung im Keller zu groß, ich denke, da müssen wir was unternehmen!“, sagte der Türsteher und der Maulwurf stimmte ihm zu.
    „Da drinnen haben leider schon zu viele mein Gesicht gesehen, da darf keiner überleben. Am besten wäre natürlich eine Explosion-ich habe schon in den Unterlagen nachgesehen-die Fabrik wurde früher mit Gas beheizt, da müssten noch irgendwo die alten Rohre liegen, allerdings ist das Gas fast sicher abgestellt. Es ist ja nur wegen der Überlegungen wegen dem fraglichen Denkmalschutz aktuell der Strom wieder eingeschaltet, damit die ganzen Fachleute bei ihren Besichtigungen auch etwas sehen. Aber Strom und Gas, dazu ein altes Gemäuer mit maroden Leitungen-das gibt doch Raum für viele denkbare Unfälle. Du musst jetzt heraus finden, wo die Leitung zugemacht wurde, da gibt es vermutlich irgendwo einen Schacht zur Straße hin. Und von den Opfern wird danach nicht mehr viel übrig bleiben, denn wenn die Bude hoch geht, werden sie entweder zerrissen, oder danach unter den Trümmern begraben, man wird sie erst einmal für Obdachlose halten, die sich da einen Unterschlupf gesucht haben und bei ihren Experimenten mit illegal benutztem Strom und Gas in die Luft geflogen sind!“, erklärte er dem Türsteher und dem klang das logisch. „Wenn du deinen Auftrag vollendet hast, lade ich dich mal für ein paar Wochen auf meine Finca nach Mallorca ein, da machst du dann ordentlich Urlaub!“, lockte er seinen Komplizen, dabei war auch dessen Tod schon beschlossen, er wusste ebenfalls viel zu viel!


    Semir war inzwischen aufs Gas gegangen und Hartmut hatte sich in der knappen viertel Stunde, die sie von Holweide nach Ehrenberg brauchten, weil sie sich an keine Geschwindigkeitsbeschränkung hielten und mit flackernder Lichtleiste durch die Nacht preschten, auf seinem Handy die Gegend angesehen, in der die beiden gesuchten Fahrzeuge gefunden worden waren. „Das ist mitten im alten Industriegebiet, da ist eine still gelegte Fabrik neben der anderen. Die Städtebauer würden am liebsten erst einmal alles dort abreißen und dann ein komplett neues Wohnviertel aus dem Boden stampfen, aber aktuell geht ja gerade der Trend zu Industriedenkmälern, da gibt es im Stadtrat und auf Landesebene starke Stimmen dagegen!“, erklärte er Semir und der entgegnete ein bisschen genervt: „Hartmut-wer will das wissen-versuch doch lieber heraus zu finden, was Ben da gesucht haben kann und wo der wohl steckt!“, wies er den Kriminaltechniker an und der murmelte ein wenig beleidigt: „Tu ich doch gerade!“, aber weder er noch Susanne, mit der sie sich ebenfalls via Funk kurz geschlossen hatten, hatten irgendeine Kontaktadresse in der Nähe, obwohl es da durchaus Wohnhäuser gab. Sie mussten sich, wenn sie dort angekommen waren, auf ihre Eingebung verlassen und Semir´s Bauchgefühl sagte ihm gerade, dass jemand der ihm nahe stand, also vermutlich Ben, in höchster Gefahr schwebte!


    Der Türsteher hatte inzwischen eine starke Taschenlampe aus dem Wagen, der im Hof stand, geholt und das Tor geschlossen. Es musste niemand merken, wie er sich auf die Suche nach der Gasversorgung machte und suchend schritt er nun das marode Gelände ab. Er hatte zuvor einen kurzen Blick auf die Straße geworfen, aber die war menschenleer und es standen auch keine geparkten Fahrzeuge draußen. Er vermutete zwar schon, dass der Spieler ihn mit einem Wagen verfolgt hatte, aber in direkter Nähe parkte der schon mal nicht und das war gut so! Vielleicht war der ihm auch mit einem Taxi gefolgt, denn in der Nacht waren die beiden Zocker ebenfalls meistens mit einem Mietfahrzeug angereist, aber bis man die Spur zu ihm zurück verfolgen konnte, war er schon lange auf Mallorca und ließ sich die Sonne auf den Bauch brennen. Sein Kennzeichen hatte er bereits am Nachmittag wie zufällig mit Dreck ein wenig unkenntlich gemacht und es würde hier schon lange vor Polizei wimmeln, wenn der Spieler, der nun gerade im Keller verreckte, die von unterwegs gerufen hätte! Aber solche Leute bewegten sich ebenfalls am Rande der Legalität und machten ungern die Bullen auf sich aufmerksam!


    So lief der Klotz von einem Mann suchend das Gelände ab und tatsächlich-da war ein Schacht im Boden, dessen Deckel erst vor kurzem geöffnet worden war. Suchend blickte er sich um und ja-nur wenige Meter weiter lehnte ein Metallstab mit ein paar Handgriffen an der Wand-genau mit so einem Werkzeug konnte man Kanaldeckel usw. öffnen! Kaum hatte er den schweren Deckel beiseite geschoben, da überzog schon ein breites Grinsen sein Gesicht. In etwa 80 cm Tiefe waren Elektroleitungen zu sehen, die deutlich erst kürzlich wieder in Betrieb genommen worden waren, da hing sogar eine frische Plombe der Kölner Stadtwerke dran und direkt daneben in dem Schacht verliefen drei alte, gelb angestrichene Rohrleitungen-gelb war das Zeichen für Gas, so viel wusste er und auch wenn das schwer ging, schaffte er es mit seinen außerordentlichen Kräften die eingerosteten Absperrhähne aufzudrehen und ein leises Zischen aus der Tiefe verriet ihm, dass nun tatsächlich Gas in das alte Rohrsystem floss und mit einem diabolischen Grinsen kroch er aus dem Loch und schloss den Deckel. Dann machte er sich wieder auf den Weg Richtung Keller und sah sich suchend um, wo er da etwas aufmachen konnte und war auch nach kurzer Zeit fündig geworden.


    Sarah im Keller musterte derweil besorgt das eingefallene und immer noch schmerzverzerrte Gesicht ihres Mannes, der mühsam atmend, gegen den Schock eingehüllt in die zwei Wolldecken, vor ihr auf dem Boden lag. Wie lange würde er noch durchhalten und würde Hilfe kommen, oder es einfach so für ihn zu Ende gehen? Außerdem war ihr bewusst, dass die beiden Männer, die ihre Mitautorinnen entführt und Felix getötet hatten, nicht umsonst Masken getragen hatten. Sie allerdings hatte deren Gesichter gesehen und als sie Natascha leise befragte, gab die sofort zu, dass sie ihren Entführer mit Namen und Wohnadresse kannte-oh das war schlecht, verdammt schlecht! Sie war nicht umsonst die Frau eines Polizisten und schrieb seit einiger Zeit Medizinfiktions, wie sie das Genre getauft hatte, das sie bediente. Wenn sich die Verbrecher nicht außer Landes begeben wollten, würden sie die Zeugen nicht am Leben lassen und auch wenn deren ursprünglicher Plan sicher anders ausgesehen hatte, denn Elisa und Milena hatten sie sich nicht gezeigt, die hatten sie also nicht vor gehabt zu töten, sondern nur für eine Weile aus dem Verkehr zu ziehen-jetzt schwebten sie alle in höchster Gefahr und als nun von draußen Schritte und schabende Geräusche zu hören waren, blieb sie momentan still-erst mussten sie herausfinden, ob da Hilfe nahte, oder die Verbrecher zurück gekehrt waren.
    Plötzlich vernahmen die Kellerinsassen ein Zischen und ein typischer Geruch durchzog ihr Verlies. Gas-da strömte Gas aus! Nun begannen die beiden Autorinnen in der Ecke verzweifelt um Hilfe zu rufen, während Sarah, deren Hand vor Erschöpfung schon zu zittern begonnen hatte, ihre Augen schloss. Oh nein-damit war ihre Frage beantwortet, wie es mit ihnen zu Ende gehen würde und sie konnten einfach nichts tun, außer auf ein Wunder zu hoffen!

  • Semir und Hartmut waren inzwischen bei den beiden geparkten Fahrzeugen angekommen. Die Kollegen der Streife waren derweil zu einem Verkehrsunfall in der Nähe abgerufen worden. Sie hatten ja mit der Meldung der beiden Autos ihren Auftrag erfüllt und waren in keine weiteren Einzelheiten eingeweiht. Der Besatzung des Streifenwagens, die ihre Gegend kannte wie ihre Westentasche, waren sofort die beiden teuren Wagen aufgefallen-sowas stand normalerweise hier nicht einfach so in der Gegend rum und wenn ja, konnte man darauf warten, dass die aufgebrochen, oder zumindest Reifen und Felgen geklaut wurden. Semir parkte seinen BMW direkt dahinter, Hartmut und er warfen beide mithilfe einer Taschenlampe einen Blick hinein, aber außer dass Ben´s Handy in der Mittelkonsole lag, konnten sie keine weiteren Hinweise erkennen.


    Nun musterte Semir die Häuser rund herum. Einige schienen unbewohnt, zerbrochene Fensterscheiben und vernagelte Türöffnungen zeugten davon, aber in anderen schienen durchaus Menschen zu wohnen, auch wenn das hier eine deprimierende Wohngegend war. Insgesamt überwogen aber Werkstätten, Gewerbebetriebe, die nicht sonderlich gut zu laufen schienen und eben die alten Fabriken, von denen Hartmut am Herweg erzählt hatte. „Hartmut, weisst du was-wir laufen hier jetzt einfach ein wenig herum und schauen, ob uns etwas auffällt. Wenn wir nichts finden, dann werden wir am Morgen mit einer Truppe anrücken und die Wohnungen kontrollieren und die Anwohner befragen-irgendwo müssen Sarah, Ben und Felix ja stecken, aber was Besseres fällt mir gerade auch nicht ein!“, teilte er seinem Kollegen mit und der nickte. Zunächst gingen sie die Straße vor-und dann wieder zurück, dann bogen sie in die dunkle Seitenstraße ein und liefen da ein Stück weit vor. Plötzlich bückte sich Hartmut, der ein wenig voraus gegangen war, zückte sein Handy und schaltete dessen Taschenlampenfunktion ein. „Semir-da ist Blut, das man versucht hat mit einem Ölbindemittel zu entfernen-und das ist eine ganze Menge, so wie das aussieht!“, vermeldete er aufgeregt und jetzt rutschte Semir das Herz in die Hose. Um Himmels Willen, hier war mit Sicherheit kein Wildunfall passiert, also war es wahrscheinlich menschliches Blut-hoffentlich nicht von Ben! „Das ist aber schon ein paar Stunden alt-ich schätze der Fleck ist so am späten Nachmittag entstanden!“, fuhr Hartmut nun fort und jetzt war Semir irgendwie doch erleichtert-von Ben konnte es also nicht stammen, allerdings blieben dann immer noch Sarah und Felix! Als Semir seine Blicke nun schweifen ließ, entdeckte er sofort im Licht des Mondes, der gerade hinter einer Wolke hervor kam, die abgebröselte Mauer mit dem Pfeiler und ein Stück weiter vorne konnte man deutlich sehen, dass da jemand hinaufgestiegen war, denn am Boden hatte sich eine ganze Menge kleines Geröll gesammelt, das anscheinend lose gewesen war.


    Mit ein paar Sätzen war er oben und spähte in den Innenhof der stillgelegten Fabrik. Sofort sah er ein geparktes Auto-eine Limousine-und gerade als er überlegte, ob er jetzt in den Innenhof springen und sich die näher ansehen sollte, kam plötzlich ein Mann aus dem Inneren des Gebäudes und eilte zum Tor, das er mit einem altertümlichen Schlüssel aufsperrte und sich dann anschickte, ins Auto einzusteigen. In der Dunkelheit konnte Semir das Gesicht nicht erkennen, aber er sah, dass das ein wuchtiger Muskelprotz war. Er entsicherte seine Waffe, warf einen Blick zu Hartmut unter ihm und legte einen Finger an seine Lippen, dass sich der ruhig verhalten sollte und der Rothaarige drückte sich jetzt eng an die Wand, um nicht sofort entdeckt zu werden. Der Fahrer startete jetzt den Wagen, fuhr durch das Tor auf die Straße und ließ den Motor laufen. Semir hatte richtig kombiniert-er stieg wieder aus, vermutlich um das Tor zu schließen, aber dann ging er stattdessen nochmals zurück Richtung Keller und trug etwas in der Hand. Im Licht der Scheinwerfer hatte Semir nun auch das Gesicht des Mannes erkennen können-es war der Türsteher aus dem Club, den er heute Abend unfreiwillig verlassen hatte. Jetzt war klar, dass der etwas mit der Sache zu tun hatte und die Vermissten vermutlich hier irgendwo in der Nähe waren. „Hartmut-ich schnapp mir den Fahrer-geh du zum Wagen und zieh den Schlüssel ab!“, flüsterte er und der Kriminaltechniker nickte.


    Indessen kam der Mann rückwärts wieder die paar Stufen herauf, die anscheinend in einen alten Keller führten und rollte dabei etwas ab. Er hatte einen stabilen Kunststofffaden gespannt und bewegte sich jetzt langsam und vorsichtig Richtung Straße, immer darauf achtend, dass der Faden locker durchhing. Dann ging plötzlich der Motor des Wagens aus und im selben Moment sprang Semir von der Mauerkrone in den Innenhof. „Polizei, Hände hoch und keine falsche Bewegung!“ zischte er und im selben Augenblick roch er etwas, was ihn mit Entsetzen erfüllte. Hartmut hatte ebenfalls durch das offene Tor den Innenhof betreten und im gleichen Moment als Semir den Türsteher ansprach, rief er: „Semir-nicht schießen-hier strömt irgendwo Gas aus!“, und nun nutzte der Türsteher die Gelegenheit. Kurz hatte er überlegt, ob er sofort die Explosion auslösen sollte, sich aber dann im selben Moment dagegen entschieden. Er war noch nicht weit genug weg und wollte schließlich nicht selber mit drauf gehen. Drum schmiss er die Fadenrolle zu Boden und rannte dann, was das Zeug hielt, Richtung Tor. Er hatte den kleinen Mann ebenfalls erkannt-verdammt, der war ein Bulle, kein Glücksspieler, da hatte der Boss mal wieder den richtigen Riecher gehabt! Aber er vertraute darauf, dass der nicht lebensmüde war, deswegen nicht schießen würde und körperlich war er ihm bei weitem überlegen. Wenn da draußen keine Verstärkung war, würde er spielend mit den beiden Typen fertig werden, der andere sah eh nicht sonderlich gefährlich aus, vermutlich irgend so ein Sesselfurzer und immerhin hatte er ja auch noch sein Messer und wusste das einzusetzen!


    Semir setzte dem Türsteher nach und sprang ihn mit Wucht an, so dass der strauchelte und zu Boden fiel. Binnen Kurzem waren die beiden in einen harten Kampf verwickelt und rollten sich keuchend über den Boden. Hartmut hatte derweil seelenruhig sein Handy gezückt und Susanne angerufen, anstatt ihm zu helfen. Semir war regelrecht empört deswegen-ließ der ihn alleine die Drecksarbeit machen und telefonierte derweil in der Gegend herum! Allerdings hatte er nun ein paar gezielte Schläge angebracht und sein Gegner war anscheinend einen kleinen Moment benommen. Semir lockerte seinen Griff und das nutzte der Türsteher, der damit gerechnet hatte und zückte sein Messer.


    Im Keller war derweil plötzlich das Licht ausgegangen. Die fünf Menschen saßen im Stockfinsteren und immer noch zischte draußen das Gas und kroch mit seinem markanten Geruch durch den Türspalt der schlecht schließenden Holztür. „Das wars dann wohl!“, flüsterte Natascha und begann zu weinen. Sie war erst neunzehn, sie wollte noch nicht sterben und auch die beiden Damen in der Ecke auf den Matratzen begannen nun angstvoll vor sich hin zu jammern. Sarah drückte immer noch das Gefäß in Ben´s Bauch ab und überlegte, ob es nicht gnädiger war, das jetzt los zu lassen, vielleicht war Verbluten ein schönerer Tod, als bei einer Gasexplosion in Stücke gerissen zu werden. Ben war immer noch bei Bewusstsein. Unendlich müde sagte er: „Jetzt werden unsere Kinder Waisen, wenn nicht noch ein Wunder geschieht. Sarah-ich liebe dich und habe dich immer geliebt, seitdem wir uns kennen gelernt haben. Und glaub mir-ich bin nicht fremd gegangen, auch wenn es für dich den Anschein gehabt hat, aber ich kann dir verzeihen, wenn du etwas mit Felix hattest-wir wollen jetzt nicht voller schlechter Gefühle sterben!“, flüsterte er und dann erstarb seine Stimme. „Ich hatte nichts mit Felix und du bist ebenfalls die Liebe meines Lebens!“, presste nun Sarah hervor, die einen Moment furchtbar geschockt war, dass Ben ihr ein Verhältnis mit Felix zugetraut hatte. Aber das war jetzt so furchtbar egal, im Angesicht des Todes und langsam tropften nun ihre Tränen auf den geliebten Mann vor ihr.
    Sarah´s Gedanken schweiften zu ihren Kindern. Wer würde die nehmen und aufziehen? Von Hildegard war das nicht zu verlangen-vielleicht ihre Eltern? Die könnten ihren Beruf aufgeben, weil sie die letzten Beitragsjahre bis zu ihrer Rente dann nicht mehr brauchten-es war genug Geld da, dass die sich damit freiwillig versichern konnten, aber dann schob sie die Gedanken von sich. Sie konnte das jetzt eh nicht mehr bestimmen und sie hatten leider versäumt, für solche Eventualitäten vorzusorgen-wer dachte denn auch daran, dass sie beide sterben könnten? Gut Ben hatte ein detailliertes Testament beim Notar gemacht, das sie und die Kinder unabhängig machte-aber eben nur für seinen Tod geplant, weil er einfach einen gefährlichen Beruf hatte. Hoffentlich würde Konrad nicht das Sorgerecht für seine Enkel beanspruchen und die dann wie Ben und Julia von wechselnden Nannys betreuen lassen, dann von Nobelinternat zu Nobelinternat schicken, aber das Wesentliche versäumen-die Liebe, das Lachen, die Nähe, Geborgenheit und Wärme, die jeder Mensch, ob alt oder jung so dringend brauchte. Allerdings konnte sich der natürlich die besten Anwälte leisten und hatte deshalb bessere Karten als ihre Verwandtschaft!


    „Ob sich Tim und Mia-Sophie später noch an uns erinnern werden?“, flüsterte nun Ben, dem anscheinend gerade dieselben Gedanken durch den Kopf gingen. „Ich weiß es nicht!“, antwortete Sarah und ihr war bewusst-ihre Tochter war noch viel zu klein und Tim würde sie vermutlich nur anfangs vermissen, aber sich dann in sein neues Leben fügen, das sie doch so dringend begleiten wollte, bis er alt genug war, um selber und aus freien Stücken das Haus zu verlassen. Sarah hatte unbewusst ihre Lage ein klein wenig verändert und Ben stöhnte nun schmerzvoll auf. Oh je-sie hatte fast verdrängt, dass der die ganze Zeit schreckliche Schmerzen aushielt, vielleicht war es gut für ihn, wenn sein Leiden bald ein Ende hatte. Ben suchte nun mit seiner ihre freie Hand und sie hielten sich voller Liebe aneinander fest und warteten auf das Ende.

  • Semir spürte einen kurzen scharfen Schmerz, als der Türsteher ihn mit dem Messer, mit dem er nicht gerechnet hatte, am Oberschenkel verletzte. Eigentlich hätte fast jeder jetzt reflexartig losgelassen und dem Verbrecher damit die Gelegenheit gegeben, seine Waffe tödlich einzusetzen, aber Semir war schon zu oft in seinem Leben mit so einer Situation konfrontiert gewesen. Er riss sich zusammen und versuchte die Hand des Kolosses, der ihm kräftemäßig weit überlegen war, zu umklammern, damit er nicht zum tödlichen Stoß ausholen konnte. Hatte nicht Natascha Ben am Nachmittag berichtet, dass der einen Mord begangen hatte? Vermutlich war der Blutfleck auf der Straße der des bedauernswerten Opfers! Dieser Mann hatte keinerlei Skrupel und jetzt presste Semir zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor: „Hartmut-verdammt noch mal, hilf mir!“, und nun ließ der Rotschopf verdutzt das Handy sinken und starrte einen Moment fassungslos auf die Szene, soweit er im blassen Licht des Mondes, der gerade wieder hinter einer Wolke hervor kam, überhaupt etwas erkennen konnte. Was er aber sah, war der aufblinkende Stahl und auch, dass sich Semir´s Hose am Oberschenkel dunkel zu färben begann.

    Jetzt war er gefragt und nun scannte er mit den Augen die Umgebung. Ihm war klar, dass er ohne Hilfsmittel gegen dieses Tier von einem Mann, der noch dazu bewaffnet war, keine Chance hatte und auch Semir war schon verletzt! Da sah er sie-eine rostige Eisenstange lag achtlos hingeworfen neben der Mauer und mit zwei Schritten war er dort, wog sie prüfend in seiner Hand und bevor sich der Türsteher versah, hatte Hartmut ihm mit einem wuchtigen Schlag auf den Kopf die Lichter ausgeknipst und mit einem Grunzen sackte er zusammen. Semir rollte den Bewusstlosen von sich herunter und sagte schwer atmend: „Wurde ja auch Zeit-vielleicht könntest du deine privaten Telefongespräche zu einem anderen Zeitpunkt fortsetzen!“, und Hartmut nickte, nahm nun das Handy, wo das Telefonat inzwischen beendet war und leuchtete mit der Taschenlampenfunktion auf Semir´s Oberschenkel, während der sich nun stöhnend erhob. „Du bist verletzt!“, konstatierte er mitleidig, aber Semir winkte mit einer Handbewegung ab. „Nur ein Kratzer-hilf mir jetzt den Typen zum Tor zu schleppen, dort ketten wir ihn mit meinen Handschellen fest und dann machen wir uns auf die Suche nach Sarah und Ben!“, ordnete er an und Hartmut nickte und packte tatkräftig zu.

    In diesem Augenblick hörten sie schwache Hilferufe-die kamen eindeutig aus dem Keller, aber als Semir nun, ohne nachzudenken, los stürmen wollte, hielt Hartmut ihn am Ärmel fest. „Semir-wir wissen nicht, wie viel Gas dort drinnen ausströmt-wenn du da nur irgendetwas mit Metall berührst, das aufgeladen ist, oder ein anderer Funkenflug entsteht, kannst du der Auslöser sein, dass hier alles in die Luft fliegt. Warte einen Moment-Susanne versucht gerade an die alten Baupläne der Fabrik zu kommen, damit wir wissen, wo die Leitungen liegen, außerdem hat sie bereits die Feuerwehr verständigt, die rückt mit mehreren Fahrzeugen, unter anderem dem Gastrupp an, der Energieversorger wird in Kürze das Stromnetz des Viertels komplett abschalten und der Störungsdienst der Stadtwerke wird sicher auch bald da sein, um den Schieber an der Straße zu schließen, damit kein weiteres Gas nachströmt!“, erklärte er, was er am Telefon inzwischen mit Susanne geregelt hatte. Semir sah einen Augenblick auf den Rotschopf und musste zugeben, dass der absolut das Richtige getan hatte, aber sein Bauchgefühl sagte ihm gerade, dass Ben seine Hilfe brauchte und zwar sofort-nicht erst in einer halben Stunde oder später!


    Er humpelte nun zu einem Lichtschacht, denn er meinte, dass die Hilferufe und das Weinen auch von dort her kamen und spähte hinunter. Dann fiel ihm ein, dass er immer noch die kleine starke Taschenlampe einstecken hatte, mit der er vorhin in die geparkten Fahrzeuge geleuchtet hatte. Kurz überlegte er, aber hier draußen war der Gasgeruch zwar zu vernehmen, aber er hoffte nun einfach einmal, dass an der frischen Luft, wo ja auch eine leichte Brise wehte, die Gaskonzentration nicht allzu hoch war-und außerdem würde bei der LED-Lampe mit dem hellen kalten Licht wohl beim Einschalten kein Zündfunke entstehen.

    Genau dieselbe Überlegung hatte Sarah im Kellerverließ gehabt, aber sie hatte darauf verzichtet die Taschenlampe anzumachen-erstens war das ein etwas älteres Modell noch ohne LEDs und zweitens hatte die Helligkeit gegen Ende der Operation, wie man mit Fug und Recht zu dem sagen konnte, was sie mit Ben angestellt hatte, bereits nachgelassen. Das Jammern und Rufen der beiden älteren Frauen war nun in ein verzweifeltes Schluchzen, unterbrochen von zunehmendem Husten, über gegangen, denn langsam kroch immer mehr Gas unter der Tür durch und auch Ben, der zuvor schon gelegentlich vor sich hin gehüstelt hatte und jedes Mal danach schmerzvoll aufgestöhnt hatte, verspürte den Reiz. Sarah merkte, wie immer, wenn sich durch das Husten der Druck im Bauchraum erhöhte, vermehrt das warme Blut zu fließen begann, dabei spürte sie, dass sie das Gefäß immer noch fest umklammert hielt, aber die diffusen Blutungen nahmen bei jedem Druckanstieg zu. Trotzdem hielten sich die zwei Liebenden aneinander fest-sie hatten sich fast verloren, aber jetzt unter schrecklichen Umständen wieder gefunden, musste es denn so enden?
    Vor lauter Jammern und Klagen hatten sie gar nicht mitgekriegt, dass dort draußen noch andere Personen als der Türsteher zugange waren und als nun ein schwacher Lichtschein durch die kleine Fensteröffnung schien, glaubten sie ihren Augen nicht zu trauen. Von draußen rief eine nur zu bekannte Stimme: „Hallo-Sarah, Ben-seid ihr dort unten?“, und obwohl sie eigentlich genau wusste, dass es noch lange nicht vorbei war, überkam Sarah ein riesiges Glücksgefühl . Semir hatte sie gefunden-vielleicht würde doch noch alles gut werden!


    Inzwischen hatte Hartmut´s Handy geläutet und fast gleichzeitig signalisierte ein Piepton das Eintreffen einer Bildnachricht. Er ging ran und während aus der Ferne schon die ersten Martinshörner zu hören waren, teilte ihm Susanne aufgeregt mit. „Hartmut-der Strom im ganzen Viertel ist bereits abgeschaltet-das konnte der Energieversorger zentral erledigen, die Rettung, die Feuerwehr und viele Kollegen kommen euch zu Hilfe, aber alle Störungstrupps der Stadtwerke, die Nachtdienst haben, sind gerade anderswo im Einsatz-sie versuchen so schnell wie möglich zu kommen, aber es wird trotzdem 15-20 Minuten dauern, bis der Schieber geschlossen werden kann. Ich habe dir einen Teil der Pläne der alten Fabrik geschickt-Gott sei Dank wurden die wegen der Frage, ob das Gelände zum Industriedenkmal erhoben werden soll, bereits digitalisiert-da ist der Verlauf der Leitungen zu sehen. Die liegen unterirdisch und ganz in der Nähe deines Standpunkts müsste ein Schacht sein, wo man auch ran kommt!“, hatte sie ihm aufgeregt mitgeteilt und Hartmut hatte sofort die Bilddatei mit den abfotografierten Plänen geöffnet. Er sah sich suchend um und während das Klirren von Glas nun davon zeugte, dass auch Semir schon aktiv wurde, schritt er konzentriert in eine bestimmte Richtung und hatte tatsächlich wenig später einen Schachtdeckel am Boden entdeckt, der erst kürzlich geöffnet worden war. Suchend sah er sich im Lichte des Mondes, der gerade wieder geisterhaft hinter einem Wolkenturm hervor kam, um-tatsächlich, ganz in der Nähe lehnte so ein altertümliches Werkzeug mit dem die Tiefbauarbeiter solche Kammern öffneten, an der Wand. Mit wenigen Schritten hatte er es geholt und musste nun alle Kraft aufwenden, um den schweren Deckel beiseite zu wuchten. Als er dann ins Loch leuchtete, sah er sofort, dass dort erst kürzlich eine Plombe erbrochen worden war und die maroden Gasrohre wieder in Funktion waren. Hoffentlich waren die wenigstens dort unten dicht, aber wenn sie warteten, bis die Stadtwerke kamen, waren sie entweder bis dahin alle miteinander in die Luft geflogen, oder die Menschen im Keller, deren Hilferufe er ebenfalls vernommen hatte, wären erstickt. So stieg er kurz entschlossen in den Schacht und obwohl die altertümlichen Handräder ziemlich eingerostet waren, begann er sie mühsam zu drehen und betete dabei zu Gott, dass das nicht die letzte Tat seines Lebens war!

  • Semir hatte auf seine Frage Sarah´s Stimme vernommen, die unter Husten und undeutlich durch den Lichtschacht mit einem Gitter darauf und dahinter dem kleinen Fenster drang. „Semir-ja wir sind hier eingesperrt-Ben ist schwer verletzt, mir fehlt nichts und außer uns sind hier noch drei unverletzte Frauen!“, gab sie zur Antwort und musste dann schon wieder schrecklich husten, wie auch die anderen Eingesperrten dort drin. Extrem vorsichtig und doch unter großem Kraftaufwand, denn das Gitter war lange nicht abgenommen worden, schaffte es Semir die Lichtschachtabdeckung zu entfernen. Dann zog er sein Jackett aus, das er immer noch in seiner Verkleidung als Zocker trug, wickelte es um seine Hand und er rief-„Weg vom Fenster!“, um dann die Glasscheibe zu zertrümmern. Sorgfältig entfernte er das Glas aus dem Rahmen, damit er sich beim Hineingreifen nicht verletzte und öffnete dann das Fenster. Hoffentlich kam jetzt wenigstens ein bisschen Sauerstoff in das Kellerverlies!
    Bedauernd musterte er die Fensteröffnung-für einen erwachsenen Menschen war die leider zu eng- seine Schultern würden da nicht durch passen, höchstens ein Kind könnte da durchkriechen. Nun beugte er sich nach vorne und spähte im Licht der Taschenlampe in den Keller, musste allerdings sofort ebenfalls heftig husten, als er sich nach vorne beugte und immer noch war das bedrohliche Zischen zu hören. Er konnte nur einen kleinen Ausschnitt erkennen-dort kauerten zwei Frauen, etwa in seinem Alter und etwas beleibt auf einer Matratze und husteten sich die Seele aus dem Leib. Eine schlanke junge Frau, die er sofort als Natascha identifizierte, schwankte gerade Richtung Fensteröffnung, aber Ben und Sarah konnte er nicht entdecken, anscheinend waren die genau im toten Winkel. Nur ein mehrstimmiges Husten und Stöhnen war zu vernehmen und Semir schauderte. Ben war eigentlich nicht sehr empfindlich-er musste wirklich große Schmerzen haben und wenn Sarah schon sagte, er sei schwer verletzt, dann konnte man das glauben-immerhin war die vom Fach!


    „Was ist mit Ben?“, fragte er deshalb und Sarah antwortete: „Er ist regelrecht aufgeschlitzt worden-sein Darm ist verletzt, aber was viel schlimmer ist-ein großes Blutgefäß das von der Bauchaorta abgeht ist beschädigt-er kann jederzeit verbluten!“, gab sie zur Antwort und Semir musste schlucken. Wieder einmal stand es Spitz auf Knopf, aber wenn nicht bald etwas geschah, würden die Eingeschlossenen dort unten sterben-entweder waren sie erstickt oder in die Luft geflogen, das bisschen Luft, das durch das Fenster drang, konnte das Unvermeidliche höchstens hinaus zögern! Nun musterte er die junge Frau und anscheinend hatte Sarah denselben Gedanken gehabt. „Elisa-Milena-helft Natascha hoch, sie könnte durch die Fensteröffnung passen!“, befahl sie regelrecht und wenn die Situation nicht so lebensbedrohlich gewesen wäre, hätte Semir grinsen müssen. Sarah hatte ihren Kommandoton drauf und anscheinend die Sache dort unten im Keller im Griff.
    „Mitgefangen, mitgehangen!“, gab nun eine der beiden älteren Frauen schnippisch zurück und machte keine Anstalten sich zu erheben. Semir wäre am liebsten dort runter gesprungen und hätte sie gebeutelt-das war ja ein wahnsinniger Egoismus! Wenn sie ein wenig dünner wäre, würde sie ja vielleicht auch durch die Öffnung passen und er war sich sicher, wenn nur sie eine Möglichkeit gehabt hätte, sich in Sicherheit zu bringen, sie wäre abgehauen, ohne auch nur einen Blick zurück zu werfen, aber sowas war Charaktersache! „Jeder der raus aus dem Keller ist, verbraucht weniger Sauerstoff!“, gab nun Sarah zu bedenken und dieses Argument brachte die beiden Grazien dazu, sich mühsam hoch zu wuchten und wenig später hatte Semir die Hände der schlanken jungen Frau gefasst und sie ins Freie gezogen, wo sie dann zunächst einmal erschöpft und keuchend nach Luft schnappte. Ihre Kleidung und ihre Hände waren voller dunklen, getrockneten Blutes, aber sie schien nicht verletzt, dann musste es sich wohl um Ben´s Blut handeln. Die Martinshörner der Feuerwehr kamen inzwischen immer näher und als Semir einen Blick rundherum warf, waren alle Fensteröffnungen finster und keine Straßenlaterne leuchtete mehr-anscheinend war der Strom bereits abgestellt.


    Nun erklang eine Stimme aus dem Keller, die einen kleinen Funken Hoffnung enthielt. „Das Zischen hat aufgehört-tritt jetzt kein Gas mehr aus?“, fragte Sarah und in diesem Augenblick trat ein schmutziger Hartmut hinzu, der sich die schmerzenden Hände rieb. „Ja-ich habe die Zuleitung abgedreht, aber dort drinnen ist immer noch eine hoch explosive Mischung, seid bitte vorsichtig!“, bat er und half dann Natascha hoch, die sich immer noch die Seele aus dem Leib hustete. Auch Semir hatte sich für einen Augenblick erhoben. „Natascha-du bist dort unten sozusagen ortskundig. Bitte beschreibe mir genau, wie es da aussieht, damit ich rein kann und die Tür aufmachen, damit die anderen auch raus kommen!“, befahl er und knickte im selben Moment mit dem wehen Bein, das er verdrängt hatte, weg, so dass er fast gestürzt wäre. „Oh verdammt!“, murmelte er und musste einen Moment tief durch atmen, bis er sich wieder an den Schmerz gewöhnt hatte. Normalerweise hätte er jetzt keinen Schritt mehr gemacht, aber er würde erst dann ruhen, wenn die Gefangenen in Sicherheit waren!


    In diesem Augenblick rief sie ein Feuerwehrmann vom Tor aus an: „Räumen sie sofort das Gelände, ich bin der Einsatzleiter der Feuerwehr-hier herrscht höchste Explosionsgefahr!“, ordnete er mit Autorität in der Stimme an. „Ich möchte sofort einen Lagebericht, sind noch Personen eingeschlossen und wenn ja wie viele?“, fragte er und als Semir einen Blick zurück warf, konnte er die flackernden Lichter einer Menge Einsatzfahrzeuge in einigem Abstand hinter der Mauer entdecken. Gerade schlossen zwei Kollegen die Handschellen des immer noch bewusstlosen Verbrechers auf und der wurde mit einer Trage zum nächsten Rettungswagen gebracht. Ein weiterer Feuerwehrmann mit einem Messgerät, das die Gaskonzentration in der Luft bestimmen konnte, stand nun im Tor und als er die Werte durchgab, wichen sofort alle Hilfskräfte auf der Straße noch weiter zurück. „Verlassen sie sofort den Gefahrenbereich-niemand betritt das Gelände, wir errichten einen Sperrgürtel und bis die Stadtwerke die Gaszufuhr von außen unterbrochen haben, kommt hier niemand mehr hinein, ab sofort kümmern wir uns um alles!“, rief der Feuerwehrkommandant, ohne sich auch nur einen Schritt zu nähern. „Natascha, Hartmut-ihr könnt euch jetzt gleich in Sicherheit begeben-Mädchen, beschreib mir bitte nur noch kurz die Örtlichkeit!“, bat nun Semir erneut und immer noch ein wenig atemlos, aber froh, mit dem Leben davon gekommen zu sein, schilderte Natascha aus ihrem Gedächtnis die Lokalität und die Lage Ben´s und Sarah´s. Ben´s Frau hat wirklich die Hand ganz in ihm drinnen!“, erzählte sie hilflos und Semir konnte sich eines Schauderns nicht erwehren. „Wir brauchen hier dringend einen Notarzt!“, rief er deswegen, während er Natascha kurz drückte und sie dann stolpernd in Sicherheit schickte, mit der Bitte, dem Kommandanten dasselbe zu erzählen, wie ihm gerade. „Hartmut geh du auch!“, sagte er, aber der Kriminaltechniker schüttelte den Kopf. „Alleine schaffst du das nicht-wir holen die Gefangenen jetzt miteinander da raus!“, erklärte er und Semir schossen vor Rührung und Dankbarkeit beinahe die Tränen in die Augen, auf Hartmut war eben Verlass!


    Nun fackelten sie nicht lange und während im Hintergrund der Kommandant immer wieder versuchte, sie aus dem Gefahrenbereich zu lotsen, zogen sie stattdessen ihre Shirts aus, die sie unter der Straßenkleidung trugen, befeuchteten sie in einer Wasserpfütze, banden sie vor Mund und Nase, zogen sich ansonsten wieder an, denn es war eine kühle Herbstnacht und holten dann mehrmals tief Luft. Dann stürmten sie-soweit man bei Semir´s kläglichem Humpeln von Stürmen sprechen konnte-die Treppe hinunter und stießen erst die Tür zum Kellervorraum weit auf. Hier konnten sie die diabolische Konstruktion erkennen, die der Türsteher angebracht hatte. Er hatte den stabilen Kunststofffaden an dem altertümlichen Drehlichtschalter angebunden. Wenn er von außen aus sicherer Entfernung mit einem Ruck gezogen hätte, wäre das Gas durch den elektrischen Funken gezündet worden und das Fabrikgebäude in die Luft geflogen, was allerdings durch andere Faktoren jederzeit noch passieren konnte, denn mangels Entlüftung herrschte dort unten immer noch eine hochexplosive Mischung, auch wenn kein Gas mehr nachströmte. Achtlos hingeworfen lag in einer Ecke die Leiche eines jungen Mannes mit bunten Haaren-das war wohl Felix.


    Mit tränenden Augen sahen sie sich weiter um und identifizierten eine Holztür mit einem Metallriegel davor, als den von Natascha beschriebenen Zugang zu dem Kellerraum. Sie liefen nochmals zurück ins Freie, um ihre Lungen mit Sauerstoff zu füllen und drangen dann erneut in den Keller ein. Obwohl die Zeit drängte und die Luft knapp wurde, öffnete Hartmut, wie sie zuvor besprochen hatten, extrem vorsichtig den Metallriegel, während Semir die Taschenlampe hielt. Ein Funke und es war vorbei mit ihnen, aber Hartmut bewahrte einen kühlen Kopf und eine ruhige Hand. Dann rissen sie die Türe auf und schon stolperten ihnen die zwei dicklichen Frauen, die gebannt auf die Geräusche an der Tür gelauscht hatten, keuchend entgegen. „Hartmut-bring sie raus!“, befahl Semir und während der Rothaarige die Aufforderung widerstrebend befolgte, trat Semir nun hustend in den Kellerraum und starrte voller Entsetzen auf die Szene, die sich ihm bot. Eigentlich hätte er durch Natascha´s Erzählung ja schon auf den Anblick vorbereitet sein müssen, aber trotzdem gefror ihm fast das Blut in den Adern, als er das schaurige Bild erblickte, das sich ihm im hellen Taschenlampenlicht bot.

  • Ben lag, zwar zugedeckt mit zwei Wolldecken, aber käsebleich und mit dem Ausdruck höchsten Schmerzes im Gesicht, ganz ruhig auf dem Rücken in einer großen Blutlache. Aber obwohl er durch Natascha´s Bericht ja eigentlich schon darauf hätte vorbereitet sein müssen, gefror Semir trotzdem das Blut fast in den Adern, als er sah, dass Sarah´s Arm tatsächlich in seinem Freund verschwand. Mit zwei Schritten war er bei den beiden und registrierte im Unterbewusstsein, dass auch Sarah verzweifelt und völlig erschöpft wirkte. Er sank vor Ben auf die Knie und berührte ihn zart an der Wange, die von kaltem, klebrigem Schweiß überzogen war. „Hey-wie geht’s dir?“, fragte er und hätte sich im nächsten Moment ohrfeigen können. Was sollte diese Frage und was erwartete er für eine Antwort? Sollte Ben mit einem Lachen auf den Lippen antworten: „Bestens!“, oh Mann, was war er nur für ein ungehobelter Klotz! Ben allerdings verstand die Frage genau so, wie sie eigentlich gemeint war-als mitfühlende Anteilnahme. „Könnte besser gehen!“, flüsterte er und schloss erschöpft die Augen, um gleich darauf wieder schmerzvoll zu hüsteln.
    Auch Sarah und Semir mussten husten, denn obwohl jetzt ein kleiner Windhauch durch die geöffnete Tür und das winzige Oberlicht fuhr, würde es lange dauern, bis auf diesem Weg die Gaskonzentration so gering war, dass man den Raum gefahrlos betreten konnte. Die Tatsache, dass es ein Kellerraum war und das Gas auch schwer war, ließ es sich hier drinnen stauen und gerade waberte sogar besonders viel aus dem Vorraum zu ihnen herein. Vermutlich musste man den Raum mit speziellen Geräten belüften, aber das kostete alles Zeit und außerdem würde der Feuerwehrkommandant da draußen seine Leute nicht in Gefahr bringen-das war ja auch sein Job-der Eigenschutz ging bei Rettern vor!


    „Sarah, wie können wir ihn hier rausbringen?“, fragte Semir nun. Er würde Ben notfalls bis ans Ende der Welt tragen, auch wenn der deutlich schwerer war als er selber-es wäre nicht das erste Mal, dass er ihn aus irgendeiner Gefahrenzone schleppte. Draußen würden die Retter auf sie warten und sein Partner würde sofort ärztlich versorgt werden-das musste doch zu schaffen sein und außerdem war er sich ganz sicher, dass Sarah auch nach Kräften mit anfassen würde. Sie hatte ihm ja mitgeteilt, dass sie selber, wie auch die anderen drei Frauen, unverletzt war, obwohl ja Natascha ebenfalls voller Blut gewesen war-aber das war tatsächlich Ben´s Blut gewesen. Aktuell sah auch Sarah aus wie ein Metzger, denn sie hatte sogar im Gesicht bereits angetrocknete Blutspritzer und Semir bewunderte die Kaltblütigkeit, mit der sie anscheinend das Notwendige getan hatte, um ihren Mann am Leben zu erhalten, obwohl Ben ja am Vortag nicht so sicher gewesen war, ob sie nicht einen Liebhaber hatte-auf jeden Fall hatten die beiden in einer heftigen Ehekrise gesteckt. Das war jetzt allerdings gerade völlig nebensächlich und nachdem Semir die Schriftstücke auf Sarah´s Computer überflogen hatte, war er sich fast sicher, dass sie mit diesem Felix, der vermutlich der Tote dort draußen war, nur wegen ihrer Geschichten und der Schmähfeeds so eng verkehrt hatte. Oh nein-was war nur aus einer Bagatelle entstanden, aber es war jetzt müßig, sich deswegen den Kopf zu zerbrechen-nun musste erst Ben gerettet werden-es gab einfach Prioritäten!


    Sarah antwortete ehrlich und mutlos auf die Frage des kleinen Türken: „Wenn ich das Blutgefäß, das ich in Ben´s Bauch gerade abdrücke, loslasse, dann verblutet er innerhalb kürzester Zeit-er ist in diesem Zustand nicht transportfähig. Er hat schon sehr viel Blut verloren und keinerlei Reserven mehr-es ist fast ein Wunder, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein ist!“, sagte sie und Semir starrte sie jetzt völlig entsetzt an. Sollte das bedeuten, dass sie beide hier sitzen und zusehen mussten, wie Ben starb? Aber als er den Ausdruck abgrundtiefer Verzweiflung im Gesicht seiner Freundin sah, merkte er, dass sie ihm genau das mitteilen wollte. Semir überlegte fieberhaft, welche technischen Hilfsmittel er alleine aufwenden konnte, um Ben zu transportieren und irgendwie zum Notarztwagen befördern könnte, der nur wenige hundert Meter von ihnen entfernt Rettung verhieß, ohne dass Sarah ihre Hand aus dem Bauch seines Freundes nehmen musste, aber ihm fiel nichts ein, was irgendwie praktisch umsetzbar war.


    „Semir geh-du bist selber verletzt, wie ich sehe und lass dich draußen medizinisch versorgen. Ich bleibe hier bei Ben!“, forderte Sarah ihn auf und der kleine Türke wusste, was sie eigentlich noch hinzu setzen wollte, nämlich: „bis es vorbei ist!“, und das veranlasste ihn, nun mit Tränen in den Augen wild den Kopf zu schütteln. „Ich gehe nirgendwohin ohne euch!“, bestimmte er und griff nun nach Ben´s freier Hand. Er musste nachdenken-irgendetwas musste ihm einfallen und zwar schnell, denn Ben´s Augenlider flatterten und er murmelte: „Ich bin so müde!“ Während Semir schreien wollte: „Nein Ben, nicht einschlafen!“, sagte Sarah mit unendlicher Liebe in der Stimme: „Ist gut Schatz, schlaf ein bisschen, wir sind bei dir!“ und nun liefen ihre Tränen ungebremst über ihr Gesicht und zogen eine Spur durch Schmutz und Blut. Das Entsetzen und die Verzweiflung ließen Semir wild aufschluchzen-er wollte seinem Freund noch so viel sagen, stattdessen war er jetzt dabei, wie der starb!


    Natascha war aus dem Hof auf die Straße gestolpert. Dort hatte der Feuerwehrkommandant ein Plastikband als Grenze ziehen lassen, mit dem der Gefährdungsradius festgesetzt wurde. Hinter dieser Begrenzung war ein riesiges Aufgebot von Einsatzfahrzeugen der Feuerwehr mit Gaszug, mehreren Löschfahrzeugen, RTWs, der Polizei und trotz der frühen Morgenstunde sammelten sich auch schon Neugierige und natürlich nicht zu vergessen die allgegenwärtige Presse. Kaum war sie am Begrenzungsband angekommen, griffen helfende Hände nach ihr, hüllten sie in eine Decke und geleiteten sie zu einem RTW. Ein weiterer Rettungswagen startete gerade mit Warnblinkern und Blaulicht Richtung Krankenhaus, darin war der immer noch benommene Türsteher, der inzwischen einen Kopfverband und eine Infusion erhalten hatte und am Monitor hing. Ein Streifenpolizist begleitete den Transport, aber bis jetzt wusste noch niemand, was das zu bedeuten hatte, dass der Verletzte mit Handschellen am Tor fest gemacht gewesen war.


    Kaum hatte sich die Tür hinter Natascha geschlossen, sagte ein junger, gut aussehender Notarzt freundlich zu ihr: „Hallo-ich bin Dr. Burger-sind sie verletzt?“, während er sie bereits aufmerksam musterte. Auf den ersten Blick hatte er das Blut gesehen, das ihre Kleidung befleckte, aber wo das herkam, war ohne ihre Mithilfe nicht zu eruieren. Natascha hustete, woraufhin man ihr eine Sauerstoffmaske vors Gesicht hielt und sie bat, sich auf die Trage zu setzen. „Nein-ich bin nicht verletzt! Das Blut ist von meinem Freund, der wurde aufgeschlitzt und liegt da im Keller und verblutet-ihr müsst ihn rausholen!“, weinte nun Natascha und begann zu zittern-der Schock machte sich jetzt langsam bemerkbar. Der Notarzt hatte sie kurz orientierend abgetastet und einen Fingerclip angeschlossen, der die Sauerstoffsättigung maß. Die war mit Sauerstoff bei 100% und so legte er ihr nur kurz am Handrücken eine Infusion, um ihren Kreislauf zu stabilisieren und lauschte währenddessen atemlos ihrer Schilderung der Situation im Keller. Kurz stutzte er, als seine mädchenhafte Patientin erzählte, dass die Ehefrau ihres Freundes diesen nur mit ihren Händen operiert hatte-das musste ja ein toller Hecht sein, wenn der mehrgleisig fuhr und sich Frau und Freundin sogar kannten-seine Partnerin würde ihn sofort rauswerfen, wenn er mit einer zweiten Frau auch nur flirten würde-aber das ging ihn schließlich nichts an. Anscheinend war aber die Ehefrau des Opfers Medizinerin, aber sie hatte dort im Keller keinerlei Hilfsmittel und da war eine Menge Blut geflossen, sogar die Knie der hellen Jeans, die seine Patientin trug, waren befleckt. Wenn der Patient da drinnen also noch lebte, hatte er alles-nur keine Zeit mehr, denn die bildhafte Schilderung, wie die Ehefrau mit der Hand im Bauch des Patienten steckte und da etwas abdrückte, ließ nur einen Schluss zu-da war ein großes Gefäß verletzt.


    Bis der Keller so weit gelüftet war, dass der Feuerwehrkommandant Entwarnung gab und die Retter hinein ließ, konnten Stunden vergehen-und dann wäre es für diesen Patienten wahrscheinlich zu spät! Der Notarzt ließ nun Natascha kurz in den Händen der Sanitäter, die auf dem RTW waren, zurück und kletterte nach draußen. Gerade wurden drei weitere hustende Opfer hinter die Absperrung geschoben und von seinen Kollegen in Empfang genommen, wobei ein rothaariger Mann nun vehement die Rettungsfolie abschüttelte, die man um seine Schultern gelegt hatte. „Verdammt noch mal-ich bin nicht verletzt, aber ich brauche Hilfe. Ich bin bei der Polizei und da drinnen liegt ein schwer verletzter Kollege, den wir sofort rausholen müssen!“, rief er und wollte zurück streben, aber der Einsatzleiter der Feuerwehr baute sich vor ihm auf. „Hier habe ich das Kommando und bevor die Gaskonzentration nicht so gering ist, dass man gefahrlos näher gehen kann, betritt hier keiner das Gelände!“, tönte er. „Ich lasse sie notfalls festnehmen, wenn sie nicht vernünftig sind!“, raunzte er Hartmut an und als sich nun zwei uniformierte Kollegen, die er leider nicht kannte, drohend vor ihm auf bauten, warf Hartmut einen verzweifelten Blick in die Runde-um Himmels Willen-was sollte er nur tun?


    Der Notarzt hatte nun einen Entschluss gefasst und ging rasch zum RTW zurück-er hatte einen Eid geschworen und konnte dank seiner Ausbildung auch Gefährdungen einschätzen. Diese ganzen Menschen waren dort im Keller gewesen und lebten alle noch, inzwischen waren Gas und Strom abgestellt, er würde es wagen, aber er musste unauffällig vorgehen, sonst wäre er der nächste der in Gewahrsam genommen wurde!

  • Milena und Elisa waren ebenfalls zunächst von einem weiteren Notarzt untersucht und jede in einen RTW geleitet worden. Auch sie erholten sich mit ein wenig Sauerstoff schnell und nachdem der Blutdruck normal war, sah man von einer weiteren Behandlung ab und die beiden konnten die Sanitätsfahrzeuge verlassen. Sofort standen ein paar Pressevertreter parat, hielten ihnen die Mikrophone vors Gesicht und forderten sie auf, von ihren Erlebnissen zu erzählen. Nachdem die beiden einen kurzen Blick gewechselt hatten, schilderten sie den Reportern ihre Version der Geschichte und wenig später konnte man bereits in den aktuellen Lokalnachrichten hören, dass zwei unschuldige Frauen ganz zufällig in einen Kriminalfall verwickelt worden waren, der sie beinahe das Leben gekostet hätte.


    Der Türsteher war bereits langsam wieder zu sich gekommen, als er an dem Tor festgekettet war, ließ es sich aber nicht anmerken. Er wurde untersucht und behandelt und lag schlaff auf der Liege, bis sich der RTW weit genug von der alten Fabrik entfernt hatte. Er hatte sogar demonstrativ ein wenig gezittert, nachdem man ihn auf der Trage locker festgeschnallt hatte, so dass er mit einer warmen Decke zugedeckt wurde. Darunter konnte er problemlos den Verschluss des Anschnallgurtes lösen und bevor der Polizist auch nur daran denken konnte, sich zu verteidigen, lag er bereits bewusstlos und entwaffnet am Boden des RTW und die beiden begleitenden Rettungssanitäter wurde mit dessen Dienstwaffe in Schach gehalten. Der Fahrer fuhr auf Aufforderung auch artig an den Straßenrand und Sekunden später war der Verbrecher mitsamt der Waffe im Schutz der Dunkelheit verschwunden.


    Der Notarzt war derweil zu seinem RTW zurück gegangen. Er hatte seinen Entschluss gefasst, auch wenn es ihn seinen Posten als Notarzt kosten konnte. Allerdings wäre das nicht allzu schlimm, denn er war im Hauptberuf an einer gut gehenden Hausarztpraxis beteiligt. Das Notarztfahren war mehr ein Hobby und er wendete dafür auch nur wenige Tage im Monat auf, allerdings musste man ständig auf Schulungen und Lehrgängen sein und spezielle Fortbildungen nachweisen, sonst verfiel die Berechtigung dazu. Meist hatte man in der Stadt ja eher langweilige Fälle, wie alte Omis mit Schenkelhalsfrakturen, Männer mit Asthma und einem Infekt darauf, ab und zu einen Herzinfarkt, aber schon die schweren Verkehrsunfälle, wo man wirklich gefragt war und echte Notfallmedizin anwenden konnte, waren eher in der Minderzahl. Das hier allerdings war ein Einsatz auf Leben und Tod-und zwar nicht nur für den Patienten- sowas reizte ihn. Außerdem erinnerte ihn der Feuerwehrkommandant an seinen ehemaligen Chef-der war ein Korinthenkacker gewesen und hätte auch lieber jemanden über die Klinge springen lassen, bevor er irgendwelche Vorschriften umging!


    Also packte der Notarzt im Fahrzeug, in dem Natascha sich langsam erholt und zu zittern aufgehört hatte, einige Instrumente und was er ansonsten so brauchte, zusammen. „Was hat der Patient da drinnen sonst noch für Verletzungen, außer der Schnittwunde am Bauch?“, fragte er, aber die junge Frau schüttelte den Kopf. „Ich weiss nicht genau, aber ich glaube sonst war da nichts-aber mir hats gereicht, ich habe noch nie zuvor bei einer Operation zugesehen und musste ihn festhalten!“, berichtete sie nochmals mit Schaudern, während man die Infusion bereits wieder entfernen konnte und dann hatte der Notarzt auch schon einen Rucksack, den er zuvor ausgeleert hatte, neu bestückt und sich eine LED-Stirnlampe um den Kopf geschnallt und diese eingeschaltet, so hatte er Licht und trotzdem beide Hände frei.
    Die Sanitäter sahen ihn fassungslos an: „Du willst doch jetzt nicht wirklich da rein gehen?“, fragten sie ungläubig, aber Dr. Burger nickte. „Genau das-ihr habts erfasst. Ihr wisst von nichts, dann kriegt ihr auch keinen Ärger-das ist auch ganz alleine meine Entscheidung, aber wie uns allen klar ist, kann das Stunden dauern, bis die Fabrik für uns Helfer frei gegeben wird, bis dahin ist der Patient da drin vermutlich tot und das kann ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren. Ich kann mir auch schlecht von der Feuerwehr eine Gasmaske ausborgen, dann riechen die sofort Lunte und der Feuerwehrkommandant lässt mich zu meinem eigenen Schutz festsetzen. Nicht mal einen Monitor oder eine Sauerstoffflasche kann ich mitschleppen, zu groß ist die Gefahr der Funkenbildung und auch den Ulmer Koffer traue ich mich nicht zu nehmen, obwohl der vermutlich aus Alu ist, aber ich bin mir nicht ganz sicher und ich will das nicht provozieren, uns alle in die Luft zu jagen!“, erklärte er seinen Helfern.


    Der eine der Rettungssanitäter, ein älterer erfahrener Mann, der Natascha in seiner Abwesenheit gut betreut hatte, sagte: „Wir warten hier auf euch und bereiten im Fahrzeug alles für eine Notfallversorgung vor, wenn du mit dem Patienten raus kommst-und wenn das nicht geht, eilen wir zu Hilfe, sobald die Fabrik frei gegeben ist, aber du verstehst-wir haben Familie, mir persönlich ist einfach das Risiko zu groß“, erklärte er und der Notarzt winkte ab: „Das würde ich auch nie von jemandem verlangen, dass er sein Leben für einen Patienten riskiert, aber ich werde jetzt einfach losgehen, vielleicht könntet ihr hier eine Show inszenieren, damit die Menge einen Augenblick abgelenkt ist?“, fragte er und Natascha und die beiden Männer wechselten einen Blick und nickten sich zu. Während der Notarzt ganz beiläufig vorne an die Absperrung schlenderte, ging die hintere Tür des RTW auf und Natascha rannte laut kreischend davon, die beiden Sanitäter hinterher. „Haltet sie auf-sie hat einen Schock!“, brüllte der eine und alle wandten sich der hysterisch schreienden jungen Frau zu, während Dr. Burger schnell das Absperrband lüpfte und bis der Feuerwehrkommandant, der immer noch mit Hartmut diskutiert hatte, es merkte, war der Notarzt schon im Inneren des Fabrikgeländes verschwunden. „Halt, bleiben sie stehen!“, schrie nun der überrumpelte Einsatzleiter, aber während Natascha nun sehr publikumswirksam von den Sanitätern wieder eingeholt und zum RTW zurück gebracht wurde, strebte der mutige Arzt im Laufschritt auf den Kellereingang zu-was würde ihn da wohl erwarten?

  • Ben hatte gerade die Augen geschlossen, um sich in den Schlaf gleiten zu lassen, aus dem es vermutlich kein Erwachen mehr geben würde, da waren plötzlich Schritte auf der Treppe zu hören und der Lichtkegel einer Stirnlampe erhellte den Kellerraum. „Hallo ich bin Dr. Burger-kann ich ihnen helfen?“, fragte eine sympathische Stimme, ein großer Rucksack wurde neben ihnen abgestellt und der Arzt, auf dessen reflektierender Kleidung im Halbdunkel: „Notarzt“ zu lesen war, ließ sich neben Ben auf den Knien nieder. „Ich habe schon gehört-wir haben eine Stich- oder Schnittverletzung und meine Kollegin drückt das Gefäß ab!“, gab er von sich, um den Anwesenden gleich zu signalisieren, dass er bereits informiert war. „Ich bin keine Kollegin, sondern Intensivschwester, aber vermutlich ist die Arteria iliaca interna verletzt und mein Mann hat schon sehr viel Blut verloren, außerdem ist Darminhalt ausgetreten!“, sagte Sarah und der Arzt nickte, sprach zunächst Ben an und tätschelte seine Wangen, woraufhin der mühsam die Augen wieder aufmachte.

    Ihm war schwindlig und er hatte aufgegeben-er wollte jetzt nur noch einschlafen, keine Schmerzen mehr haben und kapierte erst gar nicht, was los war. Verständnislos musterte er den Arzt, von dem er durch das helle Stirnlampenlicht, das ihn blendete, nur Schemen erkennen konnte. Gerade wollte er die Augen erneut schließen, da drang Sarah´s energische Stimme, in der plötzlich Hoffnung mitschwang, zu ihm durch: „Ben du wirst jetzt nicht wieder einschlafen, sondern kämpfen! Der Arzt wird dir helfen, du kommst hier raus und wirst in der Klinik versorgt, deine Kinder brauchen dich!“, appellierte sie an ihn und er bemühte sich, jetzt wach zu bleiben, was ihm aber wieder ein schmerzvolles Stöhnen entlockte, als Sarah unbewusst ihre Position nur minimal veränderte. Dr. Burger lief es eiskalt über den Rücken. Er hatte den Blutsee am Boden gecheckt und klar war, dass sein Patient schockig war, denn das war eine Menge Blut, die der verloren hatte. Was musste der für Schmerzen aushalten, ein Wunder, dass er noch bei Bewusstsein war! Allerdings war anscheinend die Gaskonzentration nicht mehr gefährlich hoch-er musste kaum husten, bekam auch keine Kopfschmerzen und es roch nur noch schwach, wobei das Gefährlichste ja das Kohlenmonoxid im Gas war, das ohne die Anreicherung des Stadtgases mit Duftstoffen geruchlos und tödlich wäre. Draußen war eine frische Brise aufgekommen und ein Windhauch durchzog den Kellerraum, das war gut, diese Gefahr konnten sie also vermutlich vernachlässigen, wobei natürlich immer noch eine Explosionsgefahr bestand.


    „Ich habe nur Sachen dabei, bei denen nicht mit Funkenbildung zu rechnen ist. Herr Käfer, ich lege ihnen jetzt einen Zugang, um ihren Kreislauf zu stabilisieren!“, erklärte der Arzt nun, der seinen Rucksack inzwischen geöffnet hatte. Nun mischte sich Semir ein, der anhand des Tarnnamens sofort wusste, woher der Arzt die Informationen hatte: „Dr. Burger-mein Freund und Kollege heißt in Wirklichkeit Ben Jäger, wir sind Kriminalkommissare in einem Undercovereinsatz und er wurde verletzt, als er einen Mörder und Entführer verfolgt hat!“, erklärte er und der Arzt nickte. „Das tut im Moment allerdings nichts zur Sache, ich würde meinen Patienten auch versorgen, wenn der ein Verbrecher wäre, es steht mir nicht zu, zu richten, für mich steht der Mensch im Vordergrund!“, stellte er klar, während er rasch und geschickt eine Infusion vorbereitet hatte. Zufällig war an der Wand, ganz nahe bei Ben, ein Nagel und daran hängte er die Plastikflasche mit dem Infusionssystem und besah sich dann die Arme seines Patienten. Obwohl der normalerweise Venen wie Wasserleitungen hatte, waren die alle kollabiert und so bat er Semir, der inzwischen die Hand seines Freundes los gelassen hatte, ein wenig beiseite zu rutschen. „Ich lege ihnen jetzt eine Infusion in die Halsvene!“, informierte er Ben ruhig, drehte dessen Kopf leicht zur Seite, desinfizierte mit einem Alkoholtupfer und bis der junge Mann sich versah, piekte es schon und der Zugang lag. Rasch verklebte ihn der Arzt, schloss ihn an und drehte die Infusion nun voll auf. Es war zwar nur eine Vollelektrolytlösung, also kaum mehr als Wasser, aber trotzdem würde es den Kreislauf wenigstens momentan ein bisschen stützen.

    Jetzt wandte er sich an Sarah, während er die Decken soweit beiseite schob, dass er gut an den Bauch des dunkelhaarigen, gut aussehenden Polizisten kommen konnte: „Ich werde ihren Mann jetzt, sobald ich alles vorbereitet habe, mit Ketamin in eine leichte Narkose legen und ich hoffe, sie helfen mir dann, den Bauch zu spreizen, damit ich das Gefäß mit einer langen Gefäßklemme fassen und abklemmen kann-also bitte noch nicht loslassen. Die Klemme bleibt dann liegen-da sollen sich später die Gefäßchirurgen in der Klinik darüber Gedanken machen, ob sie die Arterie ligieren, oder patchen, das hängt auch davon ab, ob es sich wirklich um die Iliaca interna handelt.“, sagte er.
    Die Sicherheit, mit der er davon ausging, dass das alles klappen und Ben die Klinik auch lebend erreichen würde, strahlte auf alle Anwesenden aus, dabei war sich der junge Arzt keineswegs sicher, dass das alles so funktionieren würde, wie er es geplant hatte, aber es war jetzt alles besser, als nichts zu tun, denn dann würde sein Patient sterben. Obwohl die große Arterie wohl tatsächlich durch die Kompression nicht schweißte, lief kontinuierlich Blut aus dem Bauch, vielleicht war die Gerinnung schon zusammen gebrochen, im Sinne einer Verbrauchskoagulopathie, dann würde man den jungen Mann vermutlich nicht mehr retten können. Aber er würde hier und jetzt alles tun, was möglich war und so hatte er rasch das Ketamin in eine große Spritze aufgezogen, seine mitgebrachten, einzeln steril verpackten Instrumente heraus gelegt und sterile Handschuhe vorbereitet, obwohl die Infektionsgefahr durch ihn vermutlich gerade das geringste Problem seines Patienten war. Der Arzt trug bereits Einmalhandschuhe, aber die Chirurgenhandschuhe waren von besserer Qualität und reichten auch weiter am Unterarm hinauf. Schnell entledigte sich der Arzt auch der Notarztjacke, er brauchte jetzt Bewegungsfreiheit und dann wandte er sich an Semir. „Für sie habe ich jetzt ebenfalls eine Aufgabe: Ich werde mir zunächst die sterilen Handschuhe anziehen und ein steriles Tuch auf dem Boden ausbreiten. Ich darf sie dann bitten, mir der Reihe nach meine Instrumente und Bauchtücher anzureichen, also die Verpackungen aufzureißen, damit ich sie nehmen und auf das Tuch legen kann. Wenn alles vorbereitet ist, beginnen wir mit der Narkose und auch da wäre ich ihnen sehr dankbar, wenn sie einfach so viel Narkosemittel, wie ich ihnen sage, in den Zugang entleeren könnten!“, bat er höflich, aber da hatte schon Sarah das Wort an sich gerissen. „Semir-tu was er sagt, das ist die einzige Möglichkeit, dass Ben überlebt!“, flehte sie in mit Tränen in den Augen an und Semir nickte.


    „Wenn ihr beiden Profis mir erklärt, was ich tun soll, dann erledige ich das, keine Frage!“, stellte er fest und begann fast gleichzeitig die Verpackungen der Reihe nach auf zu reißen. So war wenig später die Operation vorbereitet und Ben, der wieder begonnen hatte, leise vor sich hin zu stöhnen, seufzte einmal noch kurz auf, als das Medikament in seine Halsvene floss, aber dann war er ruhig und schloss seine Augen-niemand brauchte zu wissen, wie schwer die letzten Minuten für ihn gewesen waren! Er war dabei, vor Schmerzen fast wahnsinnig zu werden und glaubte persönlich nicht daran, dass er es schaffen würde. Zu schwach fühlte er sich und merkte ja selber, wie die letzten Kräfte allmählich verschwanden. Er dachte voller Liebe an seine Kinder, mit Sarah war alles geklärt und das Letzte, was er vor seinem inneren Auge sah, war das lachende Gesicht seines dunkel gelockten Dreijährigen, bevor er in die Narkose glitt.

    Nun fackelte der Arzt nicht lange. Er bat Semir für alle Fälle die beiden Hände seines Patienten nach oben zu nehmen und fest zu halten. Er hatte reichlich Narkosemittel aufgezogen, das Ketamin war in der Notfallmedizin unverzichtbar, weil es in niedrigen Dosen als starkes Analgetikum, also Schmerzmittel diente und bei höherer Dosierung als Narkosemittel verwendet werden konnte, ohne den Blutdruck, wie alle anderen derartigen Medikamente zu senken. Außerdem erhielt es die Eigenatmung, allerdings war der Narkoseschlaf natürlich nicht ganz so tief und unwillkürliche Abwehrbewegungen des Patienten waren immer möglich. Auch relaxierte man normalerweise für Bauchoperationen den Patienten, das bedeutete, dass man ein Muskelentspannungsmittel spritzte, damit der nicht dagegen spannte und man gut an die Bauchorgane ran kam, aber das konnte er Ben nicht geben, weil er dann aufhören würde zu atmen, also begann der Arzt nun im Licht der hellen Stirnlampe mit Kraft die Bauchdecke zu spreizen. Ben stöhnte in seinem noch nicht all zu tiefen Narkoseschlaf auf und versuchte nach unten zu fassen-gut dass Semir ihn eisern fest hielt. „Spritzen sie bitte noch zwei Milliliter nach!“, bat der Doktor und Semir tat, wie ihm aufgetragen wurde, während er mit der anderen Hand Ben fixierte. Er hatte schon oft zugesehen, wie die Ärzte oder Schwestern Medikamente in genauer Dosierung in einen Zugang entleerten, aber das selber zu machen und da ein Gefühl dafür zu entwickeln war aufregend genug.

    Kurz wartete der Arzt noch, bis das Medikament ankam, aber dann machte er weiter und legte ein großes Bauchtuch ein, mit dem er das Blut, das im Bauch herum schwamm aufsaugte. Drei große grüne Tücher klatschten dann voll gesogen auf den Kellerboden, aber dann hatte er eine gewisse Übersicht und konnte mit zwei langen Bauchspateln den Darm, dessen Verletzung er genau sehen konnte, beiseite drücken. Nun bat er Sarah, die inzwischen in der rechten Hand, die das Gefäß abdrückte, fast kein Gefühl mehr hatte, den einen Spatel mit ihrer freien Hand zu übernehmen und sie machte das. Nochmals tupfte der Arzt das OP-Gebiet sauber und dann spürte Sarah, wie sich die lange, vorne leicht gebogene Klemme, unter ihre Finger schob. „Ein wenig hoch ziehen!“, bat der Arzt, der ihr gegenüber kniete, konzentriert und dann hatte er den Gefäßstumpf auch schon gepackt und die Klemme rastete ein. „Jetzt langsam los lassen!“, bat Dr. Burger und Sarah hatte Mühe, ihre völlig verkrampften Finger zu lösen. Sie und auch der Arzt hielten jetzt den Atem an-hielt die Klemme? Aber es funktionierte und aufseufzend zog Sarah nun ihre blutige Hand aus Ben´s Bauch, der Arzt legte die restlichen grünen Bauchtücher auf die klaffende Wunde, rollte dann die blutigen Instrumente in das Tuch, das am Boden lag und als Instrumententisch gedient hatte, ein und stopfte alles in den Rucksack. Dann zog er seine blutigen Handschuhe aus, ersetzte sie durch ein Paar frische Einmalhandschuhe, von denen er noch mehrere Paar in einer der vielen Taschen seiner Funktionshose hatte. Er nahm die Spritze mit dem restlichen Ketamin an sich und ließ sie, nachdem er sie verschlossen hatte, in einer seiner vielen Taschen verschwinden-vielleicht brauchten sie das noch unterwegs. Dann schlüpfte er in seine Notarztjacke, zog eine zusammen gefaltete, stabile Rettungsdecke mit Handgriffen aus seinem Rucksack, rollte sie zur Hälfte der Länge nach ein und gemeinsam drehten sie Ben leicht zur Seite, schoben einen Teil der Decke unter ihn und konnten nach dem Zurückdrehen den Rest unter ihm hervor ziehen. Der Arzt schloss die Rollklemme der Infusion, die inzwischen fast ganz eingelaufen war, legte die Plastikflasche zwischen die Beine seines jetzt tief schlafenden Patienten, schulterte den Rucksack und sagte dann aufmunternd: „Dann mal los!“


    Ohne sich groß abzusprechen, packten Semir und er einer vorne und einer hinten die Handgriffe, Sarah wollte auch mit anfassen, aber die beiden Männer hatten sehr wohl bemerkt, dass sie am Ende ihrer Kräfte war. „Sarah, du gehst voraus und hältst die Türen weit auf!“, befahl Semir und dann setzte sich die Karawane auch schon in Bewegung. Durch die Handgriffe war die Rettungsdecke bequem zu tragen und als sie die Stufen der Kellertreppe überwunden hatten und ins Freie traten, sah Dr. Burger auch schon die beiden Rettungssanitäter mit einer Trage direkt hinter der Absperrung warten. Die Menge teilte sich und es ertönte Applaus, als viele Hände Ben nun unendlich vorsichtig auf die Liege legten und das Blitzlicht vieler Fotografen die Szene gespenstisch erhellte. Schnell wurde Ben ins Innere des Rettungswagens geschoben, der Arzt und Sarah kletterten hinterher und Hartmut, der immer noch von den Kollegen fest gehalten worden war, kämpfte sich jetzt zu Semir durch und fragte aufgeregt: „Wie geht es Ben?“, woraufhin Semir mit ernster Miene mit den Schultern zuckte. „Er lebt noch!“, antwortete er lapidar, was sollte er auch sonst sagen-bei dem vielen Blut, das sein bester Freund verloren hatte, hatte der Kampf schließlich erst begonnen!

  • Im RTW begannen die beiden Sanitäter routiniert mit den eingeübten Tätigkeiten. Man schnitt Ben´s Kleidung so weit auf, dass man Elektroden für die EKG-Ableitung auf seinem Brustkorb und an Armen und Beinen befestigen konnte, schlang eine Blutdruckmanschette um seinen Oberarm und steckte den Fingerclip an seinen Zeigefinger. Allerdings bekam man gerade keine Ableitung der Sauerstoffsättigung-zu sehr war Ben´s Körper zentralisiert, das bedeutete, sein Organismus hatte das wenige verbliebene Blut aus den Extremitäten durch Gefäßengstellung abgezogen und ins Körperinnere gebracht, damit die wichtigsten Organe –Gehirn, Herz, Lunge, Nieren und Leber- noch vom wenigen Sauerstoff, der ans knappe Hämoglobin gebunden durch ihn floss, versorgt wurden. Sein Herzschlag war stark beschleunigt und die Blutdruckmessung erbrachte nur einen Wert von 60/40 mm/Hg. Ohne dass der Notarzt nur einen Ton sagen musste, hatte der eine der Sanitäter bereits eine neue, angewärmte Infusionsflasche angehängt und voll aufgedreht. Man hatte eine Sauerstoffmaske auf dem Gesicht des Patienten befestigt, damit wenigsten das Angebot passte und spritzte ihm nun eine halbe Ampulle Akrinor, um den Blutdruck zu steigern. Die nächste Messung ergab dann auch schon einen Wert von 80/ 40 mm/Hg und Dr. Burger nickte seinem Team zu: „Wir intubieren!“, sagte er und trat an Ben´s Kopf.

    Inzwischen war die narkotisierende Wirkung des Ketamins schon wieder so weit abgeflaut, dass Ben die Augen öffnete und verständnislos um sich blickte. Gott sei Dank hielt die analgetische, also schmerzstillende Wirkung viel länger an als die das Bewusstsein betreffende und so hatte Ben gnädigerweise keine Schmerzen, aber er kannte sich überhaupt nicht aus. Sarah, die sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten hatte, denn sie wusste, ein eingespieltes Team-und das war die RTW-Besatzung-sollte man nicht stören, quetschte sich nun doch durch den beengten Raum zur Liebe ihres Lebens. Auch wenn er aus dem Keller gerettet war, konnte sie als Intensivschwester einschätzen, dass die Lebensgefahr noch nicht gebannt war und sie ihn jederzeit verlieren konnte. „Schatz, ich bin da und du wirst gut versorgt, du darfst gleich weiter schlafen, ich liebe dich!“, sagte sie voller Zärtlichkeit und ergriff mit ihrer immer noch blutigen Hand, die sie nur notdürftig mit einem Tuch abgewischt hatte, die seine, die eiskalt war.
    Die Besatzung des RTW ließ sie gewähren, Sarah blieb neben ihrem Mann und er sah sie unverwandt an, bis die erneute Dosis des Narkosemittels, das man ihm spritzte, seine Augen zufallen ließ. Er wurde noch relaxiert, so konnte man Narkosemedikamente sparen und die Gefahr, bei der Intubation seinen Kehlkopf zu verletzen, wurde minimiert. Als Ben dann ganz schlaff wurde, bebeutelte ihn der Notarzt noch ein wenig über eine Maske mit reinem Sauerstoff, bevor er dann seinen Mund öffnete, den Kopf überstreckte und unter Sicht via eines Laryngoskops, den Tubus in die Luftröhre schob. „Der Rachenraum ist tiefrot und entzündet, die Mandeln sind ebenfalls dick-ist ihr Mann erkältet?“, fragte er Sarah und die zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht“, sagte sie leise und ein großes Schuldbewusstsein überkam sie. Vor lauter Geschäftigkeit die beiden Autorinnen zu überführen, hatte sie den Blick für das Wesentliche verloren und es gab ihr einen Stich ins Herz. Was hatten sie nun alle davon? Felix war tot, Ben würde vielleicht ebenfalls sterben und nur, weil sie wegen eines völlig belanglosen Hobbys zufällig in ein Wespennest gestochen hatte.

    Sie schluchzte auf und wandte den Blick ab, während Ben nun geschäftig vom Notarzt und den Sanitätern weiter versorgt, angeschnallt und für den Transport vorbereitet wurde. Man brachte seine Trage in Kopftieflage und als er halbwegs stabil war, bat Dr. Burger Sarah: „Würden sie sich bitte während der Fahrt nach vorn zum Fahrer setzen? Wir haben hier hinten zu wenige Sitzgelegenheiten und ich hätte gerne mein Team um mich, falls es Komplikationen gibt!“, sagte er und obwohl es ihr schwer fiel, nickte Sarah. Hier musste die Vernunft dem Gefühl weichen-sie wäre kein große Hilfe wenn Ben reanimationspflichtig würde. In der Klinik kannte sie sich aus, da wusste sie wo jedes Ding seinen Platz hatte, die Abläufe waren tausendfach geübt, aber hier müsste sie alle Türen aufreißen, um ein Medikament oder etwas anderes zu finden-nein zum Schutz ihres geliebten Mannes musste sie vernünftig sein und so kletterte sie nach draußen und stieg neben den Fahrer ein, einem jungen Mann, der nach dem nicht so tollen Abitur über den Bundesfreiwilligendienst zur Feuerwehr gekommen war, um sich beruflich zu orientieren und die Zeit des Wartens auf einen Studienplatz sinnvoll zu nützen. Er fuhr gerade den RTW und neben ihm saß auch schon Natascha und hatte sich angeregt mit ihm unterhalten. „Hey-wie geht es Ben?“, fragte sie schüchtern und Sarah, die immer noch Tränen in den Augen hatte, zuckte mit den Schultern. „Ich weiss es nicht-schlecht würde ich sagen!“, beschrieb sie die Situation und während sich das Fahrzeug mit Blaulicht und Martinshorn in Bewegung setzte, brach Sarah regelrecht zusammen und als sie laut weinte, nahm Natascha sie in die Arme, schloss auch noch ihren Sicherheitsgurt und versuchte sie zu trösten. Eines hatte sie gemerkt-auch wenn die beiden Eheleute vielleicht eine vorübergehende Störung in ihrer Beziehung gehabt hatten, eigentlich herrschte zwischen den beiden eine übergroße Liebe, die sie mit Neid und Ehrfurcht erfüllte. Ob sie jemals so etwas erleben dürfte? So sehr sie Ben haben wollte, für sie war da kein Platz und auch andere Mütter hatten schöne Söhne-der junge Mann neben ihr war zum Beispiel so ein Exemplar und gerade hatte er ihr erzählt, dass er seit kurzem wieder solo war!


    Der Türsteher war bei einem Kumpel aus dem Rotlichtmilieu unter getaucht. Während draußen die Fahndung nach ihm lief, denn natürlich war er mehrfach wegen Körperverletzung, Drogenhandel und anderer Delikte vorbestraft und hatte auch schon eingesessen, zog sich der Saubermann aus dem Ministerium seinen Anzug an, fuhr nach Düsseldorf und saß kurz nach acht bereits in der Sitzung. Dort kam auch das aktuelle Thema aus Köln auf den Tisch-auf dem Fabrikgelände, das gerade wegen dem fraglichen Denkmalschutz geprüft wurde, war Gas ausgetreten und man hatte im Keller mehrere eingeschlossene Personen und eine Leiche entdeckt. Inzwischen waren alle Eingeschlossenen geborgen, die Räume belüftet und in letzter Sekunde hatte man durch umsichtiges Verhalten eine Gasexplosion verhindern können. Die zornigen Anlieger ließen allerdings gerade die Leitungen der Stadtwerke und den Notruf der Polizei heiß laufen, denn sie hatten in den Wohnungen seit der Nacht immer noch keinen Strom und kein Gas, aber erst wenn jegliche akute Gefährdung ausgeschlossen werden konnte, würde die Versorgung wieder aufgenommen werden und das dauerte!
    Die Feuerwehr hatte mit Notstrom und einer Lichtgiraffe das Gelände noch in der Nacht beleuchtet, die Lüfter liefen und inzwischen waren die Männer die Spurensicherung, allen voran Hartmut, in ihren weißen Schutzanzügen zugange und gingen ihrer Arbeit nach, während Semir und Sarah vor dem OP in der Uniklinik warteten und verzweifelt auf gute Neuigkeiten hofften.

  • Semir hatte voller Sorge gesehen, wie sich die Türen des RTW schlossen, der aber noch eine ganze Weile nicht los fuhr, sondern drinnen geschäftiges Treiben herrschte. Dann stolperte Sarah hinaus, nahm aber sofort neben dem Fahrer Platz und endlich setzte sich das Fahrzeug in Bewegung. Er hatte ein paar Worte mit der Chefin gewechselt, die ebenfalls zu ihnen geeilt war, inzwischen Hartmut aus den Klauen des Feuerwehrkommandanten befreit hatte und nun besorgt fragte: „Wie geht es Ben?“, aber Semir konnte nur hilflos den Kopf schütteln-er wusste es nicht. Er setzte sich wie in Trance in seinen BMW und folgte dem RTW, der die Uniklinik ansteuerte, wie der Notarzt ihm zuvor bereits mitgeteilt hatte. Dort war Ben bekannt, man war auf schwerste Verletzungen eingerichtet und viele spezialisierte Fachärzte arbeiteten dort eng zusammen zum Wohle der Patienten. Semir stellte seinen Wagen auf dem Parkplatz ab, immer noch war es stockfinster draußen, aber das bemerkte er kaum, als er Richtung Notaufnahme ging, wo Ben gerade im Schockraum versorgt wurde. Der Rettungswagen war in die Patientenanlieferungszone gefahren und sofort hatten sich die Tore hinter ihm geschlossen.

    Gerade versuchte Semir die Schwester, die probierte ihn abzuwimmeln, davon zu überzeugen, dass er dringend zu seinem Freund musste, da wurden die Türen des Schockraums geöffnet und Ben, den man nur eilig umgelagert hatte und den Dr. Burger an seine Kollegen übergeben hatte, wurde in den OP gefahren. Am Bett hingen Infusionen, Monitore, ein transportables Beatmungsgerät und viele andere medizinische Geräte und Semir erhaschte nur einen kurzen Blick auf ein blutverschmiertes Gesicht, das fast so weiß war, wie das Kissen, auf das man Ben´s Kopf gebettet hatte. Die Eile mit der man das Bett schob, verhieß nichts Gutes und Sarah, die völlig am Ende war, wollte dem Tross folgen, aber Dr. Burger hielt sie am Arm fest. Er hatte ebenfalls Semir erspäht und sagte nun mit fester Stimme: „Sie beide trinken jetzt erst einmal einen Kaffee-ich gebe ihnen einen aus-ich denke nicht, dass die Kollegen im OP ihre Hilfe brauchen!“, offerierte er und hatte schon ein paar Münzen gezückt und die in den Automaten geworfen, der im Wartebereich vor der Notaufnahme stand. „Sie können jetzt aktuell nichts für ihren Mann und Kollegen tun, der ist in guten Händen. Sie beide haben ihm heute schon mal das Leben gerettet, das genügt, jetzt sind andere dran!“, redete er auf die beiden ein, zog sich selber noch einen Kaffee und drückte Sarah, die völlig an der Kante war, auf einen Stuhl im Wartebereich.

    Semir begann jetzt langsam wieder zu denken und sagte dann ruhig zu dem jungen Notarzt: „Wenn sie nicht gewesen wären, wäre Ben vermutlich schon nicht mehr am Leben-wir danken ihnen ganz herzlich!“, erwiderte er und nun sah auch Sarah auf, die erschöpft den Blick zum Boden gewandt hatte und sich mit ihren eiskalten und immer noch blutigen Händen am Kaffeebecher fest hielt. „Danke!“, flüsterte auch sie und Dr. Burger lächelte sie an. „Ich habe nur meinen Job gemacht!“, sagte er und packte dann einen Weißkittel, der gerade an ihnen vorbei lief, am Ärmel. „Würdest du bitte veranlassen, dass auch bei diesen beiden Patienten eine Blutgasanalyse gemacht wird, die den fraglichen Kohlenmonoxidanteil im Blut anzeigt? Die waren ein wenig länger als ich in dem bewussten Keller!“, fragte er den Kollegen und der nickte. Natascha kam gerade aus dem Behandlungsraum, den der Arzt gerade verlassen hatte, drückte fest eine Kompresse auf ihren Unterarm und setzte sich nun zu ihnen.
    „Wissen sie-normalerweise ist das Erdgas, das in Köln verwendet wird ungiftiges Methangas, allerdings könnte es eventuell zu einem chemischen Umbau zu Kohlenmonoxid gekommen sein-meist durch unvollständige Verbrennung. Das können wir feststellen, aber das ist auch die einzige Gefahr, die für sie jetzt noch besteht, nachdem wir nicht alle gemeinsam in die Luft geflogen sind und das Erdgas auch den für uns alle notwendigen Sauerstoff nicht völlig aus dem Keller verdrängt hat. Ich denke aber nicht, dass sie und die anderen noch in Gefahr sind-allerdings sollten sie ihre Verletzung auch noch versorgen lassen!“, erklärte er und Semir sah überrascht auf seinen Oberschenkel, an den er im Augenblick keinen Gedanken mehr verschwendet hatte. Wenig später wurde-nachdem der Notarzt sich verabschiedet hatte- aus der Radialisarterie, sowohl von Sarah, als auch von Semir, mit einem Vakuumröhrchen Blut abgenommen und gleich im Labor mit einem speziellen Analysator geprüft. Aber wie auch in Natascha´s Probe waren keine Abweichungen von der Norm fest zu stellen, Semir´s Verletzung reinigte man, klebte ein paar Strips darauf und verband sie, es war wirklich nur ein Kratzer und so wurden sie alle ganz offiziell entlassen, oder vielmehr gar nicht erst stationär aufgenommen.


    Auch die beiden Grazien, die mit ihnen im Keller gesessen hatten, hörte man plötzlich aus einem anderen Behandlungsraum heraus laut zetern. Mit bitterbösem Gesichtsausdruck gingen sie dann an der kleinen Gruppe vorbei und drückten ebenfalls Kompressen auf ihre Unterarme, sehr angenehm war eine arterielle Blutabnahme zwar wirklich nicht, aber kein Grund sich so aufzuführen: „Du hast uns das Ganze eingebrockt!“, rief Elisa Sarah zu und die konnte nur fassungslos auf die beiden Frauen starren. Keine Frage, wie es Ben ging, kein Hauch von Mitleid oder wenigstens die Erkenntnis, dass sie selber ebenfalls durch ihre Aktionen in irgendeiner Weise eine Mitschuld an dem Ganzen trugen. „Und meine versauten Klamotten krieg ich ersetzt!“, fügte Milena noch hinzu und wenn Semir jetzt nicht einen drohenden Schritt auf die beiden zugemacht und laut: „Es reicht!“, gerufen hätte, würden sie vermutlich noch weiter gemacht haben. Dann setzte er allerdings noch nach, auch wenn er wusste, dass da nichts passieren würde: „Wir werden auch noch sehen, wie der Richter entscheidet-vielleicht bewertet er euren Doppelaccount und die Schmähungen als üble Nachrede und Beleidigung, auf jeden Fall wird das geprüft werden und vielleicht ein gerichtliches Nachspiel für euch haben!“ rief er und nun trollten sich die beiden Damen, während draußen gerade die Sonne aufging. „Semir-du weisst?“, flüsterte Sarah jetzt und der kleine Türke nickte. „Ich war mit Hartmut in eurem Haus, wir haben uns deinen Laptop angeschaut, weil wir uns davon einen Hinweis auf euren Verbleib erhofft haben-wir können auch kombinieren und ich habe eine ziemlich genaue Vorstellung davon, was passiert ist!“, erklärte er und Sarah lehnte sich jetzt mut- und kraftlos an ihn. „Ich hab mir schon die ganze Zeit überlegt, wie ich dir das erklären soll, aber wer sind die beiden Typen eigentlich, die uns alle entführt und Felix getötet haben?“, fragt sie jetzt und stellte dann noch ein weitaus wichtigere Frage: „Und habt ihr sie geschnappt?“


    „Den einen Typen, der Ben verletzt hat ja, dem hat Hartmut eine Eisenstange auf den Kopf gedonnert, der liegt jetzt sicher unter strenger Bewachung in irgendeinem Krankenhaus und dem zweiten sind wir auf den Fersen und wir kriegen ihn auch!“, beruhigte er seine Freundin und auch Natascha atmete jetzt erleichtert auf. Auch sie hatte jetzt begriffen, dass die beiden angeblichen Zocker in Wirklichkeit Polizisten im Undercovereinsatz waren.
    Sarah sah jetzt hoch, als plötzlich eine ehemalige Kollegin von der Intensiv vor ihr stand, die sie freundlich anlächelte. „Hallo Sarah!“, sagte sie. „Ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass du dringend eine Dusche und frische Klamotten brauchst-ich gebe dir meinen Schlüssel zur Umkleide, du weisst ja, wo du alles findest und danach kommt dein Mann zu uns-wir haben schon die Voranmeldung!“, berichtete sie und musterte dann Natascha, die ebenfalls voller Blut war. „Und deine Freundin kannst du gleich mitnehmen, ich denke die Uniklinik hat vorrübergehend mal ein paar Hosen und Kittel für euch übrig!“, fügte sie hinzu und nun erhoben sich die beiden jungen Frauen und folgten der netten Schwester zum Aufzug. „Wir kommen dann wieder hierher!“, rief Sarah über die Schulter zurück und Semir nickte, hatte dann aber auch schon die Chefin erspäht, die gerade den Wartebereich der Notaufnahme betrat.


    Die trat nun zu ihm und fragte zuerst mitleidig nach Ben, musterte danach ihren zwar nur leicht verletzten, aber fix und fertigen Beamten und erzählte dann, dass dem Türsteher die Flucht gelungen war. „Hartmut ist aktuell noch an der alten Fabrik und leitet die Spurensicherung, vor allem auch in der Hoffnung irgendwelche DNA oder Fingerabdrücke des zweiten Manns, der wohl unser großer Unbekannter sein dürfte, zu entdecken. Wenn das Ministerium in Düsseldorf dann aufmacht, versucht er sich dort irgendwie einzuschleichen, um heraus zu finden, von welchem PC aus die Zugriffe auf die Autorenseite stattgefunden haben, um ihn so vielleicht zu überführen!“, berichtete sie von den weiteren geplanten Vorhaben des heutigen Freitags und Semir nickte. Er sah auf die Uhr und sagte dann zur Chefin: „Wenn der Türsteher wieder entwischt ist, schweben vielleicht sowohl Natascha, als auch Sarah und Ben noch in Gefahr. Ich werde jetzt dann Andrea anrufen, die hat heute frei-vielleicht kann sie mir frische Klamotten bringen und auch Natascha, die mitgeholfen hat, Ben zu retten, mit zu uns nach Hause nehmen, da wäre sie erst einmal in Sicherheit. Ich bleibe auf jeden Fall hier in der Klinik und passe auf Sarah und Ben auf!“, erklärte er mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete, deutete auf seine Waffe, die wieder sicher im Holster ruhte und die Chefin würde einen Teufel tun, ihm dagegen zu reden, das hätte eh keinen Zweck. „Wenn sie Unterstützung brauchen, oder nach Hause gehen möchten, melden sie sich-ich schicke dann eine Ablösung!“, versprach nun die Chefin noch und fuhr dann zur PASt, um dort das Tagesgeschäft zu übernehmen.
    Noch bevor Sarah und Natascha frisch geduscht und in Klinikklamotten gehüllt, zurück kamen, war Semir schon kurz nach draußen gegangen und hatte Andrea angerufen, die aus allen Wolken fiel und sie gebeten, ihm Kleidung zu bringen und Natascha mit zu ihnen nach Hause zu nehmen. „Geht in Ordnung, Semir, sobald die Kinder in Schule und Kindergarten sind, komme ich in die Klinik-ich werde euch schon irgendwo finden!“, erklärte die und Semir lehnte sich dann auf dem Stuhl in der Wartezone zurück-hoffentlich war Ben bereits außer Lebensgefahr!

  • Inzwischen war der junge dunkelhaarige Polizist in der Schleuse angekommen. So zügig wie möglich transferierte man ihn auf den OP-Tisch, während der Viszeralchirurg und der Gefäßchirurg sich bereits steril wuschen. Der Arzt in der Notaufnahme hatte die beiden sofort verständigt und die Klinik wusste bereits seit der Voranmeldung von Dr. Burger, was sie erwartete. Man hatte im Behandlungsraum nach dem Umlagern eigentlich nur die restliche Kleidung von Ben´s Körper geschnitten und noch kurz einen weiteren Zugang gelegt und darüber mehrere Blutröhrchen entnommen, damit man erstens wusste, wo man stand und zweitens sofort Blutkonserven einkreuzen konnte. Ben´s Blutgruppe war von seinen vorherigen Aufenthalten bekannt und im PC konnte man bereits ganz schön viele Arztbriefe und Befunde nachlesen.
    Danach verlor man keine Zeit mehr, die weiteren Eingriffe und Verkabelungen würde der Narkosearzt in der OP-Abteilung vornehmen und als der Patient dann im Saal auf dem Tisch auflag, legte der OP-Pfleger rasch noch einen Blasenkatheter mit Temperaturfühler und der Anästhesist schob nach Abstreichen, Abdecken und steriler Punktion routiniert einen dicken, mehrlumigen, sogenannten High-Flow-ZVK über die Halsvene bis nah vors Herz in die untere Hohlvene. Damit hatte man einen sicheren zentralen Venenzugang, über den man auch große Mengen Flüssigkeit, wenn notwendig, infundieren konnte. Außerdem brauchte Ben nach wie vor blutdruckstützende Medikamente und nach einer weiteren Ampulle Akrinor bereits im Schockraum, war man jetzt auf Noradrenalin aus dem Perfusor umgestiegen, eines der Lumen war nun ausschließlich für dieses Medikament reserviert, das gleichmäßig laufen musste, damit es keine Blutdruckschwankungen hervor rief.
    Das Transportbeatmungsgerät hatte man beiseitegeschoben und Ben an das Narkosegerät gehängt. Durch die Narkosegase traten auch die Blutgefäße besser hervor und so gelang es dem erfahrenen Notfallmediziner auch gleich noch einen arteriellen Zugang in die Radialisarterie am Arm zu legen, damit konnte man den Blutdruck kontinuierlich überwachen und auch die Blutgase kontrollieren.


    Die beiden Chirurgen und ein junger Assistenzarzt, der die Haken halten würde, zogen sich nun ihre Sterilkittel an, Ben wurde sachgerecht gelagert und mit einem gepolsterten Gurt über den Oberschenkel fixiert, damit er nicht vom Tisch fallen konnte und seine eine Hand wurde mit einer Handschlaufe nah am Körper am OP-Tisch festgemacht. Eine neutrale Klebeelektrode zur Erdung kam an den Oberschenkel und dann deckte man die Beine mit einer vorgewärmten grünen Decke aus dem Wärmeschrank zu, denn die Körpertemperatur des Patienten war aktuell eher niedrig bei 35°C. Der OP-Pfleger strich nun die klaffenden Wundränder noch mit Desinfektionsmittel ab, allerdings waren da bereits überall Keime und man konnte wegen der offenen Wunde auch nur Schleimhautdesinfektionsmittel verwenden, also war das eher zur Gewissensberuhigung als eigentlich effizient, aber Ben hielt sich nach der Volumengabe von bisher drei Litern insgesamt erstaunlich stabil.
    So deckten jetzt die Operateure den Bauch ab, eines der großen grünen Tücher wurde zum Kopf hin an einem Bügel befestigt und dadurch trennte man den Sterilbereich vom Refugium des Narkosearztes und der holte sich nun gleich die ersten Laborwerte an den PC. „Oh nach zwei Litern Volumen war der Hb-Wert in der Notaufnahme bei 8,2 g/dl- er hatte vermutlich einen hohen Ausgangswert, also können wir aktuell von einer Transfusion noch absehen!“, gab er an seine Kollegen weiter, denn anders als noch vor ein paar Jahren, war man inzwischen mit Bluttransfusionen, gerade bei jüngeren Menschen, sehr zurückhaltend geworden. Studien hatten ergeben, dass jede einzelne Transfusion einen massiven Eingriff in das Immunsystem darstellte, auch wenn die Blutgruppe stimmte. Ausnahmen bildeten die Spende eineiiger Zwillinge, die intraoperative Autotransfusion und die Gabe von Eigenblut bei geplanten großen Operationen. Wenn man auf Spenderblut zurückgreifen musste, was natürlich bei vitaler Indikation, also wenn es keine andere Möglichkeit gab, nach wie vor gemacht wurde, gab man ebenfalls nur das unbedingt nötige-man überdachte also jede einzelne Konservengabe gründlich und nahm auch einen längerdauernden Heilungsverlauf in Kauf. Allerdings wusste man, dass die Hypoxie des Gewebes nach einem großen Blutverlust sowieso die Ausschüttung von natürlichem Erythropoetin, besonders in der Niere, hervor rief, das wiederum die Bildung von roten Blutkörperchen, vor allem im Knochenmark forcierte-ein Mechanismus, den man sich mit synthetisch hergestelltem Hormon beim Blutdoping zunutze machte. Der Körper setzte also alles daran, den Verlust selber auszugleichen.

    Nun inspizierten aber der Viszeral-und der Gefäßchirurg gemeinsam Ben´s Inneres. Zunächst würde man sich der Versorgung der abgeklemmten Arterie widmen. Niemand wusste, ob das Gefäß auch wirklich die beschriebene Arteria iliaca interna war, das sollte der Gefäßchirurg identifizieren und dann das weitere Vorgehen bestimmen, um die Darmverletzung würde man sich im Anschluss kümmern. So setzte man zunächst in den bestehenden Schnitt durch die Bauchdecke einen sogenannten Rahmen ein, ein Metallgebilde, das selbsttätig den Bauch weit offen hielt und so Muskelkraft des Assistenten schonte. Einige kleine Hautgefäße, die immer noch bluteten, verschmorte man bei dieser Gelegenheit gleich noch mit einer bipolaren Elektropinzette und als Ben´s Bauch nun weit geöffnet vor ihnen lag, drückte man sehr vorsichtig den Darm und das Mesenterium-das versorgende, von vielen kleinen Blutgefäßen durchzogene, auch bei schlanken Menschen fettreiche Gewebe beiseite. Auch dort imponierten wieder kleine Blutungen, die man so rasch wie möglich entweder verschweißte, oder wenn das nicht möglich war, mit einer Ligatur, also einer Unterbindung stillte. Der Viszeralchirurg bediente den Sauger und man beobachtete besorgt, dass sich doch noch weiteres Blut in dem großen Behälter ansammelte. „Merkwürdig, dass er immer noch so stark aus den kleinen Gefäßen blutet, soweit es die Laborwerte, die ich bisher habe, allerdings zeigen, ist die Gerinnung noch nicht zusammen gebrochen, der Quickwert ist normal und außerdem wüsste ich nicht, warum ein so junger Mensch dauerhafte Blutverdünnung nehmen sollte. Allerdings könnten wir die Ehefrau dazu befragen lassen-ich veranlasse das!“, kümmerte sich der Narkosearzt, der aufgestanden war und einen neugierigen Blick ins OP-Gebiet geworfen hatte. „Ach ja-und ich würde vorschlagen, wir tauen schon mal vier humane Gefrierplasmen seiner Blutgruppe auf, dann haben wir auf jeden Fall natürliche Gerinnungsfaktoren zur Verfügung!“, wandte er sich an die Narkoseschwester, die nickte und dann folgten noch weitere Anordnungen zur systemischen Blutstillung, nämlich die Gabe von 20 mg Vitamin K und einer Kurzinfusion mit Vitamin C, das würde alles auf gar keinen Fall schaden und wenn ein Mangel an diesen beiden Vitaminen die Sickerblutungen auslöste, hatte man die Ursache gleich damit behoben.
    Allerdings trat keine weitere Besserung ein, aber die akribische Blutstillung der beiden erfahrenen Chirurgen half dennoch und als sie sich endlich in die Tiefe vorgearbeitet hatten, sagte der Gefäßchirurg überrascht: „ Die anatomische Bestimmung war richtig-es handelt sich bei dem Blutgefäß, auf dem die Klemme sitzt, tatsächlich um die Arteria Iliaca interna. Da gerade bei jungen Menschen sehr viele Kollateralkreisläufe mit anderen Arterien bestehen, können wir sie bedenkenlos komplett dauerhaft abbinden. Unser Patient wird nach einer vielleicht anfänglichen Umstellungsphase diesbezüglich keine Probleme haben!“, sagte er und als er die Hand ausstreckte, musste er der erfahrenen assistierenden OP-Schwester weder die Art des Nahtmaterials, noch die Dicke durchgeben, sondern blind landete der passende Faden in seiner Hand, der Viszeralchirurg kippte die liegende Klemme ein wenig an, die Unterbindung wurde gesetzt und als der Spezialist vorsichtig die Gefäßklemme löst, kam es zu keiner weiteren Blutung.


    Der Narkosearzt hatte sich inzwischen Sarah ans Telefon holen lassen. Innerhalb der Klinik bestand zwar ein eigenes Mobilfunknetz, aber im OP funktionierte das wegen der abgeschirmten Wände eher schlecht, daher bevorzugte man in den Funktionsbereichen ganz altmodische Kabeltelefone. Wie erwartet, erreichte er die Ehefrau des Patienten im Wartebereich vor dem OP-dort ging auch das Mobilnetz und eine Schwester, die im Aufwachraum Dienst tat, hatte ihre Kollegin schnell gefunden und den Hörer weiter gereicht. Der Anästhesist, der Sarah von der Intensivstation her gut kannte, sagte: „Hallo Sarah-hier spricht Fred, ich mach deinem Mann gerade die Narkose. Erst mal keine Sorge-er ist den Umständen entsprechend stabil, braucht zwar ein bisschen Katecholamine, aber bisher haben wir noch nicht einmal ein EK benötigt. Die Iliaca ist ligiert, die große Blutung ist Geschichte, nur wollten wir von dir wissen, ob er irgendeine Art der Blutverdünnung einnimmt, denn wir haben hier lauter kleine Sickerblutungen, die so eigentlich nicht normal sind!“, fragte er und Sarah musste nicht überlegen, sondern antwortete: „Nein-er bekommt keine blutverdünnenden Medikamente und ich wüsste nicht, dass er in letzter Zeit Aspirin genommen hätte!“, sagt sie, aber nun merkte Semir, der ja nur eine Hälfte des Gesprächs mitbekommen hatte auf. „Sarah-wir haben in eurem Haus eine angebrochene Aspirinpackung gefunden-wenn die nicht von dir war, muss Ben sich bedient haben!“, rief er aufgeregt, ohne um die Tragweite dieser Information zu wissen. Sarah gab es erneut einen Stich-wieder wusste sie nicht Bescheid, wie es um ihren Mann gestanden hatte. Normalerweise fragte der sie, was er einnehmen sollte, wenn er sich schlecht fühlte, aber sie hatte ja nicht einmal geahnt, dass er Halsschmerzen und dicke Mandeln hatte. Aber jetzt war das noch doppelt fatal, denn Aspirin war unter anderem auch ein Thrombozytenaggregationshemmer, also ein Medikament, das nicht nur schmerzstillend wirkte, sondern auch massiv in die Blutgerinnung eingriff. Mit leiser Stimme gab sie deshalb weiter: „Unser Freund hat mich gerade informiert, dass Ben anscheinend doch Aspirin eingenommen hat!“, und der Narkosearzt am anderen Ende der Leitung sagte nun: „Danke-gut zu wissen-und Sarah, wir kriegen das schon hin, reg dich nicht zu sehr auf!“, versuchte er sie zu beruhigen, bevor er den Hörer auflegte, denn natürlich war sich die junge Frau als Intensivschwester der möglichen Tragweite dieser Information bewusst.
    „Ach Semir-wenn ich doch nie mit diesem blöden Geschichten schreiben angefangen hätte!“, weinte nun Sarah und lehnte sich gegen ihren Freund, der sie nun tröstend in seine Arme zog.

  • Andrea hatte eine halbe Stunde vorher Semir frische Kleidung gebracht und erschrocken das zerfetzte, blutige Hosenbein betrachtet. „Es ist wirklich nur ein Kratzer!“, beruhigte er sie und verschwand dann in der Toilette, um sich umzuziehen. Endlich wieder ne Jeans und ein Sweatshirt anstatt des blöden Anzugs! Er stopfte die schmutzige, blutige Kleidung in die Plastiktüte und als er wieder heraus kam, hatten sich Natascha und seine Frau schon angefreundet. „Wir haben die Übeltäter noch nicht hinter Gittern, das wird zwar sicher nicht mehr lange dauern, aber wenn Natascha, die Ben sehr geholfen hat, solange bei uns wohnen könnte, wäre ich froh!“, erklärte er Andrea und die stimmte sofort zu. So fuhren die beiden wenig später nach Hause und Natascha legte sich dankbar, nach einem kräftigen Frühstück ins Bett im Gästezimmer-ein paar Stunden Schlaf war jetzt genau was sie brauchte!


    Sarah hatte noch Hildegard angerufen und sie kurz informiert, dass Ben gerade operiert wurde. „Gott sei Dank, dass wenigstens du unversehrt bist, ich habe mir schreckliche Sorgen gemacht! Du weißt ja, die Kinder sind bei mir in den besten Händen und richte Ben, wenn er wieder wach ist, meine besten Wünsche aus-ich bin mir ganz sicher, er schafft das!“, trug ihr ihre Kinderfrau auf und jetzt hatte Sarah den Kopf frei für ihren Mann und so wechselten Semir und sie ihren Standort. Auch wenn sie eigentlich gar nichts machen konnten-sie hätten keinen Bissen herunter gebracht, solange Ben um sein Leben kämpfte, nur ein bisschen Wasser aus einem Spender, die überall im Krankenhaus zu finden waren, gönnten sie sich und der Wartebereich vor der Operationsabteilung war einfach der Platz, wo sie ihrem Mann und Freund räumlich am Nächsten waren.

    Außer ihnen tigerte nur ein nervöser Mann dort auf und ab und als Sarah ihn fragend ansah, flüsterte er nur: „Notkaiserschnitt!“, und sein Gesicht war vor Kummer und Sorge um seine Lieben ganz grau. Wenig später kam dann allerdings eine Hebamme mit einem munter vor sich hin quäkenden Bündel im Arm aus der Schiebetür und sagte: „Herzlichen Glückwunsch Herr Kastner, sie haben eine gesunde Tochter. Ihre Frau wird gerade noch versorgt und muss danach erst ihre Narkose ausschlafen, aber Mutter und Kind geht es gut-jetzt kommen sie erst mal mit mir mit auf die Entbindungsstation, dort werden wir gemeinsam ihre Tochter waschen und anziehen, bevor wir sie dann später zu ihrer Frau bringen!“, sagte sie herzlich und nun wechselte der besorgte Gesichtsausdruck des frisch gebackenen Vaters von tiefstem Kummer zu höchstem Glück, er bemühte sich mit der Hebamme Schritt zu halten und rief nur noch über die Schulter: „Ihnen auch alles Gute!“, zurück.


    Ab 7.30 Uhr begann das reguläre OP-Programm. Ständig wurden geschäftig Patienten an ihnen vorbei gefahren, die sich einer geplanten Operation unterziehen mussten. Jedes Mal wenn sich die grüne Schiebetür automatisch öffnete, spähten Sarah und Semir gespannt darauf, ob nicht Ben heraus gebracht wurde, aber es war immer nur eine Schwester oder ein Arzt. Dann kam die Kollegin Sarah´s aus dem Aufwachraum mit dem Telefon und nach dem Gespräch mit dem Narkosearzt war die junge Frau dann noch mehr fertig als vorher. „Semir, was tu ich nur wenn er stirbt-ich bin schuld an dem Ganzen und könnte mir das nie verzeihen!“, weinte sie und nun drehte Semir sich zu ihr hin und schüttelte sie. „Sarah, jetzt hör mal zu und werde nicht hysterisch! Erstens wird Ben das schaffen und zweitens trifft dich keine riesige Schuld. Klar war das nicht ok, dass du sozusagen live von unserer Arbeit berichtet hast, aber du hast keine Klarnamen verwendet und das war mehr als ein dummer Zufall, dass einer der Verbrecher ausgerechnet diese Geschichten gelesen und auch richtig kombiniert hat. Alles andere war kriminelle Aktivität und Ben weiß, auf was er sich durch seinen Beruf einlässt, jetzt warten wir einfach ab und malen keine Horrorszenarien. Außerdem hast du ihm wohl das Leben gerettet, indem du die Arterie abgedrückt hast, ich würde sagen, ihr seid quitt!“, versuchte er sie zu beruhigen und Sarah nickte nun und schämte sich fast ein bisschen, dass sie derart die Nerven verloren hatte.

    Endlich-es war fast neun- ging die Tür auf und ein blasser Ben, der aber extubiert war, wurde heraus gefahren und jetzt sprang Sarah voller Glück auf. Das war ein gutes Zeichen, denn wenn es sehr schlimm wäre, hätte man ihn nach beatmet gelassen. „Sarah-gib uns ein wenig Zeit, bis wir ihn bei uns versorgt haben und dann kommt ihr nach und dürft bei ihm bleiben. Die Operateure wollen noch gerne kurz mit dir sprechen, die kommen nachher gleich heraus“, bat der Intensivarzt, der gemeinsam mit einer Kollegin Sarah´s das Bett schob. „Schatz ich komme gleich zu dir!“, flüsterte nun Sarah und strich flüchtig mit ihrer Hand über Ben´s Stirn, woraufhin der mühsam die Augen öffnete und müde zu lächeln versuchte. Sarah fiel jetzt ein Stein vom Herzen und nun standen auch schon die beiden Chirurgen vor ihr und baten sie, kurz mit in das Büro des Viszeralchirurgen, das ganz in der Nähe war, zu kommen.


    „Frau Jäger, wir wissen, sie sind vom Fach und auch wenn ich sie nicht persönlich kenne, was bei der Größe der Klinik auch kein Wunder ist, aber unser Anästhesist hat die höchsten Loblieder auf sie gesungen und wir müssen ihnen sagen-sie haben vermutlich ihrem Mann das Leben gerettet, indem sie kaltblütig die Arterie abgedrückt haben. Es war tatsächlich die Arteria iliaca interna, die verletzt war. Wir haben die ligiert, da erfahrungsgemäß bei jungen Menschen sehr viele Kollateralkreisläufe bestehen, die die Versorgung des Gewebes aufrecht erhalten. Woher wussten sie, um welches Gefäß es sich handelt?“, fragte der Gefäßchirurg interessiert. „Ich habe eben im Anatomieunterricht aufgepasst und war während meiner Fachweiterbildung längere Zeit im Gefäß-OP, drum konnte ich mich da anatomisch ganz gut orientieren!“, erklärte Sarah errötend und sagte nun die Eselsbrücke auf, mit der die Medizinstudenten sich das Versorgungsgebiet der Arterien besser merken konnten-wie oft hatte sie da mit manchen Studenten gemeinsam gebüffelt: „Ilse sass glutgluehend oben, um Blase, Uterus und Rectum zu pudern!“, und nun starrte Semir sie verwirrt an, vor allem, weil nach dem zweiten Wort sowohl der Gefäßchirurg als auch der andere Arzt in den unsinnigen Satz mit einfielen. „Denken sie sich nichts dabei-in der Medizin gibt es hunderte solcher Eselsbrücken, aber erstaunlicherweise kann man sich sowas besser merken als stumpfe Medizintermini-Ilse steht zum Beispiel für Arteriae iliolumbales, dann folgt die arteria sacrales laterales usw.“, wandte sich der Arzt an Semir, der nur Bahnhof verstand. „ Aber jetzt zu ihrem Mann, Frau Jäger-wir haben ihm nach der nützlichen Information mit dem Aspirin Desmopressin gespritzt, was die Funktion der Thrombozyten verbessert, er hat einige Gefrierplasmen bekommen und die Sickerblutungen haben danach ziemlich aufgehört. Es waren Dünndarm und Colon verletzt, das konnten wir aber übernähen, ohne einen Darmteil zu resezieren. Natürlich besteht trotz allem noch die Gefahr, dass sich eine Peritonitis entwickelt, denn die Darmkeime sind doch einige Zeit im Bauch herum geschwappt. Wir haben sehr gründlich mit Ringerlösung gespült, er bekommt vorsorglich ohne Keimnachweis eine Breitbandantibiose, aber alles in allem sind wir zufrieden und nachdem er warm genug war, hat sich der Anästhesist dazu entschlossen, ihn sofort zu extubieren, was auch problemlos gelungen ist. Freilich muss er jetzt eine Weile zur engmaschigen Überwachung auf der Intensiv bleiben, aber ich würde sagen, durch ihr beherztes Eingreifen haben sie ihrem Mann das Leben gerettet, da darf er ihnen später mal was Schönes kaufen!“, sagte der Operateur mit einem Lächeln im Gesicht und nun war Sarah nicht mehr zu halten. „Ich muss jetzt sofort zu ihm!“, rief sie und zog, nachdem sie sich nochmals bei den beiden Ärzten bedankt hatte, Semir hinter sich her. Beinahe im Laufschritt eilten sie zur Intensiv und Sarah´s Kollegen baten die beiden Besucher auch sofort herein.

  • Ben war einfach nur erleichtert gewesen, als die Schmerzen im Keller aufhörten und er nichts mehr wusste. Er war umgeben von Sarah und Semir gewesen, als er weg getreten war, hatte fest an seine Kinder gedacht und wenn es vorbei war, dann war es eben so. Kurz kam er nochmals zu Bewusstsein-es war hell um ihn und er versuchte mit seinem vernebelten Verstand heraus zu finden, wo er war-vermutlich in einem Rettungswagen-aber da hatte sich Sarah´s Gesicht vor ihn geschoben und ihn liebevoll angelächelt, da wusste er, alles war gut und er konnte sich wieder in die Welt der Narkose fallen lassen, wo es keine Angst und keine Schmerzen gab.


    Als er erneut zu sich kam, sprach eine energische Stimme, die ihm aber unbekannt war, zu ihm: „Herr Jäger, machen sie die Augen auf!“, und als wenn eine zentnerschwere Last auf ihnen ruhen würde, öffnete er mühsam seine Augenlider. Es war wieder hell um ihn, alles um ihn herum war grün gefliest und ein Gesicht, das mit einer grünen Haube und einem Mundschutz bedeckt war, aber gütige Augen hatte, schob sich in sein Gesichtsfeld. „Die Operation ist vorbei-sie kommen jetzt auf die Intensivstation!“, teilte der Mann, vermutlich ein Arzt, ihm mit und er bemerkte, wie man an ihm herum manipulierte, ihn anders hinlegte, zudeckte und sich dann der Tisch auf dem er lag, in Bewegung setzte. Er hörte Stimmen, war aber zu müde, um darauf zu achten, was sie sagten und als er endlich in einem weichen vorgewärmten Bett lag, gab er sich wieder dem ersehnten Schlaf hin.

    Dann spürte er eine federleichte Berührung an der Stirn, die er aus Tausenden erkannt hätte und nun sagte auch schon Sarah´s vertraute Stimme: „Schatz, ich komme gleich zu dir!“, und jetzt versuchte er mühsam zu lächeln und konnte aus dem Augenwinkel auch Semir erkennen, der ihn ebenfalls gespannt ansah. Dann allerdings siegte die Müdigkeit und während sein Bett sich wieder in Bewegung setzte, fielen seine Augen erneut zu und er dämmerte mit einem Rest an Narkosemittel so vor sich hin. Das Bett fuhr um ein paar Kurven, er vernahm Stimmen und dann nahm man ihm für in Weile die warme Decke weg, was er gar nicht gut fand. Seine feinen Härchen stellten sich auf und er bekam Gänsehaut, während viele behandschuhte Hände routiniert an ihm herum schraubten, hier einen Drainagebeutel beschrifteten, dort ein Stethoskop auf seinen Brustkorb drückten, aus dem dünnen Schläuchlein an seinem Arm Blut abnahmen und Infusionen an den ZVK anschlossen. „Gleich dürfen sie weiter schlafen!“, sagte eine freundliche weibliche Stimme und nun drehte man ihn noch kurz zur Seite und besah seinen Rücken, um den Hautstatus aufzunehmen. Das tat jetzt weh im Bauch und er stöhnte kurz auf. „Sie kriegen gleich noch was gegen die Schmerzen!“, sagte die Stimme und als Ben jetzt aufsah, erblickte er eine souveräne Intensivschwester in der Bereichskleidung, die er nur zu gut von seiner Sarah kannte. Man legte ihn wieder auf den Rücken und so langsam spürte er seinen Körper wieder. Man legte lose ein Krankenhaushemd über ihn, wegen der ganzen Schläuche und Kabel war es sinnlos, da hinein zu schlüpfen, deckte ihn erneut zu und dann merkte Ben voller Erleichterung, wie ein Opiat durch seine Venen flutete, ihm die Schmerzen nahm und ihn wieder müde werden ließ.


    Als er das nächste Mal wach wurde, wusste er erst nicht warum, aber dann fühlte er eine vertraute Berührung an beiden Händen und als er nun schon ein bisschen munterer die Augen öffnete, saßen Sarah und Semir, jeder auf einem Stuhl, rechts und links von seinem Bett und hielten seine Hände, wie sie es auch im Keller gemacht hatten. „Hallo Schlafmütze“, sagte nun Semir und Ben konnte am Klang seiner Stimme die grenzenlose Erleichterung erkennen, die er anscheinend verspürte. „Unkraut vergeht nicht!“, formulierte nun Ben mit schwerer Zunge und versuchte die ausgetrockneten Lippen mit der staubtrockenen Zunge zu befeuchten. Sarah ließ sofort seine Hand los, kam mit einem feuchten Mundpflegestäbchen, wischte damit seinen Mund mit einer speziellen Lösung aus und strich danach dick Panthenol Augen- und Nasensalbe auf die aufgesprungenen Lippen. Als Ben die Reste der Mundpflegelösung hinunter schluckte, verzog er schmerzvoll das Gesicht. Sein Bauch tat freilich ein bisschen weh, daran war er ja auch operiert worden, wie ihm sein Verstand sagte, aber die Halsschmerzen waren trotz Schmerzmittel beim Schlucken fast unerträglich. „Halsweh!“, krächzte er und das hätte er besser nicht getan, denn nun erschütterte ein trockener Husten seinen Körper, der ihn stöhnend die Hände auf den dick verbundenen Bauch drücken ließ.
    „Moment Schatz-du kriegst nochmals was gegen die Schmerzen!“, hörte er nun wie durch einen Schleier Sarah´s besorgte Stimme und nachdem sie sich kurz mit ihrer Kollegin besprochen hatte, rauschte erneut das Opiat durch seine Adern und es wurde ein wenig leichter. Allerdings zeigte nur Sekunden später ein schriller Alarmton an, dass nun der Blutdruck, der mit dem Noradrenalin gestützt wurde, stark absank und man musste die Katecholamindosis daraufhin erhöhen. „Er kriegt noch einen Liter Volumen!“, hörte Ben dann ganz entfernt eine männliche Stimme-ah das war sicher der Arzt-und nun dämmert er wieder vor sich hin, während die Schwester die Infusion anhängte und sie frei in ihn tropfen ließ, was durch den großlumigen Zugang ziemlich rasch ging. Man gab ihm noch eine Kurzinfusion mit Paracetamol, was ihm zwar den Schweiß auf die Stirn trieb, aber dennoch musste man die Noradrenalindosis kontinuierlich erhöhen, damit er einen Druck aufbaute. „Noch einen Liter!“, hörte Ben „er scheidet nicht aus!“ und wieder versuchte man seinen Kreislauf mit Flüssigkeit zu stützen.


    Inzwischen war das restliche Narkosemittel abgebaut und Ben konnte nun sowohl seine Umgebung, als auch seinen Körper wieder mit klarem Verstand wahrnehmen. Semir hatte eine besorgte Miene aufgesetzt, war beiseite getreten und jetzt nahm wieder jemand seine Decke weg, um die Drainagen und den Verband zu kontrollieren. Als er an sich hinunter sah, war sein Bauch von einem dicken Klebeverband bedeckt, auf dem sich ein kleiner Blutfleck abzeichnete. Überall rechts und links davon ragten Drainagen in unterschiedlicher Stärke aus ihm hervor. An seinem Hals spürte er den dicken zentralen Venenverweilkatheter und konnte den Infusionsbaum über sich erkennen, von dem mindestens fünf verschiedene Infusionen über Infusionspumpen in ihn liefen. Daneben waren eine ganze Latte an Perfusoren, von denen allerdings aktuell nur zwei in Betrieb waren. In seinem Unterarm steckte ein arterieller Zugang, aus dem man jetzt wieder Blut abnahm, um die Blutgase, einige Elektrolyte und vor allem auch den Hb-Gehalt seines Blutes im Kleinlabor auf der Intensivstation zu bestimmen. Eigentlich sollte man eine stärkere Nachblutung an den Drainagen erkennen, aber die förderten nur wenig leicht blutige Spülflüssigkeit.
    Weiter unten ragte so ein verhasster Katheter, der noch dazu drückte, aus seinem Penis, aber er wusste, das hatte keinen Wert, wenn er darum bat, den zu entfernen-wenn das geschah, war er fast gesund, soviel war klar. Man hatte zwar den Zugang, den der Notarzt im Keller gelegt hatte aus seinem Hals entfernt, aber an seinem Unterarm lag immer noch eine abgestöpselte Venenverweilkanüle, worüber man ihm Blut geben konnte, wenn es notwendig war, überall waren Elektrodenkleber und andere Überwachungskabel an ihm angebracht, ein Wunder wie sich da jemand auskennen konnte! Man deckte ihn nun wieder zu und Ben´s Blick suchte hilfesuchend den von Semir-sie beide waren die einzigen medizinischen Laien hier im Zimmer, alle anderen wussten genau was sie taten und was los war-so hoffte der dunkelhaarige Polizist, der sich von Minute zu Minute elender fühlte, zumindest.


    Als die Schwester mit dem aktuellen Ausdruck der Blutgase das Zimmer betrat, musterten sowohl der behandelnde Arzt als auch Sarah die Werte. „Der Hb-Wert liegt immer noch über sieben und wenn wir den Verdünnungseffekt noch mit einbeziehen, ist das wohl nicht der Grund für den schlechten Kreislauf, ich denke, aktuell würde er von einer Transfusion nicht profitieren. Wir geben das Piritramid nur noch sparsam und in halber Dosierung, das kann ja auch manchmal auf den Blutdruck gehen!“, ordnete der Arzt an. Man brachte das Bett ein wenig in Kopftieflage und hängte einen weiteren Liter Infusion an, aber außer dass die Sauerstoffsättigung nun absank und man den Sauerstoff, der über die Nasenbrille in ihn floss, verdoppeln musste, damit er keine Atemnot bekam, hatte das keinen Effekt auf den Blutdruck, sondern man musste im Gegenteil das Noradrenalin sogar nochmals steigern. Der Intensivarzt holte den Viszeralchirurgen dazu, der betastete gründlich Ben´s Bauch, was den wieder aufstöhnen ließ, aber auch der hatte keine Erklärung für den schlechten Zustand des Patienten. „Ich kann eine Nachblutung aktuell ausschließen, die Drainagen liegen so, dass sie eventuell austretendes Blut nach außen ableiten würden-er würde aktuell nicht davon profitieren, wenn wir ihn nochmals aufmachen. Vielleicht hat er doch Darmkeime in den Blutkreislauf eingeschwemmt und wird septisch?“, vermutete der Chirurg und der Intensivarzt nickte. „Das wäre eine Erklärung!“, sagte er mit ernster Miene und jetzt erkannte Ben im Gesicht seiner Frau einen Anflug von Verzweiflung, allerdings war ihm inzwischen so elend, dass es ihm fast schon wieder egal war-sie sollten ihm was gegen die Schmerzen geben und ihn in Frieden sterben lassen-so fühlte er sich nämlich: sterbenselend!

  • Der Türsteher hatte sich mit seinem Brummschädel bei seinem Kumpel aufs Sofa geschmissen. Eines war klar-er konnte nicht mehr in seine Wohnung zurück, denn seine Identität war inzwischen kein Geheimnis mehr. Dort würden die Blauen auf ihn warten und so schlief er erst ein Weilchen und beauftragte dann seinen Freund, ein Passbild von ihm zu machen und das an einen befreundeten Passfälscher aus der Kölner Unterwelt weiter zu geben. „Ich habe einen guten Kumpel, der hat ne Finca auf Malle und ist mir was schuldig, da kann ich unterschlüpfen, bis sich die Lage hier beruhigt hat!“, prahlte er und sein Bekannter nickte stumm-er würde den Auftrag mit dem Pass erfüllen und war dann froh, wenn der Türsteher weg war-auch er hatte keine Lust auf Hausdurchsuchungen und so nen Scheiss!
    Inzwischen ging es auf Mittag zu und der Türsteher rief nun das Privathandy seines Compagnons an. „Du hast Glück gehabt, ich konnte abhauen, aber du weisst-du bist mir was schuldig und sobald ich meinen neuen Pass habe, werde ich mich aus dem Staub machen, bis Gras über der Sache gewachsen ist-da ist mir deine Bude auf Mallorca gerade Recht!“, sagte er und der Mann am anderen Ende schnappte kurz nach Luft. So wagte es normalerweise niemand mit ihm zu reden, aber der Typ war für ihn gefährlich-er musst ihn tatsächlich aus dem Weg schaffen.
    „Das ist selbstverständlich, dass du dich auf meinem Anwesen erholen kannst, aber zuvor musst du noch die Menschen aus dem Keller aus dem Weg schaffen-es ist mir egal, wie du das anstellst, aber jeder, der mein Gesicht gesehen hat, muss sterben!“, befahl er und der Koloss brummte irgendetwas in seinen Bart, was er Gott sei Dank nicht verstand. „Die Gelegenheit mit der Gasexplosion wäre so günstig gewesen, wir hätten mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen, aber du hasts vermasselt, jetzt mach das wieder gut!“, befahl er scharf. „Geld spielt keine Rolle und du kannst dir auch Helfer holen, aber meine Identität bleibt verborgen, nur damit das klar ist-sonst werde ich meine Konsequenzen ziehen!“, bekräftigte er nochmals und der Türsteher stimmte eingeschüchtert zu. Der König der Unterwelt mit dem Saubermannimage hatte sicher weitreichende Kontakte und er kannte viele Kollegen, die für ein paar tausend Euro diese Menschen-aber blöderweise eben auch ihn- ohne mit der Wimper zu zucken, kalt machen würden. Allerdings hatte er im Augenblick keine Ahnung, wo er alle seine Opfer finden konnte und da fiel ihm ein, dass er ja wusste, wo die beiden dicklichen Mädels wohnten, die hatten sicher Ahnung, wo sich der Rest der Truppe befand, die waren nicht verletzt und brauchten in kein Krankenhaus, wie der dunkelhaarige Typ, den er abgestochen hatte, der aber laut der Lokalnachrichten noch am Leben war.

    Zum Frühstück, das aus Pulverkaffee aus einer schmutzigen Tasse bestand-nach Essen war ihm mit seinem Brummschädel gerade nicht-hatte er „Köln aktuell!“, auf dem Laptop seines Kumpels gesehen und die beiden Schnecken hatten da wichtig ein Interview gegeben. Sie hatten ihn nur maskiert gesehen, allerdings würde er auch mit denen kurzen Prozess machen-jeder Zeuge weniger, war ein guter Zeuge und außerdem hatte er Kopfschmerzen und wenn er Kopfschmerzen hatte, war er reizbar und wenn er reizbar war, saß sein Messer locker-da hatte er sich nämlich bei seinem Kumpel sofort Nachschub besorgt, unbewaffnet würde er nicht aus dem Haus gehen!
    „Hast du mir ne Aspirin?“, fragte er seinen Kumpanen und der nickte und warf ihm eine abgegriffene Schachtel zu. Wie alt die wohl schon waren-aber egal, Hauptsache seine Kopfschmerzen ließen nach-und so schluckte er zwei Tabletten und tatsächlich wurde es nach einer halben Stunde besser mit seiner Birne. „Ich brauch ne Karre!“, sagte er dann noch zu seinem Freund und nachdem er auch beteuert hatte, dass er gut zahlen würde, warf ihm der den Schlüssel seines Wagens zu. War zwar nur ein alter Astra, aber besser als gelaufen war das allemal. So setzte er sich dann stöhnend ans Steuer und fuhr sehr vorsichtig, um keine Verkehrspolizei auf sich aufmerksam zu machen, nach Chorweiler. Dort parkte er den Wagen direkt vor dem Haus, wo er die beiden Damen schon einmal gekidnappt hatte. Suchend sah er auf die Namensschilder und drückte dann auf die Klingel, aber nichts passierte.
    Da rief auf einmal von oben eine Stimme: „Zu wem wollen sie denn-die Türglocke funktioniert nur, wenn sie Lust hat!“, rief eine faltiges Gesicht von oben. Er fluchte-na toll, da hatte ihn schon wieder jemand gesehen-entweder musste er jetzt wieder abziehen, oder die alte Schrulle, die anscheinend nichts besseres zu tun hatte, als den ganzen Tag am Fenster zu hängen, ebenfalls erledigen. Er entschied sich für Letzteres und rief gespielt freundlich nach oben: „Ich muss zu Miller, das müsste dann die Parterrewohnung unten rechts sein-ich werde ans Fenster klopfen!“, teilte er ihr mit und nun verschwand nach einem Nicken das Gesicht über ihm und das Fenster wurde geschlossen.
    Der Türsteher fackelte nicht lange, wand einen alten Lumpen, den er als Taschentuchersatz in seiner Jackentasche fand, um seine Hand, schlug gekonnt und wie er dachte ziemlich leise, das Badfenster ein, das sich rückwärtig in Richtung auf die Mülltonnen befand und wenig später stand er in der Wohnküche von Elisa und wurde entsetzt von den beiden Mädels gemustert, die sich gerade eine schöne Tasse Filterkaffee einverleibten und gespannt in den Laptop schauten, wo heute ihr nächtliches Interview in Dauerschleife in den Lokalnachrichten gesendet wurde.


    Die alte zahnlose Dame überlegte kurz-auch wenn hier in der Gegend solche Typen an der Tagesordnung waren, aber der da unten kam ihr gefährlich vor und sie beschloss, als sie Glas splittern hörte, den netten Polizisten Ben Jäger anzurufen, der gestern bei ihr gewesen war. Sie nahm die Karte und wählte von den beiden Nummern, die drauf standen die Festnetznummer-auf dem Handy anzurufen wäre zu teuer-und weil im Büro der beiden Autobahnpolizisten gerade niemand anzutreffen war, wurde der Anruf zur Zentrale weiter geleitet. Susanne war zwar inzwischen zuhause, sie hatte ja Nachtschicht gehabt, aber der Kollege, der dort Dienst tat, war in die Vorkommnisse der Nacht eingeweiht und als er die Adresse der Anruferin abgefragt hatte und beteuert hatte, dass leider Ben Jäger gerade nicht zu sprechen sei, läuteten sofort die Alarmglocken bei ihm. Er winkte aufgeregt der Chefin zu und wenig später waren mehrere Streifenwagen vom nächsten Revier zur angegebenen Adresse unterwegs, um den Einbrecher, dessen Beschreibung auf den flüchtigen Türsteher passte, fest zu nehmen. Auch die Chefin sprang in ihren Mercedes A-Klasse und fuhr Richtung Chorweiler-ihren Männern war am besten zu helfen, indem man die Mörder festsetzte und genau das würde sie jetzt machen!


    Bei Ben hatte man inzwischen einen weiteren Liter Infusion angehängt. Trotzdem baute er keinen ordentlichen Druck auf, obwohl man das Noradrenalin inzwischen in schwindelerregende Höhen geschraubt hatte. Sein Herz schlug schnell und schneller, eigentlich Zeichen eines Volumenmangels, aber so rasch man auch die Infusionen in ihn rauschen ließ, verschlechterte sich sein Zustand minütlich. Immer noch war im Katheterbeutel kein Tropfen und die Atemnot nahm zu. Man hatte inzwischen die Sauerstoffnasenbrille gegen eine Maske ausgetauscht und den Sauerstoff auf 10 Liter aufgedreht. Sarah sah mit vor Entsetzen geweiteten Pupillen, wie ihre Kollegen unauffällig den Notfallwagen vor der Tür postierten. Trotzdem versuchte sie wenigstens für ihren Mann ruhig zu bleiben-sollte es das jetzt gewesen sein? Freilich hatte sie als Intensivschwester das schon oft genug erlebt, wie Menschen jeden Alters an einer fulminanten Sepsis innerhalb von wenigen Stunden starben. Aber doch nicht ihr Ben! Jetzt hatten sie ihn lebend aus dem Keller gebracht, nur um ihn jetzt vielleicht in der Klinik, umgeben von lauter Spezialisten und Maschinen zu verlieren?
    Auch Semir hatte den Ernst der Lage begriffen, obwohl ihm niemand etwas erklärte. Voller Sorge, aber doch unendlich sanft, hielt er die Hand seines Freundes, die inzwischen vor Wassereinlagerungen prall und praller wurde. Mühsam atmend sah Ben von Sarah zu Semir. Er merkte, es ging zu Ende mit ihm, aber wenigstens musste er beim Sterben nicht alleine sein und bei aller Todesangst war er deshalb froh. Plötzlich durchzog ein schriller Alarmton das geräumige Intensivzimmer und Ben merkte, wie seine Sinne schwanden.

  • „Was-was tun sie hier in meiner Wohnung?“, fragte Elisa stotternd und sah hektisch in Richtung ihres Telefons, das aber für sie unerreichbar hinter dem Rücken des Türstehers auf der Anrichte lag. Sie und auch Milena mussten nicht fragen, wer da vor ihnen stand. Sie hatten den bulligen Mann bisher zwar nur maskiert gesehen, aber die Körperform, die Art sich zu bewegen und auch die Tatsache, dass er bei ihnen eingebrochen war, identifizierte ihn eindeutig. Die beiden verfassten ja als Hobby Kriminalgeschichten, also war ihnen ebenfalls klar, dass das kein gutes Zeichen war, wenn sich der Verbrecher ohne Maske präsentierte. „Ich hätte von euch beiden nur gerne eine kleine Auskunft!“, grinste der Mann, zog wie zufällig das Messer aus der Tasche und begann sich damit demonstrativ die Fingernägel zu reinigen. „Wir sagen ihnen alles was wir wissen und haben sie nie gesehen-das können sie uns glauben, aber tun sie uns nichts!“, bettelte nun Milena und nun stellte der Türsteher gleich einmal die Frage, die er beantwortet haben musste, um seinen Rachefeldzug zu vollenden.

    In ihm begann sich eine Vorfreude breit zu machen-gleich würde er wieder töten und langsam hatte ihn jeder Skrupel verlassen. Ob man wegen ein-oder mehrfachen Mordes gesucht wurde, war prinzipiell völlig egal. Er würde seinen Auftrag erfüllen, alle abmurksen, sich dann ins Ausland absetzen und dann mit dem Geld seines Compagnons, den er ja auch später noch, wenn ihm die Kohle mal ausgehen sollte, jederzeit erpressen konnte, irgendwo ein neues Leben beginnen. Hier in Köln hielt ihn eh nichts und so trat er drohend einen Schritt näher, weil die beiden Mädels anscheinend den Ernst der Lage noch nicht begriffen hatten. „Ich will wissen, wo die anderen, die mit euch im Keller waren, stecken!“, knurrte er und Milena beeilte sich, ihm sofort Auskunft zu geben. „Heute Morgen waren die alle in der Notaufnahme der Uniklinik!“, sagte sie und als sich der Mann daraufhin ein wenig entspannte, atmete sie regelrecht erleichtert auf. Eines wusste sie-sie würde sobald wie möglich zurück nach Hause fahren. Ihre Heimat hoch im Norden erschien ihr sicher, während hier in Köln das Verbrechen tobte.


    Elisa hatte inzwischen die Umgebung gemustert. Sie und Milena saßen auf Stühlen am Küchentisch. Im Gegensatz zu ihrer Freundin, die anscheinend dachte, der Mann würde nun einfach verschwinden und ihren Beteuerungen, ihn nicht zu verraten, glauben, spürte sie die Gefahr, in der sie schwebten. Allerdings war ihr im Augenblick ihre sogenannte Freundin schnurzpiepegal. Die sollte selber sehen, wie sie hier weg kam-sie würde jetzt aufspringen, zur Türe rennen und so schnell wie möglich versuchen auf die Straße zu kommen. Ohne weiter lange nach zu denken-es ging hier schließlich um ihr Leben und jeder war sich selbst der Nächste-führte sie ihren Plan durch. Allerdings war sie noch nicht ganz an der Tür, die der Koloss nicht geschlossen hatte, da spürte sie einen wahnsinnigen Schmerz im Rücken, der Türsteher hatte das Messer geworfen und sie am Oberkörper getroffen. Sie sackte zusammen, während Milena schrill aufkreischte und vor Entsetzen wimmernd ans andere Ende des Zimmers zurück wich. Voller Genugtuung zog der Mann das Stilett aus dem Körper der am Boden liegenden Frau, die laut stöhnte und wandte sich nun seinem zweiten Opfer zu. Die erste konnte schon mal nicht mehr fliehen und er würde nachher seine Tat in aller Ruhe vollenden, aber zunächst würde er die zweite abstechen und die Schreie und die Todesangst, die er in ihren Augen sah, turnten ihn nur noch mehr an, brachten sein Blut in Wallung und ließen seinen Blutdruck wie bei einem Orgasmus ansteigen. Gerade hob er die Hand, um mit Schwung auf die dunkelblonde Frau ein zu stechen, da zog plötzlich ein wahnsinniger Schmerz durch seinen Kopf und dann gingen ihm die Lichter aus und er sackte über Milena zusammen.

    Er hatte sie zwar nicht mehr mit aller Wucht getroffen und sie hatte sich auch weg geduckt, aber trotzdem schrammte die Klinge in einem langen geraden Schnitt über ihren Oberarm, aus dem nun ebenfalls das Blut schoss. Voller Panik wälzte die jüngere Frau nun den regungslosen Körper von sich herunter, stolperte über ihre am Boden liegende Freundin und raste immer noch laut schreiend zur Wohnungstür. Als sie die mit zitternden Händen öffnete, standen mehrere Polizisten in Uniform mit gezogener Waffe davor und sie schmiss sich dem ersten besten davon in die Arme und brach dann ebenfalls zusammen.


    Sarah war voller Entsetzen aufgesprungen, als sie die verräterische Wellenbewegung auf dem EKG-Monitor erkannt hatte. Kammerflimmern! Noch während der Alarm los ging und ihre Kollegen den Defibrillator eilig in Position brachten, sah sie, wie Ben das Bewusstsein verlor. Klar-wenn das Herz nicht mehr geregelt schlug, wurde das Gehirn nicht mehr richtig mit Sauerstoff versorgt und man wurde ohnmächtig. Schon die letzte halbe Stunde hatte Ben´s Herz immer schneller geschlagen, ohne dabei einen Füllungsdruck auf zu bauen. Der Intensivarzt hatte schon die ganze Zeit überlegt, ob er Ben nicht als Therapie kardiovertieren sollte, also versuchen, mit einem Stromstoß das Herz wieder in einen geregelten, langsameren Rhythmus zu bringen. Was dagegen gesprochen hatte-man musste dem Patienten dazu eine Kurznarkose geben, sonst war das wie Stromfolter und mit dem hippokratischen Eid nicht vereinbar. Allerdings gingen alle Narkotika, die dazu in Frage kamen, auch auf den Druck und deshalb hatte er zunächst versucht, die Situation mit Volumen und Magnesiumgabe unter Kontrolle zu bringen. In der Sepsis trat unkontrolliert Zellflüssigkeit aus dem Gefäßsystem in den extrazellulären Raum aus, weil eine Membran in jeder einzelnen Körperzelle bei diesem Krankheitsbild undicht wurde. So paradox das klang, aber obwohl dann literweise Flüssigkeit, die dort eigentlich nicht hin gehörte, im Gewebe umeinander schwappte, fehlte sie da, wo man sie brauchte-innerhalb der Blutgefäße. Das Herz hatte dann nicht genügend Vorlast, um ordentlich zu pumpen und mit dem dringend benötigten Sauerstoff das Gehirn und die wichtigsten inneren Organe zu versorgen und versuchte das mit immer schnelleren Schlägen zu kompensieren, man bezeichnete das als ventrikuläre Tachykardie. Manchmal bekam die Sache dann allerdings eine Eigendynamik und ein Herz, das nur noch rasend schnell und oberflächlich vor sich hin arbeitete, musste irgendwie ein gebremst werden, das konnte medikamentös oder eben elektrisch geschehen. Die meisten Medikamente wie Betablocker z. B. senkten allerdings als Nebeneffekt den Blutdruck, darum bevorzugte man die elektrische Therapie.


    Die Natur hatte nun selber die Entscheidung getroffen und weil der Patient von alleine das Bewusstsein verloren hatte, riss man die Zudecke von Ben, klebte auf seinen Oberkörper zwei Klebepads, damit die Stromleitung ungehindert erfolgen konnte, legte die Defipaddels an typischer Stelle rechts unterhalb des Schlüsselbeins und links über der Herzspitze an und nach der Aufforderung: „Alle zurücktreten!“, drückte der Arzt auf den Auslöser des Defis. Weil auf der Intensivstation biphasische Geräte benutzt wurden, begann man bei schlanken Patienten meist mit 120 Joule und tatsächlich-schon nach dem ersten Stromstoß, mit dem man die elektrisch Überleitung im Herzen sozusagen nullte und dem Sinusknoten die Chance gab, eine normale Erregungsleitung auf zu bauen, begann Ben´s Herz wieder rhythmisch, aber wesentlich langsamer als vorher zu schlagen.
    Sarah´s Kollegen waren währenddessen auch nicht untätig gewesen-der eine hatte derweil Notfallmedikamente wie Adrenalin aufgezogen, dazu ein Narkosemittel, die andere Schwester hatte einen Ambubeutel mit Beatmungsmaske aus der Verpackung geholt und auch gleich alles zum Intubieren her gerichtet. Sobald der Stromstoß abgegeben war, nahm man die Ohiomaske vom Gesicht des Patienten und beatmete ihn mit dem Ambubeutel und der dicht schließenden Beatmungsmaske. Bevor man allerdings zum Tubus greifen musste, setzte Ben´s Eigenatmung ein und er kam wieder zu Bewusstsein. Sarah war schreckensbleich gemeinsam mit Semir zurück gewichen. Ihre Kollegin hatte in strengem Ton gesagt, als Sarah irgendetwas tun wollte: „Wir haben die Sache in Griff!“, denn eine persönlich betroffene, nervöse Pflegekraft war keine Hilfe. Reanimationen waren auf der Intensivstation eine ständig geübte Tätigkeit, die Abläufe waren bis zum Erbrechen geübt, jeder Handgriff saß und jeder wusste, was er zu tun hatte, um das Leben eines Patienten zu retten.


    „Wir haben ihn wieder-bitte gleich ein Zwölfkanal-EKG schreiben!“, bat der Intensivarzt und weil Ben´s Sauerstoffsättigung nicht allzu schlecht war, bekam er wieder die Ohiomaske aufs Gesicht und Sarah, der die Tränen der Erleichterung übers Gesicht liefen und Semir durften wieder zu ihm treten und seine Hände halten. „Aua-ich glaube mich hat ein Pferd getreten!“, stöhnte Ben und der Arzt erlaubte daraufhin noch 2 mg Morphium. Man schrieb das EKG und als der Anästhesist daraufhin stirnrunzelnd den langen Streifen betrachtete, griff er kurzerhand zum Telefon und rief den diensthabenden Kardiologen an.

  • In der Wohnung von Elisa war nun ein riesiger Menschenauflauf. Zwei Rettungswagen fuhren vor und ein Notarzt wurde zugefordert. Milena´s Verletzung war zwar tief und sicher schmerzhaft, aber außer einem sterilen Verband war weiter aktuell keine Behandlung nötig, man würde im Krankenhaus die lange Wunde nähen.
    Der Attentäter war tief bewusstlos und krampfte, seine Pupillen waren ungleich weit, reagierten nur träge und als Kim Krüger in Chorweiler eintraf, konnte sie dem Arzt von dem nächtlichen Schlag auf dessen Kopf und der anschließenden Flucht aus dem Rettungswagen berichten. Der Koloss wurde sofort vom Notarzt intubiert und in die Neurochirurgie gebracht.


    Elisa, die mit Milena im selben RTW in die nächste Klinik gefahren wurde, hatte eine Infusion, ein Schmerzmittel, einen sterilen Verband am Rücken und Sauerstoff bekommen. Allerdings verschlechterte sich ihr Zustand bereits während des Transports und in der Klinik stellte man bei einer Röntgenaufnahme einen Pneumothorax fest. „Frau Miller-wir werden ihnen in örtlicher Betäubung einen Schlauch in den Zwischenrippenraum einführen und damit über mehrere Tage die austretende Luft absaugen!“, sagte der Arzt in der Notaufnahme, der zuvor vorsichtig, aber eben auch mit Schmerzen verbunden, die Wunde am Rücken gespreizt, beurteilt und letztendlich in Lokalanästhesie genäht hatte. Das Stilett war genau zwischen zwei Rippen durch gedrungen und hatte das im Volksmund Rippenfell genannte Gewebe verletzt. Elisa erlebte danach die schlimmste Viertelstunde ihres Lebens, als man unter ihrer rechten Achsel trotz Lokalanästhesie hoch schmerzhaft den Schlauch in einem kleinen operativen Eingriff eingeführt hatte. Mit einer liegenden Thoraxsaugung kam sie dann als vierte Patientin eingeschoben in ein Dreibettzimmer und die drei anderen Patientinnen waren demente, inkontinente Pflegefälle, die sich den Schenkelhals oder den Oberarm gebrochen hatten. An Schlaf war wegen der Unruhe der Verwirrten nicht zu denken und schon nach wenigen Minuten wäre Elisa am liebsten auf und davon gegangen, aber das blubbernde Anhängsel an ihrer Seite hinderte sie daran und sie versank in tiefste Depression, wenn sie daran dachte, dass sie es noch mindesten fünf bis sieben Tage hier aushalten musste. Mit ihren erwachsenen Kindern hatte sie auch wenig Kontakt, die Tochter weilte gerade in Urlaub und würde einen Teufel tun und zu ihrer kranken Mutter eilen und mit dem Sohn hatte sie sich aktuell so verkracht, dass der sagte, es interessiere ihn nicht, als seine Mutter ihn vom Stationstelefon, das ihr eine Schwester netterweise gebracht hatte, aus anrief. So hatte sie nicht einmal Sachen fürs Krankenhaus dabei und als sie darum bat, ob man nicht ihre Freundin Milena herbei holen könne, damit ihr die etwas aus der Wohnung brächte, wurde ihr ausgerichtet, die wäre nach ambulanter chirurgischer Versorgung gegangen und habe keine Kontaktadresse hinterlassen-nur einen Zettel bekam sie überreicht: „Ich kündige dir hiermit die Freundschaft-du hättest mich eiskalt geopfert und wolltest dich aus dem Staub machen-ich möchte mit dir nichts mehr zu tun haben!“, stand darauf und nun lag Elisa im Krankenhaushemd in ihrem Bett und haderte mit dem Schicksal.


    Milena war ebenfalls in einer relativ unangenehmen Prozedur-das Einspritzen des örtlichen Betäubungsmittels war sehr schmerzhaft, dann allerdings ging es-genäht worden und man bat sie, sich am übernächsten Tag beim Hausarzt vorzustellen. Mit ein paar Schmerztabletten in der Hand und einem dicken Verband um den Arm stand sie dann ganz verloren im Flur der Notaufnahme, erbat sich zunächst einen Zettel, wo sie ihre Abschiedsworte für Elisa darauf kritzelte und ging dann langsam Richtung Ausgang. Sie wusste überhaupt nicht, wo sie jetzt hin sollte, ihre ganzen Sachen waren-soweit sie nicht sowieso schon als Operationstücher verwendet worden waren-im Keller zurück geblieben und auch das Rückfahrtticket für die Bahn übermorgen befand sich darin. Sie wollte jetzt eigentlich nur noch nach Hause und dort die ganzen schlimmen Erlebnisse verarbeiten. Da standen plötzlich zwei Polizisten und die Frau in Zivil, die sowohl in der Nacht vor der Fabrik, als vorhin auch in der Wohnung dazu gestoßen war, vor ihr, die ihre Aussage wegen der Messerattacke aufnehmen wollten. Sie gab auch bereitwillig Auskunft und bemerkte gleich noch, dass ihrer Meinung nach der Inhalt ihres Koffers von Sarah ersetzt werden sollte, die ihnen das Ganze ja wohl eingebrockt habe. Frau Krügers Gesicht erstarrte zu einer Maske, als sie das hörte, aber trotzdem wurde Milena danach vorsichtshalber in einer kleinen Schutzwohnung unter gebracht, bis man eine Gefahr für ihr Leben ausschließen konnte. Auch vor dem Zimmer, in dem Elisa lag, postierte sich ein Polizist auf dem Flur, man wollte sie erst später vernehmen, weil sie ja gerade erst einen operativen Eingriff hinter sich hatte. Auch wenn der eine Attentäter niemandem mehr etwas antun konnte, der zweite war nach wie vor flüchtig und seine Identität unbekannt.


    Der Türsteher wurde in der Kopfklinik sofort operiert, aber die Hirnblutungen waren nicht zu stoppen und so verstarb er noch im OP.


    Hartmut hatte derweil die Spurensicherung im Keller abgeschlossen und machte sich dann, ausgerüstet mit einigem technischen Schnickschnack in einem Aktenkoffer, auf den Weg nach Düsseldorf, wie er mit der Chefin besprochen hatte. Leider war der Pförtner dort von nichts und niemandem davon zu überzeugen, dass er Hartmut hereinlassen sollte und so musste der, primär unverrichteter Dinge, wieder abziehen. Er zückte sein Handy und rief Kim Krüger an: „Chefin-ich muss das anders anstellen-hier ist nicht nur die technische Firewall haushoch, sondern auch der persönliche Schutz der Mitarbeiter ganz groß geschrieben-bei der aktuellen politischen Lage recht verständlich. Gleich neben dem Pförtner stehen Sicherheitsbeamte, jeder der rein will, wird gefilzt und muss einen triftigen Grund vorweisen, wir müssen uns da eine List überlegen, aber so einfach, wie wir uns das vorgestellt haben, geht’s nicht!“, informierte er sie und sah dann erstaunt, wie sich plötzlich regelrecht die Schleusen öffneten und viele korrekt gekleidete Mitarbeiter das Ministerium verließen. Als er auf die Uhr blickte, war es zwei Minuten nach zwölf und nach etwa 15 Minuten war das Gebäude fast leer-es war Freitagmittag und Hartmut haderte mal wieder mit sich selber und sagte zu sich: „Du Holzkopf-hättest du nur etwas Gescheites gelernt!“, bevor er sich unverrichteter Dinge wieder auf den Weg zurück nach Köln machte.

  • Irgendwie war etwas schief gelaufen und als man den Türsteher ausgezogen hatte, waren seine Kleidung, die wenigen Wertsachen, der Autoschlüssel und sein Handy, zwar in eine Tüte verpackt und ans Fußende des Bettes gelegt worden, aber nachdem er noch im OP verstorben war, war seine Leiche direkt über die Leichenkammer zur Autopsie in die Gerichtsmedizin gebracht worden, wie das die zuständige Staatsanwaltschaft angeordnet hatte, aber die Plastiktüte, die man im Eifer des Gefechts vergessen hatte, mit einem Namensaufkleber zu versehen, landete wie so viele, erst einmal in einer Ecke, bis irgendwann im Verlauf der nächsten Woche sich mal jemand die Mühe machen würde nach zu sehen, wem der vergessene Inhalt wohl gehörte.


    Ben war etwas ruhiger geworden, als er das Morphin erhalten hatte, aber er fühlte sich immer noch sterbenselend, sein Hals tat weh, der Bauch ebenfalls und nun hatte er noch zusätzlich Muskelschmerzen, denn die Defibrillation hatte alle Muskelfasern im Körper sich zusammen ziehen lassen. Leider wirkte diese Behandlung nicht nur am Herzen, aber das waren Nebenwirkungen, die man in Kauf nahm-sonst wäre er vermutlich vor wenigen Minuten gestorben. Die Atemnot plagte ihn weiterhin, immer noch baute er keinen ordentlichen Blutdruck auf, man sollte meinen, das sonst so hoch potente Noradrenalin flösse irgendwohin, nur nicht in seine Venen!


    Nachdem der Kardiologe von seinem Kollegen alarmiert worden war und noch dazu hörte, dass sein neuer Patient ein junger, bisher herzgesunder Mann war, nahm er die Beine in die Hand und kam von der kardiologischen Intensiv, auf der Sarah noch bis zu Tim´s Geburt gearbeitet hatte und wo sie damals auch Ben kennen gelernt hatte, auf die operativ-anästhesiologische gesaust. Sein Kollege fing ihn gleich im Flur ab, zeigte ihm das EKG und erzählte in kurzen Worten den bisherigen Krankheitsverlauf und seine Therapie. Als der Arzt, der schon viele Jahre als Oberarzt in der Uniklinik arbeitete, ins Zimmer trat, erkannte er als erste Sarah, begrüßte sie herzlich und war momentan ganz verwirrt, weil sie in Dienstkleidung, aber sichtlich in privater Mission am Bett des jungen Mannes saß und voller Sorge dessen Hand hielt. Sarah war irgendwie erleichtert, als der routinierte Internist ans Bett ihres Mannes trat und den nun ebenfalls freundlich begrüßte und gleichzeitig viele verschiedene Informationen, die er mit einem Blick aufnahm, verarbeitete. Ein erfahrener Diagnostiker verließ sich zunächst einmal auf das was er sah, fühlte und hörte und nicht nur auf die Werte, die irgendwelche Maschinen ihm lieferten.

    Ben lag inzwischen wieder kaltschweißig und nach Luft ringend, grau um die Nase, mit einer Herzfrequenz von 140 und einem Blutdruck der sich mit mega Dosen Noradrenalin gerade mal so um 60mm/Hg systolisch bewegte, in Kopftieflage in seinem Bett und nahm den Arzt, der ihm irgendwie bekannt vorkam, nur am Rande wahr, zu sehr war er damit beschäftigt Luft zu holen und nicht ohnmächtig zu werden. Der scannte ihn regelrecht mit seinen Blicken, griff dann zum Stethoskop und hörte auf Ben´s Brust. Dann ging er ruhig ans Fußende des Bettes, machte aus der Kopftieflage mit einem speziellen Knopf eine Herzbettlagerung und bat darum, die Infusionen mit der minimalst möglichen Laufrate tropfen zu lassen. „Ich würde vorschlagen, wir ergänzen das Noradrenalin aktuell mit Dobutamin und versuchen dann die Dosis zu reduzieren und ich hätte gern das Ultraschallgerät hier am Bett und würde ein Herzecho machen“, bat er immer noch beherrscht und freundlich und siehe da-sobald Ben´s Oberkörper aufgerichtet wurde und seine inzwischen dick eingelagerten Beine tiefer als der Rest des Körpers waren, bekam der dunkelhaarige Polizist besser Luft und die Herzfrequenz sank immerhin um 10 Schläge pro Minute. „Dann hätte ich gerne die aktuellen Herzenzyme und das Troponin-gut das CK ist sicher nicht verwertbar, aber alles andere könnte uns einen Hinweis geben, was dem Herrn Jäger denn so fehlt-ach ja-und bitte großzügig Morphin und 40mg Furosemid!“, ordnete er mit Autorität in der Stimme an und während die Schwester an den Katecholaminschenkel des ZVK nun den Dobutaminperfusor anschloss, das Medikament erst einmal mit 4 Millilitern pro Stunde startete, dann Ben erneut 2 mg Morphin und das ausschwemmende Medikament injizierte und zugleich die Infusionen reduzierte, trat eine leichte Besserung ein. Nun verdunkelte man das Zimmer ein wenig und alle Anwesenden sahen gebannt zu, wie der erfahrene Untersucher Ben´s Herz darstellte und die Pumpfunktion, den Klappenschluss und noch einige andere Parameter prüfte und ausrechnete. „Wir haben momentan nur eine Auswurfleistung von 15-20%, er ist massiv gestaut und droht ins akute Linksherzversagen abzurutschen!“, ließ er dann die Bombe los und Sarah und der Intensivarzt, die beide gebannt auf den Monitor des Ultraschallgerätes geblickt hatten, zuckten gleichermaßen zusammen. „Ich denke die Schocksymptome sind eher auf einen kardiogenen Causus zurück zu führen, ich kann Gott sei Dank keine Wandbewegungsstörung feststellen, die auf einen Infarkt hindeuten würde und einen Herzkatheter würde er in der momentanen akuten Situation, weil wir ihn da auch wieder flach lagern müssten, wohl nicht überstehen. Jetzt hoffen wir einmal, dass wir medikamentös da etwas hinbekommen und ich würde ihn gerne auf die Kardiologisch Intensiv übernehmen-das hier ist eindeutig unser Metier. Um die Bauchverletzung können sich die Chirurgen dann drüben konsiliarisch kümmern, jetzt müssen wir erst einmal heraus finden, was die Ursache für die schlechte Pumpleistung ist und wie wir die behandeln können!“, bemerkte er und sofort begannen die Pflegekräfte die Verlegung vorzubereiten und der Intensivarzt stürzte ins Arztzimmer an seinen PC, um rasch einen Verlegungsbrief zu schreiben, wie das auch hausintern, wenn die Fachabteilungen wechselten, üblich war.


    In Semir´s Kopf fuhren die Gedanken Karussell. Was um Himmels Willen hatte Ben am Herzen? Der war bisher-mal ganz abgesehen von den verschiedensten Verletzungen- immer gesund gewesen, hatte Sport getrieben und ihn des Öfteren scherzhaft als „alten Mann“ bezeichnet, wenn er ihn mal wieder irgendwo abgehängt hatte. Und wie Semir von der letzten betriebsärztlichen Untersuchung vor wenigen Wochen wusste, war er persönlich für sein Alter topfit und übertraf die Normwerte um ein Vielfaches. Er war völlig durcheinander und gerade Sarah´s Miene, aus der das blanke Entsetzen zu lesen war, verhieß nichts Gutes!

  • Der Mann im Ministerium hatte auf die Uhr gesehen. Warum meldete sich sein Kontaktmann nicht? Er hatte ihm aufgetragen, wenigstens eine kurze SMS zu schreiben, wenn er seinen Auftrag erledigt hatte. In der morgendlichen Besprechung war man auf die aktuellen Vorkommnisse in Köln eingegangen und der Saubermann mit der schwarzen Weste hatte denselben überraschten Gesichtsausdruck aufgesetzt, wie alle anderen, soweit sie noch nicht aus dem Radio oder Internet von den Vorkommnissen der Nacht erfahren hatten. Inzwischen waren alle Opfer geborgen, es hatte einen Toten gegeben, der war aber erstochen worden, wie der Gerichtsmediziner auf den ersten Blick diagnostiziert hatte und war jetzt zur Obduktion ins rechtsmedizinische Institut überführt worden. Eine Gasexplosion hatte durch das besonnene Eingreifen der Feuerwehr, die alle Notfallpläne im Detail beachtet und umgesetzt hatte, vermieden werden können-nur einige Mitarbeiter der Autobahnpolizei hatten sich nicht an die Weisungen des Einsatzleiters gehalten und auch ein Notarzt hatte den Unfallort betreten, obwohl es ihm untersagt worden war. Das würde noch für alle Beteiligten ein Nachspiel haben, aber ansonsten war man sehr zufrieden damit, eine Katastrophe in Köln vermieden zu haben und der Leiter der entsprechenden Abteilung bekam viel Lob von seinen Kollegen und Mitarbeitern.


    Der Mann im Ministerium warf erst einen Blick auf die Uhr-es war gerade mal zwölf-und dann fiel ihm, als er aus dem Fenster sah, ein junger Mann mit flammend roten Haaren auf, der vor den Toren des Ministeriums mit einem Aktenkoffer stand und telefonierte. Als er eine Viertelstunde später, nachdem er mehrmals vergeblich versucht hatte seinen Kontaktmann zu erreichen, selber das Gebäude verließ, war er verschwunden und der Mann im eleganten Anzug vergaß ihn im Moment wieder. Bisher hatte er auch auf vorsichtiges Nachfragen nichts von weiteren Morden oder „Unfällen“ in Köln gehört, er würde erst einmal warten müssen, was der Türsteher zustande brachte, bevor er selber aktiv wurde.


    Ben hatte mit ängstlicher Miene die Gesichtszüge seiner Frau beobachtet. Er war von dem netten Kardiologen untersucht worden, der anscheinend seine Sache verstand, denn er fühlte sich gleich ein wenig besser, als er aufgerichtet wurde und neue Medikamente bekam, aber Sarah´s vertrauten Züge hatten nicht die Angst und Sorge verhehlen können, die sie anscheinend seinetwegen durchlebte. Das Morphin tat ihm dann allerdings gut, so schlecht es ihm ging, der Leidensdruck und die Angst ließen nach und eine angenehme Müdigkeit ergriff von ihm Besitz, auch wenn die Luft immer noch knapp war und das Herz ihm bis zum Hals schlug. Schläfrig und mit einem Gefühl neben sich zu stehen, verfolgte er, dass man verschiedene Apparate und Perfusoren an seinem Bett befestigte, den einen Monitor zum Transport aus der Halterung nahm und ebenfalls ans Bett hängte und den Defi auf einem sauberen Tuch neben seine Beine direkt in seine Schlafstatt stellte. Dann setzte sich der Tross in Bewegung und wenig später waren sie im Aufzug, der sich gerade los fuhr, als es Ben wieder schummrig wurde und schrille Alarmtöne des Monitors erneut auf einen Notfall hinwiesen. Sarah und Semir, die zusammen mit dem Kardiologen und einer betreuenden Schwester auf engstem Raum in dem Aufzug standen, mussten mit vor Schreck geweiteten Augen mit ansehen, wie Ben asystol wurde und die Schwester sofort mit der Herz-Lungen-Wiederbelebung begann, während der Arzt den Defibrillator vorbereitete. Sarah zog mit zitternden Händen Suprarenin aus dem Notfallrucksack und als der Aufzug schon lange stand und sich die Türen geöffnet und wieder geschlossen hatten, hatten sie ihn wieder, aber Sarah war jetzt beinahe am Ende ihrer Kräfte.


    Mit einer Beatmungsmaske und dem Ambu in der Hand, denn der Kardiologe hatte entschieden, dass er erst auf der kardiologischen Intensiv intubieren würde-Ben ließ sich nämlich gut mit der Maske beatmen- schoben sie eilig das Bett auf die Station und jetzt wurden Sarah und Semir erst einmal abgefangen und gebeten auf dem Flur zu warten, bis man Ben notfallversorgt hatte. Eng umschlungen standen sie da und beobachteten durch das Fenster die geschäftigen Tätigkeiten, die nun begannen anzulaufen. „Semir-es sieht sehr schlecht aus-ich glaube wir verlieren ihn!“, schluchzte Sarah und Semir ergriff ein dermaßen großes Entsetzen-nein das durfte einfach nicht geschehen! Sein bester Freund, der angenehmste und fröhlichste Kollege den er je gehabt hatte, durfte nicht gehen, aber das Schicksal würde seinen Lauf nehmen-egal ob sie damit einverstanden waren oder nicht!

  • Der Arzt hatte verschiedene Medikamente angeordnet und Ben begann sich auch bereits wieder zu regen, aber jetzt würde man ihn intubieren, darum zog man noch Sedierungsperfusoren auf und bereitete in Ruhe die Intubation vor. Ben riss noch einmal kurz die Augen auf, aber bevor die Panik von ihm Besitz ergreifen konnte, war das Narkosemittel angeflutet und er war weg. Kaum hatte man halb sitzend seinen Kopf überstreckt und den Tubus in seine Luftröhre geschoben, bekam er wieder Kammerflimmern und voller Entsetzen sahen Sarah und Semir, wie sich sein Körper bei dem erneuten Stromstoß aus dem Defibrillator aufbäumte. Der Kardiologe musterte den Monitor-sie hatten ihn sofort wieder und nun betete er nochmals eine ganze Latte von fünf verschiedenen Medikamenten auf, mit denen er versuchen würde, Ben´s Herz zu unterstützen. Zusätzlich klebte man spezielle dauerhafte Defipaddels auf seinen Brustkorb, von denen direkt Kabel zum Defi führten. Der Unterschied war, dass man nun zum Defibrillieren nicht umständlich die Elektroden auflegen musste, sondern mit einem Knopfdruck am Gerät den Schock auslösen konnte, der das Herz wieder einnorden sollte. Als Ben fürs Erste versorgt war, alle Geräte an ihrem Platz waren, das Zwölfkanal-EKG angebracht war und er sich ein bisschen stabilisiert hatte, wurden Sarah und Semir wieder herein gebeten und nahmen ihre Plätze an seiner Seite ein.


    Was dem Kardiologen mit seiner bisherigen Therapie gelungen war-das Herz schlug insgesamt langsamer und kraftvoller als zuvor, zwar immer noch weit weg von einer normalen Leistung, aber Ben hatte wieder halbwegs zufriedenstellende Blutdruckwerte um die 100 systolisch, die zumindest mit dem Leben vereinbar waren und die Sauerstoffversorgung der wichtigsten Organe, vor allem des Gehirns sicher stellten. Als der Blutdruck angestiegen war, nahmen auch die Nieren ihre Arbeit wieder auf und Ben begann langsam den ersten Liter auszuscheiden, was wiederum das Herz wenigstens ein bisschen entlastete. Sarah saß zusammen gekauert neben dem Bett, streichelte die wieder eiskalte Hand ihres Mannes, während der Temperatursensor in seiner Blase eine Körpertemperatur von 38,8 °C anzeigte. Die Peripherie wurde immer noch nicht durchblutet und man versuchte jetzt auch den jungen Mann durch die Auflage von Kühlkompressen und dem Einsatz des Thermacairs am Körperstamm herunter zu kühlen. Dieses Gebläse konnte zum Wärmen und Kühlen verwendet werden und so umfloss ein stetiger kalter Luftstrom den schwerst kranken Patienten. Allerdings sah man vom Einsatz von Medikamenten zu diesem Zweck ab, denn die senkten alle auch den Blutdruck und man war froh, dass er da wieder einen aufbaute.

    Semir hatte nach einer Viertelstunde langsam begonnen, sich wieder ein bisschen zu entspannen-die moderne Medizin konnte so viel, Ben war stark, vielleicht hatte er doch noch eine Chance. Plötzlich schlugen die Alarme hektisch an-erneut Kammerflimmern-aber noch bevor der Arzt oder eine ihrer Kolleginnen herein stürzen konnten, hatte Sarah mit professioneller Ruhe in der Stimme gesagt: „Weg vom Bett!“, und kaum war Semir einen Schritt zurück getreten, hatte sie auf den Auslöser des voreingestellten Elektroschocks gedrückt, ein kurzes Zucken ging durch Ben und dann schlug sein Herz wieder im Takt. „Na Sarah-wie in alten Zeiten!“, sagte ihre Kollegin liebevoll, die inzwischen ins Zimmer geeilt war und Sarah nickte. „Aber glaub mir-es ist etwas völlig anderes, ob da irgendein Patient liegt, oder die Liebe deines Lebens!“, flüsterte sie dann und ihre Kollegin drückte sie kurz. „Er ist jung, er ist stark-wir haben hier viel Erfahrung wie du weisst-da haben wir doch schon ganz andere durchgebracht!“, versuchte sie ihre ehemalige Kollegin aufzumuntern und dokumentierte dann den Schock in der Patientenkurve. Noch dreimal in der nächsten halben Stunde wiederholte sich das Ereignis und Semir stellte dann die bange Frage, die ihm die ganze Zeit schon auf der Zunge brannte: „Wie oft kann ein Mensch sowas aushalten?“, flüsterte er und Sarah zuckte mit den Schultern. „Mein persönlicher privater Rekord liegt bei 34 Defibrillationen in einer Schicht, bei einer Patientin, die danach wieder vollständig genesen ist!“, erzählte sie wahrheitsgemäß und jetzt blieb Semir beinahe der Mund offen stehen-dass so etwas möglich war, hätte er nicht zu träumen gewagt. „Allerdings wissen wir immer noch nicht die Ursache und die muss eigentlich behandelt werden“, teilte ihm Sarah mit und wie auf das Stichwort trat nun der Kardiologe ins Zimmer.


    „Wir haben inzwischen die ersten Ergebnisse. Sowohl die Blutuntersuchung als auch der Abstrich, den ich bei der Intubation von den Mandeln genommen habe, deuten auf eine Streptokokkeninfektion hin. Auf den Resistenztest wollen wir in seiner Situation nicht warten und so sind die Antibiosestewards, denen ich den Fall vorgestellt habe- denn inzwischen entschied in einer Klinik nicht mehr ein einzelner Arzt, sondern ein Gremium aus Krankenhaushygienikern und den behandelnden Ärzten über die Antibiosestrategie-der Meinung, wir geben ihm ein modernes Penicillin-Infectofos genannt, viermal täglich in der Annahme, dass es sich um eine Myokarditis infolge der Streptokokken und einer verschleppten Grippe handelt. Zur Diagnosesicherung und Abgrenzung einer Endokarditis, also einer Herzinnenhautentzündung machen wir jetzt gleich noch eine TEE, also ein Herzecho durch die Speiseröhre, er bekommt danach noch eine Ernährungssonde von uns, einen Piccokatheter um einen besseren Überblick zu erhalten und dann sehen wir weiter!“, informierte er die Angehörigen und als Ben genau in diesem Moment wieder zu flimmern begann und mit einem erneuten Stromstoß sein Herz erfolgreich in den Takt gebracht wurde, fügte er noch hinzu: „Und über das Einbringen eines implantierten Defis werde ich mir auch Gedanken machen!“, und nun wurden Semir und Sarah erneut aus dem Zimmer geschickt. „Sarah-tu dir das nicht an-er schläft ja Gott sei Dank und kriegt von dem ganzen Procedere nichts mit-geht ihr erst mal ins Stationszimmer, trinkt in aller Ruhe einen Kaffee und esst eine warme Suppe, damit ihr bei Kräften bleibt, ich hole euch, wenn wir fertig sind!“, redete die Kollegin Sarah zu und nach kurzem Zögern willigte sie ein. Es war zwar alles andere als ein entspanntes Mahl, aber Sarah und Semir merkten, wie sie selber alle beide nach dieser schlaflosen Nacht und den ganzen Geschehnissen an die Kante kamen und ihrem Mann und Freund wäre am Allerwenigsten geholfen, wenn sie jetzt zusammen klappten.


    „Sarah-ich verstehe bei den ganzen Fachausdrücken nur Bahnhof-was haben die jetzt mit Ben vor?“, fragte nun Semir und seine Freundin erklärte sachlich, als würde sie aus einem Lehrbuch zitieren: „Man macht jetzt erst eine Art Magenspiegelung-ein tranesophagales Echo, das TEE ist die Abkürzung dafür und sieht mit einem schmalen Schallkopf das Herz direkt durch die Speiseröhre an. Da kann man fragliche Thromben erkennen oder auch Wandverdickungen, um die Art der Herzschädigung abzugrenzen. Die Ernährungssonde ist eigentlich selbsterklärend, nur gerade in der Kardiologie noch fast wichtiger als sonst, weil es viele Medikamente nicht als Injektionslösung gibt und man neben der Versorgung der Dünndarmzotten mit kleinen Mengen Sondenkost dann eben diese hoch potenten Medikamente auflösen und oral eingeben kann.
    Einen Piccokatheter müsstest du schon kennen, den hatte Ben schon mehrmals-das ist ein dünnes Schläuchlein in der Leistenarterie, wo man mittels Temperaturschwankungen beim Einspritzen kühler Kochsalzlösungen in den ZVK und die Geschwindigkeit der Verteilung im Organismus, darauf schließen kann, wie das Herz arbeitet, wie viel es noch auswirft, ob der Organismus Flüssigkeit braucht oder nicht und noch viele andere Werte.


    Und zuletzt der implantierte Defi-da wird eigentlich ein Herzschrittmacher gelegt, die Schrittmachersonden werden wie gewohnt im Herzen platziert-das geht über die untere Hohlvene, ähnlich wie beim Legen eines ZVK, nur befindet sich in dem kleinen Kästchen, das unter der Haut eingebracht wird, nicht nur ein Schrittmacheraggregat mit Batterien, sondern auch ein kleiner Defibrillator, der dann direkt im Herzen die elektrische Stimulation übernimmt, wenn der winzige Computer die Daten auswertet und die Abgabe eines Stromstoßes für notwendig hält. Dadurch kann man mit wesentlich geringeren Joulezahlen arbeiten-nur etwa ein Zwanzigstel von dem, was Ben jetzt bei jedem Schock verbraten kriegt. Dadurch schont man die Weichteile, die sonst mit der Zeit schwere und schmerzhafte Brandverletzungen erleiden und weil der kleine Computer das völlig selbstständig macht, muss auch niemand mehr aufs Knöpfchen drücken.“, erklärte Sarah nun, als würde sie einen Vortrag halten und Semir wusste nicht, ob er sie nun wegen ihres doch beträchtlichen Wissens und der Gabe, das auch für ihn verständlich zu erklären, bewundern sollte, oder sich Sorgen machen, weil sie das Ganze gar nichts anzugehen schien, aber da brach sie auch schon zusammen, begann haltlos zu weinen und flüsterte nur immer: „Ich habe so eine Scheißangst ihn zu verlieren-ich halte das bald nicht mehr aus!“, und nun konnte Semir das einzige tun, was im Augenblick in seiner Macht stand-ihr nahe sein, sie fest halten und gemeinsam mit ihr zu hoffen und zu beten.

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