Hierarchie der Engel

  • Dienststelle - 9:00 Uhr



    Jenny hatte es sich gut überlegt... lange überlegt. Und jetzt verließ sie irgendwie doch der Mut. Der Umschlag in ihrer Tasche schien wie ein heißes Stück Metall zu glühen und ihr somit auch auf der Seele zu liegen und immer wieder streiften ihre Blicke beinahe verstohlen einerseits auf Hotte und Dieter, auf Ben und Semir in ihrem Büro, oder auf das Gesicht der Chefin. Auch Andrea geriet immer öfter in ihr Blickfeld und Jenny stellte sich die Frage, wem sie sich zuerst anvertrauen sollte. Den offiziellen Weg zur Chefin? Mit der Freundin darüber reden? Eigentlich hatte sie ihren Entschluß gefasst, sie hatten das ganze Wochenende darüber nachgedacht, bevor sie das Schreiben aufgesetzt hatte. Mit ihren Eltern telefoniert. Darüber geschlafen...
    Auf der Arbeit funktionierte es wieder... sie funktionierte. Sie konnte sich ablenken, konzentriert ihren Dienst tun nach den schrecklichen Erlebnissen um Kevin, um ihr Kind. Irgendwie, innerlich hatte sie mit allem abgeschlossen. Mit ihrem Kind starb gleichzeitig die Hoffnung, dass Kevin noch leben könnte. Sie trauerte bereits, sie hoffte nicht mehr. Und Kevins Bild mit der Kerze in Bens Büro wurde so etwas wie ein Grab, eine Trauerstelle. Ein echtes Grab bekam der Polizist erst, wenn er von den Behörden offiziell für tot erklärt wird. Doch das konnte Monate, wenn nicht sogar Jahre dauern.



    Auch wenn es für die Polizistin funktionierte, sich durch die Arbeit abzulenken und konzentriert ihren Dienst zu tun... im Privaten funktionierte es nicht. Sobald sie den Arbeitsmodus abschaltete und zu Hause in ihre Wohnung kam, ging der Film los. Sie erwartete Kevin schlafend auf der Couch oder am Fenster stehend, wenn sie nach Hause kam. Abends wartete sie ständig darauf, dass er vom Training nach Hause kam. Vor zwei Tagen wartete sie mit dem Abendessen, weil sie auf ihn gewartet hatte, bis ihr ins Bewusstsein stieg, dass er nicht nach Hause kommen würde. Alles in ihrer Wohnung erinnerte sie, wenn sie auf der Arbeit saß, erwartete sie dass Kevin im Büro nebenan war, und immer mal zu ihr rübersah.
    Die Gewohnheit saß zu tief in Jenny, und sie sah für den Bruch mit der Gewohnheit nur den Ausweg, den auch Kevin in seiner schlimmsten Phase gezogen hatte. Keine Drogen und kein Alkohol... aber die Flucht. Brechen mit allem, was man besaß, was man hatte und was einem die Routine im Leben gab. Kevin verabschiedete sich damals aus seinem gewohnten Gang-Umfeld, er trampte zwischen Köln, Berlin und Hamburg hin und her. Er gab alles auf, was er hatte, hatte er erzählt und auch, wenn er in dieser Zeit alles an Drogen einschmiß, was er zwischen die Finger bekam, von Heroin mal abgesehen, war ihm so die Flucht gelungen, die Gewohnheiten abzulegen.



    Nach dem zweiten Kaffee und der ersten Streifentour hatte Jenny sich entschieden. Sie klopfte mit dem Fingergelenk an die Glastür der Chefin, die sie daraufhin mit einem kurzen "Ja?" hereinbat. In der jungen Frau kribbelte es, als sie sich zu Anna Engelhardt an den Schreibtisch setzte. "Haben sie kurz Zeit?" Die Chefin blickte von ihren Unterlagen auf und legte den Stift zur Seite. "Natürlich... setzen sie sich." Die Polizistin nahm Platz und legte den Umschlag vor ihr Gegenüber auf den Tisch. "Ich möchte ihnen meinen Versetzungsantrag geben." Ein kurzer Satz und doch kostete er Jenny so manches an Überwindung. Sie spürte, wie sich die Klammer um die Brust legte, doch Jenny kämpfte gegen die Tränen noch erfolgreich an. Erinnerungen kamen auf, als sie hier weinend saß, bei einem Verhör durch die Mordkommission, als der Polizeianwärter, der sie tags zuvor vergewaltigt hatte, tot aufgefunden wurde.
    Zunächst blieb die Chefin stumm und blickte ihre Mitarbeiterin nur versteinert an. Sie öffnete den Umschlag, nahm das Schreiben heraus und las es aufmerksam, bevor sie ihn zur Seite legte. "Haben sie sich das gut überlegt?" Jenny nickte zaghaft, ohne der Chefin in die Augen zu blicken. "Ja. Ich... es erinnert mich hier und zu Hause alles an... ihn." Erst jetzt stellte sie den Blickkontakt wieder her. Die Chefin lehnte sich zurück und strich mit dem Finger über ihre Oberlippe.



    "Ich kann sie verstehen, Jenny. Es ist schwer, was sie durchgemacht haben und zur Zeit noch durchmachen.", sagte die Leiterin der Dienststelle verständnisvoll. "Aber ich weiß nicht, ob eine Flucht... weg von ihren Freunden und dem gewohnten Umfeld in dieser Situation das Richtige ist." "Ich habe mir darüber sehr viele Gedanken gemacht, Chefin. Und ich bin ihnen, wie auch Semir, Ben, Andrea, Hotte oder Dieter mehr als dankbar dafür, was sie für mich tun und getan haben. Es ist nur... die Gewohnheit. Es ist, dass ich zu Hause auf ihn warte... dass ich denke, er sitzt nebenan im Büro." Jenny knetete mit den Fingerkuppen gegeneinander, während Anna Engelhard aufmerksam zuhörte. "Ich weiß, dass Kevin damals, als seine Schwester getötet wurde, auch einen Schnitt gemacht hat. Das hat ihm geholfen und ich hoffe... es hilft mir auch."
    Die Chefin nickte und sah nochmal auf das Schreiben. "Haben sie sich in Hamburg, wo sie hinwollen, schon gemeldet?" "Mein... mein Vater kennt dort den Polizeichef und hat bereits angefragt.", erklärte Jenny ihre Beziehung, denn sie stammte ursprünglich aus Hamburg. "Verstehe... Jenny, ich werde nicht versuchen sie umzustimmen. Aber ich will ihnen sagen, dass ich es persönlich sehr schade finde, sie zu verlieren. Ich werde das Schreiben weiterleiten für sie. Bitte sagen sie mir sofort Bescheid, wenn sie sich umentscheiden sollen." Die junge Frau lächelte. "Danke, Chefin." Bevor sie das Büro verließ sagte die Chefin noch: "Und bitte... sagen sie den anderen Bescheid. Seien sie ehrlich."



    Als Jenny das Büro der Chefin verließ, klopfte ihr Herz noch stärker als vorher, spürte sie noch mehr Kribbeln und ein noch schlechteres Gefühl im Magen. "Andrea, Hotte, Dieter... könnt ihr mal kurz mit mir zu Ben und Semir ins Büro kommen?", sagte sie mit leicht zitternder Stimme. Andrea blickte ein wenig verwundert auf, bevor sie zu den beiden Streifenpolizisten sah und stand dann aber auf. Alle vier traten gemeinsam ins Büro der beiden Autobahnpolizisten, die ebenfalls ob der Parade verwundert aufsahen. Semir schrieb gerade einen Bericht und Ben verdrückte das zweite Schoko-Croissant, während er den aktuellen Lagebericht las, denn auch sie hatten eben ihre erste Tour hinter sich. "Gibts hier was umsonst?", fragte der junge Kommissar, während seinem älterer Partner schon die ersten Vorahnungen kamen, als er Jennys Gesichtszüge sah.
    Hotte schloß hinter sich die Tür, und Jenny übernahm zögerlich das Wort, während sie sich mit der linken Hand über die rechte Handoberfläche kratzte. "Ich weiß nicht genau, wie ich es euch sagen soll...", murmelte sie leise und versuchte, jemandem in die Augen zu sehen. Nach misslungenen Versuchen bei Hotte und Semir, blieben ihre Augen an Ben haften. Semir selbst hätte es schon vorsagen können, denn irgendwie ahnte er es... und er schluckte. Jenny sagte es dann... sie sagte es frei heraus ohne jede Widerkehr. "Ich gehe weg von hier... es tut mir leid."




    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Epilog




    "Ich bin so gerne hier draussen." - "Ich weiß. Aber warum bist du gerne hier?" - "Wegen den ganzen schönen Blumen." - "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."



    Er konnte die Kinderstimme des kleinen Mädchens, das ihm antwortete, genau hören. Er konnte den Forstweg, dessen Asphalt an vielen Stellen längst aufgebrochen war, unter seinen Füßen und den Wind in seinen Haaren spüren. Und er konnte das frisch eingefahrene Korn des Bauern, den Duft der Blumen am Wegesrand und des frischen Heidekrauts riechen. Genauso hörte er mitten drin aber auch unberuhigende Geräusche, Geräusche die nicht zu den Bildern vor seinen Augen passen wollten. Immer fortwährend hörte er das Schlagen eines Herzens. Es schlug langsam, beinahe bedächtig, aber der Ton des schlagenden Muskels bohrte sich ins Ohr. Genauso konnte er das Zucken in seiner Brust spüren und seinen rasselnden, langsamen Atem vernehmen, während er selbst mit fröhlicher Jungenstimme sprach.
    Das Mädchen mit den schwarzen Haaren lief voraus auf einen alten gemauerten Turm zu, der gar nicht recht in diese idylische Landschaft passen wollte. Er war aus alten Steinen gemauert, Moos und Gras wuchs zwischen den bröckelnden Steinen und ausser einer Holztür war keinerlei Öffnung vorhanden. "Wir sollten da nicht reingehen." "Ich würde mich alleine ja nicht in so einen alten dunklen Turm trauen... aber solange du bei mir bist.", war ihre Antwort. Die Holztüre knarrte gespenstisch, und als sie hinter ihnen ins Schloß fiel, waren beide von der Dunkelheit umhüllt.



    Plötzlich war alles still. Nur der Herzschlag und der rasselnde Atem war noch zu hören, der Schweiß auf seiner Stirn und der pochende Schmerz zu spüren. Tropfen fielen auf Steine und er hatte das Mädchen aus den Augen verloren. Auf das Rufen nach ihrem Namen erhielt er keine Antwort, und das Geräusch seiner Schuhe klang hohl durch den Gang, der sich vor ihm auftaut und nur schemenhaft zu erkennen war. Immer wieder konnte er eine Öffnung rechts und links ausmachen, als er plötzlich eine unheimliche, weil glasklare Stimme hören konnte. Er kannte sie, und doch war sie ihm fremd. "Nichts ist hier, wie es auf den ersten Blick zu sein scheint." Er lief ein paar Schritte schneller, sein Atem beschleunigte sich, das Rasseln wurde lauter und sein dumpfer Herzschlag beschleunigte.
    "Gehe niemals, ungeschützt und ohne Licht, eine der Treppen hinunter." Die Treppen lagen hinter den Öffnungen und führten rechts und links des Ganges tief unter die Erde. "Es könnte Jahrzehnte dauern, bis man dich findet. Oder schlimmer...", knurrte die Stimme nun dunkler und verzerrte sich zu einem gutturalen Knurren, der einem das Blut in den Adern gefrieren ließ. "Du könntest wiederkehren... verändert wiederkehren. Ein Anderer sein..." Er spürte, wie ihm das Atmen immer schwerer fiel, und er von einer der dunklen Treppen beinahe magisch angezogen wurde, bevor er sie hinabstieg.



    Es war, als müsse er sich jeden Schritt vorkämpfen, die Beine wollten seinen Kopfbefehlen nicht gehorchen und immer wieder drohte er hinzufallen. Das kleine Mädchen hatte er längst verloren und andere Töne und Geräusche fluteten seinen pochenden schmerzenden Kopf, der sich gar nicht mehr wie der Kopf eines Jungen anfühlte. Die Bilder vor seinen Augen spielten ihm immer wieder Streiche, er sah einen Mann mit schwarzen Haaren in einer Blutlache liegen, der ihn auslachte und man irrer Stimme sagte, dass er niemals mehr aus seinem Kopf verschwinden würde. "Ich sitze in der drin. Du sollst niemals mehr frei sein." Er stolperte an ihm vorbei, Schweiß rann ihm über die Stirn und das Lachen verfolgte ihn weiter, obwohl er den Mann längst hinter sich gelassen hatte.
    Er kam an einer Zellentür vorbei, hinter der ein Mädchen kniete, das aber nicht das Mädchen war, dass er gerade verloren hatte. Sie hatte den Kopf auf einen Holzblock gelegt, und eine unheimliche Stimme verlas eine Anklageschrift. "Werden sie wegen gemeinschaftlicher Entführung zum Tode verurteilt." Bevor das Urteil vollstreckt wurde, kniff er angeekelt die Augen zu und versuchte fortzulaufen, doch er bewegte sich nur wie in Zeitlupe bevor er auf den glitschigen Nasen Steinboden fiel und er seine eigene Stimme hörte, ohne selbst zu sprechen. "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."



    Die Farbe der Wände veränderte sich. Sie waren gesäumt von seltsamen, teuflisch anmutenden Zeichen. Eine Spritze aus der einige Tropfen herausliefen stach ihm mit roter glühender Farbe entgegen, während er sich mit dem Rücken an die andere Wand drückte und das Zeichen schien ihn festzuhalten, schien ihn zu zwingen hinzusehen. Das Klopfen des Herzens hatte mittlerweile ein beängstigendes Tempo angenommen und sein Atem überschlug sich beinahe. Diesmal konnte er es nicht nur hören, sondern auch fühlen. Die Wand in seinem Rücken fühlte sich nicht hart und steinig an, sondern wie ein gespanntes Tuch, das ihn festhielt und eine drückende Hitze überkam ihn, während er wie gebannt auf das Zeichen sah, eine aufgemalte Heroin-Spritze mit einem knallroten A darunter.
    Er wollte fort, doch er konnte nicht. War es so, wenn man stirbt? Kein heller Tunnel, sondern ein verdammter dunkler Gang in einem verfluchten Turm? Er hörte Lachen... das befreite, verliebte Lachen junger Menschen um ihn herum, das sich in das Rasseln des Atems und in den Herzschlag hinein mischte. Er fasste sich an den Kopf. Das Lachen veränderte sich. Es wurde immer fröhlicher, immer ausgelassener bis es in ein Babylachen überging... ein kleines Baby, dem man Grimassen machte, und das nicht aufhören wollte zu lachen und dann irgendwann begann, zu weinen und zu schreien. All diese Geräusche bohrten sich tief in seinen Kopf, tief in sein Gehirn und die lange Wunde an seiner Schläfe schien aufzureißen und ihm den Schädel zu spalten.



    Plötzlich war alles still. Das Bild vor seinen Augen verschwand, er hörte und spürte keinen Herzschlag. Nur ein leises, zaghaftes Atmen konnte er hören... und zwei Stimmen. "Und welche ist deine Lieblingsblume?" - "Die Vergissmeinnicht." - "Wieso die?" - "Die hat so einen schönen Namen."



    ...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!