Kalter Abschied

  • Ben schüttelte leicht den Kopf, als er in den Krankenhauspark trat. Es war typisch, das Mikael es nicht in dem Gebäude ausgehalten hatte, sondern nach draußen geflüchtet war. „Darfst du schon so weite Ausflüge unternehmen?“, fragte er.
    Sein Freund sah auf und lächelte. „Ich weiß nicht. Ich habe nicht direkt nach Erlaubnis gefragt. Diese Luft da drin, die treibt mich in den Wahnsinn.“
    Ben setzte sich neben Mikael hin und sah jetzt, dass er etwas in der Hand hielt. Einen Brief oder etwas Ähnliches. „Was ist das?“
    „Anna hat ihn mir gestern gebracht.“
    „Ihn?“
    „Einen Brief. Sie hat ihn beim Aufräumen gefunden. Er ist an mich adressiert.“
    Mikael hielt ihm den Brief hin und Ben nahm ihn entgegen, um ihn genauer zu inspizieren. Er war noch nicht geöffnet. Er sah auf. „Willst du ihn nicht lesen?“
    Der Schwarzhaarige seufzte und zuckte mit den Schultern. „Es ist die Schrift meines Vaters“, sagte er dann.
    „Von Andreas Hansen?“
    Er erhielt ein leises Lachen als Antwort. „Ja, es sei den es gibt eine Adoption von der ich nichts weiß.“
    Ben reichte Mikael den Brief zurück. „Du solltest ihn lesen.“
    „Ich weiß.“
    Der deutsche Kommissar zog die rechte Augenbraue hoch. „Aber?“
    „Ich habe Angst vor dem, was drin stehen könnte.“
    Ben nickte. Dann lehnte er sich zurück. „Er hat dich geliebt. So schlimm wird es nicht sein.“
    Mikael betrachtete den Brief in seinen Händen. „Ich habe doch gerade erst mit ihm abgeschlossen, kann ihn endlich verstehen. Was ist, wenn es danach wieder anders ist?“
    „Oder es bestätigt deine Ideen“, bestärkte der Braunhaarige seinen Freund. „Soll ich ihn für dich lesen?“
    „Das ist doch Blödsinn. Ich würde sofort an deiner Mimik merken, was drin steht.“ Mikael ließ den Brief in die Tasche seiner Jogginghose gleiten. „Ich schaffe es einfach nicht.“
    „Wenn du vor dieser Sache davonläufst, dann wirft dich das um Monate zurück“, tadelte Ben jetzt mit ernster Stimme. „Du bist stärker, als du glaubst!“


    Mikael zog den Brief wieder hervor. Er musterte den weißen Umschlag. Er betrachtete die Schrift, als ob er daraus irgendwelche Schlüsse ziehen könnte, was darin stand. Seine Finger fuhren über die Kanten des Umschlages, zeichneten die Faltknicke auf der der Rückseite nach. Seine rechte Hand begann zu zittern. Ganz leicht, kaum merklich.
    Ben riss Mikael den Brief aus der Hand und öffnete mit dem Zeigefinger in einer schnellen Bewegung den Umschlag. Er zog ein Blatt Papier heraus und reichte es seinem Freund. „So, jetzt musst du ihn nur noch lesen!“
    Mikael sah das Blatt für einige Zeit still an, dann faltete er es auf und begann zu lesen. Nach über fünf Minuten faltete er den Brief wieder in der Mitte zusammen und reichte ihn wieder Ben. „Und?“, fragte er vorsichtig nach.
    „Er entschuldigt sich bei mir. Dafür, dass er ein schlechter Vater war.“ Mikaels Stimme war leise, mehr ein Hauchen als ein Sprechen.
    Ben legte den gefalteten Brief neben sich auf die Bank und legte die linke Hand auf Mikaels rechte Schulter. Er drückte sanft zu.
    „Das er auf mich geschossen hat. Er dachte … er dachte es wäre sein einzige Wahl. Er entschuldigt sich, dass er dich vergiftet hat …“ Mikael stockte und schüttelte den Kopf.
    „Es ist okay. Es ist in Ordnung, wenn dich das zusetzt.“
    „Er … Papa schreibt, dass … dass …“ Mikael sah auf und blickte in seine Augen. „Er-er hat nur getan, was sein Vater wollte … er entschuldigt sich dafür, dass er so schwach war. Warnt mich vor Georg. Ich soll ihn nicht in mein Leben lassen, sagt er.“
    Ben blieb die Luft weg. Das waren definitiv Dinge, die er nicht geahnt hatte. „Und dennoch lässt er Georg den Brief für dich aufbewahren? Er sollte ihn dir offensichtlich geben, nicht?“
    „Ich weiß nicht, wie er in Georgs Sachen kommt.“ Mikael ließ resigniert den Kopf sinken und sah auf den weißen Schnee. Ben versuchte auszumachen, was der Brief in seinem Freund ausgelöst hatte. Hatte er Mikael geholfen, oder war es am Ende doch nicht richtig gewesen, ihm den Brief zu öffnen und hinzuhalten. Ihn dazu zu zwingen zu lesen?
    Nach einer Weile hörte Ben Mikael laut ausatmen und dann stand der Finne auf. „Lass uns wieder reingehen“, sagte er leise. Ben griff eilig nach dem Brief und folgte ihm dann. Mikael einzuholen war nicht besonders schwer. Er war noch sehr langsam und lief bedacht auf dem glatten Untergrund.
    „Er war ein Idiot“, hörte er Mikael sagen, als sie kurz vor dem Haupteingang waren.
    „Mhm?“
    „Mein Vater. Er war so schlau und doch gleichzeitig so ein Idiot! Er wollte alles richtig machen und hat doch alles falsch gemacht.“ Mikael blieb stehen und sah ihn an. „Und weißt du, was das schlimmste ist?“
    „Was?“
    „Er hat einen Sohn, der genauso ein Idiot ist!“
    „Nun übertreibst du aber“, widersprach Ben. „Du bist kein Idiot.“
    Mikael steckt die Hände in die Taschen seiner Jogginghose und drehte sich von ihm weg, ging weiter in Richtung Krankenhaus. „Natürlich. Auch ich wollte auf meine Weise alles richtig machen, habe aber alles falsch gemacht ... naja fast alles, außer Eva und die Kinder natürlich.“
    „Wir alle machen Fehler.“
    Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „Aber nicht immer und immer wieder.“ Dann drehte er sich wieder zu ihm. „Es ist okay, ich denke, dass ich ihn genau deshalb inzwischen viel besser verstehen kann. Da ist kein Hass mehr, keine Verzweiflung, wenn ich an Andreas denke.“
    Ben lächelte, erwiderte jedoch nichts. Sie liefen weiter zum Fahrstuhl und erst als sie in Mikaels Zimmer angekommen waren, erhob einer der Freunde erneut die Stimme: „Danke Ben.“
    „Wofür?“, fragte der Angesprochene erstaunt.
    „Das du mich dazu gezwungen hast den Brief zu öffnen. Du hast Recht, es war wichtig.“
    „Ähm, ja. Sicher.“ Der deutsche Polizist sah verlegen aus dem Fenster.
    „Für den Job an der Akademie, da ist nun alles geregelt“, hörte er hinter sich Mikael sagen.
    Er sah zum Bett, wo es sich Mikael gerade bequem machte. „Ja?“
    „Samuel sagt, dass ich nur noch den Vertrag unterschreiben muss. Er hat alles geregelt.“ Der Schwarzhaarige richtete die Bettdecke und verschränkte den rechten Arm hinter seinem Kopf. „Eine gute Stelle, glaube ich.“
    Ben lächelte. „Siehst du. Jetzt geht alles den richtigen Weg.“
    „Ja. Alles geht seinen Weg“, kam es aus dem Bett.

  • Einige Monate später


    Mikael schob das kleine blaue Fahrrad zum Anfang der kleinen Seitengasse, die zu ihrem Haus führte. Rechts neben ihm lief seine Tochter, den rosa Sturzhelm fest auf den Kopf gezurrt. Nachdem sie bisher immer mit Stützrädern gefahren war, stand nun der erste Versuch ohne diese Hilfe an. Links von ihm, trottete Familienhund Tarmo und wedelte freudig mit dem S.chwanz.
    Die Sonne stand hoch am Himmel, die Temperaturen waren bei 16 Grad angelangt. Der Frühling hatte Einkehr in Finnland gehalten.
    Mikael hielt an und drehte das Fahrrad in Richtung Haus. Dann half er Viivi auf das Rad.
    „Fertig?“, fragte er.
    „Nicht so richtig“, antwortete das blonde Mädchen leise und rückte dabei ihren rosa Sturzhelm zurecht. Ihre kleinen Hände umgriffen Krampfhaft die Griffe am Lenker.
    „Ich halte dich. Du brauchst keine Angst haben“, sagte er und Viivi nickte eifrig.
    „Also wollen wir?“
    „Ja.“ Mikael fasste das Fahrrad bei Lenkstange und Sattel an und seine Tochter trat vorsichtig in die Pedale. Sie kämpfte mit dem Gleichgewicht und das Rad schwankte leicht hin und her, doch er hielt sein Versprechen und sorgte dafür dass das Fahrrad immer stabil blieb und niemals drohte umzukippen. Tarmo hatte sein Tempo erhöht und rannte mit aufgeregtem Gebell neben ihnen her. „Sollen wir noch etwas schneller?“ Viivi lächelte und trat jetzt etwas schneller in die Pedale. Auch er beschleunigte sein Tempo nochmal. „Wir brechen sicherlich einen neuen Geschwindigkeitsrekord!“, rief er ihr zu und sie gluckste vor Freude. Er ließ vorsichtig das Fahrrad los, doch als Viivi zu schwanken begann und kreischte griff er schnell wieder zu. „Papa hat dich. Alles gut“, beruhigt er sie.
    Mit jedem Meter wurde Viivi mutiger. Das Mädchen trat wie wild in die Pedale und dann zog sie ruckartig die Beine zur Seite nach oben, so dass die Pedalen im Alleingang herumwirbelten. „Schneller Papa, schneller!“, quietschte sie laut und lachte.
    „Du sollst doch Fahrradfahren lernen. Nicht tricksen!“
    Sie lachte nur noch mehr. „Aber so bin ich schneller!“
    Er tat ihr den Gefallen und beschleunigte sein Tempo noch einmal. Dann zog er sie mit einem Ruck vom Sattel in seine Arme. Viivi schrie erschrocken auf, lachte dann jedoch und verfolgte fasziniert, wie das Fahrrad noch einige Meter weiterfuhr und dann zur Seite in das hohe Gras kippte. Sie schlug sanft gegen seine Schulter. „Du machst es noch kaputt“, schimpfte sie empört.
    „Ach was! Es ist doch ganz sanft im Gras gelandet.“
    Er ließ seine Tochter wieder runter und hob anschließend das Rad aus dem Gras. „Wollen wir es noch einmal versuchen? Aber dieses Mal ohne Papa!“
    Sie nickte und er schob das Fahrrad wieder ein Stück die Straße hinauf.


    Ben beobachte die Szene von weitem und lächelte in sich hinein. Ja, genauso hatte er sich eine glückliche Familie vorgestellt. Es schien, als hätte sein Freund endlich ins Leben gefunden und konnte das genießen, wofür er immer gekämpft hatte und was er sich immer gewünscht hatte, auch wenn Mikael sich beim Erreichen dieses Traumes wohl in den letzten Jahren mehr selbst im Weg stand. Inzwischen waren sechs Monate vergangen seit Mikael vor der Villa seines Großvaters niedergeschossen wurde. Er hatte den Job an der Akademie angenommen und war in seiner neuen Position auch glücklich. Dass ihn andere Universitäten für Gastbeiträge wollten, zeigte zudem, dass er wirklich verstand wovon er redete.
    „Willst du noch ein Bier?“
    Ben sah auf und blickte in die blauen Augen von Antti. Er nickte und der Finne reichte ihm eine neue Flasche, ehe er sich wieder hinsetzte. Rechts von Antti saß Veikko, der seine Hand fest mit der von Jenny umschlungen hatte. Die Beiden waren mit ihrer Fernbeziehung weiterhin glücklich und bekamen die Sache immer besser geregelt. Außerdem schien er Jenny Halt zu geben. Sie hatte in Erwägung gezogen, eine Weiterbildung zur Kriminalkommissarin zu machen. Vor einigen Wochen hatte sie ein Seminar zur Fallanalytik besucht. Ben konnte sich genau denken, wer ihr diesen Floh in den Kopf gesetzt hatte. Sie schien Mikael auf freundschaftlicher Ebene unglaublich nahe gekommen zu sein, obwohl sie fast vor einem Jahr noch Fremde waren. Für ihn war die junge Kollegin immer eine gute Freundin. Fröhlich, aufgeschlossen, aber in ihm reifte das Gefühl, dass da noch mehr war. Irgendetwas, was wohl nur Mikael erkannte.
    Links von Antti saß Semir, der ebenfalls sofort Ja zur Finnlandreise gesagt hatte, als Mikael sie vor einem Monat eingeladen hatte. Eine Woche im Sommerhaus. Gemeinsam etwas Spaß haben und die derzeit lauwarmen Temperaturen genießen. Auch Andrea und die Kinder waren mitgekommen, nachdem der Termin Extra in den Osterferien gemacht wurde. Sie saß neben ihren Mann, während sich Ayda und Lilly mit Oskari vergnügten und eine Wasserschlacht veranstalteten. Auch Kasper war der Einladung natürlich gerne gefolgt und war ebenfalls am Tisch vertreten, wenn er auch wie Antti und Veikko nur für den Abend gekommen war, da die Abteilung sonst ohne Kommissare dagestanden hätte.
    „Und wie läuft es so als Chef?“, fragte Semir Antti neugierig.
    Antti winkte ab. „Glaub mir, bleib in der Position, die du hast.“
    „Er ist ein fürchterlicher Chef“, mischte sich jetzt Veikko ein. „Rautianen war um einiges gelassener!“
    „Hör mal!“ Antti gab seinem jüngeren Kollegen einen Klapps auf den Hinterkopf, was dieser mit einem leisen Aua kommentierte.
    „Und die neue Kollegin? Wie ist die?“, hakte Ben nun nach.
    „Schon vergeben“, war nun die Antwort von Kasper. Der Blonde lächelte verschmitzt. Er hatte natürlich sofort gewusst, worauf Ben hinauswollte. Der deutsche Polizist war noch immer Single und befürchtete langsam dass es immer so bleiben würde. Es wollte einfach nicht die richtige Frau in sein Leben treten.
    „Darum ging es mir doch überhaupt nicht!“, winkte Ben verlegen ab. „Ich meinte als Kommissarin.“
    „Unerfahren, aber mit viel Potential“, antwortete Antti. „Aber immer noch leichter unter Kontrolle zu halten als andere Exemplare.“ Der Blonde nickte bei dem Gesagten in Richtung Mikael.
    „Das glaub ich dir gerne!“, stimmte Semir zu und lachte.


    „Und? Seid ihr gut versorgt?“ Mikael stellte das blaue Fahrrad an die Hauswand und zog einen Stuhl vom Tisch weg, um sich dann zu setzen und Viivi auf seinen Schoß zu heben.
    Die Runde nickte synchron. „Deine Frau kümmert sich wunderbar um uns“, bestätigte Ben seinem Freund.
    „Das werde ich doch auch hoffen.“ Mikael beugte sich zu Eva herüber und gab ihr einen Kuss auf die Lippen. Dann griff er nach seiner Bierflasche und hob sie ein Stück nach oben. „Lasst uns anstoßen. Auf die Freundschaft.“
    Die Bierflaschen klirrten gegeneinander und ein lautes auf die Freundschaft hallte in die finnische Nacht.



    -FIN-

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