Kalter Abschied

  • Diese Geschichte ist der neunte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:
    1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
    2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
    5.Fall: Blackout
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: Vertrauen
    8.Fall: Grüße aus St. Petersburg





    Man sagt am Ende wird alles gut.
    Und wenn es nicht gut ist, kann es auch nicht das Ende sein.
    Am Ende wird alles gut und ist es nicht gut, ist es verdammt nochmal nicht das Ende - NEIN!
    Casper – Ariel



    Kapitel 1


    Ben drückte seinen Freund an sich. Es war verdammt lange her, seit er Mikael zum letzten Mal gesehen hatte. Sechs Monate. Eine halbe Ewigkeit. Er nahm sich vor die nächsten Tage zu nutzen und möglichst viel mit Mikael zu unternehmen. Die Familie hatte geplant, für eine Woche hierzubleiben, vielleicht aber auch etwas mehr. Das stand noch nicht fest. Mikael hatte versprochen, dass er seiner Cousine dabei helfen würde, das Haus ihres Großvaters leerzuräumen und dann zu verkaufen.
    Ben lockerte die Umarmung und löste Mikael von sich. „Du siehst gut aus!“
    Die Mundwinkel seines Freundes zogen sich nach oben. „Es geht mir auch gut.“
    „Komm lass uns irgendwo reingehen!“ Ben ließ seinem Freund keine Zeit zum Antworten und zerrte ihn in ein Café, das sich ganz in der Nähe befand.
    Sie suchten sich einen Tisch in der Ecke aus. Während Mikael auf der mit rotem Kunstleder bezogenen Bank Platz nahm, setzte sich Ben sich ihm gegenüber auf einen Stuhl. Dann hob er den Arm und sofort kam eine Bedienung an den Tisch. „Was möchtest du haben?“, fragte er Mikael.
    „Einen Kaffee und ein Wasser.“
    Ben nahm ebenfalls einen Kaffee. Als die Bedienung wieder gegangen war, musterte er Mikael genau. Irgendetwas schien sein Freund auf der Seele zu haben. Seit sie das Café betreten hatten, war er abwesend, sah auf den Tisch und spielte mit der Karte.
    „Und? Wie ist es dir ergangen?“
    Mikael sah auf. „Gut.“
    „Aber?“ Ben lächelte. „Ich sehe doch, dass da noch mehr ist.“
    „Es ist nur, ich …“ Mikael atmete tief durch. „Ich habe meinen Dienst bei der Polizei beendet. Es war Zeit ein für allemal das alles hinter mich zu lassen.“ Die Stimme des Finnen klang nun nicht mehr verunsichert. Sie war kräftig und stark, zeugte von Selbstbewusstsein.
    „Du hast was?“, hakte Ben ungläubig nach. Er hätte nie geglaubt, dass Mikael tatsächlich seinen Job an den Nagel hängen würde. Er hatte fest daran geglaubt, dass er nach der Pause zurückkehren würde.
    „Es geht nicht mehr. Es würde mich kaputt machen.“
    „Ich muss sagen, das kommt nun wirklich plötzlich“, sagte Ben.
    „Ja? Ich weiß nicht, ich denke, dass ich die Entscheidung schon vor langer Zeit getroffen habe. Ich wollte es wohl nur …“ Er unterbrach seinen Satz, während die Bedienung die bestellten Kaffee auf den Tisch stellte. Als sie gegangen war, sprach er weiter: „Nur nicht wahrhaben. So viele Jahre war der Job alles, was ich hatte.“
    Mikael griff nach seiner Tasse und drehte sie mit der rechten Hand auf dem Unterteller im Kreis. „Aber das stimmt nicht. Meine Familie ist viel wichtiger und ich kann nicht zulassen, dass ich vielleicht dem Druck wieder nicht gewachsen bin.“
    „Du weißt aber schon, dass du dir viel von dem Druck auch selbst machst?“
    „Natürlich, aber ist es dann nicht noch umso schlimmer?“, stellte Mikael die Gegenfrage. Der Schwarzhaarige nahm einen Schluck Kaffee. „Ich bin mir sicher. Das war die richtige Entscheidung.“
    Ben lächelte. „Es wird ungewohnt sein.“
    Mikael lachte leise auf. „Wir arbeiten doch nicht einmal zusammen.“
    Ben schüttelte den Kopf. „Du weißt, wie ich das meine!“


    Mikael stellte den Ellenbogen auf die Tischplatte und bettete den Kopf darauf. Dann griff er nach dem Löffel und rührte in seinem Kaffee, obwohl er überhaupt keinen Zucker oder Milch hineingetan hatte. „Da ist noch mehr, aber um ehrlich zu sein … das fällt mir etwas schwerer.“
    „Du gehst nicht wieder nach Alaska? Nimmst womöglich deine ganze Familie mit.“
    Mikael sah auf. „Nein … so etwas ist es nicht.“
    „Du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst“, sagte Ben behutsam.
    Mikael seufzte. „Natürlich weiß ich das, Ben. Es ist … es ist einfach nicht so leicht. Ich meine, sich so etwas einzugestehen.“
    Ben verfolgte, wie der Löffel in der Tasse leicht zu zittern begann. Da war er wieder, der alte unsichere Mikael. Der, der vor menschlicher Nähe Angst hatte. Der, der einen Panzer um sich erbaute, durch den niemand durchkam. „So schlimm kann es doch nicht sein. Wir sind Freunde, ich verurteile dich wegen überhaupt nichts.“
    „Depressionen … ich habe Depressionen!“ Die Antwort kam so schnell und leise aus Mikaels Mund, dass Ben sie erst verstand, nachdem einige Sekunden vergangen waren und dann verschlug sie ihm die Sprache. Und er wusste nicht einmal wieso. Es war doch in den letzten Monaten mehr als offensichtlich gewesen, dass sein Freund Probleme hatte und zwar solche, die sich nicht mit einem Fingerschnippen lösen würden. Und doch, diese Worte so zu hören, war etwas anderes. Es war ein komisches Gefühl, was sich nicht wirklich fassen ließ.
    „Ich leide an Depressionen“, kam es erneut. Jetzt etwas Langsamer, aber immer noch leise. „Mein Therapeut sagte, dass ich … er hatte den Verdacht …“ Mikael stoppte und senkte den Blick.
    „Du brauchst dich dafür nicht zu schämen“, sagte Ben jetzt. „Das ist nichts, wofür du dich schämen musst.“
    „Er hat den Verdacht geäußert, dass es vielleicht von dem Sturz kommt.“ Nun hatte die Stimme seines Freundes wieder an Stärke gewonnen. Auch wenn er weiterhin leise sprach, so zitterte seine Stimme nicht mehr. „Er hat mir die Adresse von einem Spezialisten gegeben. Er hat das bestätigt.“
    „Und nun?“, hakte Ben mit dünner Stimme nach. Er fühlte sich solchen Gesprächen nicht gewachsen und das merkte man nun sicherlich auch.
    „Ich habe Tabletten bekommen und er hat mir eine Adresse von einer Gruppe gegeben, von Leuten, die ebenfalls betroffen sind … aber ich weiß nicht, ob ich hingehe.“ Mikael lächelte unsicher. „Ich meine, sich Leuten zu öffnen, die man nicht kennt.“
    „Es wird dir sicher helfen. Auch wenn es am Anfang schwer ist.“
    „Ja, ich weiß.“ Mikael ließ den Löffel los, hob ihn aus der Tasse und trank den Kaffee in einem Zug aus. „Ich muss mir in der letzten Zeit so viel eingestehen. Es ist ziemlich anstrengend.“
    Ben griff nach dem Unterarm seines Freundes. „Aber die Zeit danach wird dann viel besser.“
    „Das weiß ich auch“, grummelte der Schwarzhaarige.
    Ben lächelte. „Ich weiß, dass du das schaffst. Du gibst niemals auf zu kämpfen, egal wie hart es ist.“
    „Mit Eva und den Kindern, da lohnt es sich doch auch zu kämpfen, oder?“ Mikaels Blick ging in Richtung Fenster und er sah hinaus auf die verschneiten Straßen von Köln. „Wenn ich darüber nachdenke, wie viel sie schon mitbekommen von alldem. Viivi versteht das alles noch nicht so, aber Oskari. Er weiß, dass etwas nicht stimmt mit mir.“ Er blickte wieder zu Ben. „Mit seinem Vater“, fügt er leise hinzu. Der Arm unter Bens Hand begann zu zittern. „Ich will nicht so werden, wie mein Vater. Sie brauchen mich und ich möchte für sie da sein. Als ihr Vater! Ich muss sie bei ihren Problemen unterstützen, nicht sie bei meinen.“
    „Ich weiß, dass du ein guter Vater bist“, erklärte Ben. „Du bist so liebevoll und verständnisvoll mit ihnen.“
    „Ich kann sie nicht verlieren. Das würde ich nicht aushalten. Eva hatte Recht, wenn ich mich nicht den Dämonen in mir stelle, dann gibt es meine Familie nicht mehr.“ Mikaels blauen Augen blickten direkt in seine. „Sie hätte mich verlassen … alles war so kurz davor auseinanderzubrechen.“
    „Aber das ist es nicht. Du hast die Kurve bekommen. Ich hätte das sicher nicht geschafft!“
    „Das ist Quatsch“, widersprach Mikael. „Natürlich hättest du.“
    „Nein. Ich meine das ernst. Ich hätte nicht so lange durchgehalten in diesem Sumpf und dieser Dunkelheit.“
    „Ich habe all meinen Freunden vor den Kopf gestoßen. Meiner Familie und du tust so, als wäre es etwas Rühmliches gewesen.“
    „Du hast es ja nicht mit Absicht gemacht. Du hast einfach geglaubt, dass es die einzige Lösung ist.“ Ben lehnte sich zurück und lachte leise. „Und nun hast du ja noch Zeit genug, dass alles wieder gutzumachen!“
    Mikaels rechter Mundwinkel zog sich ein Stück nach oben. „Und ich fange gleich damit an. Eva hat dich und Semir für Übermorgen zum Essen eingeladen … und Andrea natürlich auch.“
    „Ja, ein gemeinsames Essen ist ein guter Anfang“, bestätigte Ben und lachte laut auf, ehe Mikael mit einsetzte.

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  • Kapitel 2


    Irgendetwas hatte ihn geweckt.
    Mikael war plötzlich hellwach. Und es war kein Albtraum gewesen. Die hatten in den letzten Wochen aufgehört und er hatte begonnen besser durchzuschlafen. Selbst in den ersten Nächten in der Villa seines Großvaters hatte er keinerlei Probleme gehabt. Nein. Es war ein Geräusch gewesen. Er war sich sicher. Er lauschte in die Dunkelheit, suchte nach dem Geräusch, was seinen Schlaf gestört hatte. Ja, genau, das war es gewesen: ein laufender Motor. Er hörte ihn jetzt ganz deutlich. Er sah zur Seite. Eva schlief tief und fest. Seine Frau hatte einen tiefen Schlaf, für den er sie manchmal beneidete.
    Er schob leise die Bettdecke beiseite und hob die Beine aus dem Bett. Der Parkettboden fühlte sich kalt an unter den Socken. Er ging zum Fenster und sah hinaus. Es wirbelten dicke Flocken durch den Kölner Nachthimmel. Direkt gegenüber stand ein schwarzer Lieferwagen. Abgaswolken stiegen in die Luft – der Motor lief immer noch.
    Er beobachtete den Wagen. Vielleicht waren es ja Einbrecher? Allerdings war in dem Haus wohl nichts zu holen. Es stand leer und das bereits seit Monaten. Die Hecktüren wurden geöffnet und ein Mann sprang heraus. Das Gesicht mit einer Skimaske verdeckt. Ein weiterer Mann, ebenfalls vermummt, folgte. Dann zogen sie etwas von der Ladefläche.
    Das war eine menschliche Person! Ein Mann!
    Lebte er noch? Es sah zumindest danach aus. Er meinte, eine Bewegung des Mundes zu erkennen.


    In Windeseile zog er sich Jeans, Schuhe und Pullover über. Er griff nach seinem Handy und blickte auf Eva, ehe er aus dem Zimmer eilte. Er rannte die Treppen herunter und wählte dabei die Nummer von Ben. Es dauerte nicht lange und es meldete sich die verschlafene Stimme seines Freundes.
    „Ben? Hör mal, du musst kommen. Irgendetwas stimmt hier nicht“, begann er.
    „Wie?“
    „Bei der alten Villa von Georg“, sagte er in das Handy. „Hier ist etwas im Gange, also gegenüber.“
    Sein Gesprächspartner grummelte leise am anderen Ende der Leitung.
    „Ich glaube eine Entführung!“
    Nun war Ben hellwach. „Was!? Du rührst dich nicht von der Stelle. Ich fordere Unterstützung an und komme sofort.“
    „Okay.“
    „Keine Alleingänge, hörst du!?!“
    „Ich bin nicht lebensmüde“, antwortete er. „Ich warte vor dem Haus auf dich.“
    „Ich komme sofort“, erklärte Ben ein weiteres Mal. Dann knackte es in der Leitung.
    Mikael zog den Reißverschluss des Kapuzenpullovers zu, während er vor die Tür trat. Er ging die Treppe vor der Tür hinunter, drehte dann aber wieder um. Er holte die Schlüssel aus der Hosentasche und schloss zur Sicherheit noch einmal ab. Dann überquerte er die Straße. Er hielt das Handy noch in der Hand und machte schnell ein Foto von dem Nummernschild. Dann versteckte er sich hinter einem anderen Wagen. Er drehte sich um und sah auf die Hansen-Villa. Da drin war alles, was ihm etwas bedeute. Seine Frau und seine Kinder. Und da war ihm bewusst, dass er nicht weiter gehen würde. Er würde das nicht riskieren können. Zu sehr liebte er das, was er bei einem Alleingang verlieren könnte.
    Er wartete, während ihn die Schneeflocken umtanzten. Das gegenüberliegende Haus fest im Blick. Vielleicht hatte er ja die Möglichkeit die Gesichter der Männer von hier zu sehen? Oder gar ein Foto zu machen? Es könnte ja sein, dass sie unvorsichtiger wurden. Wer wusste das schon.


    Plötzlich vernahm er Schritte hinter sich. Er fuhr herum, sah aber nur einen Streifenpolizisten, der auf ihn zukam. Der Uniformierte hatte die Mütze tief ins Gesicht gezogen. „Das ging aber schnell. Waren Sie in der Nähe?“, raunte Mikael.
    Der Polizist nickte.
    Mikael zeigte auf das Haus. „Sie sind dort drin. Die übrige Verstärkung ist sicher bald hier.“
    Der Polizist griff nach seiner Waffe und machte einige Schritte auf das Haus zu. Der Schnee knirschte unter den schwarzen Stiefeln. Mikael hechtete dem jungen Beamten hinterher. Zur Hölle war er lebensmüde? „Wollen Sie nicht auf Verstärkung warten?!“
    Er bekam keine Antwort.
    „Hallo?! Ohne Rückendeckung. Sie riskieren ihr Leben!“ Mikael griff nach dem Oberarm des Mannes. „Nun warten Sie doch! Sie sind jung, wollen sich beweisen, aber glauben Sie mir, das ist der falsche Weg!“
    Der Mann drehte sich um und Mikael löste die Hand von dem Arm.
    „Ich riskiere mein Leben?“
    Da war etwas Hämisches in der Stimme und als Mikael einen genauen Blick auf die Waffe werfen konnte, brauchte er keine Antwort mehr. Das war keine Polizeiwaffe. Doch ehe er die Situation richtig fassen konnte, drückte der falsche Polizist den Abzug durch.
    Die Welt um ihn herum explodierte vor Schmerzen und er sank auf alle Viere. Seine Umgebung verschwamm. Er bekam keine Luft mehr. Seine rechte Hand fuhr an die Stelle, von wo die Schmerzen kamen. Als er sie wegzog und betrachtete, war sie voller Blut. „Das passiert, wenn man herumschnüffelt“, zischte eine Stimme.
    Mikaels Gedanken überschlugen sich. Er musste hier weg. Er musste irgendwie hier weg, wenn er leben wollte. Ben würde bald da sein, die Verstärkung brauchte nicht mehr lange. Nur bis ins Haus. Da lag noch eine alte Waffe von Georg. Da entdeckte er etwas: eine alte zerbrochene Flasche. Ohne groß nachzudenken, packte er zu und rammte sie dem Kerl ins Bein. Dieser schrie laut auf, hatte nicht mit seinem überraschenden Angriff gerechnet. Doch Mikaels Körper reagierte nicht, konnte seinen Fluchtplan nicht in die Tat umsetzen. Er konnte ihn nicht dazu bringen sich zu erheben oder zu rennen. Als er nach oben sah, blickte er in den Lauf einer Waffe. Dann fiel der nächste Schuss. Ein Weiterer folgte. Wieder bestimmten Schmerzen seine Gedanken. Er fiel auf die Seite. Instinktiv fiel seine Hand an die Stelle, von wo der neue Schmerz kam. Er spürte warmes Blut auf seiner Haut. Jemand rollte ihn unsanft auf den Rücken. Der falsche Polizist beugte sich über ihn. „Ich riskiere mein Leben?“ Er begann laut zu lachen und dann fiel wieder ein Schuss. „Stirb du Schwein!“


    Mikael hörte Schritte, das Aufheulen eines Motors, quietschende Reifen, ehe seine Welt nur noch aus Schmerzen bestand. Als er versuchte, um Hilfe zu schreien, brachte er nur ein Krächzen heraus. Jeder Atemzug war eine Qual, beförderte weniger Sauerstoff in seinen Körper. Er sah in den Nachthimmel. Schneeflocken schwebten herunter und landeten auf seinem Gesicht. Er hatte Angst, Angst hier alleine in der Kälte zu sterben ...

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  • Kapitel 3


    Eva schreckte aus ihrem Schlaf hoch, als sie einen Schuss hörte. Kurz darauf folgten Weitere. „Mikael, was war das?“, murmelte sie verschlafen. Sie erhielt keine Antwort. Alles war still, zu still. Sie sah zur Seite, doch die Betthälfte, wo er sonst lag, war leer. Mikael war nicht da. Eine dunkle Vorahnung machte sich in ihrem Körper breit und sie hechtete aus dem Bett. „Mikael!“ Sie rannte zum Fenster, blickte in die Nacht und sah einen Wagen die Straße herauffahren. Eva eilte durch das Haus. Immer wieder rief sie nach ihrem Ehemann, erhielt jedoch nie eine Antwort. Nein, das konnte nicht sein. Er war nicht da draußen gewesen, als der Schuss fiel. Er war hier im Haus gewesen. Er war sicher auf dem Sofa eingeschlafen, nachdem ein Albtraum ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Er hat keine Albträume mehr, rief ihr Verstand. Er war nicht da draußen!, schrie ihr Herz.
    Sie rannte in das Wohnzimmer. Doch das alte Sofa war leer. Niemand schlief darauf. Ihre Angst wurde größer. Sie begann zu zittern. Eine feine Gänsehaut breitete sich auf ihren Armen aus.
    „Eva?!“
    Sie schreckte hoch und fuhr herum. Anna Hansen, Mikaels Cousine, stand nun vor ihr.
    „Da war ein Schuss … Mikael … ich-ich kann ihn nicht …“
    Jetzt kannte sie kein Halten mehr. Es gab nur noch diese eine Erklärung für sein Fehlen. Ohne dass sie den Satz beendete, hechtete sie zur Haustür. Sie drückte die Klinke herunter, doch die Tür öffnete sich nicht. Sie rüttelte daran und geriet immer mehr in Panik. „Hier.“ Anna reichte ihr einen Schlüssel und sie steckte ihn mit zittrigen Händen in das Schloss. Sie drehte ihn herum, öffnete die Tür und rannte in die kalte Nacht. Den gefrorenen Schnee unter ihren nackten Füßen spürte sie überhaupt nicht. Ihr Gehirn beherrschte nur ein Gedanke. „Mikael!“, schrie sie. Immer und immer wieder. Doch eine Antwort erhielt sie nie. Und dann sah sie es: Seine Joggingschuhe. Eva spürte, wie ihr die Panik die Luft abschnürte. Jeder Schritt in die Richtung fiel schwerer, als der vorherige. Es war, als müsste sie sich durch eine Masse von Wackelpudding kämpfen. Je näher sie kam, desto mehr erkannte sie, dass es der Mann war, denn sie liebte. Dann sah sie Blut. Ihre Schritte wurden schneller und sie fiel neben Mikael auf den Boden. „Mikael … wie schlimm ist es?“ Er antwortete nicht, presste seine Hände fest auf eine Wunde und sah in den wolkenverhangenen Himmel. Unmengen von tiefrotem Blut quollen durch seine Finger, saugten sich in den Stoff der Jacke. Doch das war nicht die einzige Wunde. Sie sah, wie sich Blut noch an einer anderen Stelle sammelte. Eva sah sich um und schrie: „Anna, ruf einen Krankenwagen! Er … er braucht Hilfe. Er ist angeschossen!“
    „Ich kümmere mich darum!“, kam es kurz darauf zurück. Die Stimme war nah gewesen, vielleicht war Anna schon fast bei ihnen gestanden. Sie wusste es nicht. Das war jetzt nicht wichtig.


    Sie sah wieder zu Mikael. Ihre zitternde Hand legte sich auf seine Wange und nun sah er sie an. „Halt durch. Es kommt bald Hilfe!“, presste sie hervor. „Halt einfach durch.“
    Das Blut strömte weiter ununterbrochen. Eilig zog sie die Schlafanzugjacke über den Kopf und drückte sie darauf. Versuchte zumindest diese Blutung zu stillen. Es war ihr egal, ob sie nun nur im Unterhemd in der Nacht saß. „Einfach durchhalten, Schatz.“
    „Eva?“, japste der Schwarzhaarige.
    „Ich bin hier. Alles wird gut!“ Sie spürte, wie Mikael seine Hand kraftlos auf ihre legte. Sie war ganz nass von dem vielen Blut.
    „Ich krieg … kaum Luft …“ Er hustete. Blut benetzte seine Lippen. „Ich … hab solche Angst …“
    „Nur nicht aufgeben, ja?“ Sie spürte, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Nicht jetzt! Er brauchte sie jetzt.


    Jeder Atemzug, den Mikael machte, klang angestrengter als der vorherige. Sie versuchte sich, einen Überblick zu verschaffen, doch vor lauter Blut war es nicht möglich. Es schien von überall her zu kommen. Druckverband. Sie brauchte einen Druckverband! Sie sah in die müden Augen ihres Mannes. Sie konnte nicht weg, zu groß war die Angst, dass er dann sterben würde. Dass er ging, während sie fort war.
    Der Händedruck von Mikael verstärkte sich. „Eva … die Kinder … ich … du musst auf sie …“
    Eva schluckte schwer. Die Worte klangen wie ein Abschied. Doch diesen Gedanken wollte Eva nicht zulassen. Wieder hustete er Blut.
    „Du musst nur noch etwas durchhalten. Es kommt gleich Hilfe.“
    Mikaels Händedruck wurde schwächer, seine Augen fielen zwischendurch immer öfter zu. „Ich … liebe … dich.“
    Diese Worte waren zu viel. Sie begann zu weinen. Die Tränen liefen ihr Gesicht entlang und tropften dann über ihr Kinn auf seine Brust. „Du schaffst das! Bitte halt einfach nur durch! Bitte!“ Sie drückte seine Hand fester, als könnte sie ihn dadurch hier behalten. „Du kannst so nicht gehen. Wir brauchen dich. Wir alle!“


    Mikaels Augen fielen erneut zu und dieses Mal blieben sie geschlossen. Die Atmung wurde schwerer, das Gesicht blasser. Die Luftzüge wurden zu einem Keuchen, Schnaufen, Röcheln. „Nein … Mikael!“ Sie beugte sich herunter, küsste ihn auf die Stirn. „Bitte, bleib. Wenn du jetzt gehst, dann war alles umsonst. All die letzten Monate. Das ganze Kämpfen. Bitte!“, schluchzte sie hervor. Sie konnte ihn nicht gehen lassen, nicht nach all dem. Er hatte sich doch gerade erst wieder gefunden. Er war glücklich gewesen, sie waren glücklich gewesen. Er hatte Joshua loslassen können. Und nun? … nein. Das dürfte nicht sein. Das konnte das Leben nicht mit ihm machen.
    „Mikael, bitte. Ich liebe dich … ich will mit dir alt werden, nur mit dir! Bitte!“
    Sein Brustkorb hob sich nicht mehr. „Mikael!“, schrie sie verzweifelt. Sie fühlte seinen Puls. Dort wo einst ein Pochen den Herzschlag anzeigte, herrschte nun Stille. Neue Tränen tropften auf seine Brust. Mit verschränkten Händen drückte sie seinen Brustkorb zusammen. Sie zählte leise bis 30. Dann überstreckte sie seinen Kopf und blies Luft in seine Lungen. Danach setzte sie wieder die Hände auf seine Brust, führte ihm erneut Luft zu, ehe er wiederholt den Brustkorb zusammendrückte. Ohne Erfolg. „Du kannst so nicht gehen!“ Die blonde Frau begann von neuem. Sie würde ihn in dieser Welt halten, sie würde ihn nicht sterben lassen.
    Er konnte nicht gehen, wo er doch gerade einen neuen Weg eingeschlagen hatte.




    Eva sah aus dem Wohnzimmerfenster. Mikael stand im Garten und sah in die Ferne. Er schlang die Arme um seinen Oberkörper und der Wind zerrte an seinem schwarzen Haar. Sie legte das Buch beiseite und trat durch die Terrassentür. Es war nicht so kalt, wie sie es beim Blick auf das Thermometer gedacht hatte. Eva ging auf Mikael zu und griff nach seiner Hand, dann küsste sie ihn sanft auf die Wange.
    „Ich kann nicht zurückgehen.“ Er sagte nicht, wohin er nicht zurückkehren konnte, aber es war auch keine Erklärung nötig. Sie wusste es. Sie wusste, dass er nach all den Monaten eine Entscheidung gefällt hatte. „Ich bin jemand anderes.“ Sie spürte, wie er ihre Hand fester umgriff.
    Sie lehnte sich an seine Schulter. „Du bist immer noch Mikael Häkkinen.“
    Sie schwiegen. Sekunden, dann Minuten. „Es hat dich fast zerstört“, brach sie die Stille.
    „Wie meinst du das?“
    „Du weißt, wie ich das meine.“
    „Ja.“ Tränen schossen ihm in die Augen, liefen seine Wangen hinab. „Ich kann nicht mehr zurück. Es kommt mir vor wie ein anders Leben. Ich gehöre nicht mehr dazu. Oder … ich habe es nie.“
    „Du brauchst nicht wieder zurückzugehen.“
    „Wovon sollen wir Leben?“
    Sie lachte laut auf. „Eine Entscheidung am Tag reicht, oder nicht?“



    Eva spürte, wie sie immer müder wurde, doch sie würde nicht aufgeben. Sie stemmte sich auf den Brustkorb, drückte zu und beatmete dann wieder. Luft blubberte aus der Wunde an der Brust, eine Pfütze von Blut sammelte sich unter ihm.

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  • Kapitel 4


    Ben hatte nicht lange gezögert, nachdem Mikael angerufen hatte. Er hatte sich schnell eine Jeans und eine Jacke übergezogen, war in Schuhe geschlüpft und zum Auto gerannt. Die Kollegen hatte er aus dem Wagen verständigt. Es hatte ihm nicht einmal zehn Minuten gekostet und er bog mit seinem Mercedes in die Straße ein, in der die Hansen-Villa lag. Er konnte zunächst nichts Verdächtiges erkennen, doch als er nur noch wenige Meter vom Haus entfernt war, fielen seine Scheinwerfer auf etwas, was ihm die Luft zum Atmen nahm. Er drückte auf die Bremse, hechtete aus den Wagen in Richtung der Person, die offensichtlich über einer anderen kniete. „Mikael!“, schrie er laut. Panik durchströmte ihn. Angst war alles, was ihn derzeit bestimmte. Er rutschte auf der eisglatten Straße aus, berappelte sich aber schnell wieder und rannte weiter in die Richtung. Als er endlich bei der Person war, wurde ihm schlecht. Sein Magen zog sich zusammen, er begann zu zittern. Eva beugte sich über Mikael, machte Mund-zu-Mund-Beatmung und dann Herzmassage. Überall war Blut. Seine Beine gaben nach und er sang neben sie auf die Erde. Er wusste nicht, ob Eva ihn registrierte oder nicht. Zumindest ließ sie sich aber nicht von ihrer Aufgabe ablenken.


    „Seit wann ist er schon …“ Er schaffte es nicht, die Worte auszusprechen.
    „Ich … ich weiß nicht … ich“, schluchzte sie hervor, ehe sie Mikael erneut Luft spendete. Sie wollte die Hände wieder auf seinen Brustkorb legen, doch Ben schüttelte den Kopf und legte stattdessen seine Hände darauf. „Ich mache das. Du übernimmst die Beatmung, ja?“
    Sie nickte und Ben begann damit mit seinen zittrigen Händen den Brustkorb seines Freundes einzudrücken. Wieso hatte er nicht gewartet? Wieso nur hatte er erneut einen Alleingang unternehmen müssen? Er war doch am Telefon deutlich gewesen und Mikael hatte gesagt, dass er warten würde. Er hatte es gesagt und auch so gemeint!
    „30!“ Eva spendete Mikael erneut Luft. Dann übernahm wieder Ben.
    „I-ich …“ Die blonde Frau beendete den Satz nicht.
    „Er wird nicht gehen, Eva. Hörst du!“, sagte Ben mit bestimmter Stimme. „Er wird so nicht gehen!“ Er sah in Mikaels bleiches Gesicht. „Komm zurück, Kumpel. Bitte!“, flüsterte er leise. Dann übergab er wieder Eva das Feld. Sie blies Luft in seine Lungen, fühlte den Puls und schüttelte den Kopf. Gedanken durchströmten ihn. Wie sie sich kennengelernt hatten. Ihr Wiedertreffen nach so vielen Jahren … ihre schweren Zeiten … ihre guten Momente … und schließlich ihr Gespräch gestern. Wer immer nur kämpft, immer nur einsteckt, sollte auch irgendwann sein vollkommenes Glück finden. Verzweiflung bahnte sich an die Oberfläche. Ben schluckte die Tränen runter. Er sah zu Eva, dann auf die zahlreichen Wunden. Er wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er zum Wagen rennen, Verbandszeug holen, um die Blutung zu stoppen, oder sollte er hierbleiben, Eva dabei helfen, dass sein Herz wieder begann zu schlagen. Er sah in das bleiche Gesicht. Da war kein Leben mehr. Nichts was erahnen ließ, dass das, was sie taten, nicht umsonst war. Und doch hörte Ben nicht auf. Er würde Mikael so nicht gehen lassen. Er konnte einfach noch nicht gegangen sein.


    Es kam Ben wie Stunden vor, ehe er endlich Sirenen vernahm, die immer näher kamen. Wenig später hielt ein Rettungswagen neben ihnen und ein Team aus Notarzt und Sanitätern kam herangestürmt. Ein letztes Mal riss Ben sich zusammen und erläuterte dem Mann, was sich zugetragen hatte, während er niemals von Mikael ließ und konstant die Herzdruckmassage fortsetzte.
    Der Notarzt suchte am Hals nach einem Puls, die Rettungssanitäter machten die Brust frei und klebten Elektroden auf Mikaels Brust. „Kein Kreislauf“, stellte der Notarzt fest. „Asystolie“, ergänzte einer der Sanitäter mit Blick auf den EKG-Monitor.
    „Wir übernehmen jetzt.“ Der Notarzt übernahm Bens Part und führte die Herzdruckmassage aus. Der braunhaarige Hauptkommissar zog derweil Eva ein Stück weg von dem Szenario. Seine Augen lösten sich jedoch nie von seinem Freund. Er beobachtete, wie die Sanitäter die Intubation vorbereiten. „Ich bin so weit.“ Man wechselte. Einer der Sanitäter übernahm nun die Aufgabe des Notarztes, der andere assistierte dem Notarzt dabei, den Beatmungstubus in der Luftröhre zu platzieren. Dann wurde das Gerät eingeschaltet und er übernahm wieder die Herzdruckmassage. „Ein Milligramm Adrenalin!“ Ben drückte Eva fester an sich. Er wusste nicht einmal, wie er sich noch auf den Beinen hielt. Er fühlte nichts, nur Leere. Ben verfolgte, wie der Sanitäter das Adrenalin injizierte.
    Der Notarzt drückte kräftiger und schneller auf Mikaels Brustkorb. „Kontrolle!“
    „Kein Puls“, antwortete der eine Sanitäter.
    „Nichts“, kam es von dem anderen, der den EKG im Blick hatte.
    „Weiter.“


    Doch auch diesmal schienen alle Versuche vergebens. Ben befürchtete schon, dass man aufgeben würde. Seinen Freund sterben lassen. Doch der Notarzt drückte immer weiter. Mechanisch, schneller und fester als zuvor. Dann gab er eine erneute Anweisung und einer der Sanitäter spritze seinem Freund wieder etwas.
    „Puls? EKG?!“, presste der Arzt zwischen Atemzügen hervor. Nulllinie. Kein Puls. Nichts.
    Er drückte weiter zu. „Komm schon! Komm schon …“
    „Kammerflimmern!“, schrie einer der Sanitäter.
    „Wir defibrillieren. Schnell! Aufladen.“ Der Körper von Mikael zuckte, als der Stromstoß freigesetzt wurde. Der Notarzt machte ein besorgtes Gesicht, als keine sichtbare Reaktion eintraf. Er schockte noch ein zweites Mal. Doch auch jetzt schien sich nichts zu tun.
    Ben stand einfach nur da. Sah auf das Bild vor sich. Er fühlte sich mit jedem vermeidlichen Versuch hilfloser. In seinem Körper breitete sich ein betäubtes Gefühl aus. Etwas, was er nicht beschreiben konnte.
    „Wir haben ihn wieder“, ließ der Notarzt verlauten und Ben spürte, wie nun die ersten Tränen seine Wangen runterliefen. Während er noch immer vor Panik und Verzweiflung zitterte, setzte vor seinen Augen die Routine beim Rettungsteam ein. In Windeseile wurden Infusionen gelegt und der Arzt versuchte, die Blutungen zu stoppen. Der Notarzt sagte etwas, aber das war zu leise, als das er es auch von dem Punkt, wo er stand, verstehen konnte.


    „Isi!*“, schrie eine helle Stimme und wenig später sah Ben einen Jungen an sich vorbeilaufen. Blondes kurzes Haar. Oskari! Der Hauptkommissar zögerte nicht lange, hechtete los und hielt den Jungen auf, ehe er die grausige Szenerie erreichen konnte. Ben presste den Jungen an sich. Oskari wehrte sich gegen seinen Griff, doch schließlich erstarb die Gegenwehr und der Fünfjährige drückte das Gesicht fest in seinen Pullover. Ben hörte, wie er weinte. Oskari war nicht dumm. Er schien genau zu spüren, was mit seinem Vater war. Er wusste, dass das hier mehr war als einer dieser Schwindelanfälle, die sein Papa manches Mal hatte. „Isi“, hörte Ben gedämpft durch den Stoff. Stumm sah er zu, wie man Mikael auf die Trage hob und in Richtung des RTW‘s schob. Eva hechtete hinterher, doch Ben konnte sehen, wie der Notarzt sie lieber nicht mitnehmen wollte. Mikaels Leben stand noch immer auf der Kippe und eine aufgelöste Frau konnte er sicher nicht gebrauchen. „Wir fahren gleich hinterher, Eva“, sagte er. Leise, wie er fand, doch sie schien ihn dennoch verstanden zu haben. Sie nickte und blieb stehen, während der Notarzt die Türen schloss.


    Erst als der Rettungswagen an der Kreuzung abgebogen war, traute sich Ben, den Druck von Oskari zu lösen. Dass der Junge das viele Blut sah, konnte er allerdings nicht vermeiden. Vermutlich hatte er es ohnehin schon gesehen. „Was ist mit Papa? … Wieso lag er da so?“, schoss es aus Mikaels Sohn heraus.
    „Papa ist … er ist“, versuchte Eva. Doch ihre Stimme versagte.
    Ben beugte sich herunter. „Dein Papa ist schwer verletzt. Da waren ein paar böse Männer, die er gesehen hat und die ihm das angetan haben.“
    Oskaris blauen Augen sahen in seine und Ben glaubte, dass er in Mikaels sah. Der gleiche Schmerz. Die gleiche Angst. Er atmete tief durch und versuchte zu lächeln. „Dein Papa wird das schaffen.“ Er griff nach Oskaris Hand. „Komm, wir gehen ins Haus.“
    „Aber ich will zu Papa!“
    „Hör zu. Dein Papa kommt jetzt erst einmal an einen Ort, wo ihn Kinder nicht besuchen dürfen.“
    „Wieso denn!? Er ist mein Papa! Ich will bei ihm sein!“ Oskari begann zu weinen. „Ich will zu Papa!“
    Ben drückte die kleine Hand fester. „Ich verspreche dir, bald darfst du zu deinem Papa. Aber heute geht es nicht mehr. Er ist müde und schläft deshalb die meiste Zeit.“
    „Wie als ich noch ganz klein war?“
    Er lächelte. „Hat er dir das erzählt?“
    Oskari nickte eifrig. „Er hat erzählt, dass er da ganz lange geschlafen hat, weil er auf den Kopf gefallen war. Deshalb war er manchmal traurig und wollte nicht mit mir spielen …“
    „Dieses Mal wird Papa nicht so lange schlafen. Du wirst sehen“, sprach ihm Ben zu und stand dann auf. „Komm lass uns rein gehen.“ Ben blickte zu Eva, doch sie rührte sich nicht. Sie sah weiter in die Richtung, wohin der Rettungswagen verschwunden war.
    „Ich kümmere mich um sie.“ Ein uniformierter Kollege, der inzwischen eingetroffen war, machte einige Schritte auf Eva zu und legt ihr seine Jacke um die Schultern. Ben seinerseits holte noch einmal Tief Luft, ehe er Oskari in Richtung Haus brachte.


    Als er durch die Wohnungstür kam, hechtete ihm Anna Hansen entgegen. „Es tut mir so leid. Er war plötzlich weg und ich konnte ja Viivi nicht alleine lassen.“
    „Es ist schon in Ordnung“, antwortete Ben kraftlos.
    „Er ist doch nicht?“
    Er schüttelte den Kopf. „Nein.“ Als Oskari im Wohnzimmer verschwunden war, fügte er allerdings ein leises noch nicht hinzu.
    Die junge Frau schluckte. „Ich bleibe natürlich hier bei den Kindern. Fahr du nur mit Eva in die Klinik … Oh Gott! Wie konnte das nur alles passieren?“
    „Wir werden das aufklären, Anna. Mikael wird es schaffen.“
    „Ich hoffe es. Wir … wir lernen uns doch gerade erst kennen und er war so euphorisch, als er von seinen Plänen erzählt hatte.“


    Ben machte einige Schritte in Richtung Wohnzimmer. Oskari saß neben seiner Schwester auf dem Sofa und drückte sie an sich. Er konnte es in ihren Augen sehen. Viivi verstand noch nicht richtig, was hier vor sich ging, schien aber dennoch zu wissen, dass es nichts Gutes bedeute, dass plötzlich alles in aufruhe war und die Eltern verschwunden. Oskari hingegen schien ganz genau zu begreifen. Ben kniete sich vor die Kinder hin. „Ich bringe jetzt die Mama zum Papa, ja?“
    „Ich will mit“, sagte der Junge leise.
    „Du musst auf deine Schwester aufpassen.“
    Neue Tränen fanden ihren Weg. „Aber ich will zu Papa!“, schluchzte er.
    Ben fühlte sich einmal mehr hilflos der Situation ausgeliefert. Er hatte keine Kinder, wusste nicht besonders gut mit ihnen umzugehen. Klar, wenn sie fröhlich waren, war es kein Problem. Aber solche Situationen überforderten ihn ganz einfach.
    Anna kniete sich neben ihn und wischte die Tränen weg. „Bitte, Oskari. Du musst jetzt tapfer sein. Du musst. Mama kann ja deine Schwester nicht alleinlassen. Nicht hier, nicht heute Nacht. Sie braucht dich jetzt.“
    Oskari sah sie an, nickte dann aber schließlich.


    Ben gab ihnen noch jeweils einen Kuss auf die Stirn, ehe er wieder vor das Haus ging. Der Kollege stand immer noch mit Eva auf der Straße. Er nickte ihm dankend zu und legte dann seine Hand auf ihre Schulter. Sie schreckte hoch. „Komm, wir waschen erst einmal das Blut weg und dann bringe ich dich in die Klinik.“
    Sie nickte und folgte ihm stumm und mit wackeligen Beinen in Richtung Haus. Ben machte sich gedanklich eine Notiz, dass er dafür sorgen würde, dass ein Arzt nach ihr sehen würde. Sie stand sichtlich unter Schock, war vollkommen fertig mit den Nerven. Aber wer wollte es ihr verübeln. Ihr Mann kämpfte gerade um sein Leben.


    *Isi (finnisch)=Papa

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  • Ben versuchte es sich auf dem hölzernen Besucherstuhl bequem zu machen. Als sie im Krankenhaus angekommen waren, war Eva vollkommen zusammengebrochen. Inzwischen hatte man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben und sie schlief. Vor ein paar Minuten hatte er Semir angerufen. Er brauchte jetzt einfach jemanden, den er vertrauen konnte, der sich am Tatort um alles kümmerte. Ein kalter Schauer überkam ihn. Tatort, wie sich das anhörte.
    Die Bilder, wie Mikael dort gelegen hatte, alles voller Blut, nicht mehr am atmen, wollte ihm nicht aus dem Kopf. Er hatte keine Ahnung, was er tun sollte, wenn es Mikael nicht schaffen würde. Was würde aus Eva werden? Was aus den Kindern? Er hatte Oskari versprochen, dass sein Papa wieder kommen würde und dass er ihn bald besuchen konnte. Ben fasste sich an den Anhänger seiner Kette. Mikael hatte den Gleichen, trug ihn allerdings an einem Armband um sein Handgelenk. Er schloss die Augen. So viele Erinnerungen hingen an dieser Kette.



    Langsam öffnete er die Tür und blickte auf einen zusammenkrümmten Schatten vor einem Sofa. Der Mann sah zu ihm auf und er blickte in ein blaues Augenpaar. „Hallo…Ben“, flüsterte die Person nun kaum hörbar. „M..Mich…“, stammelte er vor sich hin. Die Person, die er all die Jahre so sehr vermisst hatte, saß genau vor ihm. Er hatte sich nicht verändert. Wäre er ihm auf der Straße begegnet, hätte Ben ihn sicherlich sofort erkannt. „Eigentlich Mikael, aber du kannst ruhig bei Michael bleiben, wie mein Großvater“, ertönte es von der zittrigen Stimme.



    Ben sah wie hypnotisiert auf die Leiche von Joshua. Der Blutfleck auf dessen Brust breitete sich aus, gleichzeitig färbte sich der Schnee unter ihm rot. Ihm wurde übel und er fühlte sich, als würde ihm die Luft abgeschnürt. Sie hatten Joshua nicht retten können. Sie waren nur wenige Minuten zu spät gekommen, um den Menschen zu schützen, der Mikael alles bedeutete.



    „Was wird es, ein Junge oder Mädchen?“, lenkte Ben sich schnell von den dunklen Gedanken ab.

    Evas Hand legte sich in Mikaels, die weiterhin auf ihrem Bauch lag und ihre Finger umschlagen sanft seine. „Ein Junge“, sagte sie und lächelte.
    „Wir werden ihn Oskari nennen“, fuhr nun Mikael fort und drückte dabei Evas Hand.



    „Mikael! Bist du okay?“, schrie er, doch er bekam keine Antwort. „Verdammt. Bitte antworte!“ Doch auch diesmal wurde er nicht erhört. Angst machte sich in ihm breit. Er musste sich dazu zwingen in Richtung des Hanges zu gehen. Zu groß war seine Befürchtung, dass etwas Fürchterliches passiert war. Er trat an den Rand, sah hinab. Ben blieb das Herz stehen und er wurde blass. Mikael lag regungslos und etwas verdreht 20 Meter weiter unten am Boden. Seine Augen waren geschlossen. „Mikael!“ Ohne zu zögern, suchte sich der deutsche Kommissar einen Weg nach und rutschte holpernd den felsigen Abhang nach unten. Sein Herz klopfte wie wild in seiner Brust. Er spürte, wie er am ganzen Körper zitterte. Er hatte Angst, schreckliche Angst.



    „Was uns die größten Sorgen bereitet, ist eine schwere Kopfverletzung. Es ist uns zwar gelungen, den Hirndruck, der durch eine Blutung hervorgerufen wurde zu senken, aber ihr Kollege liegt zurzeit im künstlichen Koma und sein Zustand ist weiterhin kritisch.“



    Mikael rannte zum Haus und kam wenig später mit einer Wasserpistole zurück. „Dumm gelaufen, Ben Jäger, ich bin derjenige mit zwei Kindern!“ Bevor Ben ausweichen konnte, wurde er von einem Strahl aus der Wasserpistole auf die Brust getroffen. Mikael stieß einen Triumphschrei aus. „Hier Ben!“ Veikko schmiss dem Braunhaarigen eine zweite Pistole hin. „Das wird dir nichts nützen“, lachte Mikael, „ich bin der mit den besseren Schießergebnissen. Schon immer gewesen!“ „Das werden wir ja sehen!“, warnte Ben, bekam aber zugleich einen Wasserstrahl ins Gesicht. Mikael begann noch lauter zu lachen.



    Ben versuchte der plötzlich aufkommenden Wut Einhalt zu gebieten, doch es klappte nicht. „DU ARSCH!“, fauchte er und warf Mikael mit einem kräftigen Schubser auf die Erde. Er hörte, wie sein Gegenüber laut aufstöhnte, doch ehe er sich berappeln konnte, stürzte er sich auf ihn. „Rede nicht so über meine Familie!“, schrie er. Mikael griff nach seinen Schultern und rammte ihm das Knie in die Magengrube.



    Er sah Semir wütend an. „Nein! Mikael und ich, wir sind keine Freunde mehr, nicht nach dem was gestern Nacht passiert ist. Er legt keinen Wert auf meine Freundschaft, also werde ich es auch nicht.“



    „Ich werde zurückkommen. Nicht heute, nicht morgen, aber ich verspreche, dass ich zurückkommen werde“, sagte der Finne mit kräftiger Stimme. „Denn trotz all dem sind wir doch immer noch Freunde.“ Ben lächelte sanft. „Ja, wir sind Freunde.“



    Ben lächelte und Mikael erwiderte sein Lächeln. „Danke Ben …“


    Er öffnete die Augen wieder und spürte, wie sich die ersten Tränen ihren Weg an die Oberfläche bahnten. „Bitte geh nicht!“, flüsterte er immer wieder, während er den Anhänger in seiner Hand immer fester umschloss. Er konnte seinen Freund nicht verlieren. Noch einmal würde er Mikaels Tod nicht durchstehen. Egal, wie sehr sie sich manchmal gestritten hatten, sie waren immer Freunde gewesen, hatten immer wieder zueinander gefunden und ihre Fehler erkannt. Es war schwer gewesen, eine Person, die man als Jugendlicher blind verstand neu kennenzulernen, doch Ben war sich sicher, dass jetzt nach all den Jahren ihre Freundschaft noch viel tiefer war, als damals in ihrer Kindheit. „Bitte b-bleib.“
    Er löste seine Hand von dem Anhänger vergrub den Kopf in den Händen und weinte. „Oh verdammt … wieso nur?“ Die ganze Trauer, die Wut, die Verzweiflung und die Angst. Alles kam nun an die Oberfläche, wütete wie ein Orkan in seinem Inneren. Er musste noch mehr weinen. Alles zerbrach in winzige kleine Stücke. Das bleiche tote Gesicht seines Freundes tauchte wieder vor seinem inneren Auge auf. Er spürte das warme klebrige Blut an seinen Händen. Mikael war tot gewesen, wurde ihm nun bewusst. Er war tot gewesen …

  • Kapitel 6


    Semir stellte seinen silbernen BMW am Straßenrand ab und atmete einmal tief ein und aus. Seine Hand zitterte leicht, als er den Schlüssel aus dem Zündschloss zog und den Gurt löste. Er blickte auf das Szenario einige Meter vor sich. Die Spurensicherung war schon am Werk und suchte akribisch den Tatort nach Spuren ab. Etwas weiter entfernt stand ein hochgewachsener, blonder Mann, der den Mantel fest an seinen Körper drückte, um sich vor der Kälte zu schützen. Semir stieg aus und ging auf ihn zu. Vermutlich war das der zuständige Kommissar vom Dezernat für Gewaltverbrechen. Als er einem jungen Uniformierten an der Absperrung seinen Ausweis zeigte, ließ er ihn sofort durch. „Was gibt es genau?“, fragte Semir ihn.
    „Einen Toten und einen Schwerverletzten.“
    Semir nickte und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Es gab also auch eine Leiche. Was genau sich zugetragen hatte und ob Mikael das einzige Opfer gewesen war, dass hatte Ben ihm nicht sagen können.
    Der zuständige Kommissar war vielleicht etwas über dreißig Jahre alt. „Semir Gerkhan, Kriminalhauptkommissar Kripo Autobahn“, stellte er sich vor.
    Der Mann zog seine rechte Augenbraue hoch. „Autobahn? Sehen Sie hier irgendwo eine Autobahn? Ich nicht.“
    „Hören Sie Herr …“
    „… KHK Severin Lander.“
    „Herr Lander“, fuhr Semir fort. „Der Mann, der niedergeschossen wurde. Er ist …“ Der erfahrene Kommissar stockte. „Er ist ein guter Freund.“
    Lander nickte. „Ich verstehe.“ Semir spürte, dass der Mann diese Worte nicht nur so daher sagte, sondern wirklich meinte. Seine Tonlage hatte sich in wenigen Sekunden verändert.
    „Er hatte zuvor meinen Kollegen benachrichtigt, der dann die Leitstelle informiert hatte.“
    Der Kommissar der Autobahn nickte in Richtung des Hauses. „Er hat gesehen, wie der nun vermutlich tote Mann aus einem Auto gezerrt wurde.“
    „Hat er das Auto beschrieben?“
    „Ich denke nicht“, antwortete Semir. Zumindest hatte Ben es nicht erwähnt.
    „Wohnt ihr Freund dort drüben?“ Lander drehte sich in Richtung Hansen-Villa.
    „Nein. Er wohnt in Finnland.“
    „Finnland?“
    „Helsinki.“
    „Wieso war er hier?“
    „Er hat seiner Cousine versprochen, mit ihr das Haus leerzuräumen, um es dann zu verkaufen. Es gehörte ihrem Großvater. Er ist nun seit etwas mehr als einem Jahr tot.“
    Lander schob die Hände in seine Taschen. „Ich verstehe. Sie haben also nur ein paar Nächte in dem Haus gewohnt? Wie ist es mit der Cousine? Wohnt sie dort?“
    Semir schüttelte den Kopf. „Seit dem Tod von Georg Hansen nicht mehr.“
    Severin Lander zog einen Notizblock aus der Tasche und schrieb sich etwas auf. „Also war das Haus sonst unbewohnt“, murmelte er leise. „Genauso wie dieses Haus hier.“
    „Davon müssen wir ausgehen“, sagte Semir, obwohl er nicht sicher war, ob der Mann nun mit ihm sprach oder mich sich selbst.
    Der Hauptkommissar sah auf und lächelte. Dann steckte er seinen Notizblock ein. „Lass uns die Schweine kriegen.“ Er hielt ihm die Hand hin. „Severin.“
    „Semir.“


    Einer der Männer der Spurensicherung nickte ihnen zu. „Ihr könnt reingehen.“ Lander ging voraus und Semir folgte ihm. „Hat ihr Kollege schon Neuigkeiten aus dem Krankenhaus?“
    „Nein, leider nicht.“ Semir schluckte. „Es sieht wohl nicht gut aus.“
    „Ich bin mir sicher, ihr Freund wird es überstehen. Er hat es immerhin bis ins Krankenhaus geschafft, trotz des hohen Blutverlustes.“
    „Das hoffe ich“, erwiderte Semir.
    „Er hatte Familie, habe ich gehört.“
    „Zwei Kinder. Ein Junge und ein Mädchen“, bestätigte Semir dem Kollegen.
    Sie waren inzwischen bei der Leiche angekommen, aber viel gab es nicht zu sehen. Er war erstochen worden. Semir fragte sich, ob Eva und Ben ihn vielleicht hätten retten können, wenn sie nicht so sehr mit Mikael beschäftigt gewesen waren. Lander schien seine Gedanken zu lesen. „Er war sofort tot. Ein Stich ins Herz. Niemand hätte ihn mehr retten können.“
    Der Deutschtürke sah sich um. „Wieso bringt man ihn hierher, um ihn zu erstechen? Wieso ausgerechnet hier?“
    „Das werden wir herausfinden.“


    Lander drehte sich von der Leiche weg und trat wieder vor das Haus. „Wir haben eine Flasche mit Blut daran gefunden. Vielleicht haben wir ja Glück und es ist von dem Täter.“
    „Es sind mehrere Täter. Zwei mindestens“, fügte Semir hinzu.
    „Natürlich, stimmt. Sie haben Recht.“ Severin Lander setzte sich auf eine der Treppenstufen. „Wir sind gerade dabei die Nachbarschaft zu befragen, bisher hat es aber noch keine brauchbaren Hinweise gegeben.“
    Semir nickte. Er hatte es nicht anders erwartet. Mitten in der Nacht war es schwer Zeugen zu finden, die brauchbar waren. Er sah auf die Uhr. Eineinhalbstunden waren bereits vergangen seit dem Zwischenfall und er wusste nicht, ob es ein gutes Zeichen war, dass sich Ben noch nicht gemeldet hatte, oder ein schlechtes. „Vielleicht wollte ihr Freund fliehen?“ Severin Landers Stimme holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. „Wie bitte?“
    „Die Flasche. Vielleicht wollte er fliehen, hat sich damit gewehrt, es aber nicht geschafft sich in Sicherheit zu bringen.“
    „Mhm. Ich frage mich, wieso er überhaupt so leicht überwältig wurde. Mikael ist nicht so leicht zu überraschen.“ Semir deutete auf den Boden. „Es gibt dort keinerlei Kampfspuren.“
    „Vielleicht ein Angriff aus dem Hinterhalt?“
    „Vielleicht“, antwortete Semir und richtete dabei seinen Blick wieder auf die Erde. Die Pfütze aus Blut begann an ihren Rändern zu frieren.
    Severin Lander erhob sich und klopfte sich den Dreck von der Hose. „Wir sollten in mein Büro fahren. Ich werde dort auch gleich mit dem Chef absprechen, dass du mich hierbei unterstützen wirst.“
    „Das weiß ich zu schätzen“, sagte Semir.
    „Vermutlich würdest du auch sonst ermitteln, nicht?“ Lander lachte leise und setzte sich dann in Bewegung, um zu seinem Wagen zu gehen.


    Weit kam er allerdings nicht. Eine junge schwarzhaarige Beamtin kam in ihre Richtung gerannt. „Severin! Ich glaube ich habe etwas.“
    „Ja?“ Er war überrascht, hatte überhaupt nicht mehr mit etwas brauchbaren gerechnet.
    „Dort gibt es ein Haus. Die Überwachungskamera. Ich glaube, dass sie auf die Straße gerichtet ist … und das ziemlich deutlich!“
    Der blonde Kommissar zog die Mundwinkel nach oben. „Na wenn das uns nicht helfen könnte, was Birga?“
    Severin Lander klingelte einige Male, ehe sich die schwere Holztür öffnete. Ein Mann um die Sechzig blickte sie missmutig an. „Haben Sie schon einmal auf die Uhr gesehen.“
    „Wir wissen, dass es spät ist Herr …“ Lander sah auf das Klingelschild. „Schmidt. Aber wie Sie vielleicht mitbekommen haben, ist hier ein Verbrechen passiert.“ Severin Lander hielt ihm den Ausweis vor die Nase.
    „Ich habe nichts gesehen“, kam es sofort widerwillig.
    Lander behielt dennoch die Geduld. Ein Charakterzug, den Semir ihm hochanrechnete. Er wäre sicherlich bereits ausfallend geworden. „Natürlich. Aber ihre Kamera vielleicht. Sie scheint uns doch etwas zu sehr auf die Straße ausgerichtet zu sein.“
    „Man muss sich ja irgendwie schützen.“
    „Sicher. Speichern Sie die Aufnahmen?“
    Der alte Herr nickte und öffnete ihnen etwas widerwillig die Tür. „Die Aufnahmen werden zwei Tage lang gespeichert.“
    „Würden Sie uns einen Blick darauf werfen lassen?“
    „Ich zeige Ihnen den Weg.“


    Lander bedankte sich und sie folgten dem Mann die Treppe rauf in ein kleines Zimmer. „Das war früher das Zimmer meines Sohnes. Aber er ist ja nun ausgezogen und da habe ich es umfunktioniert.“
    Semir sah sich um. Umfunktioniert traf es genau. Es sah danach aus als würde dieser Herr Schmidt seine Nachbarn ganz genau im Blick haben. Vor dem Fenster stand ein Teleskop, in den Regalen einige Ferngläser.
    „Würden Sie uns bitte die Datei vom gestrigen Tag raussuchen“, sagte Lander und der alte Mann kam dem Wunsch des jungen Hauptkommissars sofort nach. Lander setzte sich auf den Stuhl und spulte mit der Maus vor, während Semir sich dahinter stellte. Manchmal sah er den weißen Kleintransporter durch das Bild huschen, den Mikael sich geliehen hatte, um alte Möbel wegzubringen. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus, wenn er daran dachte, dass er gleiche Mensch gerade vermutlich darum kämpfe, am Leben zu bleiben. Irgendwann stellte Severin Lander das Band auf normale Geschwindigkeit. Die Uhr in der Ecke zeigte 04:00 Uhr an und ein schwarzer Transporter fuhr vorbei. Um 04:15 Uhr fuhr der gleiche Wagen wieder in die andere Richtung. „Das ist der Wagen“, höre er Lander murmeln. Der Hauptkommissar sah zu dem Besitzer des Hauses. „Kann man das irgendwie vergrößern?“
    „Ja. Sicher.“ Er trat auf sie zu und beugte sich hervor, drückte ein paar Knöpfe und schon erschien die Fahrerkabine des Wagens etwas größer, leider aber auch etwas pixeliger im Monitor. „Ist das etwas eine Uniform?“, fragte Lader ungläubig und Semir nickte. Was der Beifahrer trug, sah tatsächlich wie eine Polizeiuniform aus. Leider konnte man bis auf dieser Tatsache aber nichts erkennen. Keine Gesichtszüge und auch seine Größe ließ sich schwer identifizieren.
    Lander zoomte wieder heraus. „Wir müssen das Video mitnehmen. Als Untersuchungsmaterial.“ Der Mann stellte sich nicht quer und machte ihnen sofort eine Kopie des Materials.
    Zufrieden traten sie aus dem Haus. „Ich werde das Video sofort in die Technik bringen“, erklärte Lander ihm. „Wir müssen versuchen irgendwie über Gesichtserkennung an die Täter heranzukommen.“
    „Das Kennzeichen war ziemlich gut sichtbar.“
    „Aber sicher gefälscht“, erwiderte der junge Kommissar. „Aber ich werde das gleich zu allererst durch die Datenbanken laufen lassen.“
    „Gut. Da könntest du Recht haben“, stimmte Semir zu. „Ich werde kurz mit meiner Chefin telefonieren und dann komme ich gleich vorbei.“
    „Dritter Stock im Düsseldorfer Präsidium“, sagte Lander noch, ehe er dann in seinen silbernen Opel einstieg und in Richtung Büro verschwand.


    Semir ging seinerseits zu seinem Wagen. Als er einstieg holte er einige Male tief Luft. Die letzte Stunde war alles andere als leicht gewesen. Er griff das Handy aus der Hosentasche, doch musste feststellen, dass er keinen Anruf von Ben verpasst hatte. Sie schienen weiterhin zu operieren. „Allah, bitte sorg dafür, dass er es schafft“, flüsterte er leise. Dann startete er seinen Wagen und wählte im Handy die Nummer von Kim Krüger, um sie über die letzten Stunden zu informieren.

  • Kapitel 7


    Ben zappelte mit den Füßen auf und ab. Er hob den Arm, sah auf die Uhr nur um festzustellen, dass die Zeit viel zu langsam verging. Dieser Warterei trieb ihn noch in den Wahnsinn! Er stand auf, warf einen kurzen Blick auf Eva und ging dann aus dem Zimmer. Wie so oft führte sein Weg zur Information und wie so oft sagte man ihm, dass die Operation noch nicht beendet war. Er hatte genickt und war den Rückweg zum Zimmer angetreten. War es nun ein schlechtes Zeichen oder ein Gutes? Immerhin war er noch nicht tot, dass war doch ein gutes Zeichen. Das war verdammt noch einmal ein gutes Zeichen! Aber das hieß ja nicht, dass er es auch schaffen würde. Er hatte keine Ahnung, was im OP vorging. Er wusste nur, dass Mikael sicherlich jetzt gerade kämpfen musste. Kämpfen um das, was er sich gerade erst erarbeitet hatte. Kämpfen um das Leben, was ihm noch bevorstand. Er war sich sicher, dass Mikael für dieses Leben kämpfen wollte, aber er war sich nicht sicher, ob er auch stark genug dafür war. Dieses ganze Blut. Er hatte drei Einschusslöcher gesehen. Mindestens drei Kugeln waren durch den Körper seines Freundes gejagt worden, um dort Unheil anzurichten. Wer zur Hölle tat so etwas? Welchen Grund hatte er dafür gehabt?


    Er merkte wie sein Herzschlag schneller wurde und wie ihm der kalte Schweiß durch die Poren schoss. Angst machte sich in ihm breit, panische Angst. Seine Lunge zog sich zusammen und ihm wurde kurz schwarz vor Augen. Am ganzen Körper zitternd lehnte er sich an die Wand. „Das kannst du mir nicht antun“, flüsterte er leise. „Du wirst nicht einfach so sterben!“


    Tränen schossen ihm in die Augen, als er daran dachte, welche Worte Mikael zu ihm als letztes am Telefon gesagt hatte. Ich bin nicht lebensmüde. Seine Hände krallten sich in den Jeansstoff seiner Hose. „Wieso!“, krächzte er hervor. „Wieso musstest du wieder einen Alleingang machen!“ Neue Tränen fanden ihren Weg und er rutschte mit dem Rücken die Wand herunter. Wieso nur hatte Mikael nicht auf ihn gewartet? Das war keine flapsige Antwort gewesen am Telefon. Mikael hatte es so gemeint. Da war Überzeugung in seiner Stimmlage gewesen. Er hatte auf ihn warten wollen. Selbst Mikael war doch nicht so dumm sich unbewaffnet mehreren Männern in den Weg zu stellen. Er fuhr sich mit gespreizten Fingern durch die Haare, seine Hände ruhten schließlich an seinen Schläfen. Ben war am Ende. Er konnte nicht mehr. Seit er Mikael gefunden hatte, war es als schwebte sein Körper irgendwie in einer Wolke aus Verzweiflung und gleichzeitig dumpfer Hoffnungslosigkeit. So viele Gedanken flogen durch sein Gehirn und er schafft es nicht einen dauerhaft zu halten. Er war hin und hergerissen zwischen Aufgeben und Hoffen. Er wollte daran glauben, dass Mikael es schaffen würde, doch gleichzeitig waren da diese Zweifel.
    „Geht es Ihnen nicht gut?“
    Ben sah hoch. Vor ihm stand eine junge Schwester und blickte besorgt auf ihn herunter. Eilig stand er auf und wusch sich die Tränen weg. „Doch, doch. Es ist nur …“ Seine Stimme versagte ihm erneut. Der starke Ben war so schnell wieder versiegt, wie er an die Oberfläche geschnellt war. Er schüttelte den Kopf. „Mein Freund er ist schwer verletzt. Ich habe Angst, dass er vielleicht stirbt.“
    Sie nickte verständnisvoll. „Wollen Sie vielleicht einen Tee oder einen Kaffee?“
    „Nein, danke“, antwortete er leise. „Ich sollte auch wieder … seine Frau … sie ist zusammengebrochen und ich sollte bei ihr sein, wenn sie aufwacht. Also man hat ihr etwas gegeben, damit sie …“
    „Ich verstehe“, erlöste ihn die Krankenschwester aus der unangenehmen Situation.


    Ben lächelte sie unsicher an, löste den Blick von ihr und ging dann langsam weiter in Richtung Zimmer. Er dachte daran, dass er Antti noch immer nicht angerufen hatte. Er hatte niemanden von Mikaels Freunden angerufen. Er schaffte es einfach nicht. Er brachte es nicht über sich einen solchen Anruf zu tätigen. Den Menschen, denen Mikael alles bedeute zu sagen, dass er so schwer verletzt wurde. Dass er so schwer verletzt war, dass er ihn hatte Reanimieren müssen. Dass er so viel Blut verloren hatte und nicht wusste, was die Kugeln sonst noch für Schaden angerichtet hatten. Nein, dass schaffte er nicht.


    So leise, wie möglich, öffnete Ben die Tür zu dem Zimmer, in dem Eva lag und setzte sich wieder auf den Stuhl. Er betrachtete ihr Gesicht. Sie sah so friedlich aus. Er wünschte, dass er auch so friedlich schlafen könnte. All die Sorgen vergessen. Er schämte sich bei dem Gedanken daran. Eva war vollkommen am Ende. Es war nur gut, dass man ihr ein Beruhigungsmittel gegeben hatte. Vermutlich wäre sie sonst in den Operationssaal gestürmt, nur um in Mikaels Nähe zu sein. Sie hätte keine ruhige Minute gehabt. Ben sah auf seine Hände. Hatte er fest genug gedrückt? Hätte er vielleicht noch viel fester Drücken können, um Mikael schneller zurückzuholen? Dieses bleiche totengleiche Gesicht seines Freundes ging ihm nicht aus dem Kopf. Er atmete tief durch, um seinen Körper zu beruhigen. Dann holte er sein Handy aus der Tasche. Es waren erst zehn Minuten vergangen seit er das letzte Mal bei der Information war. Er öffnete die Kontakte, blieb bei Anttis Namen hängen. Er hatte vor vielen Jahren seinen Sohn verloren, konnte er wirklich anrufen und ihm sagen, dass Mikaels Leben am seidenen Faden hing? Er drückte auf das Symbol, um den Anruf zu beginnen, beendete ihn jedoch sofort wieder, ehe das erste Freizeichen kam. Er brachte es nicht über sich.

  • Kapitel 8

    Semir hatte seine Hände um die dampfende Tasse Kaffee gelegt und sah aus dem Fenster. Die Sonne über Düsseldorf ging gerade auf. Vier Stunden, dachte er. Es waren nun schon vier Stunden, in denen er noch keine Neuigkeiten von Ben erhalten hatte. Es war kein Problem gewesen, seine Chefin davon zu überzeugen, ihn Lander unterstützen zu lassen. Genauso wenig war es ein Problem gewesen, dass sie Ben für einige Zeit von Dienst freisprach. Im Augenblick gab es wichtigeres als das und Semir war sich sicher, dass sein Partner nicht für eine Minute von Mikaels Seite weichen würde. In den letzten Monaten schien sich die Freundschaft zwischen den Beiden noch vertieft zu haben und die Vertrauensebene erreicht zu haben, die Ben zuvor immer vermisst hatte.
    „Er ist ein Kollege?“
    Semir sah zu Severin Lander. „Wie bitte?“
    „Ihr verletzter Freund. Ich habe seine Personalien erhalten“, antwortete der andere Kommissar.
    „Er ist kein Polizist mehr. Er hat seinen Dienst inzwischen quittiert.“
    „Oh“, war alles was Lander antwortete. Er fragte nicht nach wieso und Semir war auch denkbar deshalb. Denn er hätte nicht gewusst, wie er dem Kollegen diese komplizierten letzten Jahre erklären sollte.
    Semir nahm einen Schluck Kaffee und beugte sich herüber. „Was hast du sonst noch neues?“
    „Man hat den Toten über seine Fingerabdrücke identifizieren können.“ Lander griff nach seiner Computermaus und klickte einige Male darauf herum, dann hörte Semir den Drucker. Ein Papier wurde ausgespuckt und der junge Kommissar reichte es ihm. „Marjan Hentschel. Er hatte mit Drogen und Prostitution zu tun.“
    „Familie?“
    „Eine Frau. Keine Kinder.“ Lander fuhr sich durch die blonden Locken. „Wir sollten hinfahren, mit ihr reden. Sie wurde zwar bereits benachrichtigt, aber vielleicht hat sie ja noch irgendetwas, was uns weiterhelfen kann.“
    „Ja. Das klingt nach einer guten Idee.“


    Lander stand auf und zog sich seine Jacke an, die an der Garderobe hing. Semir hatte seine nur über den Stuhl gehangen und warf sie ebenfalls über. Er sah erneut auf sein Handy. Immer noch nichts Neues.
    „Machen Sie sich keine Sorgen. Manchmal dauert es, aber ihr Freund wird es schon schaffen.“
    „Das viele Blut am Tatort. Er war ziemlich schwer verletzt.“
    Lander nickte nur und verließ mit den Händen in den Taschen das Büro. In diesem Augenblick erinnerte ihn der Kollege ungemein an Mikael. Auch der steckte immer seine Hände in die Taschen. Wenn er sich unwohl fühlte, wenn er gelangweilt war, wenn er etwas verbarg. Verbarg Lander etwas? „Weißt du mehr Severin? Über Mikael. Was willst du mir nicht sagen?“
    „Vier Kugeln haben in getroffen. Zwei in den Brustbereich, zwei in den Bauch“, antwortete ihm der Lander leise. „Ich wusste nicht, wie ich es dir sagen sollte. Aber, er hat bis jetzt durchgehalten, da wird er es weiter schaffen.“
    „Vier Kugeln?“ Semir versagte fast die Stimme. Da hatte jemand ganz sicher gehen wollen, dass er starb. Immerhin schien er aber ein schlechter Schütze zu sein, sonst hätte er vielleicht auf den Kopf gezielt.
    „Mehr weiß ich leider auch nicht“, murmelte Lander.
    „Danke … für die Wahrheit. Ich meine … wirklich, danke.“


    Die Ehefrau von Hentschel trug ein rotes Kostüm und hatte ihre langen blonden Haare zu einem Zopf gebunden. Ihre Augen waren rot unterlaufen. Sie hatte geweint, vermutete Semir. Sie führte die beiden Kommissare in den Speisesaal.
    „Nehmen Sie bitte Platz“, sagte sie. Sie setzen sich hin.
    „Mein Beileid, Frau Hentschel“, begann Severin Lander mitfühlend.
    Die Frau senkte den Blick. „Danke, Herr Kommissar. Darf ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Vielleicht einen Kaffee oder einen Tee?“
    „Ich hätte gerne einen Tee, wenn es Ihnen keine Umstände macht“, antworte Lander.
    Sie sah zu Semir. „Ich nehme dann auch einen Tee.“
    Sie stand auf, verschwand in die Küche und kam wenige Minuten später mit einem Tablett zurück. Sie stellte ihnen jeweils eine Teetasse hin. Danach setzte sie sich wieder auf ihren Stuhl. „Unvorstellbar, dass er nicht mehr da sein soll! Haben Sie schon Hinweise?“
    „Wir hatten darauf gehofft, dass sie uns vielleicht helfen könnten. Hatte ihr Mann Feinde?“ Hauptkommissar Lander nahm einen Schluck aus seiner Teetasse. Sein Gesichtsausdruck ließ Semir erkennen, dass der Tee wohl nicht besonders gut schmeckte.
    „Vielleicht ein Geschäftspartner. Ich habe gehört, wie er sich vor einigen Tagen mit jemandem am Telefon gestritten hat.“
    „Wissen Sie mit wem?“, fragte jetzt Semir.
    Sie schüttelte den Kopf. „Nein. Es tut mir leid. Ich hatte ihn nicht danach gefragt.“ Sie schlug die Hände vor das Gesicht. „Ich konnte ja nicht wissen, dass er stirbt. Das ihn jemand ermordet … Oh Gott, ich will überhaupt nicht darüber nachdenken.“
    „Er hat Ihnen keinen Einblick in seine Geschäfte gewehrt?“, hakte nun wieder Lander nach.
    „Nein. Er sagte immer, dass es besser für mich wäre, wenn ich nichts darüber weiß.“
    „Ich verstehe“, antwortete ihr der Jüngere.
    Semir blickte aus dem Fenster. Es hatte begonnen leicht zu schneien. Mikael würde das vermutlich gefallen. Er beobachte einen Mann dabei, wie er vor der Terrassentür etwas Schnee zur Seite räumte, während er mit einem Ohr das Gespräch seines Kollegen verfolgte. Immer wieder machte der Mann eine Pause und stützte sich auf der Schaufel ab.
    „Hat Ihr Mann bei dem Telefonat vielleicht einen Namen gesagt?“
    „Nein … oder doch. Freddy und das irgendwas mit Unterberg … Unterberger oder so. Aber genau weiß ich es wirklich nicht Herr Kommissar.“
    „Das hilft uns sicher schon weiter“, antworte Lander.
    „Und sonst, war Ihr Mann irgendwie verändert in den letzten Tagen? Hatte er Angst?“
    „Nein. Also nicht das ich mich erinnere.“
    „Ist Ihnen vielleicht sonst etwas aufgefallen?“
    „Nein.“
    Severin Lander trank seinen Tee aus und stand auf. Dann drückte er die Hand der Frau zum Abschied. „Wir werden alles versuchen, um dem Mörder Ihres Mannes zu finden. Wir werden Sie über die Ermittlungen auf den Laufenden halten.“
    „Vielen Dank“, antwortete die blonde Frau.
    Semir löste seinen Blick von dem Mann im Garten und stand jetzt ebenfalls auf, um sich bei der Dame zu verabschieden. „Auf Wiedersehen, Frau Hentschel.“
    „Und, was denkst du?“, fragte Severin Lander, als sie das Haus verlassen hatten.
    „Ich weiß nicht. Freddy Unterberger ist mir ein Begriff. Ein ziemlich großer Fisch im Prostitutionsgeschäft.“
    „Weißt du, wo wir ihn finden?“
    Semir nickte. „Ja, wir können gleich hinfahren und ihn in die Mangel nehmen.“





    Leicht geblendet durch die Sonne, die ihm ins Gesicht schien, öffnete Veikko die Augen. Er blinzelte ein paar Mal und schloss sie dann wieder. Er spürte Jennys warmen Körper am Rücken, hörte ihren gleichmäßigen Atem. Er lächelte in sich hinein. In Augenblicken wie diesem war das Leben einfach perfekt. Zwar lebte und wohnte er nun wieder in Helsinki, aber ihre Beziehung hatte es durchgehalten. Jenny hatte sich nach anfänglichen Zweifeln auf die Fernbeziehung eingelassen und sie genossen die gemeinsamen Tage umso mehr. Seit gestern Abend war er in Köln und würde vier Tage bleiben, bis er wieder nach Helsinki musste. Er hatte sich extra ein paar Tage Urlaub genommen, damit er an Jennys Geburtstag da war.
    Erneut öffnete er die Augen, als Jenny sich rekelte und schließlich aufstand. „Ich muss los“, flüsterte sie ins sein Ohr.
    „Schon?“
    „Im Gegensatz zu dir habe ich heute noch keinen Urlaub!“ Sie gab ihm einen Kuss und ließ sich aus dem Bett gleiten. Dann verschwand sie in Richtung Bad. Er überlegte für einen Augenblick ihr zu folgen, doch dann entschied er sich anders. Er wollte das warme kuschelige Bett noch nicht verlassen, so verführerisch der Gedanke einer gemeinsamen Dusche auch war. Stattdessen griff er nach der Fernbedienung, die auf dem Nachtisch lag und schaltete den Fernseher an. Er zappte durch die Kanäle. Seine Aufmerksamkeit konzentrierte sich schnell nicht mehr auf die Sendungen, zwischen denen er hin und her schaltete. Er hatte nach seinem Smartphone gegriffen und tauschte ein paar Nachrichten mit Kasper aus, der sich darüber beschwerte, dass sich in der Mordkommission alles geändert hatte in den letzten Wochen. Antti war nun Chef der Abteilung, Mikael hatte offiziell den Dienst beendet und würde vermutlich durch eine weibliche Kollegin ersetzt, die ihre Kommissarsausbildung gerade erst abgeschlossen hatte. Ob sie noch einen zweiten neuen Kollegen bekamen, stand noch nicht fest.


    „Hat sich in der Nacht eine blutige Tat ereignet. Ein Mann wurde getötet, ein Familienvater schwebt derzeit noch in Lebensgefahr.“
    Aus dem Augenwinkel erhaschte Veikko etwas, was seine Welt augenblicklich in Schieflage brachte. Das Handy glitt ihm aus der Hand und er starrte auf den Fernseher. Er kannte dieses Haus! Ein Ohnmachtsgefühl breitet sich aus. Mit zittrigen Händen ergriff er sein Smartphone von der Bettdecke und rief Mikael an. Panik stieg in ihm auf, als die Verbindung hergestellt wurde. Eine böse Vorahnung übermannte ihn. Bitte geh ran! Bitte nimm dein Handy ab. Nichts geschah. Und dann meldete sich die Mailbox.
    Er zuckte zusammen, als er etwas auf seiner Schulter spürte. „Schatz, was ist los? Du bist ganz blass.“ Veikko starrte Jenny an. Sekunden. Minuten. „Ich … da war dieser Bericht im Fernsehen. Ein … es war Mikaels Haus. Ich-ich kann ihn nicht erreichen!“ Hektisch senkte er den Blick wieder auf das Telefon, scrollte die Kontakte erneut durch und wählte jetzt Evas Nummer. Doch auch dieses Mal ging niemand dran.
    Jenny setzte sich zu ihm aufs Bett. Sanft lenkte sie seinen Kopf in seine Richtung. „Was ist passiert Veikko?“, fragte sie abermals. Sie konnte sich keinen Reim aus seiner ersten Ausführung machen.
    „Im Fernsehen wird von einem Mord gesprochen, bei dem auch ein anderer Mann verletzt wurde. Ein Familienvater. Es ist … das Haus, das gezeigt wurde, es war genau gegenüber von dem Haus, wo Mikael gerade ist.“ Er griff nach ihrer Hand. „Du weißt schon, wo wir vor zwei Wochen mit dem Handwerker waren.“
    Er spürte, wie sich Jenny Hand in seiner verkrampfte. „Du kannst ihn nicht erreichen?“, fragte sie leise.
    Veikko schüttelte den Kopf. „Und Eva auch nicht … ich-ich das kann doch nicht sein. Das darf nicht sein!“
    „Bleib ganz ruhig, ja?“, sagte sie führsorglich. „Ich rufe jetzt Ben an. Er weiß vielleicht, wo Mikael ist. Sicher ist es ganz harmlos.“
    Veikko nickte und verfolgte, wie Jenny ihm das Smartphone aus der anderen Hand zog. Sie suchte die Nummer heraus und hielt es sich ans Ohr.
    Dann konnte er es in ihrem Gesicht sehen: die Wahrheit, die Gewissheit. Sie kämpfte darum nicht zu weinen. Die Worte, die seine Freundin sprach waren leise, abgehakt. Als sie auflegte, schüttelte sie den Kopf. „Er ist es, es ist Mikael“, hauchte sie in den Raum. Sie drückte ihn an sich und hielt ihn fest. „Er ist noch im OP, Ben weiß noch nichts genaueres.“
    „Wie schlimm?“, fragte er kaum hörbar.
    „Schlimm“, antwortete sie nur und hielt ihn noch fester. „Das ist alles nur ein böser Traum. Alles nur ein böser Traum“ murmelte er. Doch er wusste, dass dem nicht so war. Das hier war die Wirklichkeit. Die eiskalte und unbarmherzige Realität.
    „Komm, wir fahren ins Krankenhaus.“ Veikko wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, bis Jenny diese Worte sprach. Es kam ihn wie Stunden vor, doch er wusste, es waren nur Minuten gewesen. Er nickte nur und zog sich dann wie in Trance Klamotten an.

  • Vor dem Eingang des Clubs spannte sich ein rotes Seil. Semir sah auf sein Handy, ob sich Ben inzwischen gemeldet hatte, ehe er Severin Lander in den Club folgte. Ein dicker Mief aus Zigarettenqualm und Schweiß schlug ihm entgegen. Aus den Lautsprechern drang Jazz-Musik. Neben der Theke waren Stangen angebracht, um die sich Frauen räkelten.
    Sie blieben nicht lange unbemerkt. Semir sah, wie Freddy Unterberger auf sie zukam. Der Barbesitzer entsprach nicht dem üblichen Klischee. Er trug einen teuren Anzug und hatte nach hinten gegelte Haare. Kein Goldkettchen um den Hals, sondern nur einen einfachen goldenen Ring um den Finger. „Gerkhan. Was für eine Ehre? Es muss ewig her sein, dass du mich das letzte Mal besucht hast.“
    Freddy Unterberger reichte ihm die Hand und sah dann verstohlen auf Lander. „Was ist mit Jäger passiert? Neuer Partner, schon wieder?“
    Ehe Semir antworten konnte, steckte Lander bereits seine Hand aus. „Severin Lander, Dezernat für Gewaltverbrechen.“
    Der Barbesitzer zog die Augenbraue hoch. „Sag, Gerkhan. Bist du nicht mehr bei der Autobahnpolizei?“
    „Doch doch, wir ermitteln gemeinsam. Ich und der Herr Lander.“
    Unterberger nickte und begab sich jetzt hinter die Bar. Er stellte ihnen jeweils ein Glas hin. „Was kann ich für euch tun? Du weißt, Gerkhan, hier ist alles sauber.“
    „Marjan Hentschel ist tot. Erstochen worden. Und ich frage mich, ob du nicht einen ungeliebten Konkurrenten loswerden wolltest.“
    „Wie ermordet?“ Die Überraschung von Freddy Unterberger war echt. „Wann denn?“
    „Heute gegen 4:00 Uhr.“
    „In der Nacht? Da war ich die ganze Zeit hier im Club“, beteuerte Unterberger. „Ich habe Zeugen, falls Sie sie hören wollen.“
    „Zeugen kann man sich doch besorgen“, winkte Lander ab.
    „Wo ist es denn passiert?“
    „Wir stellen hier die Fragen“, kam es nun von Semir. Andererseits, was würde es schaden, wenn er Unterberger den Ort erzählte. Ganz im Gegenteil, er war gespannt, ob Unterberger die Gegend kannte. Also nannte er ihm die Straße.
    Der Clubbesitzer fuhr sich mit der Zunge über die Lippe.
    „Du kennst den Ort, oder?“, bohrte Semir weiter nach. Er wusste, dass er ihn kannte. Mikael hatte ihnen am Abend Unterlagen in die Dienststelle gebracht, in denen Freddy Unterbergers Name vorkam.
    „Kann ich es leugnen?“, antwortete ihr Gegenüber monoton.
    Semir beugte sich herüber. „Wolltest du zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen?“
    „Wie? Ich verstehe noch weniger, Gerkhan.“
    „Deinen Konkurrenten loswerden und den Mann, der der Polizei Hinweise gegeben hat, die illegale Geschäfte von dir nachweisen?“
    Unterbergers Augen weiteten sich. „Wer will mich verpfiffen haben?“
    „Georg Hansens Enkel. Er wurde gestern Nacht schwer verletzt.“
    „Hansens Enkel?“ Freddy Unterberger hob die Arme. „Wirklich, damit habe ich nichts zu schaffen. Ich rühre doch keine Bullen an!“


    Semir löste sich von der Bar. „Wenn ich rausbekomme, dass du Mikael das angetan hast, dann wirst du bezahlen!“ Dann ging er in Richtung Tür. Er hörte dich hinter sich Schritte. Severin Lander war ihm offenbar gefolgt.
    „Was hatte das zu bedeuten? Was ist das für eine Verbindung, die du mir bis gerade verheimlicht hast?“
    „Georg Hansen war eine große Nummer in der Unterwelt. Es gab ein paar Unterlagen, die Mikael gegeben hat, in denen stand auch der Name von Freddy.“
    „Und warum nehmen wir ihn nicht gleich mit? Alles spricht gegen ihn.“
    Semir blieb stehen und sah in die Augen des Kollegen. „Hast du die Überraschung in seinen Augen gesehen. So reagiert doch niemand, der die Morde auch begangen hat.“
    Severin Lander wollte antworten, doch dann klingelte ein Handy. Semir griff eilig in seine Tasche, musste jedoch feststellen, dass es nicht sein Gerät gewesen war, was geklingelt hatte.
    „Ja?“, ertönte die Stimme des jungen Kommissars neben ihm. Landes Augen weiteten sich, seine Mundwinkel zogen sich etwas nach oben. „Wir kommen sofort!“
    Lander Gewaltdezernats legte auf und sah ihn an. „Die Technik. Sie haben einiges für uns, was uns vielleicht helfen könnte.“
    „Dann mal los“, antwortete Semir.





    Die Kriminaltechnik war im Erdgeschoss des Präsidiums untergebracht und würde Hartmut sicherlich vor Neid erblassen lassen. Die Abteilung hatte das Glück und erhielt viele neue technische Geräte zur Unterstützung der Arbeit. Er folgte Severin Lander in ein Großraumbüro. An einem der letzten Tische hob ein braunhaariger Mann um die vierzig die Hand. „Severin! Da seid ihr ja endlich.“ Sie gingen durch den Raum und nachdem er sich Semir kurz vorgestellt hatte, rief er eine Datei an seinem Netbook auf. „Wir haben versucht die Tat es so gut es ging irgendwie zu rekonstruieren mit den wenigen Details, die wir haben.“ Er lehnte sich zurück und grinste. „Wobei, du wirst dich freuen. So wenige sind es dann doch nicht.“
    „Zeig schon her“, sagte Lander ungeduldig.
    „Ist ja gut, ist ja gut. Aufgrund der Aussage des verletzten Kollegen …“ Semir merkte, wie der Techniker bei den Worten kurz stockte und Lander ansah, der nickte. Der Kollege war noch nicht gestorben, dachte Semir, noch kämpfte Mikael.
    „Aufgrund der Aussage, war Hentschel noch am Leben, als man ihn dort hingebracht hat“, fuhr der Techniker fort. „Häkkinen hat sich herangeschlichen, wurde bemerkt und es kam zum Kampf. Ob Hentschel gleichzeitig, vorher oder später getötet wurde, können wir nicht sagen. Ich würde sagen zuvor, da die Ehefrau sofort nach den Schüssen das Auto wegfahren gehört hat.“
    „Und dann?“, hakte Lander nach.
    „Nachdem ich das Ganze rekonstruiert habe, gehe ich davon aus, dass Häkkinen angeschossen wurde und sich danach versucht hat, mit der kaputten Flasche zu wehren. Es ist sowohl sein Blut, als auch das eines anderen Menschen daran.“
    „Es könnte auch nachher daran gekommen sein. Durch die Schüsse, oder nicht?“
    „Nein. Es lässt sich gut ein Handabdruck darauf abzeichnen. Keine Spuren deuten darauf hin, dass das Blut über Tropfenbewegungen dahin kam.“
    „Was denkst du, wo hat er den Täter erwischt?“, fragte Semir.
    „Puh, schwer zu sagen. In Anbetracht der Punkte, wo die Kugeln getroffen haben. Ich würde sagen im Unterkörper oder den Beinen. Ich glaube nicht, dass der Kollege noch stehen konnte. Sonst hätte er wegrennen können.“
    „Den Beinen?“ Die Stimme von Semir überschlug sich. „Wie tief … was denkst du, wie tief war die Wunde?“
    „Schon einiges.“
    Der Deutschtürke sah aufgeregt zu Lander. „Der Typ, den ich im Garten bei Frau Hentschel gesehen habe, er hat das Bein nachgez …“
    „Da habe ich übrigens noch was für euch“, unterbrach ihn der Techniker. „Ich habe die Grundstückspläne für die Rekonstruktion verwendet und da ist mir was aufgefallen.“
    In Semir breitete sich eine Unruhe aus. Er wusste, sie waren ganz nah den Fall zu lösen.
    „Van den Boom ist der Besitzer.“
    „Verfluchte!“ , schoss es aus Lander heraus. „Der Mädchenname von Astrid Hentschel ist Van den Boom!“
    „Genau das wollte ich dir sagen, Severin …“, erklärte der Techniker.
    „Sie hat damit zu tun!“, beendete Semir ihre gemeinsame Überlegung und die beiden Hauptkommissare hechteten eilig aus dem Gebäude in Richtung Wagen. „Das ist mir doch ein zu großer Zufall!“

  • „Ben.“ Der Angesprochene sah auf, als er Evas schwache Stimme vernahm.
    „Hey“, sagte er einfühlsam.
    Sie richtete sich auf. „Gibt es schon etwas? Wie lange habe ich geschlafen?“
    Er schüttelte den Kopf und wich instinktiv ihrem Blick aus. „Sie operieren immer noch.“
    Sie antwortete nicht, richtete stattdessen ihren Kopf in Richtung Fenster. „Hast du Antti schon angerufen?“
    „Ich konnte nicht, ich habe es einfach nicht geschafft. Veikko hat allerdings einen Bericht im Fernsehen gesehen. Er kommt her.“
    Eva nickte.
    Ben fuhr sich nervös mit den Händen über die Jeans. „Mikael wird das schaffen, er gibt nicht ohne einen Kampf auf.“
    „Er hatte es doch schon“, antwortete sie ihm tonlos. „Er war tot.“
    „Aber er ist zurückgekommen!“, widersprach er sofort energisch. „Er ist zurückgekommen und nun wird er nicht noch einmal gehen!“
    Eine Träne verließ ihr Auge und lief ihre Wange hinunter. „Ich dachte, dass alles gut wird. Dass wir nun endlich glücklich sein können. Papa hat versprochen, dass er sich darum kümmert, dass Mikael den Job in der Akademie bekommt und jetzt … jetzt bricht alles über uns zusammen!“
    Ben griff nach ihrer Hand. „Eva, du musst vertrauen in Mikael haben. Er wird das schaffen. Er hat doch etwas für das es sich lohnt zu kämpfen.“
    „Was tue ich denn, wenn er stirbt? Ich kann das doch nicht, ich kann mich nicht alleine um die Kinder sorgen. Ich schaffe das nicht!“
    „So darfst du nicht denken!“ Diesmal war es nicht Ben, der diese Worte sagte, sondern Veikko. Der Schwarzhaarige stand im Zimmer und sah sie mit einem beißenden Blick an. „Er wird nicht sterben. Er wird verdammt noch einmal leben!“ Er schüttelte energisch den Kopf. „Er darf einfach nicht gehen“, hauchte er ohne Stimme.
    Jenny zog ihn sofort an sich, hielt den bebenden Körper fest umklammert. „Er packt das“, sagte sie mit fester Stimme und voller Überzeugung. „Er wird das schaffen!“
    Veikko nickte kaum merklich, drückte sie an sich. „Er wird das schaffen“, wiederholte er ihre Worte. Erst Leise, dann immer lauter.
    Nach einer Weile löste er sich von Jenny. Er setzte sich auf die Bettkante, seine Freundin kurz darauf neben ihn. „Habt ihr wenigstens die Schweine, die das waren?“
    „Nein, aber Semir gibt sicher alles.“
    Jenny drückte Veikkos Hand. „Ich werde in die PAST fahren, vielleicht kann ich ihm ja helfen.“
    Ben nickte. Vielleicht konnte sie das. Er hatte sich in den letzten Stunden überhaupt nicht mit den Ermittlungen befasst. Für ihn zählte das im Augenblick nicht. Er wollte einfach nur, dass er seinen Freund wiederbekam. Für ihn war derzeit nur wichtig, dass Mikael das überstand. Irgendwie durchstand. Doch er spürte auch, dass Jenny sich unwohl fühlte. Sie gab Veikko einen Kuss auf die Wange. „Ruf mich an, wenn ihr etwas habt, ja?“
    „Mache ich.“
    Ben sah zu, wie die junge Beamtin aus dem Zimmer verschwand.
    „Ich nehme an, Antti habt ihr noch nicht angerufen … so wie niemanden von uns.“ Veikkos Wut war nicht zu überhören.
    „Nein. Ich habe es einfach nicht über mich gebracht“, antwortete Ben ohne Stimme.
    „Er hat ein Recht darauf. Mikael ist für ihn wie ein Sohn!“
    „Veikko, bitte lass das jetzt!“, sagte nun Eva. „Bitte jetzt nicht streiten.“
    Der junge Kommissar nickte. „Sorry.“
    Veikko stand auf und lief im Zimmer auf und ab. „Was kann so lange dauern? Wie schlimm war es?“
    „Ich weiß nur, dass er ziemlich viel Blut verloren hat und es wohl mehrere Schussverletzungen sind.“
    Veikko holte tief Luft, setzte sich auf die Fensterbank, sprang dann aber gleich wieder auf. „Ich geh nachfragen, ob es noch nichts neues gibt“, sagte er dann und verschwand aus dem Zimmer.



    ***


    Seit fünf Stunden kämpften die Ärzte um Mikaels Leben, während die Krankenschwestern ständig neue Blutkonserven ranschafften. Professor Hans-Wilhelm Hirzinger, der die Leitung der Operation unternommen hatte, versuchte gerade eine enorme Blutung in der Leber zum Stillstand zu bringen. Für ihn war es überhaupt schon ein Wunder, dass sein Patient noch lebte. Lunge und Leber waren beschädigt. Dazu noch eine Arterie. Dadurch hatte er sehr viel Blut verloren, worauf der Körper mit einem schweren Volumenmangelschock reagiert hatte. Sein Leben hing nur noch an einem seidenen Faden. Und so sehr er sich beeilte, schien ihm dennoch die Zeit davonzulaufen. Durch die gekühlten Blutkonserven sank die Temperatur seines Patienten immer weiter.
    „Der Blutdruck fällt!“, rief der Anästhesist.
    „Verdammt! Ich kann gar nichts sehen vor lauter Blut“, knirschte der Professor. „Saugen!“
    „Der Blutdruck fällt weiter.“
    Der Professor versuchte die Blutung mit allen Mitteln zu stoppen. „Klemme!“, hallte dessen Stimme durch den OP. Dann wandte er sich der Schwester zu. „Holen sie noch vier Einheiten!“
    Der Kreislauf seines Patienten ging in die Knie. Das EKG gab einen schrillen Warnton von sich.
    „Kammerflimmern“, schrie jemand.
    „Defi!“, rief Professor Hans-Wilhelm Hirzinger.
    Jemand riss die OP-Tücher beiseite. Schon war einer mit dem Notfallwagen zur Stelle. „Aufladen auf 360“, schrie der Anästhesist. Ein Paddle setzte er rechts neben dem Sternum im dritten Zwischenrippenraum und das andere links oberhalb der Herzspitze. „Zurück treten!“, kam der Befehl.
    Sie sahen gebannt auf den Herzmonitor. Keine Änderung.
    Einer der Assistenzärzte begann mit einer zweiminütigen Thoraxkompression, die jedoch zu keiner Änderung führte.
    „Zurück treten!“ Wieder tat sich nichts.
    Auch das dritte Schocken blieb ohne Effekt. Der Herzrhythmus des Mannes blieb vollkommen chaotisch. „1 mg Adrenalin!“, orderte Hirzinger an, der langsam in Panik geriet seinen Patienten auf den OP-Tisch zu verlieren. Daraufhin wurde ein weiteres Mal geschockt. Doch auch diesmal ergab sich nicht der gewollte Effekt.

  • „Wie? Semir ermittelt mit dem Gewaltdezernat zusammen?“ Jenny fiel regelrecht auf den Besucherstuhl im Büro von Kim Krüger und sah ihre Chefin mit fragendem Blick an.
    „Er wird Herrn Lander unterstützen. Wir haben das so besprochen.“
    „Aber ich will auch helfen“, antwortete die junge Polizistin ohne Stimme. „Bitte lassen Sie mich auch helfen!“ Sie blickte in die Augen von Kim Krüger. „Ich muss jetzt einfach irgendetwas tun, sonst werde ich verrückt!“
    „Sie werden hier gebraucht Frau Dorn“, setzte die Leiterin der PAST an, doch sofort schüttelte Jenny energisch den Kopf. „Ich will helfen, dass man diejenigen findet, die meinem Freund das angetan haben!“ Die Hände der Polizistin bildeten sich Fäusten. „Bitte Frau Krüger. Ich muss doch irgendwie helfen können.“
    Kim Krüger griff zu ihrem Telefon. „Gut, Frau Dorn, ich rede mit dem zuständigen Ermittlern.“
    Jennys Mundwinkel zogen sich nach oben. „Danke Frau Krüger. Danke!“
    Sie hob die Hand. „Noch hat man nicht Ja gesagt. Warten Sie das Gespräch ab.“ Die Chefin sah in Richtung Tür. „Am besten Draußen.“
    Jenny nickte und verließ mit gesenktem Kopf das Büro, um sich an ihren Schreibtisch zu setzen. Sie sah immer wieder in Richtung des Büros der Chefin, doch Kim Krüger schien endlos zu telefonieren.
    Sie öffnete die Schublade und zog ein Formular heraus, auf dem nur noch ihre Unterschrift fehlte. Es war ein Kurs für Fallanalytiker. Mikael hatte ihr gesagt, dass er dachte, dass sie so etwas gut konnte. Überhaupt schien er viel mehr Vertrauen in ihre Fähigkeiten zu haben, als Semir und Ben. Sie waren immer darauf bedacht - wenn sie denn mal mitarbeiten durfte - sie nur mit kleinen Aufgaben zu betreuen.
    „Viel lieber würde ich einen Kurs bei dir belegen“, hatte sie ihm vor ein paar Wochen geantwortet. „Du wirst doch so etwas machen.“ Sie hatte viel früher als Ben gewusst, dass Mikael nicht mehr zurück zur Mordkommission gehen würde. Er hatte es seinen Freunden gesagt, als sie in Finnland war und sie hatte geschworen es Ben und Semir nicht zu sagen. Mikael hatte es persönlich machen wollen.
    „Dafür brauche ich erst einmal den Job“, hallte Mikaels Stimme in ihrem Kopf wieder.
    „Das ist ja nur eine Formsache.“
    „Der Mann ist eine Koryphäe beim LKA. Er ist einer der Besten. Du würdest dich ärgern, wenn du diese Chance nicht wahrnimmst. Ich habe mich für dich bei ihm eingesetzt, wäre doch schade, wenn es umsonst war.“
    „Ich bin nur Streifenpolizistin“, hatte sie gesagt.
    „Aber du willst mehr sein. Kommissarin. Also, was hindert dich daran, dieses Ziel zu erreichen?“
    Sie hatte verlegen gelacht. „Ich fühle mich wohl auf der Straße, dass ist Blödsinn!“
    „Du weißt, dass ich neben Fallanalytiker auch sehr gut in Psychologie bin?“
    „Ich weiß nicht wieso“, gab sie dann zu. „Vielleicht … vielleicht habe ich Angst zu versagen.“
    Er hatte seine Hand auf ihre Schulter gelegt und sanft gedrückt. „Du wirst nicht versagen. Denk darüber nach. Ich glaube, du wärst eine gute Kriminalkommissarin.“
    Jenny atmete tief durch, zog die Schublade ihres Schreibtisches auf und zog einen Stift heraus. „Jetzt oder nie“, sagte sie zu sich selbst und setzte dann die Unterschrift auf das Formular.
    „Frau Dorn.“ Die Stimme von Frau Krüger erklang und sie sah wieder zum Büro. „Kommen Sie bitte.“
    Sie nickte und setzte sich nun wieder auf den Besucherstuhl. „Und?“
    „Der Fall steht bereits kurz vor der Auflösung, wie mir mitgeteilt wurde.“
    Ihre Augen weiteten sich. „So schnell.“
    „Es gab einen entscheidenden Hinweis.“
    „Achso. Ich … natürlich.“ Sie wusste nicht wieso sie enttäuscht war. Das waren positive Nachrichten und doch fühlte sie sich in diesem Moment ganz klein. So gerne hätte sie mehr geholfen. Etwas getan. Vielleicht, ja vielleicht sogar bewiesen, dass Mikael Recht hatte und sie wirklich das Zeug zu einer guten Kommissarin hatte.



    *


    „Ich dachte, es gäbe keine Fragen mehr“, sagte Astrid Hentschel, als sie ihnen die Haustür öffnete. Sie hatte sich umgezogen. Sie trug jetzt ein kurzes schwarzes Kleid, das Beine zeigte. Sie sah aus, als hätte sie sich für eine Feier feingemacht. Zarte Schminke, roter Lippenstift. Sie hatte definitiv etwas vor. Aber nicht nur das war Semir sofort ins Auge gefallen. In der Eingangshalle standen zwei Aluminiumschalen-Koffer.
    „Wie sind fast durch“, erklärte Severin Lander neben ihm. Er nickte in Richtung der Koffer. „Wollen Sie verreisen?“
    Sie schüttelte den Kopf. „Nur einige alte Klamotten. Ich will sie spenden.“
    Die beiden Kommissare traten ein und gingen in das Wohnzimmer durch und Semir sah draußen wieder den Gärtner, der ihm schon am morgen aufgefallen war. Er humpelte weiterhin deutlich. In ihm kochte es, doch er blieb ruhig. Er hatte mit Lander auf der Herfahrt ihr Vorgehen besprochen. Sie wollten die Frau in Sicherheit wiegen, so lange es möglich war. Eine Flucht verhindern.
    „Ihr Gärtner arbeitet wohl viel für sie“, sagte Severin Lander. „Ich hätte nicht angenommen, dass es im Winter so viel im Garten zu tun gibt.“ Der Kommissar lachte. „Aber ich wohne auch in einer kleinen Mietswohnung.“
    Lander log, dass wusste Semir. Er wohnte in einem alten Bauernhaus mit riesigem Garten. So hatte er es ihm beim gemeinsamen Kaffee erzählt.
    „Sie wären überrascht, was es alles tu tun gibt.“ Sie folgte den Blick der Kommissar aus dem großen bodentiefen Fenster in Richtung Garten. Sie sah wieder zu ihnen. „Kann ich Ihnen etwas anbieten?“
    „Wir haben neue Hinweise“, erklärte Semir jetzt. Er stand auf und ging langsam in Richtung Terrassentür. „Stört es Sie. Wenn ich etwas Luft schnappe?“ Jetzt durften sie keinen Fehler machen. Der Gärtner hatte sie im Blick. Immer wieder hatte er zu ihnen rüber gesehen.
    „Achja?“
    „Das Haus in dem ihr Mann starb. Es gehört Ihnen?“
    „Ich will es verkaufen. War das von Bedeutung?“
    „Wir haben auch Blutspuren an einer Flasche gefunden. Der Mann vom Haus gegenüber, er muss sich gewehrt haben und hat vermutlich einen der Angreifer verletzt. Wir haben das rekonstruieren können.“ Nun war es wieder Severin Lander, der redete und damit die Aufmerksamkeit der Frau möglichst auf sich lenkte.
    „Was heutzutage alles möglich ist“, antwortete sie gespielt erstaunt.
    „Er hat ihn womöglich am Bein erwischt. Es wird nicht schwer sein, den Mann zu finden.“
    „Zum Glück.“
    Semirs Hand umgriff die Klinge der Terrassentür und er drückte sie runter.
    „Wozu sind die Koffer wirklich?“, fragte Lander jetzt.
    „Das sagte ich doch bereits!“
    Semir wollte die Tür aufdrücken, doch es tat sich nichts. „Verdammt, es ist abgeschlossen!“, fluchte er.
    Astrid Hentschel sprang von dem Sofa auf, doch ehe sie in Richtung Wohnungstür flüchten konnte, hatte Severin Lander ihren Arm umschlungen. „Kümmere dich um den Gärtner“, rief er Semir zu. Unnötig, denn Semir war schon lange unterwegs und stürmte in Richtung Haustür. Er riss sie auf, rannte um das Haus herum in den Garten. Der Gärtner war weg. „Verflucht!“ Er sah sich um. Wohin war er geflohen.
    „Er ist links herum!“, schrie ihm Lander vom Fenster aus zu.
    Er nickte und setzte sich wieder in Bewegung, in die Richtung, die ihm der Kollege zugerufen hatte. Sein Herz pochte gegen seine Brust. Einen von ihnen hätte doch sofort in den Garten gehen sollten, doch sie waren sich Beide einig gewesen, dass sie erst die Reaktion der Witwe auf ihre neuen Hinweise abwarten wollten. Die Koffer hatten ihnen dann sofort gezeigt, dass hier tatsächlich etwas im Busch war.
    Er kämpfte sich durch eine Hecke, die den Garten abgrenzte und kam auf einer kleinen Seitenstraße raus. Er sah nach links und rechts, konnte den Mann, den er verfolgte, aber nicht finden. Nicht einmal hören. Keine Schritte waren zu vernehmen. Plötzlich hörte er einen Motor starten und aufheulen. Das Geräusch kam schnell näher. Semir sah sich um und sah im selben Augenblick, wie ein blauer Audi mit vollem Tempo auf ihn zukam. Sein Körper reagierte automatisch und er warf sich zur Seite, ehe das Auto ihn in voller Fahrt erwischen konnte.
    Er rappelte sich wieder auf. Er rannte, stolperte dem Wagen hinterher. Der Deutschtürke zog seine Waffe, zielte und schoss. Die Kugeln prallten am Kotflügel ab, der Wagen entfernte sich immer weiter, fuhr mit quietschen Reifen um die nächste Straßenecke und war verschwunden.
    „Scheiße!“
    Er ließ die Waffe zwischen den Fingern kreisen und steckte sie wieder ins Holster. Mit gesenktem Kopf lief er zurück zum Haus. Sie hatte es vermasselt. Ja, so konnte man es durchaus sagen.
    Als er an der Villa angekommen war, kam ihm Severin Lander entgegen und führe Astrid Hentschel ab. Er sah Semir an. „Er ist weg. Mit dem Auto geflohen“, sagte der Kommissar der Autobahnpolizei resigniert. Er begab sich zum Auto und griff nach dem Funkgerät, um eine Fahndung nach den Wagen durchzugeben. Immerhin hatte er das Kennzeichen erkannt, wenn der Typ ihm schon entkommen war.
    „Wir kriegen ihn“, machte ihm Lander Mut, der Astrid Hentschel auf dem Rücksitz verfrachtete.
    „Hoffentlich“, antwortete Semir resigniert und setzte sich anschließend auf den Beifahrersitz des Wagens.

  • Die Tür zu dem Zimmer öffnete sich und ein Mann mit weißem Kittel kam heran. Ben sprang nervös von dem Holzstuhl auf. „Was ist mit ihm?“
    Der Chirurg sah müde aus, doch das Schlimmste für Ben war, dass in seinem Blick nur wenig Hoffnung lag. Ben rutschte augenblicklich das Herz in die Hose und der spürte, wie sich seine Lunge zuschnürte. Es fiel ihm schwer Luft zu holen. Er begann leicht zu zittern und erwartete bereits das Schlimmste.
    „Ich werde aufrichtig zu Ihnen sein. Die Operation war schwierig, aber er hat durchgehalten“, erklärte der Mediziner.
    „Aber er … er wird es doch schaffen?“, fragte Eva mit brüchiger Stimme nach.
    Er schweres Atmen ging durch den Raum. Es herrschte einige Sekunden lang Stille, ehe der Arzt die richtigen Worte gefunden hatte. „Wir müssen die nächsten Stunden abwarten. Der Zustand Ihres Mannes ist weiterhin kritisch. Aber er scheint zu kämpfen. Angesicht der Vitalwerte hatte ich bei seiner Einlieferung nicht einmal daran geglaubt, dass er die ersten Stunden der Operation überlebt.“
    „Er lebt“, flüsterte Eva und Tränen liefen über ihr Gesicht. „Er lebt.“
    „Sie sollten jetzt ein bisschen schlafen“, sagte Professor Hirzinger mitfühlend. „Man hat mir erzählt, Sie hatten einen Zusammenbruch.“
    „Kann ich zu ihm?“, wollte Eva wissen, den Vorschlag des Arztes ignorierend.
    „Ich weiß nicht, ob …“
    „Ich muss zu ihm!“, widersprach Eva sofort und ließ den Mann nicht ausreden. „Ich muss ihn sehen!“
    „Aber nur ein paar Minuten“, lenkte Hirzinger widerwillig ein. „Ich werde eine Schwester bitten, Sie zu begleiten. Aber es wird noch etwas dauern, bis sie kommt.“
    Es hatte noch einmal fast eine Stunde gedauert, bis eine junge Krankenschwester auf sie zugetreten war und sie informierte, dass Eva nun zu Mikael konnte.


    Ben und Veikko blieben in dem Zimmer zurück. Der Finne schloss die Augen und holte einige Male tief Luft. „Ich werde Antti anrufen“, sagte er schließlich. Ben nickte seicht. Natürlich, Antti. Den hatte er wieder vollkommen vergessen. Er verfolgte, wie Veikko aus dem Zimmer ging. Dann stand er auf und blickte auf die Stadt. Er wusste immer noch nicht, ob das, was der Arzt nun gesagt hatte, etwas Positives war oder nicht. Eigentlich ja schon. Mikael lebte und hatte durchgehalten. Er kämpfte. Doch reichte das auch? War Mikael stark genug, um es wirklich zu schaffen? Die Augen des Arztes hatten nicht gerade Hoffnung ausgestrahlt. „Verdammt“, flüsterte er leise. „Wieso hast du auch nicht auf die Polizei warten können!“ Seine Hand ballte sich zur Faust und er spürte, wie die Wut die Überhand gewann. „Wieso hast du das getan!“, schrie er nun und die Faust knallte neben das Fenster gegen die Wand. Tränen bahnten sich ihren Weg und liefen seine Wangen herunter. „Du und deine blöden Alleingänge“, presste er hervor. Die Faust löste sich, doch die flache Hand blieb an der Wand rasten. „Scheiße, scheiße, scheiße.“


    „Noch lebt er.“
    Erschrocken wirbelte Ben herum und sah in ein blaues Augenpaar. Veikko war zurück. Er nickte schwer. „Natürlich“, antwortete er ohne Stimme. „Wie hat Antti es aufgefasst?“
    „Was denkst du?“ Veikko ging auf ihn zu und lehnte sich jetzt mit den Rücken gegen die Wand. „Er versucht den nächsten Flug zu bekommen.“
    Ben nickte und sah wieder aus dem Fenster. „Ich habe Angst“, gab er zu. „Angst, das er geht.“
    „Er schafft das.“
    „Woher nimmst du nur immer dieses Selbstvertrauen in das Gute?“
    Veikko lächelte. „Wenn man immer nur das schlechteste erwartet, dann tritt es auch ein. Mikael hat endlich etwas für das er kämpfen kann. Wäre es nicht dumm dann aufzugeben?“
    „Er war schon tot. Sein Herz hat nicht mehr geschlagen“, sagte Ben mit schwerer Stimme und atmete kurz tief durch, als die Bilder von vor einigen Stunden sich zurück in sein Gedächtnis kämpften.
    „Aber er ist es nicht mehr“, erklärte Veikko. „Sein Herz hat wieder begonnen zu schlagen. Er lebt!“


    Eva schluckte. als sie den Raum betrat. Sie ging langsam in Richtung Bett. Der Boden wurde ihr unter den Beinen weggezogen. Ihr Herz hämmerte, ihre Handflächen wurden feucht. Mikaels Anblick erschreckte sie. Blass und leblos lag er da. Die Schritte bis zu ihm kamen ihr wie eine Ewigkeit vor, doch schließlich hatte sie ihn erreicht. Nach langem zögern griff sie vorsichtig nach seiner Hand, ließ sie vor Schreck aber gleich wieder los. Er war eiskalt!
    Sie atmete tief durch und nahm seine Hand dann wieder in ihre. „Du schaffst das. Ich weiß es.“
    Ihr antwortete nur das Piepen des Monitors.
    „Was hast du nur da draußen gemacht?“ Eva hatte Mühe ihre Tränen zurückzuhalten, doch sie hatte sich vorgenommen, dass sie hier vor ihm nicht weinen würde. Sie presste ein Lächeln heraus. „Aber das spielt jetzt keine Rolle mehr. Wichtig ist, dass du hier bist.“
    Evas Augen scannten den Raum. Überall standen piepende und blinkende Geräte. Sie beobachtete, wie die Infusionen regelmäßig tropften, und hörte auf das Zischen der Beatmungsmaschine. Unter seiner Bettdecke krochen mehrere Schläuche und Kabel hervor. Blut sammelte sich in Plastikbeuteln, die unter dem Bett hingen. Die Maschinen schienen lebendiger als er. Erfüllten wie ein Uhrwerk ihre Aufgaben. Aufgaben, die der Körper ihres Mannes gerade nicht im Stande war zu leisten.
    Ihre Finger strichen sanft durch sein Haar und sie beobachte für einige Minuten, wie sich sein Brustkorb ich regelmäßigen Abständen hob und senkte. Sie kannte dieses Bild, war er doch schon einmal dem Tod so nahe gewesen, und doch war alles anders. Die Angst ihn zu verlieren schien größer. Die Luft in dem Zimmer stickiger und die Hoffnung geringer. Natürlich war ihr bewusst, dass er alles geben würde, damit er bei seiner Familie blieb, aber war das angesichts dieser schweren Verletzungen überhaupt möglich? War sein Körper für einen solchen Kampf stark genug? Die Verzweiflung nahm wieder Überhand und sie stand erneut den Tränen nahe. Eva beugte sich über ihn und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Ich liebe dich“, sagte sie sanft und drückte ein letztes Mal Mikaels Hand, ehe sie aus dem Zimmer ging. Als sie draußen war, sank sie an der Wand zu Boden und begann zu weinen. Sie meinte die Kälte seines Körpers immer noch an ihrer Hand zu spüren. „Bitte halte durch“, flüsterte sie leise. „Bitte!“

  • Astrid Hentschel redete wie ein Wasserfall, bevor Severin Lander oder Semir auch nur eine Frage stellen konnten. „Er war ein fürchterlicher Mann!“, schimpfte sie und verschränkte dann die Arme vor der Brust. „Er hat mich geschlagen!“
    Severin Lander sah Semir kurz an, stöhnte und setzte sich dann gegenüber von der Frau hin. Semir setzte sich neben den Hauptkommissar des Gewaltdezernates. „Beginnen wir doch ganz vorn Frau Hentschel“, sagte er freundlich. „Erst müssen wir ihre Personalien bestätigen und dann kommen wir zu der Tat.“
    Sie nickte und legte die Hände auf den Tisch. Semir sah, wie sie zitterten. Sie blickte sich im Raum um, während Severin die Fakten herunterlas. Immer wieder nickte sie. „Sie müssen mit Ja antworten“, erklärte Lander.
    „Oh natürlich Herr Kommissar“, beteuerte Astrid Hentschel.
    Als die Personalien abgehakt waren, ging Severin zu der Tatnacht über. „Gestern Nacht Frau Hentschel. Was ist da vorgefallen?“
    „Das wissen Sie doch bereits.“
    „Nein. Alles was wir wissen ist, dass sie am Mord ihres Mannes beteiligt sein müssen. Sie wollten flüchten, das Haus, wo man ihn ermorden ließ, gehörte Ihnen.“
    „Er war ein fürchterlicher Mann.“
    „Frau Hentschel“, fuhr Semir ungeduldig dazwischen. „Bitte erzählen Sie einfach von der Nacht.“
    „Mein Mann hatte mich wieder einmal geschlagen!“ Sie zog ihre Arme hoch und zeigte den Kommissaren die großen Hämatome. „Ich hatte solche Angst, dass er mich irgendwann einmal totschlägt. Ich bin zu Adam.“
    Severin Lander hob die Hand. „Wer ist Adam?“
    „Adam Brechler. Der Mann im Garten.“
    „Ihr Gärtner also?“
    Sie lächelte. „Nunja, so würde ich es nicht bezeichnen. Es war eine kleine Notlüge, als Sie das erste Mal aufgetaucht sind. Er arbeitete für meinen Mann. Falls jemand mal nicht zahlen wollte oder so. Ich und Adam, wir sind gute Freunde.“
    „Wo ist Ihr Freund jetzt?“, wollte Semir wissen.
    „Ich weiß es nicht. Wirklich.“
    „Wer waren die Männer, die bei ihm waren? Da waren doch noch zwei Männer.“
    „Freunde vom ihm“, antwortete Astrid Hentschel.
    „Wissen Sie die Namen?“, stellte Semir bereits die nächste Frage.
    „Ja.“
    Severin Lander schob ihr einen Zettel und einen Stift hin. „Bitte schreiben Sie sie uns auf.“
    „Natürlich.“ Sie griff nach dem Stift und notierte dann zwei Namen. Lander nahm den Zettel wieder entgegen. Er sah Semir an. Der Deutschtürke wusste sofort, was der Kollege wollte und nickte. „Ich werde hier weitermachen“, sagte er.
    Severin Lander stand auf und verließ den Verhörraum, während sich Semir wieder der Frau zuwandte. „Und Herr Brechler wollte sich dann darum kümmern?“
    „Ja.“
    „Wie genau sah dieses kümmern aus?“
    „Was denken Sie? Er sollte ihn wegschaffen!“
    „Warum das Haus?“
    „Es war eine Zwischenstation. Die Häuser direkt daneben sind alle leerstehend. Alte Villen, wo viel getan werden muss, wer will die schon?“
    Sie zupfte an einem goldenen Armband, dass sie ums rechte Handgelenk trug. „Es waren wohl nicht alle Villen leer“, entkam es Semir mit gereiztem Unterton.
    „Dafür dass der junge Mann verletzt wurde, kann ich nichts“, widersprach Astrid Hentschel sofort vehement. „Damit habe ich nichts zu tun!“
    „Sie haben den Mord in Auftrag gegeben.“
    „Aber nicht an dem Mann! Daran habe ich keine Schuld.“
    Semir atmete tief durch. „Frau Hentschel, aber dennoch haben sie Adam Brechler gedeckt. Diese Verletzung war doch offensichtlich.“
    „Er ist ein guter Freund. Wir alle machen Fehler.“
    „Fehler? Der Mann hat Familie. Zwei kleine Kinder und er wird einfach so über den Haufen geschossen!“
    Astrid Hentschel senkte den Blick und spielte mit dem Armband. Sie begann zu weinen. „Ich war einfach verzweifelt, Herr Kommissar. Ich wusste ja nicht, dass so etwas passieren würde.“
    „Sie können uns helfen. Sagen Sie uns, wo Brechler nun ist?“
    „Ich weiß es wirklich nicht“ beteuerte sie abermals. „Ich würde es Ihnen sagen. Ehrlich!“
    „Wieso hat er eine Polizeiuniform getragen?“
    Die Frau lächelte. „Was fällt beim Schmiere stehen denn am wenigsten auf? Ein Polizist natürlich …“


    Semir zog den Stuhl zurück und stand auf. Er nickte der Beamtin zu, die still in der Ecke des Raumes gestanden hatte, öffnete die Tür und schnaufte laut auf, als er den Verhörraum verlassen hatte und die Tür geschlossen war. Dann begab er sich in Richtung von Severin Landers Büro.
    Lander saß hinter seinem Schreibtisch und tippte eifrig auf seiner Computer-Tastatur. „Und hast du noch was herausgefunden?“
    Er schüttelte den Kopf. „Nichts, was uns hilft Brechler zu finden.“
    Der jüngere Kommissar lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich hätte nicht mit dieser dummen Idee kommen sollen.“
    „Es ist nicht deine Schuld. Die Idee war gut. Hätte Astrid Hentschel nicht geredet, dann hätten wir sie über die Reaktion von ihr und dem Gärtner bekommen.“
    „Aber nun ist der Kerl entkommen und wir haben keine Ahnung, wo wir suchen sollen.“ Lander fuhr mit der Hand durch seine Haare. „Ich habe vorsichtshalber Beamte zu allen Wohnungen geschickt, wo er sich aufhalten könnte. Aber ich glaube nicht, dass er so dumm sein wird.“
    „Nein, das denke ich auch. Wir brauchen eine Handyortung.“
    Lander nickte. „Habe ich schon beantragt. Dauert aber sicherlich noch, bis es durch ist.“
    Semir holte sein Handy aus der Tasche und sah auf den Bildschirm. Ben hatte sich immer noch nicht gemeldet, dabei war es doch inzwischen später Nachmittag. Solange konnten sie doch nicht operieren.
    „Du hast immer noch nichts gehört?“, fragte Severin Lander.
    Semir schüttelte den Kopf. „Das ist sicher kein schlechtes Zeichen. Dein Freund hat es vielleicht nur vergessen. Ich kann mich im Krankenhaus erkundigen, wenn du magst.“
    „Nein lass nur Severin. Ich werde ihn gleich anrufen … auch über die neuen Informationen in Stand setzen.“
    Semir erhob sich. „Du informierst mich, wenn du was Neues hast?“
    „Natürlich.“

  • Es war eine stille Rückfahrt zur Hansen-Villa gewesen. Ben und Eva hingen jeweils ihren eigenen Gedanken nach und so hatten sie auf dem Weg vom Krankenhaus hierher nur wenige Worte gewechselt. Als sie in das Haus kamen, war es ganz still. Als sie in das Wohnzimmer traten, stand Oskari bereits in der Mitte des Raumes. Seine blauen Augen starrten sie an. „Wann darf ich zu Papa?!“, stellte der Junge schließlich die entscheidende Frage.
    Eva versuchte zu lächeln. „Noch nicht mein Schatz.“
    „Aber ich will!“
    Die blonde Frau kniete sich zu ihrem Sohn herunter. „Er ist schlimm verletzt Oskari und die Ärzte, sie haben Papa jetzt was gegeben, damit er schläft und die Schmerzen nicht so spürt.“ Sie legte ihre Hand auf seine Schulter. „Und es gibt so eine dumme Regel, dass Kinder dort nicht hindürfen.“
    „Aber, Mama“, protestierte Oskari leise.
    „Es geht nicht, Schatz“, wiederholte Eva und nun konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten. Sie drückte den Fünfjährigen an sich und begann zu schluchzen. „Es tut mir so leid.“
    „Mama, nicht weinen!“ Oskari streckte seine Arme aus, um sie um seine Mutter zu legen.
    „Manchmal muss Mama weinen.“ Sie küsste ihn auf die Stirn. „Manchmal müssen wir alle weinen, wenn wir traurig sind.“
    Ben spürte einen dicken Kloß im Hals, als er die beiden beobachtete. Eva war vollkommen am Ende, das wusste er und doch versuchte sie irgendwie stark zu sein für ihre Kinder. Leise schlich er aus dem Wohnzimmer und ging in die Küche. Er griff nach seinem Telefon und rief Semir an.
    „Wie geht es ihm? … Ich wollte dich gerade anrufen“, wollte sein Freund sofort wissen und da fiel Ben wieder ein, dass er in aller Hektik vergessen hatte Semir über alles zu informieren.
    „Er hat die OP überstanden, aber es ist immer noch kritisch. Sein Kreislauf ist ... es sieht nicht gut aus.“
    „Ich verstehe“, kam es mit bedrückter Stimme vom anderen Ende der Leitung. „Er wird es sicher packen, Ben.“
    „Wer macht denn so was? Wer schießt so oft auf einen Menschen?“ Nun brachen auch bei dem braunhaarigen Kommissar alle Dämme. Er ließ sich auf einen Stuhl am Küchentisch sinken und schüttelte den Kopf. „Ich-ich habe solche Angst, dass er es nicht packt … ich will ihn nicht verlieren … ich … Semir, wir haben die Stufe unser Freundschaft erreicht, die ich mir immer gewünscht habe … er … Mikael … er kann doch nicht so gehen!“, schluchze er hervor. „So nicht.“
    „Ben. Er hat das damals mit der Kopfverletzung überstanden. Er wird auch das hier durchstehen.“
    „Ich pack das nicht Semir … ich schaffe das einfach nicht.“
    „Doch, du wirst das schaffen Ben. Und Mikael auch.“
    Ben holte tief Luft, versuchte die Tränen herunterzuschlucken. „Hast du schon was? Hinweise auf den Typen?“
    „Wir sollten das nicht am Telefon besprechen. Ich komme später vorbei, ja?“
    „Komm zur Villa. Ich werde hier bei Eva bleiben und den Kinder …“ Wieder schüttelte Ben ungläubig den Kopf. „Oh Gott. Die Kinder …“
    Semir versprach zu kommen und Ben legte auf. Er sah noch für einige Zeit das Telefon in seiner Hand an, ehe er es schließlich auf den Tisch legte und dann wieder in Richtung Wohnzimmer ging.
    Eva und Oskari saßen inzwischen auf dem Sofa und sie drückte ihren Sohn an sich, während sie ihre Hüfte umschlang. Viivi saß bei Anna Hansen auf dem Schoß, die ihn mit müden Augen aus dem Sessel ansah.
    „Ich habe Semir angerufen. Er wird später vorbeikommen“, sagte er und setzte sich dann auf einen Stuhl in der Ecke des Raumes. Er fühlte sich verloren in der Situation, wusste nicht was er sagen konnte, wo die Kinder dabei waren. Er sah stumm aus dem Fenster in die Winterlandschaft des Gartens. Ein Schneemann stand in der Mitte der Rasenfläche. Ben wusste, dass Mikael ihn vor zwei Tagen gemeinsam mit Oskari gebaut hatte.
    „Vor ein paar Monaten wollte ich ihn verlassen …“
    Der junge Kommissar löste seinen Blick von dem Garten uns sah zu Eva.
    „… ich konnte einfach nicht mehr“, fuhr sie leise fort. „Ich dachte, dass ich nicht die Kraft hätte … ich meine, es gab so viele Monate, wo Mikael fröhlich war und dann, von einem auf den anderen Tag, da war da nur diese Dunkelheit in ihm.“
    „Eva, du musst dich für den Gedanken nicht entschuldigen“, sagte Ben behutsam, doch sie schüttelte den Kopf. „Und jetzt? Jetzt, wo ich weiß, dass er der Mann ist, den ich will und wo er so kämpft, da … da soll es das gewesen sein? Einfach so?“
    „Er schafft das. Ihr habt noch so viele Jahre vor euch. Gute Jahre.“


    Es war 18:00 Uhr als Semir an der Tür klingelte. Ben machte ihn auf und führte ihn in die Küche, wo Eva bereits wartete. Sie hielt eine Teetasse festumklammert und sah ihn mit müden Augen an. Auch Semir und Ben setzten sich jetzt. „Also Partner, was hast du?“, frage Ben neugierig nach.
    „Ich arbeitete mit einem Kommissar vom Gewaltdezernat zusammen. Severin Lander und durch einige Spuren am Tatort sind wir dem, der das war ziemlich schnell auf die Schliche gekommen.“
    Ben entging der vorsichtige Ton nicht. „Aber?“
    „Er konnte uns entwischen.“
    „Das ist nicht dein ernst?“
    „Es tut mir leid Ben.“
    Der Jüngere sprang wütend auf. „Der Typ ist also weiter da draußen!?“
    „Ben, du solltest dich beruhigen“, sagte Semir vorsichtig.
    „Ja? Mein Freund ist …“ Ben schafft es nicht die Worte auszusprechen und setzte sich wieder hin. „Du bekommst ihn, oder? Er wird nicht untertauchen können?“
    „Lander hat sein Team überall verteilt. Die Fahndung läuft mit Hochdruck. Er wird nicht entkommen können.“
    „Du meinst nicht noch einmal“, korrigierte Ben ihn.
    Semir sah seinem Partner in die Augen. All die Verzweiflung schien sich darin widerzuspiegeln und er nickte nur.
    „Aber wir haben den Auftraggeber des Ganzen … auch das ist schon einmal was, oder?“
    „Ja natürlich …“ Ben seufzte. „Wieso hat er nur einen Alleingang gemacht.“
    „Wir können inzwischen davon ausgehen, dass Mikael nichts unternehmen wollte“, erklärte Semir. „Die Rekonstruktion, die … sie spricht vielmehr dafür, dass er tatsächlich nur abgewartet hat.“
    „Was?“ Ben versagte die Stimme. „Wie meinst du das?“
    „Wir können das natürlich nicht mit Sicherheit sagen, aber …“
    „Er hat nur gewartet … aber, wieso tut dann jemand so etwas?“
    „Wir werden es herausfinden“, versprach Semir. „Er wird nicht davonkommen.“




    *



    Jennys Lippen berührten die Schulter von Veikko. Sanft fuhr ihre Hand durch seine Haare. Ihr Freund sah aus dem Fenster in die dunkle Nacht. Er war still, ungewöhnlich schweigsam. „Das er die OP überlebt hat, ist ein gutes Zeichen“, erklärte die junge Polizistin mit Nachdruck.
    „Mhm.“
    Sie drehte ihn sanft zu sich, sah in seine Augen. „Wo ist der positive Veikko?“, fragte sie.
    „Ich weiß nicht, verloren gegangen auf dem Weg vom Krankenhaus hierher.“
    „Vielleicht sollten wir Suchzettel aushängen.“
    „Das ist nicht witzig“, antwortete Veikko und stand dann auf. Er ging in die Küche und holte ein Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Dann setzte er sich auf das Sofa, öffnete die Flasche und nahm einen großen Schluck. „Es ist komisch … ich weiß nicht, was in meinem Kopf passiert ist.“
    Jenny war jetzt ebenfalls zum Sofa gegangen und setze sich neben Veikko. „Wie meinst du das?“
    „Na, auf dem Weg hierher.“
    „Ja?“ Sie griff nach seiner Hand, umspielte seine Finger mit ihren.
    „Plötzlich war das dieser Gedanke. Das es das jetzt sein könnte … also für Mikael und dann …“ Er stoppte und schüttelte den Kopf.
    „Was war dann?“ Sie drückte seine Hand fester, lehnte den Kopf an seine Schulter.
    „Dann, dann stellst du dir vor, was sich alles ändern würde ohne diesen einen Menschen …“ Veikko seufzte. „Oder was sich geändert hätte, wenn es diesen einen Menschen überhaupt nicht gegeben hätte.“
    Jenny antwortete nicht auf die These ihres Freundes. Sie blieb stumm.
    „Ich meine … ach ich weiß auch nicht“, kam es von der Seite.
    Die junge Frau sah aus dem Fenster. „Du wärst noch immer bei der KTU“, sagte sie nach einer Weile. „Würdest dich verstecken vor deiner Angst.“
    „Ja“, bestätigte Veikko. „Zum Beispiel.“
    Er griff wieder nach der Flasche, trank erneut etwas. „Aber auch, was er hinterlassen würde. Er ist sich dessen sicherlich nicht bewusst. Ich glaube nicht, dass er weiß, was für einen Riss er hinterlassen würde. Bei Eva, bei Antti … vielleicht sogar bei Kasper. Wir sind doch eine Familie … gewissermaßen.“
    „Er ist ein toller Mensch, wenn man ihn näher kennt“, antwortete Jenny. Ihre linke Hand umgriff die Bierflasche von Veikko und sie führte sie nun ebenfalls an ihre Lippen. Sie dachte daran, wie er ihr vor einigen Monaten Mut gemacht hatte, als sie vor einer schweren Entscheidung stand. Man hatte ihr eine Stelle angeboten, in einer anderen Dienststelle, aber sie hatte sich nicht Wohl dabei gefühlt, alles hinter sich zu lassen. Bonrath und auch Semir und Ben waren doch die Menschen, denen sie vertraute. Sie hatte das Angebot abgelehnt, sich aber noch Wochen darüber den Kopf zerbrochen, ob sie nicht doch die Abteilung hätte wechseln können. Mikael hatte ihr einen Schubs in die richtige Richtung gegeben, ihr bestätigt, dass es vor allem bei der Polizei Dinge gibt, die wichtiger sind, als die Karriere. Man muss sich doch auf die Leute verlassen können, die um einen waren, hatte er gesagt. Und sie verließ sich auf die Leute, die um sie waren. Außerdem hatte er ihr bestätigt, dass sie auch bei der PAST eine Zukunft hatte, ihr die Chance auf das Seminar vermittelt, dass eigentlich nur für Kommissare gedacht war.
    Veikko atmete hörbar ein und aus. Dann stand er auf. Wie ein nervöses Tier lief er auf und ab, ehe er sich wieder neben Jenny setzte. Er zappelte weiter nervös mit den Beinen. „Zur Hölle“, schimpfte er. „Ich hätte ihm nicht sagen sollen, dass es dir richtige Entscheidung ist seiner Cousine mit dem Haus zu helfen!“
    „Es war die richtige Entscheidung“, sagte Jenny leise.
    „Ja? Er wurde angeschossen, falls es dir entgangen ist!“
    „Aber das hatte doch nichts mit dieser Entscheidung zu tun“, widersprach die junge Polizistin.
    Veikko lachte. „Nicht? Hätte er sie nicht getroffen, dann wäre es nicht passiert, dass muss du doch auch verstehen!“
    „Dann aber hätte Mikael die Dämonen in sich nicht besiegt, Veikko!“, widersprach sie. „Es war Zufall! Es war verdammt noch einmal Zufall, dass Mikael Mitten in der Nacht wach war. Das hatte nichts mit seiner Entscheidung zu tun.“ Sie griff nach Veikkos Schultern, zwang ihn dazu ihn anzusehen. „Er war kein ausgewähltes Opfer! Er war nur durch Zufall da!“
    Veikko sah auf die Erde, seufzte. „Ja. Du hast ja Recht. Es ist nur alles gerade so fürchterlich unwirklich.“
    „Alles wird wieder in Ordnung kommen“, machte Jenny ihm Mut und gab ihn einen Kuss auf die Lippen. „Alles wird sich zum Guten wenden. Du darfst nur nicht deine Positivität verlieren.“

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  • Als Ben am nächsten Morgen in die Küche der Hansen-Villa kam, war Eva gerade dabei den Kindern Frühstück zu machen. Sie sah ihn an, lächelte und Ben konnte sehen, dass sie in der Nacht ebenfalls keinen Schlaf gefunden hatte. Sie war blass, dicke Augenringe zierten ihr Erscheinungsbild.
    „Ich werde gleich in die Klinik fahren“, sagte sie, während sie Oskari eine Schüssel mit Müsli hinstellte. Dann drehte sie sich wieder weg und schmierte ein Brot. Marmelade. Also war es für Viivi, vermutete Ben. Sie aß immer Marmelade auf ihrem Brot. Er nickte und setzte sich an den Tisch. „Ich werde dann heute Nachmittag fahren“, erklärte er.
    Oskari schob seine Schüssel ein Stück von sich weg. „Ich habe keinen Hunger!“, protestierte der Fünfjährige.
    „Oskari, bitte. Du musst doch etwas essen.“
    „Ich will zu Papa!“
    Das Messer, welches Eva in der Hand hielt, knallte auf die Arbeitsplatte. „Ich habe dir doch gesagt, dass es nicht geht!“, schrie sie wütend und der Junge zuckte zusammen, ebenso Viivi, die Gegenüber von Ben saß. Eva atmete tief durch, den Tränen sichtlich nahe. „Es tut mir leid, ich wollte nicht schreien … ich weiß, wie sehr du zu Papa willst.“
    Der Junge nickte nur und rührte mit dem Löffel in seiner Schüssel herum, ohne aber wirklich etwas von dem Müsli zu essen. „Papa würde nicht wollen, dass du wegen ihm auf das leckere Müsli verzichtest“, brach Ben die Stille.
    Oskari sah ihn an. „Er ist ja nicht da, um mich zu ermahnen“, schimpfte er und blickte dann starr in seine Schüssel.
    Ben seufzte und verfolgte, wie Eva Viivi ihr Brot hinstellte. Fein säuberlich in kleine Häppchen geschnitten. Das Mädchen hatte kein Wort gesagt, seit Ben im Raum war. Überhaupt sprach sie nicht wirklich viel. Sie gleich ihrem Vater ungemein und schien ihm er der stille Beobachter zu sein.
    Eva setzte sich neben Viivi. Sie füllte ihre Tasse mit Kaffee und schüttete auch ihm etwas ein. „Meine Nerven liegen blank. Es tut mir leid“, sagte sie leise und sah beschämt auf die Tasse.
    Ben griff nach ihrer Hand und sie hob den Kopf wieder ein Stück. „Es ist normal, dass man mal die Nerven verliert.“
    „Ich habe das Gefühl, dass ich das alles nicht schaffe.“
    „Wir schaffen das. Gemeinsam“, widersprach Ben ihr.


    „Hast du schon etwas von Antti gehört?“, erkundigte sich Ben nach einer Weile. Eigentlich hätte er doch schon in Deutschland sein müssen.
    Evas Blick verfinsterte sich. „Er kann noch nicht kommen. Ein Sturm verhindert, dass die Flugzeuge abheben können.“
    „Oh.“
    „Er hofft, dass sie am Mittag wieder fliegen“, sagte Eva nun.
    „Hoffentlich wird es was.“ Ben nahm einen Schluck von dem Kaffee und sah aus dem Fenster. Es hatte wieder begonnen zu schneien. Schnee türmte sich auf der Fensterbank. „Wird Veikko mitkommen ins Krankenhaus?“
    Eva schüttelte den Kopf. „Ich wollte heute morgen alleine hin.“
    „Verständlich.“ Ein Vogel landete vor dem Fenster und wühlte in dem Schnee, pickte immer wieder darin rum.
    „Kümmerst du dich um die Kinder? Anna hat einen wichtigen Termin beim Amt.“
    Er löste die Augen von dem Vogel und sah zu Eva. „Ja. Sicher, kein Problem.“





    *



    Jenny zupfte sich ihren Zopf zurecht und kontrollierte das Ergebnis kurz im Spiegel. Danach ging sie ins Schlafzimmer. Veikko lag auf ihrem Bett. Er hatte die rechte Hand hinter dem Kopf angewinkelt und sah an die Decke – schien vertieft in seine Gedanken. „Ich muss zum Dienst, ja?“
    Er nickte nur. Sie lächelte und setzte sich dann auf die Bettkante. Ihre Hand fuhr über seine Brust. Sie spürte seinen gleichmäßigen Atem unter der Handfläche. „Wirst du später ins Krankenhaus fahren?“
    „Ich weiß nicht. Eva möchte heute Morgen erst einmal alleine hin. Ich will sie nicht stören.“
    „Sicher.“
    Er richtete sich etwas aus. „Ich wünschte, dass ich irgendwas zu tun hätte. Egal was, höchstens es lenkt mich von dieser Scheiße ab.“
    Sie gab ihm einen Kuss, fuhr sanft durch seine Haare und da kam ihr ein Gedanke. „Komm einfach mit.“
    „Was soll ich auf der Dienststelle? Dort die Däumchen drehen?“
    Jenny schüttelte den Kopf. „Elektronische Spuren finden“, sagte sie.
    „Wie?“ Er sah sie fragend an.
    „Der Typ, der flüchten konnte. Seine Spuren finden.“
    „Bis der Beschluss durch ist, ist er doch eh über alle Berge“, murmelte der Finne ernüchternd.
    „Der Beschluss, ja. Aber du bist ja auch nicht offiziell beteiligt, oder?“
    Veikkos rechter Mundwinkel zog sich nach oben. „Worauf willst du hinaus?“, bohrte er mit einem spitzbübischen Unterton nach.
    Ihre Hand fuhr seine Brust weiter nach oben durch seine Haare. Sie gab ihm einen Kuss. „Ich denke, dass ich mit einem der besten Computerexperten bekannt bin.“ Sie küsste ihn wieder „Und ich rede nicht von Hartmut.“
    Sie wollte sich von ihm lösen, doch Veikko zog sie wieder zurück und diesmal küsste er sie. „Du hast Recht. Ich werde den Kerl finden. Schmeiß mich bei Hartmut raus!“


    Er sprang aus dem Bett und suchte eilig einige Sachen zusammen, dann brachen die zwei gemeinsam auf und Jenny machte noch einen kleinen Umweg bei Hartmut, ehe sie selbst zur Dienststelle fuhr und Semir über ihr Vorhaben informierte. Der Hauptkommissar lehnte sich in seinem Schreibtischstuhl zurück und schüttelte den Kopf, lächelte aber dabei. „Euch ist bewusst, dass das illegal ist?“
    „Am Ende ist es nur ein anonymer Tipp aus der Öffentlichkeit“, antwortete Jenny ihm. Sie lehnte sich gegen die Zimmerwand und stopfte die Hände in die Gesäßtaschen. „Veikko hat seinen Laptop dabei. Es wird keine Spur zu Hartmut führen.“
    „Weißt du Fräulein, falls ich irgendwann wieder einen Partnerwechsel verkraften muss, dann werde ich dich nehmen! Deine Idee ist klasse.“
    Sie lachte verlegen. „Ben wird so schnell nicht gehen!“ Jenny löste sich von der Wand und wollte das Büro wieder verlassen, als Semirs Stimme erneut ertönte. „Die Stelle beim Mord. Wieso hast du abgelehnt?“
    Die junge Polizistin sah ihn mit großen Augen an.
    „Woher ich das weiß?“, deutete Semir ihre Überraschung.
    „Ja.“
    „Auch ich habe Kontakte zu bestimmten Leuten.“
    Sie nickte. „Mikael hat es dir also erzählt?“
    Nun war es Semir der überrascht war. „Mikael? Ich rede vom Hauptkommissar beim Mord.“
    „Oh.“ Jenny spielte mit ihrem Zopf. „Na dann. Dann solltest du vergessen, was ich gesagt habe.“
    „Nana, so schnell kommst du mir nicht davon. Was hat Mikael damit zu tun?“
    Sie seufzte und setzte sich auf Bens Stuhl. „Weißt du, ich hatte ihn vor ein paar Wochen gefragt, was ich machen soll. Er sagte, dass ich da bleiben sollte, wo ich vertrauen zu den Menschen habe.“ Sie lehnte sich zurück und drehte den Stuhl hin und her. „Und noch andere Dinge. Ich denke, dass da was Wahres dran war. Außerdem dachte ich, dass auch noch eine Zusage wegen dem Austauschprogramm kommt.“
    Semir lächelte verständnisvoll. „Noch kann ja was kommen.“
    Sie schüttelte den Kopf. „So viel ich verstanden habe, hat Veikko mitbekommen, dass man kein Liebenspaar haben will.“
    Jenny stand wieder auf. „Naja. Kann man nun auch nichts mehr daran ändern.“
    „Du könntest Eva um Hilfe bitten, wenn du diese Stelle nicht nur willst, um bei Veikko zu sein“, erklärte Semir ihr.
    „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas“, antwortete Jenny. „Und vielleicht ist es auch wirklich besser, wenn wir erst einmal die Situation der Fernbeziehung festigen und damit klarkommen.“ Sie lächelte. „Ich sage dir Bescheid, sobald Veikko was hat.“ Dann verließ sie das Büro.

  • Alles schien gleich, nichts hatte sich verändert. Er lag genauso leblos und blass in dem Bett, wie an dem Tag zuvor. Es war das gleiche rhythmische Piepen, das durch den Raum hallte. Dasselbe regelmäßige Schnaufen des Blasebalgs in der Beatmungsmaschine. Derselbe unangenehme Geruch nach Krankheit.
    Eva trat heran und küsste ihn auf die Stirn. „Hallo Schatz“, flüsterte sie leise. Dann holte sie einen Stuhl und trug ihn ans Bett. Sie setzte sich und griff nach seiner Hand. Sie war genauso kalt wie am Vortag. „Antti wird sich verspäten. Es herrscht ein fürchterlicher Sturm in Helsinki.“ Sie zog mit der anderen Hand eine Strähne aus seinem Gesicht. Ihre Hand blieb auf seiner Wange rasten. Ihre Finger strichen zärtlich darüber. Dann zog sie sie zurück und legte sie auf ihr Bein.
    „Ben kommt heute Nachmittag vorbei, ja? Er passt gerade auf die Kinder auf … sie vermissen dich.“ Ihr Händedruck wurde fester und sie kämpfte mit den Tränen. Wie sehr wünschte sie sich, dass er die Augen öffnete und mit ihr reden würde. Ihr sagen könnte, dass alles in Ordnung kommen würde. Die Welt konnte ihm doch nicht das nehmen, was sie gerade erst wiedergefunden hatte. Es war etwas mehr als ein halbes Jahr vergangen, da hätte sie sich fast von ihm getrennt. Nicht, weil sie ihn nicht mehr liebte, sondern weil sie es einfach nicht mehr konnte. Er war nur noch wütend und depressiv gewesen. Hasste sich, hasste diese Welt. Sie hätte das getan, was für ihre Kinder am Besten gewesen war. So hart es nachhinein klang. Doch er hatte sich zusammengerissen, hatte das wiedergefunden, was ihm vor vielen Jahren verloren gegangen schien. Die Leichtigkeit und die Freude am Leben. Und jetzt wollte man ihm dieses Leben nehmen? Sie schüttelte den Kopf. Nein, das war nicht gerecht.
    „Papa hat angerufen“, erzählte sie nun. „Er hat mit dem Direktor der Akademie gesprochen und einen guten Job für dich ausgehandelt. Du wirst sehen, du wirst mit ihm gut klar kommen. Er ist aus Rovaniemi und schien begeistert über das, was Papa ihm erzählt hat. Es sind nur noch Kleinigkeiten zu klären.“
    Eva versuchte sich vorzustellen, wie Mikael auf das Gesagte reagierte. Vermutlich würde er es mit einem monotonen Brummen zur Kenntnis nehmen. Sie lächelte. Nein, ganz bestimmt würde er das. „Du solltest dich dafür bei ihm bedanken“, erklärte sie. „Es ist eine wirklich gute Chance.“
    Wieder malte sie sich seine Antwort aus. „Jaja, natürlich werde ich das“, hallte seine raue Stimme in ihren Ohren wieder.
    Sie strich sanft über seinen Handrücken. „Bitte halte durch, Schatz. Bitte“, flüsterte sie und nun flossen abermals die Tränen. Das Gespräch mit dem Arzt, war nicht so verlaufen, wie sie es gehofft hatte. Die Werte waren weiterhin schlecht. Auch hatte er Fieber bekommen. Zwar nur leichtes, aber sie machte sich dennoch Sorgen.
    Eva hatte Angst ihn alleine zulassen, gleichzeitig fühlte sie sich aber von diesem Raum erdrückt. „Du wirst nicht gehen, wenn ich nicht hier bin, oder?“ Sie beugte sich hervor und küsste ihn auf die Wange. „Das würdest du nicht tun.“
    Sie legte die freie Hand auf seinen Brustkorb, der sich sanft hob und senkte. Sie spürte seinen Herzschlag. Alles, was sie wollte, war, dass er zurückkommen würde. Sie nicht alleine ließ. So egoistisch dieser Gedanke auch sein mag. Es vergingen einige Minuten, dann kam eine junge Krankenschwester herein. Eva verfolgte, wie sie die Blutkonserve auswechselte und die Geräte kontrollierte, ehe sie wieder aus dem Zimmer verschwand. „Wenn Ben sie sieht, dann kommt er sicherlich noch viel öfter zu Besuch“, sagte sie zu Mikael. Sie fiel genau in das Beuteschema des braunhaarigen Kommissars. Sie löste ihre Hand vorsichtig aus seiner. Sie stand auf und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Bis bald“, flüstere sie und stellte dann den Stuhl zurück und verließ das Zimmer. Sie schaffte es nicht länger bei ihm zu sein. Zu erdrückend war das alles für sie.



    *


    Um ihn herum herrschte das vollkommene Chaos. Leute drängelten herum, schimpften und diskutierten mit Flughafenangestellten. Der Lärmpegel war unglaublich. So laut hatte er es sicherlich noch nie hier erlebt.
    Er würde gerne ebenfalls seine Wut über die Situation herausschreien, doch er hatte dazu nicht die Kraft. Antti Heikkinen saß gegen einen Betonpfeiler gelehnt und sah hinaus. Es würde so schnell kein Flugzeug abheben. Ein Sturm zog über die Hauptstadt, wirbelte den Schnee auf der Straße vor dem Flughafen hoch in die Luft.
    „Vielleicht am Mittag“, hatte die junge Frau an der Information ihm gesagt. Er winkelte die Beine an, bettete die Ellenbogen auf seinen Knien und anschließend den Kopf in seine Hände.
    „Verfluchter Winter“, schimpfte er. Er hätte gestern noch die Fähre nehmen sollen. Dann wäre er schon fast in Kiel und von dort waren es nur noch wenige Stunden bis Köln. Seine Familie brauchte ihn doch jetzt. Antti sah schnell ein, dass seine Gedanken vollkommen wahnwitzig waren. Vermutlich war die Fähre nicht einmal losgefahren.
    „Sie haben uns die Garantie gegeben!“, schrie eine hysterische Frau in seiner Nähe. Er sah herüber und beobachtete wie ein Mann sie etwas von dem Schalter wegzog und versuchte sie zu beruhigen. Vermutlich was das ihr Ehemann oder Freund.
    Ja, man hatte auch ihm diese Garantie gegeben. Man hatte ihm gesagt, dass der Sturm nicht so schlimm werden würde und die Flugzeuge abheben würden. Doch dazu war es nicht gekommen, als er angekommen war, tummelten sich auf den Anzeigetafeln bereits die annullierten Flüge. Verdammte Scheiße, dachte er. Wieso hatte man ihn nicht früher informiert, dass Mikael schwer verletzt war? Er hatte es locker vor diesem Sturm bis Köln geschafft. Er raufte sich mit gespreizten Fingern durch die Haare. Es war unfair Ben oder Eva einen Vorwurf zu machen. Sie waren sicherlich nervlich am Ende gewesen, hatten es nicht geschafft, ihm diese schwere Nachricht zu übermitteln.
    „Antti. Du solltest nach Hause gehen.“
    Er blickte nach oben. Kasper stand vor ihm.
    „Ich muss doch warten auf den Flieger“, murmelte er leise.
    „Das kannst du auch von zu Hause.“ Kasper kniete sich vor ihn und griff nach seinem Unterarm. „Ein Freund vom metrologischen Institut sagt, dass vor heute Abend nichts mehr fliegen wird.“
    Er nickte und stand dann auf. Kasper führte ihn durch die Masse von Leuten in Richtung Tiefgarage zu dessen Wagen. Er öffnete die Verrieglung und Antti setzte sich auf den Beifahrersitz. Wenig später setzte sich Kasper nehmen ihn. „Ich habe vorhin mit Eva gesprochen, sie war gerade bei Mikael.“
    Antti nickte und sah aus dem Fenster.
    „Er ist tief sediert, Antti. Er würde sicherlich nicht einmal merken, ob du dort bist.“
    „Jaja.“
    Kasper legte die Hand auf die Schulter seines Vorgesetzten. „Du wirst ihn nicht verlieren. Ja?“
    Antti schloss die Augen und atmete tief durch. „Fahr zum Präsidium. Ich kann jetzt nicht alleine zu Hause sitzen. Ich muss etwas zu tun haben.“
    „Aber …“
    „Nichts aber. Irgendwas, egal was es ist!“
    Kasper erwähnte nichts darauf und steckte den Schlüssel in das Zündschloss, dann startete er den Wagen und fuhr in Richtung Präsidium. Antti hatte Recht, die Arbeit lenkte ungemein von dem ab, was gerade tausende Kilometer von ihnen geschah.

  • Die Tür zu Semirs Büro wurde aufgerissen und Jenny kam hereingestürmt. „Wir haben ihn!“
    „Adam Brechler?“
    „Ja. Veikko und Hartmut haben ihn orten können! Einige Kilometer außerhalb von Köln auf einem verlassen Gelände.“
    Semir griff nach seiner Jacke. Sie hatten keine Zeit zu verlieren, wenn sie den Typen finden wollten. Dieses Mal würde er ihnen nicht entkommen können. Schnell schnappte er sich noch den Schlüssel und hechtete dann aus dem Büro. „Komm mit!“, rief er noch Jenny zu und die junge Polizisten folgte ihm eilig.
    „Du willst mich dabei haben?“, fragte sie.
    „Warum nicht? Und nun hopp, wir haben keine Zeit um hier herumzuquatschen!“
    Sie nickte eifrig und folgte Semir zu dem silbernen BMW. Der Deutschtürke hatte den Motor bereits angeworfen, als sie sich auf dem Beifahrersitz setzte.
    „Schick mit die Daten auf’s Navi. Und dann ruf Severin Lander an. Wir treffen ihn dort.“
    Sie nickte wieder und erfüllte die Aufgaben, die ihr Semir aufgetragen hatte.
    Knapp eine halbe Stunde später brachte Semir den BMW zum Stehen. Die beiden Insassen sahen auf eine große Fabrikhalle. „Hat er sich in der letzten halben Stunde bewegt?“, fragte Semir.
    „Nein. Er ist da noch drin“, antwortete Jenny. „Sollen wir reingehen.“
    „Wir warten noch auf Lander. Er wird sicher gleich kommen.“
    Die junge Polizistin nickte und sah wieder mit starrem Blick auf das leere Fabrikgebäude. Dann kam eine Gestalt heraus. „Ist er das?“, fragte sie.
    „Ja.“ Semirs linke Hand griff nach dem Türöffner. „Wir gehen raus. Wir können nicht zulassen, dass er vielleicht entkommt.“
    Jenny nickte. Sie öffneten die Türen. Sie legte die Hand fest um ihre Waffe und öffnete den Holster. Der Mann sah auf, erstarrte in seiner Bewegung.
    „Herr Brechler. Wir wissen alles. Es bringt nichts, wenn sie wieder fliehen“, rief Semir.
    Er erhielt keine Antwort, stattdessen setzte sich der Kerl in Bewegung und rannte zurück in die Fabrikhalle. „Verdammt!“ Semir hetzte hinterher und Jenny folgte ihm.
    Als sie angekommen waren und Brechler nirgends sehen konnten, zog Semir die Waffe aus dem Holster. Er sah Jenny an. „Ich rechts, du links. Und bitte pass auf dich auf.“
    „Ich bin keine Anfängerin“, erwiderte sie nur und zog nun ebenfalls die Pistole und begab sich vorsichtig und bedacht in die Richtung, die ihr Semir aufgetragen hatte. Angestrengt horchte sie in die Dunkelheit auf ein Geräusch, das ihr sagte, wo er war. Aber sie hörte nur ihr Herz, das wild gegen ihre Brust schlug. Sie spürte, wie ihre Hände zitterten. Sie versuchte ihre Atmung zu beruhigen. Das hier war ein Einsatz wie jeder andere, versuchte sie sich einzureden, doch sie wusste, dass dem nicht so war. Er war viel persönlicher.
    Aus einem Raum drang ein Geräusch an ihr Ohr und sie wirbelte herum. Der Mann stand Mitten in dem kleinen leeren Zimmer. Ein armlanges Eisenrohr in der Hand. „Hier bin ich.“ Er lächelte schief. „Und was willst du nun tun?“
    „Sie festnehmen!“ Sie hielt die Waffe fester in ihren Händen und richtete sie auf Brechler. „Sie haben keine Chance!“
    „Ach nein?“
    Er schleuderte die Eisenstange, wuchtig und zielgenau. Sie schoss, verfehlte ihn allerdings, und dann knallte die Stange gegen ihre Schulter. Der Schmerz zuckte durch ihren Arm und beinahe hätte sie die Waffe losgelassen. Dennoch war sie für einen Moment unkonzentriert und musst sich erst wieder fangen. Der Mann hechtete nach vorne und schlug ihr die Waffe aus der Hand, die über den Betonboden rutschte. Soweit, dass sie unmöglich erreichen konnte. Dann schleuderte er sie rücklings auf den Boden. Sie versuchte sich zu wehren, knallte ihm ihr Bein gegen das Knie, doch er lächelte nur. Er drückte ihr die Eisenstange an den Hals. Sie bekam keine Luft mehr. Panik stieg in ihr auf. Ihr Herz begann schneller zu schlagen. „Du willst mich also festnehmen? Du bist noch lustiger, als der Typ vor dem Haus.“ Er lachte. „Machen Sie keinen Alleingang“, äffte er in einer höheren Stimmlage.
    Die Panik in ihrem Körper wurde von Wut verdrängt. Unglaublicher Wut! Sie sammelte noch einmal all ihre Kräfte und rammte ihm dann ihr Knie in die Genitalien. Für einen winzigen Augenblick wurde sein Druck um die Stange geringer und Jenny gelang es ihm die Stange aus den Händen zu reißen. Sie rappelte sich auf. Für einen Moment tanzten Sterne vor ihren Augen, ihr Sichtfeld verzog sich. Fast blind schlug sie die Eisenstange in die Richtung, wo sie seinen Kopf vermutete. Doch die Stange erreichte ihr Ziel nicht. Brechler griff danach und hielt den Schlag auf. „Bedeutete dir der Typ etwas? Du bist plötzlich so kämpferisch!“
    Sie zog die Stange zurück. „Er ist mein Freund!“
    Wieder holte sie aus. Dieses Mal duckte sich ihr Gegner mit einer Leichtigkeit unter der Stange weg. „Er lebt also noch? Respekt!“
    Wütend holte Jenny abermals aus, wuchtete das Eisenrohr in Richtung seiner Beine. Und dieses Mal traf der Schlag. Er heulte auf. „DU kleine Bullenschlampe!“
    Er griff nach der Stange, zog heftig daran und sie verlor durch das plötzliche Rucken den Halt unter den Füßen. Ihre Hände lösten sich von der Stange, die nun wieder in den Besitz von Brechler überging. Sie selbst landete stolpernd auf den Boden. „Ich habe keine Lust mehr auf dieses Spielchen!“
    Jenny hörte die Eisenstange sirrend durch die dünne Luft herabsausen. Sie wirbelte zur Seite, doch nicht schnell genug. Die Stange erwischte sie abermals an der Schulter. Ein Schrei entkam ihren Lippen. Kurz darauf traf das Rohr sie in den Rippen. Dann folgte ein Tritt. Er drehte sie auf den Rücken, zielte jetzt wieder auf ihren Kopf. Dann fiel ein Schuss. Brechler erstarrte.
    „Werfen sie die Eisenstange weg!“, hörte Jenny Semir schreien. Sie sah an Brechler vorbei und sah ihren Kollegen in der Tür stehen.
    „Wegwerfen oder ich schieße!“
    Das Rohr wurde mit einem Klirren zu Boden geworfen.
    „Gut so! Und jetzt langsam umdrehen!“
    Brechler reagierte nicht sofort.
    „Umdrehen!“, wiederholte Semir jetzt energischer.
    „Ist ja gut, ist ja gut.“ Der Mann drehte sich um.
    Blitzschnell sprang Jenny auf die Beine. Sie zog ein Paar Handschellen aus der Gesäßtasche. Drehte ihm den rechten Arm nach hinten und ließ sie darum schießen. „Sie sind festgenommen wegen des dringenden Tatverdacht des Modes an Marjan Hentschel sowie versuchten Mordes an Mikael Häkkinen“, zischte sie ihm ins Ohr. Dann drehte sie ihm den anderen Arm hinter den Rücken und ließ auch die zweite Handschelle zuschnappen.
    Semir kam auf sie zu und nahm ihr Adam Brechler ab, während sie ihre Waffe vom Boden hob. Er lächelte ihr zu, aber nicht fröhlich, sondern sorgvoll, väterlich.


    Wenig später sah Jenny dem Polizeiwagen hinterher, der Brechler wegbrachte. Es war nur kurz nach der Festnahme gewesen und Severin Lander war mit der Verstärkung aufgekreuzt.
    „Wie geht es dir?“
    Jenny sah zur Seite in Richtung Semir. „Es geht schon.“
    „Er hat dich ganz schön erwischt, oder?“
    Es brachte nichts, diesen Tatbestand zu leugnen, also nickte sie. „An der Schulter und an den Rippen“ antwortete Jenny.
    „Und am Hals“, vervollständigte Semir. „Man sieht den Abdruck.“
    Ihre Hand fuhr an den Hals. „Ja und am Hals“, antwortete sie leise. „Ich habe einen Moment nicht aufgepasst und da war es auch schon passiert.“
    „Soll ich dich ins Krankenhaus bringen?“
    Jenny schüttelte den Kopf. „Nein. Das ist nicht nötig, so schlimm ist es dann auch nicht. Nur ein paar Prellungen.“
    Der Ältere wartete einen Augenblick, doch dann lächelte er. „Wie du meinst.“

  • Veikko verteilte vorsichtig die Creme auf den zahlreichen Hämatomen, die den Körper seiner Freundin zierten. Nach dem Einsatz war die Polizistin noch kurz mit im Präsidium gewesen, hatte dem Verhör gelauscht, doch als die Schmerzen von den Schlägen doch größer wurden, hatte sie sich für den restlichen Tag krankschreiben lassen. Es gab ohnehin nichts mehr zu tun, bei dem sie eine Hilfe hätte sein können. Frau Hetschel hatte abermals alle Angaben bestätigt und auch die Komplizen von Brechler waren geständig gewesen, so dass es dem Typen nicht viel brachte sich totzuschweigen.
    Sie hatte gemeinsam mit Veikko Kuchen gegessen und nun saßen sie auf dem Bett. Der Wecker auf ihrem Nachttisch zeigte 16:30 Uhr an. Bald wäre wieder Besuchszeit auf der Intensivstation, aber Veikko hatte Ben den Vortritt gelassen. Er würde dann morgen Mikael besuchen gehen.
    „Und er ist geständig?“, fragte Veikko. Er senkte den Kopf und küsste sanft ihre Schulter.
    Jenny lachte leise. „Hat er eine Wahl? Er hat sich bei der Verhaftung verplappert und Frau Hentschel war ja auch sehr gesprächig.“
    Er fuhr durch ihre Haare, folgte dem Zopf, zeichnete mit seinem Finger die Halswirbelsäule nach, die unter der Haut hervorlugte.
    „Veikko. Du sollst mich einschmieren.“
    „Mach ich doch, mach ich doch“, wehrte er sich.
    „Sicher doch!“ Sie drehte den Kopf in seine Richtung, dann den ganzen Körper. Ihre Finger tasteten nach der Tube. „Vielleicht sollte ich es selbst machen. Du scheinst zu abgelenkt.“
    „Das solltest du als Kompliment verstehen!“ Er gab ihr einen Kuss auf den Mund. Jenny warf die Tube beiseite. Sie erwiderte seinen Kuss, während seine Hand über ihren Rücken glitt und ihren BH öffnete. Unfähig, sich noch länger zurückzuhalten, versank sie in Lust und Verlangen. Sie fuhr mit den Fingern durch seine Haare, während er ihre Haut mit heißen feuchten Küssen bedeckte. Sie drückte sich näher an ihn, wollte ihm noch näher sein. Sie wollte ihn. „Veikko“, sagte sie zwischen zwei Küssen. „Jetzt wird alles gut. Ich weiß es.“
    Seine Hand fuhr ihren Rücken entlang, Richtung Hals. Er zog das Haargummi von ihrem Pferdeschwanz, worauf sich ihr Haar löste und auf die nackten Schultern fiel. Seine Hände fuhren durch ihre Haare und er zog sie wieder an sich, um sie erneut ihren Mund zu küssen. Sie erwiderte den Kuss, während ihre Hand über seinen Rücken strich, das T-Shirt anhob und dann über seinen Kopf zog. Vergessen waren die letzten Stunden. Vergessen das Zweifeln. Hoffnung war es, was nun ihre Gedanken bestimmte. Das Gefühl der Leichtigkeit war zurück.
    Veikko öffnete den Metallknopf ihrer Jeans, zog den Reisverschluss herunter. Sie blickte in sein Gesicht, lächelte und küsste ihn abermals, während er die Hose von ihren Beinen zog. Sie warfen sich auf das Bett und gaben sich vollkommen der Leidenschaft hin.


    *


    Ben drehte die Kaffeetasse in seinen Händen und sah nach draußen. Semir war dagewesen und hatte ihnen alles erzählt, was sich in den letzten Stunden zugetragen hatte. Sie hatten alle Beteiligten festsetzen können. Der Mann, der für Mikaels Zustand verantwortlich war, würde seine gerechte Strafe bekommen. Inzwischen war Eva bei den Kindern, er saß immer noch in der Küche, hatte sich seit dem Gespräch nicht gerührt. So viele Gedanken gingen ihm durch den Kopf. Er war sich nicht sicher, ob er über die Neuigkeiten glücklich sein konnte. Es würde nicht ändern, was passiert war. Mikael würde es kein bisschen weiterhelfen, dass sie den Mann hatten, der ihn niedergeschossen hatte.
    „Ben.“
    Er sah zu Semir.
    „Was beschäftigt dich Partner?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Da ist so viel. Vor allem aber, denke ich an Mikael.“ Bens Kopf drehte sich wieder in Richtung Fenster und er sah dem Schnee dabei zu, wie er zu Boden fiel. „Eva sagt, dass es keine positiven Nachrichten gab.“
    „Du wirst sehen, bald werden die Ärzte euch etwas Positives sagen können.“
    Ben nahm einen Schluck von dem Kaffee. Er verzog das Gesicht. Er war inzwischen eiskalt. „Er hat keinen Alleingang gemacht“, sagte er dann. Er schob die Tasse ein Stück von sich weg und raufte sich durch die Haare. „Ich war wirklich sauer auf ihn. Nein, sogar wütend. Ich dachte, dass er es schon wieder getan hat. Selbstsüchtig gehandelt, ohne Rücksicht auf Eva ....“ Ben schluckte schwer, um Tränen zurückzuhalten. „Alles was er getan hat, war einen Polizisten vor einer Dummheit zu bewahren. Er wollte ihn nur davon abhalten in das Gebäude zu gehen.“ Die Hand des Braunhaarigen ballte sich zur Faust. „Und was tut Brechler? Er knallt ihn ab! Er schießt ihn einfach nieder. Er hätte einfach seine Scheißrolle weiterspielen können. Aber nein, er knallt ihn ab! Und es tut dem Kerl nicht einmal leid! “
    „Mikael packt das, Ben“, versuchte Semir ihn zu beruhigen.
    „Und wenn nicht? Was, wenn er stirbt. Was tue ich dann? Was ist mit Eva? Mit Antti?“ Ben atmete tief durch. „Ich will doch diese Sachen nicht denken, aber sie sind da. Sie sind präsent in meinem Schädel und lassen sich nicht vertreiben!“
    „Ben.“ Semir griff nach dem Arm seines Partners und drückte ihn sanft. „Du musst Vertrauen haben, dass Mikael es schafft. Du kennst ihn doch und dann weißt du auch, dass er kämpfen wird.“ Der Ältere lächelte. „Oder glaubst du, dass er die letzten Monate für seine Familie kämpft und dann wenige Meter vor dem Ziel aufgibt?“
    „Nein, natürlich nicht, aber …“
    „Nichts aber.“ Semir ließ seinen Freund nicht ausreden. „Er wird es schaffen, Ben. Er wird bald aus dem gröbsten raus sein.“
    Ben atmete tief durch und nickte. „Ich hoffe es.“
    Er stand auf und begab sich zu seiner Tasche. Er holte ein Taschenbuch heraus und zeigte es Semir. „Meinst du ich sollte es mitnehmen. Ihm etwas daraus vorlesen?“ Semir griff nach dem Buch und las sich den Titel durch. Natürlich war Mikael tief sediert, bekam das sicherlich nicht mit, aber dennoch sagte er Ben, dass er es tun sollte. Es würde seinen Partner helfen und schon alleine deshalb sollte er es machen. Ben nickte und setzte sich dann wieder hin. „Eigentlich wollte ich es ihm schenken, wenn er zurück nach Helsinki fährt“, sagte er resigniert. „Ich dachte, es wäre ein gutes Geschenk … wo er doch jetzt wahrscheinlich an die Polizeischule geht …“
    „Es wird ihn nicht stören, wenn er es ein paar Tage früher bekommt.“
    „Nein, sicherlich nicht.“

  • Ben atmete tief durch und öffnete dann die Tür zum Intensivzimmer. Für einen Moment musste er sich sammeln, als er seinen Freund sah. So verloren zwischen all den Geräten. Ein einziges Bett; Kabel, Schläuche, Monitore. Mikaels Gesicht war so weiß wie das Kissen, auf dem sein Kopf lag. Er konzentrierte seine ganze Aufmerksamkeit auf den EKG- Monitor, als könnte er darauf erkennen, wie es um seinen Freund stand. Doch er konnte nichts darauf erkennen. Einzig durch den Arzt, mit dem er vorhin gesprochen hatte, wusste er, dass Mikaels Zustand weiterhin schlecht war. Ben setzte sich an das Bett und betrachtete seinen Freund lange. Das regelmäßige Piepen grub sich in Bens Ohr und hallte dort nach. Er schafft das, sagte er sich, er wird es packen. Er griff nach der Hand. Sie war unglaublich kalt. Ben spürte keinerlei Wärme, kein Zeichen, dass da vor ihm nicht nur eine leere Hülle lag.
    „Sie haben ihn geschnappt“, sagte er leise und mit schwerer Stimme. „Semir hat den Typen, der für das alles hier verantwortlich ist.“
    Er wartete auf eine Reaktion, doch es kam keine. Mikael blieb still. Ihm antwortete nur das Piepen der Geräte. Unbehagen breitete sich in seinem Inneren aus. Er drückte die Hand fester. „Bitte Mikael, halte durch. Einfach durchhalten.“
    Eva hatte Mikael am morgen besucht, nun war sie wieder in der Villa und kümmerte sich um die Kinder. Viivi und besonders Oskari ließ das alles nicht unberührt. Sie wussten, dass es ihrem Papa derzeit nicht gut ging und etwas nicht stimmte. Ben war sich sicher, dass Oskari ahnte, wie ernst es wirklich um seinen Vater stand. Er hatte gehört, wie er Eva gefragt hatte, ob sein Papa sterben würde. Diese Frage aus dem Mund eines Kindes zu hören, hatte ihm das Herz zerrissen.
    „Er braucht dich. Wenn du gehst, wird Oskari zerbrechen. Und Antti, du weißt, was du ihm bedeutest. Er hat schon einmal einen Sohn verloren, lass nicht zu, dass es noch einmal passiert.“
    Wieder wartete Ben auf eine Reaktion, auch wenn er wusste, dass sie nicht kommen würde. Er schluckte, um die aufkommenden Tränen zu vertreiben. Er hatte sich geschworen, dass er hier vor seinem Freund nicht weinen würde. Er wollte Vertrauen haben, Vertrauen, das Mikael es schaffen würde. Der junge Kommissar fixierte den Brustkorb seines Freundes, verfolgt wie er sich regelmäßig hob und senkte. Vorgab, das alles in bester Ordnung war. Doch Ben wusste, dass dem nicht so war. Nichts war in Ordnung. Sein Freund hatte sich einmal mehr für den Tanz auf dem Drahtseil entschieden. „Sorg dafür, dass es nicht so lange dauert, wie beim letzten Mal.“
    Bei seiner Kopfverletzung hatte Mikael über zwei Wochen im Koma gelegen, war danach sogar viele Tage kaum ansprechbar gewesen. Das wollte er nicht noch einmal erleben. Diese Hölle. Andererseits, wenn es bedeuten würde, dass sein Freund lebte und nicht starb, dann würde er diese lange Zeit hinnehmen.


    Ben atmete durch, griff in seine Manteltasche und holte ein Taschenbuch hervor, welches den Titel Täterpsychologie heute trug. Er klappte es auf und begann damit die Einleitung laut vorzulesen. Nach einer Weile stoppte er und sah wieder in Mikaels blasses Gesicht. „Wirst du darüber Vorlesungen halten? Täterpsychologie und Serienmörder?“ Ben musste sich eingestehen, dass er es Mikael nie gefragt hatte, aber vielleicht war es auch Selbstverständlich gewesen. Es war das Gebiet, zu welchem er vor einigen Jahren bereits gelehrt hatte. Damals, als er nach seiner schweren Kopfverletzungen viele Jahre nicht als Kriminalkommissar hatte arbeiten können. „Ich muss sagen, bisher klingt es eher langweilig. Ich hoffe, du bringst es besser rüber als dieser Doktor Superschlau, sonst schlafen dir deine Studenten noch ein.“
    Er senkte den Blick wieder und las weiter, wurde jedoch von einem plötzlichen alarmierenden Piepen übertönt. Bens Kopf preschte in Richtung des Monitors und er starrte auf die unruhige Linie. „Was ist? …. Mikael, mach jetzt keinen Scheiß, hörst du!“ Er war aufgesprungen, das Buch war auf die Erde gefallen, doch er konnte sich nicht rühren und war steif vor Angst und Panik. Ein Tornado wütete in seinem Inneren und riss alles mit sich. Jede Erinnerung an seinen Freund wurde aus den Angeln gerissen und er durchlebte sie noch einmal. Es fühlte sich wie Stunden an, bis die Ärzte in das Zimmer geeilt kamen. Der Arzt, der noch vor gut einer halben Stunde mit ihm geredet hatte, sagte etwas. Doch alles, was Ben hörte, war das nervöse Piepen des Monitors. Ein Notfallwagen wurde hereingeschoben, Mikaels Körper freigemacht und die Paddels des Defibrillators auf dessen Brust gesetzt. „Was …“ Ben kam nicht weiter. Ein Pfleger griff ihn am Arm und zog ihn aus dem Raum. Das Piepen hallte immer noch in Bens Ohren. „Nein … bitte nicht“, presse der Kommissar heraus und sank dann hilflos auf den Boden. So durfte es nicht Enden. Es musste doch alles gut werden! Das konnte verdammt noch einmal nicht das Ende sein.

  • Einige Zeit später

    Ben drückte die gebogene Eisenklinke herunter und trat auf den Friedhof. Es war früh am morgen und es war noch niemand unterwegs. Der Schnee knirschte unter seinen Stiefeln und er drückte den Mantel enger um seinen Körper. Es war heute besonders Kalt mit Minusgraden im zweistelligen Bereich. Er atmete aus und eine Dampfwolke bildete sich vor seinem Gesicht. „Verdammt ist das kalt“, schimpfte er leise und drückte den Mantel noch enger an seinen Körper. Vielleicht hätte er am morgen doch nicht so eitel sein sollen und auf die dicken Winterstiefel verzichten. Zumindest wären dann seine Füße warm, wenn er schon an allen sonstigen Stellen seines Körpers fror. Er schritt durch die Wege des Friedhofes und blieb dann schließlich vor einem Grab stehen. Er atmete tief durch und betrachtete den Stein, der mit Schnee bedeckt war, so dass man seine Inschrift nicht mehr lesen konnte.
    Er setzte sich auf die hölzerne Bank, die Gegenüber von dem Grab stand. „Es ist nicht leicht ohne dich“, begann er mit schwerer Stimme. „Ich vermisse dich.“ Er zog die Hände aus den Taschen und fuhr sich durch die Haare. „Du bist einfach viel zu früh gegangen“, fügte er hinzu. Eine dicke Schneeflocke landete auf seiner Schulter, kurz darauf folgte eine weitere. Er sah in den wolkenverhangenen Himmel. Immer mehr Schneeflocken fanden ihren Weg zur Erde und ließen sich auf der bereits vorhandenen Schneedecke nieder. Er blickte wieder auf das Grab. „Es würde dir gefallen. Du hast Spaziergänge im Winter immer so gemocht.“


    Ben saß noch einige Zeit auf der Bank und verfolgte die anderen wenigen Besucher auf dem Friedhof. Einige Meter von ihm pflegte eine alte Dame ein Grab. Vielleicht war es das ihres Mannes, dachte Ben. Sie entfernte sorgfältig den Schnee von dem Grabstein und kniete sich anschließend auf die kalte Erde, um zu beten. Sie war als sehr gläubig, schloss Ben daraus. Er stand auf und sah noch einmal auf das Grab, wo seine geliebte Person lag. „Bis bald!“, sagte er und machte sich dann auf in Richtung Friedhofsausgang.


    Er stieg in seinen Wagen und fuhr los. Nach etwa 30 Minuten hatte er sein Ziel erreicht und bog auf einen Parkplatz ab. Er verließ seinen Mercedes wieder, drückte auf den Knopf am Schlüssel und begab sich in Richtung des Gebäudes. Er lächelte der Dame am Empfang kurz zu und stiefelte dann die Treppen in die zweite Etage hoch. Die Gänge waren hell erleuchtet und es herrschte einiges an Betrieb. Der deutsche Kommissar hielt vor einer Tür an und klopfte dann zwei Mal, ehe er hineintrat.


    Mikael lag etwas aufgerichtet in dem Bett. Er war immer noch blass, seine schwarzen Haare lagen unordentlich und wild. Eine Sauerstoffbrille zierte sein Gesicht und die Geräte und Kabel, die ihn umgaben waren noch nicht verschwunden. Dennoch ging es nach den vielen Problemen zu Beginn nun steil aufwärts. Mikael lächelte, als er ihn erblickte, und begrüßte ihn mit einem leisen Hallo.
    „Na, wie geht es dir heute?“, fragte Ben und holte gleichzeitig einen der Stühle von dem kleinen Tisch am Fenster zum Bett.
    „Müde“, antwortete Mikael leise.
    Ben lehnte sich im Stuhl zurück. „Die Kinder vermissen dich, besonders Oskari.“
    „Ja, Eva war hier. Sie hatte das Handy dabei, damit ich kurz mit ihm reden kann.“ Mikaels Blick ging in Richtung Fenster. Dann lachte er leise auf. „Einmal habe ich das Richtige getan. Ich habe gewartet und dann … dann passiert so was.“
    „Der Typ wird bekommen, was er verdient.“
    Mikael nickte. „Ich dachte, dass ich sterbe. Es nicht schaffe … ich weiß nur noch, dass mir so kalt war … Evas Stimme, ich habe ihre Stimme gehört und ich dachte nur, da ist so viel, was du ihr sagen willst, aber ich hatte die Kraft nicht.“
    „Aber nun kannst du es ja alles nachholen. Du hast es gepackt. Die Ärzte meinen, du kannst bald auf die Normale Station.“
    „Ja.“
    Ben lehnte sich etwas nach vorne. „Ich war heute meine Mutter besuchen, auf dem Friedhof.“
    „Ach ja?“ Sein Freund sah ihn an, erwartete eine Fortsetzung.
    „Vielleicht hatte ich ein schlechtes Gewissen. Es ist schon so lange her, dass ich bei ihr war.“ Ben sah auf seine Hände, die er auf den Knien gebettet hatte. „Ich habe in letzter Zeit viel an die Kindheit gedacht. Ich meine wegen dir, als das passiert war … da war so viel. Weißt du noch, als wir auf den Baum geklettert sind? Diese Wette hatten, wer höher kommt.“
    „Ich bin runtergefallen“, nuschelte Mikael müde.
    „Verdammt, du warst vollkommen weg! Hast dich nicht gerührt. Ich hatte solche Angst, dass du wegen meiner dummen Idee tot bist. Ich bin zu Mama und habe geschrien, dass ich dich ermordet habe.“ Ben lachte. „Ihr Gesicht vergesse ich bis heute nicht. Und dann, als du wieder zu dir gekommen bist …“
    „… das war in dieser Privatklinik von einem der zahlreichen Jäger-Freunde.“
    Ben lachte. „Du wolltest sofort wieder gehen. Du hast es nicht verkraftet, dass ich höher gekommen bin, als du. Sofort wolltest du wieder den Baum hoch.“ Ben schüttelte den Kopf. Das war wirklich ein Tag gewesen, der ihm bis heute in Erinnerung war. „Aber da ist noch etwas, an dem Tag gewesen. Dein Vater.“ Der Braunhaarige sah seinen Freund erwartungsvoll an.
    „Du meinst wohl unsere Väter“, murmelte Mikael.
    „Ja. Sie haben nicht gestritten, als Andreas dich in dem Krankenhaus abgeholt hat. Ich habe darüber nachgedacht, aber ich weiß nicht wieso … vielleicht war es wegen Mama. Ich meine, ich kann mich genau daran erinnern. Andreas war dort, hat Papa sogar gedankt. Verrückt.“
    „Sie war wirklich wundervoll“, antwortete Mikael ihm. „Also deine Mutter.“
    „Die Kindheit also nicht?“, hakte Ben nach.
    „Ich weiß nicht. Ich bin mir nicht sicher … da gibt es so viel, was ich nicht als gut bezeichnen würde.“
    Ben lächelte. „Gut ist, dass ich dir begegnet bin und dich meinen Freund nennen kann.“
    „Ein seelisches Wrack als Freund, wer hat das nicht gerne“, kam es trocken aus dem Bett.
    „Lass den schwarzen Humor“, mahnte Ben sofort. „Du bist kein seelisches Wrack, also jetzt nicht mehr.“
    „Das klingt wirklich aufbauend, Ben Jäger.“
    „So bin ich halt.“ Der Braunhaarige lehnte sich wieder zurück. „Und weißt du schon, ob du den Job an der Polizeiakademie bekommst?“
    „Samuel wird sich darum kümmern. Ich denke also schon.“
    „Und du bekommst das hin?“
    Mikael zog die Augenbraue hoch. „Was?“
    „Naja. Es ist ja trotzdem was mit Polizei und so.“
    „Ich denke schon“, antwortete der Finne nun. „Ich fühle mich stärker als noch vor ein paar Monaten.“
    Ben lachte auf. „Nun, das glaube ich kaum. Sieh dich an, du schläfst fast ein vor Müdigkeit!“
    „Du weißt, wie ich das meine“, schimpfte Mikael leise. „Seelisch, vom Kopf her.“
    „Ja natürlich. Ich weiß, wie du es meinst.“ Ben hob seine Hände von den Knien und verstränkte sie hinter den Kopf. „Und ich bin wirklich mehr als froh, dass du die Kurve bekommen hast. Für dich, für deine Familie.“
    „Eva und die Kinder sind immerhin alles, was ich noch an Familie habe.“
    Wieder lachte Ben. „Das ist Quatsch! Du hast deine Cousine, du hast Antti, Veikko und Kasper und du hast Semir und mich. Du hast eine große Familie.“
    Er vernahm ein leichtes Lächeln aus dem Bett. „Ja. Du hast Recht.“

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