Grüße aus St. Petersburg

  • Mit klopfendem Herzen zog Ben seine Waffe aus dem Halfter und schlich, die Waffe entsichert und im Anschlag, leise die mit Teppich ausgelegten Stufen hinauf. Adrenalin durchflutete seinen Körper und schärfte seine Sinne. Er hatte keine Geräusche mehr gehört. Hatte er sich vielleicht alles nur eingebildet oder aber war auch er bemerkt worden? Inzwischen war er an der letzten Stufe der Treppe angelangt. Vorsichtig machte er den ersten Schritt in den Raum und schon passierte es! Jemand stürzte mit gezücktem Messer auf ihn zu und erwischte ihn am Arm. Durch den plötzlichen und unerwarteten Schmerz ließ er die Waffe fallen. Ehe er etwas unternehmen konnte, sauste das Messer bereits zum zweiten Mal auf ihn zu. Instinktiv hob Ben den Arm. Ein Fehler, wie sich nur unmittelbar darauf zeigte. Der Angreifer holte mit seiner anderen Hand aus und traf ihn mit der Faust an der Schläfe. Ben verlor für einen Moment die Besinnung. Er taumelte und knallte mit dem Hinterkopf gegen die Wand, die er benommen herunterrutschte. Wie durch einen Schleicher nahm er verschwommen wahr, wie der Angreifer losrannte, mit hastigen Schritten die Treppe nahm und dann mit einem lauten Türknallen aus dem Haus verschwand.


    Ben versuchte sich aufzurichten, doch als ihm schwindelig wurde, ließ er das Unterfangen für den Moment bleiben. Er schloss die Augen und atmete einige Male tief durch. „Fuck“, grummelte er leise. Er hatte sich wie ein Anfänger benommen und war vollkommen überrumpelt gewesen. Er hätte auf Veikko hören sollen und nicht alleine hierher zurückkommen sollen, aber Ben war der festen Überzeugung gewesen, dass er sich nicht so überraschen lassen würde wie Veikko. Andererseits. Dass dieser Kerl schon wieder hier auftauchte hieß doch, dass er etwas suchte und es noch nicht gefunden hatte. Noch etwas benommen, zwang er sich die Augen wieder zu öffnen. Er griff nach seinem Handy und forderte ein weiteres Mal innerhalb von 24 Stunden die Spurensicherung zu dem Haus von Niemi an. Irgendwas musste es hier geben und dieses irgendwas wollte er finden. Als er wieder auflegte, betrachtete er seinen Arm. Blut quoll aus der Wunde heraus und durchtränkte seinen Pullover. Ben kämpfte sich mühselig in die aufrechte Position. Für einen Moment wurde ihm schwindelig, doch dann hörte die Welt um ihn herum auf sich zu drehen. Er setzte langsam und wackelig einen Fuß vor den anderen und begab sich in Richtung Auto. Dort angekommen, öffnete er eine der hinteren Türen und zog den Verbandskasten hervor. Er setzte sich auf die Rückbank, schaltete das Licht auf Dauerbetrieb und begann damit die Wunde zu verbinden. Als er mit seinem Werk zufrieden war, betrachtete er sich im Rückspiegel. An der Schläfe würde sich wohl eine ordentliche Beule bilden und auch die unsanfte Begegnung seines Hinterkopfes mit der Wand dürfte er wohl noch lange spüren. Bereits jetzt pochte es bei jeder kleinsten Bewegung in seinem Kopf unangenehm.


    Es hatte nicht sehr lange gedauert und Ben sah den weißen Van der Spurensicherung vorfahren. Er stieg aus und grüßte die Kollegen, ehe diese sich akribisch auf die Suche nach Bens „irgendetwas“ machten. Doch auch dieses Mal war die Suche nicht mit Erfolg gekrönt. Es wurde auch nach stundenlanger Suche nichts gefunden und Ben entschloss sich schließlich die Männer in den Feierabend zu entlassen. Auch er selbst sah schnell ein, dass er an diesem Tag wohl zu nicht mehr viel fähig war und fuhr ebenfalls nach Hause. Er duschte unter kaltem Wasser und setzte sich dann noch für einen Augenblick ins Wohnzimmer. Er blickte auf sein Handy, das auf den Tisch lag, und verspürte für einen Augenblick den Drang Mikael anzurufen und ihn nach seiner Meinung zu fragen. Doch schließlich verkniff er sich dieses Vorhaben. Sein Freund wusste überhaupt nichts von diesem Fall und das aus gutem Grund. Aber er könnte auch einfach über andere Dinge plaudern. Die Kinder vielleicht? Eva? Mikael schien es noch zu beschäftigen, dass er derzeit nicht wusste, wie er mit ihnen umgehen sollte. Er hatte sich vor seiner Frau und den Kinder nie verstellen müssen und konnte er selbst sein. Dass er es nun wohl nicht mehr konnte, macht Ben Sorgen. Er hatte regelrecht Angst, dass Mikael dem Absturz erneut ungebremst entgegenraste. Er atmete tief durch, griff nach seinem Smartphone und wählte in den Kontakten Mikaels Namen aus. Niemand ging ran. Er seufzte und lehnte den Kopf gegen die Sofalehne. Er betrachtete die Decke. Er müsste Mikael überreden, dass er sich professionelle Hilfe nahm. So konnte es nicht weitergehen. Wenn er wieder Fuß fassen wollte, würde er es nicht alleine schaffen. Das hatten die letzten Wochen gezeigt. Ben löste den Blick von seiner Zimmerdecke und versuchte es ein weiteres Mal. Doch auch diesmal erreichte der deutsche Kommissar niemanden. Vermutlich war er schon schlafen, immerhin war es dort bereits nach 23 Uhr. Schließlich gab er auf, legte das Handy auf den Tisch und begab sich in Richtung Schlafzimmer, um sich schlafen zu legen.




    Mikael senkte den Kopf ein Stück nach vorne und schüttelte mit den Fingerspitzen die Regentropfen aus seinen Haaren. Helsinki zeigte sich heute wieder einmal erbarmungslos und es regnete bereits den ganzen Vormittag ohne Pause. Sein Blick fiel nach oben. Katamaran stand in blauen Leuchtbuchstaben über der Tür, wobei das „K“ nicht mehr beleuchtet war, als würde es sich um einen schlechten Gangsterfilm handeln. Er holte ein letztes Mal tief Luft und betrat dann die Bar.
    Es war genauso viel los, wie er erwartet hatte. Die meisten der kleinen Tische waren unbesetzt und die Gestalten, die daran saßen, hätten wohl dafür gesorgt, dass jeder Tourist schnell wieder das Weite gesucht hätte, wenn sich denn überhaupt ein Tourist in diese abgelegene Ecke der Stadt verlaufen würde. Er spürte sofort die beißenden Blicke, die seine Anwesenheit an diesem Ort auslösten. Die Luft war durch den Zigarettenqualm schneidend dick. Zumindest hier hielt man nicht viel von dem strengen Rauchverbot Finnlands und er war sich sicher, dass man bei den zuständigen Ämtern auch nicht wirklich darauf erpicht war, diesem Barbesitzer ans Bein zu pinkeln.


    Unbeeindruckt von den Blicken der Männer hinter ihm, trat er an den Tresen der Bar. Die Tür zum Hinterzimmer öffnete sich knarrend, ein Mann trat heraus. Mitte vierzig, kurz rasiertes Haar. Er sah aus wie ein ehemaliger Militär, trug ein kurzärmliges Hemd und abgenutzte Jeans. Ein Tribal-Tattoo zierte seinen Oberarm.
    „Was willst du?“, fragte er.
    „Oscar?“
    „Wer will das wissen?“ Mikaels Mundwinkel zog sich zu einem hämischen Grinsen nach oben. „Ist das eine Fangfrage?“
    Der Mann hinter dem Tresen füllte ein Glas mit Wodka und stellte es ihm hin, ehe er ihn anschließend von oben bis unten musterte. Mikael wusste, er braucht diesem Mann nicht zu sagen, wer er war. Er ähnelte seinem Vater ungemein und so würden einige Größen der Helsinkier Unterwelt den Zusammenhang schnell herstellen. „Was treibt den Sohn von Andreas Hansen in diese Bar?“, fragte Mäenpää nun.
    Mikael beugte sich nach vorne. „Ich habe einen Deal für dich Oscar … du holst mir Kuznetsov ran und ich lasse im Gegenzug deine kleinen Geschäfte hier nicht auffliegen.“
    In Oscar Mäenpää Gesicht zeigte sich Verachtung. „Jungchen, glaubst du tatsächlich, du kannst mir drohen? Du überschätzt dich. Du magst zwar Hansens Sohn sein, aber deshalb hast du noch lange keine Narrenfreiheit!“
    Der junge Kommissar begann zu lachen. „Nein Oscar, ich fürchte eher, du unterschätzt mich. Ich gebe dir bis morgen Mittag die Möglichkeit Kuznetsov zu liefern … wenn du es nicht tust, dann bist du dran.“ Danach legte er einen 50er auf den Tresen, ehe er sich umdrehte und die Bar wieder verließ. Alles wofür er hergekommen war, hatte er erledigt.


    Er hatte nicht einmal das Ende der Straße erreicht, da zeigte sich, dass seine Rechnung aufgegangen war. „Du hast Mut. Hier aufzutauchen war dein Todesurteil“, ertönte eine raue Stimme nur wenige Meter von ihm entfernt. Mikael drehte sich um und blickte geradewegs in ein grünblaues Augenpaar. Der Mann, der ihn all die Jahre über in seinen Albträumen verfolgt hatte, stand nun direkt vor ihm.
    „Erkennst du mich wieder? Sag!“
    Der junge Kommissar steckte die Hände in seine Pullovertaschen. „Wie könnte ich diese Visage vergessen. Du hast Galina umgebracht und dafür wirst du hinter Gitter gehen. Es ist gut, dass du mir die Sache erleichterst und selbst aus deinem Loch gekrochen kommst!“
    „Du hast wirklich Mumm. Aber ich muss dich enttäuschen. Ich werde nicht hinter Gitter gehen, sondern mir gleich einen weiteren Mord gutschreiben lassen – an dir!“
    Er zuckte mit den Schultern. „Seit damals hat sich viel verändert. Ich bin nicht mehr der kleine Junge, den du mit deinen Drogen vollpumpen kannst“, sagte er mit ruhiger Stimme.
    Sein Gegenüber warf ihm einen kleinen Zettel hin, den er allerdings nicht aufhob. Wozu auch. Er hatte ihn selbst vor wenigen Minuten in der Bar platziert. Offensichtlich, damit er gefunden wurde.
    „Du hast etwas getan, was du besser nicht hättest tun sollen. Niemand droht dem Boss!“, kam es in einem bissigen Ton.
    „Ich habe ihn nur daran erinnert, dass ich ihn ans Messer liefern kann. Die Zeiten haben sich geändert. Nun bin ich Polizist, wie ihm nicht entgangen sein sollte. Meine Aussage ist nicht mehr die eines Junkies, sondern eines treuen Staatsdieners. Man wird mir glauben, dass ich Kuznetsov gesehen habe in dieser Fabrikhalle und dann geht er unter und du gleich mit“, antwortete Mikael gleichgültig. „Aber wie gesagt, ich bin bereit für einen Deal. Ich kann diese Sache für etwas Kohle sicherlich unter den Tisch fallen lassen und auch die Tatsache, dass Kuznetsov sich überhaupt nicht in St. Petersburg befindet. Sag ist es schwer jemanden zu schmieren, damit es so aussieht, als würde er Finnland seit Jahren nicht betreten haben?“


    Sein Gegenüber lachte und trat nun näher, umkreiste ihn, wie seine Beute. „Man merkt, dass du Hansens Sohn bist. Du siehst nicht nur aus wie er, du weißt auch was du willst.“
    „Das ist manchmal nicht so schlecht, oder? Ich möchte etwas Geld und dafür werde ich vergessen, dass ich ihn in der Halle gesehen habe … und natürlich, dass ich weiß, wo man ihn findet und was er als nächstes vorhat.“ Der Narbige blieb stehen und nun traf sich ihr Blick. Mikael konnte sehen, wie er versuchte, abzuwägen, ob er gerade in eine Falle lief, oder es mit einem korrupten Polizisten zu tun hat.
    „Ein Bulle will Geld?“, fragte er hämisch nach.
    Mikael zuckte nur mit den Schultern. „Ach komm, tu nicht so als wäre das etwas Neues in deiner Branche. Gut und Böse, Weiß und Schwarz. Das sind doch Bilder, die du schon nach dem ersten Jahr auf der Polizeiakademie in die Tonne haust.“


    Er wartete einige Sekunden. „Also, bringst du mich jetzt zu Kuznetsov?“
    Er bekam ein Lachen als Antwort. „Warum sollte ich so etwas tun? Ich reiche dir also nicht aus?“
    „Ein Hansen verhandelt nur mit dem Boss. Altes Leitbild der Familie, an dem ich nicht vorhabe zu rütteln“, antwortete er mit gelassener Stimme.
    Der Mann musterte ihn kritisch, wog den Kopf kaum merklich hin und her. „Und wenn es mir egal ist, was für eine Familientradition du hast, Jungchen?“
    „Es sollte dir besser nicht egal sein. Wie gesagt, ich kann Kuznetsov untergehen lassen. Ich weiß vieles. Wo die neue Lieferung hingeht, wer die gekauften Bullen sind. Ich würde nicht den Fehler machen und mich unterschätzen.“
    Der Mann sah ihn lange an, griff dann nach seinem Handy und telefonierte auf Russisch.
    Als er wieder auflegte, lächelte er. „Gut, Kuznetsov ist bereit dich zu treffen.“


    Der Russe machte eine Handbewegung und er setzte sich in die Richtung in Bewegung, die er ihm anwies. Mikael lief bedacht. Nicht zu schnell, aber auch nicht zu langsam. Er hatte all seine Sinne geschärft und so entging ihm nichts. Er wartete angespannt auf den einen Moment, den Augenblick. Da war er! Das Schnappen eines Klappmessers ertönte und er drehte sich blitzschnell rum, packte den Arm des Russen unterhalb des Handgelenks. Er grinste hämisch. „Ich würde mich vorher informieren, ob dein Gegner deine Sprache spricht, sonst macht es keinen Sinn seine Ermordung offen anzukündigen.“ Er verdrehte den Arm des Mannes auf den Rücken, bis dieser vor Schmerzen aufjaulte und das Messer fallen ließ, dann versetzte er ihm einen Stoß in die Kniekehlen. Sein Gegner fiel auf die Knie. Mikael rammte ihm seinen Fuß zwischen die Schulterblätter und kniete sich dann auf den Russen, der unter ihm darum kämpfte, wieder die Oberhand zu gewinnen, griff nach dem Messer und hielt es an die Kehle des Mannes unter ihm. „Ich würde ganz still sein, sonst könnte ich aus Versehen eine wichtige Ader treffen“, zischte er leise und merkte, wie sein Gegner in seiner Bewegung erstarrte.


    Nun zog Mikael seinem Gegner das Handy aus der Tasche und rief die zuletzt gewählte Nummer an. „Habe ich dich jetzt überzeugt, dass ich gefährlich genug bin, dass man mich ernst nimmt?“, sagte er auf Russisch. „Gut … ich freue mich.“ Er steckte das Handy in seine Hosentasche und zog den Mann vor sich hoch. „Du sollst mich hinbringen, aber da ich dir kein Stück über den Weg traue, gehst du vor!“

  • Der Mann führte Mikael in eine alte schäbige Lagerhalle, in der er in seiner Jugend schon die ein oder andere wilde Party gefeiert hatte. Zentimeterdicker Staub lag auf dem Fußboden. Es roch nach feuchter, abgestandener Luft und nach Schimmel. Die eingeschlagenen Fenster waren mit losen Brettern vernagelt. In der Mitte war eine LKW-Plane ausgebreitet, auf der ein Stuhl stand. „Du willst mich doch wohl nicht ermorden?“, rief er in den Halle hinein.
    Er vernahm Schritte und eine Person trat hinter einer gemauerten Zwischenwand hervor. „Man kann nie wissen … ich bin auf alle Eventualitäten vorbereitet.“ Kuznetsov strich sich über die kurzen grauen Haare und zündete sich eine Zigarre an. Er trat auf ihn zu. „Ich würde vorschlagen, als erstes lässt du Ilja gehen.“
    „Was hätte ich davon?“ Mikael drückte das Messer etwas fester gegen Iljas Hals.
    „Nicht viel … aber ich rede lieber in Ruhe über Geschäfte. Ohne Waffen.“
    Mikael löste das Messer und warf es auf die Erde. Seine Geisel riss sich sofort los und stand nun neben Kuznetsov. „Dir ist doch klar Ilja, dass dich Kuznetsov nach diesem Fehler, den du heute begangen hast, nicht lange am Leben lassen wird“, sagte er mit einem kleinen Lächeln. Sein Gegenüber antwortete mit einigen Schimpfwörtern auf Russisch, doch Mikael konnte sehen, dass ihm die Aussage zu denken gab.
    Kuznetsov trat näher, zog an seine Zigarre und blies den Qualm in sein Gesicht.
    „Du willst also Geschäfte mit mir machen. Wieso denkst du, dass du mein Geld wert bist?“
    „Ich habe ein gutes Gedächtnis und für dieses bin ich bei der Helsinkier Polizei nicht besonders unbekannt“, antwortete er in einer desinteressierten, monotonen Stimmlage.
    „Du willst mich also erpressen?“, stellte Kuznetsov heraus, während er zynisch lächelte.
    „Erpressen. Das ist so ein böses Wort. Ich möchte nur, dass du dir darüber Gedanken machst … im Augenblick könnte ich mich noch mit etwas Geld zufrieden geben, aber wenn du nicht willst. Ich kann auch eine Aussage machen, die bis ins kleinste Detail geht.“
    Der Blick von Ilja wechselte zwischen ihm und seinen Boss. Seinem Boss, der alles andere als begeistert schien, das vor seinen Augen ein Problem stand. „Er … er war mit Heroin vollgepumpt. Er kann das überhaupt nicht wissen“, kam es nun unsicher von Ilja.
    Kuznetsov nickte nachdenklich und musterte ihn mit seinen braunen Augen. „Erzähl Junge, was weißt du?“
    „Ich habe dich in der Tür gesehen, als Galina ermordet wurde, ich habe gehört, wie du mit Ilja über eine Lieferstraße von St. Petersburg nach Helsinki geredet hast und ich weiß, dass du nun planst nach Deutschland zu expandieren.“ Mikael lächelte, als er dadurch Kuznetsov in Unruhe versetzen konnte. Die Hälfte davon war ausgedacht. Er hatte weder das erste Gespräch belauscht, noch wusste er, dass Kuznetsov nach Deutschland expandieren wollte. Es waren Tatsachen, die typisch waren für den russischen Drogenhandel. Der Stoff kam meistens aus St. Petersburg und Helsinki galt als wichtiger Hafen ins Ausland.
    Kuznetsov lief vor ihm auf und ab, wechselte mit Ilja Blicke und sah dann wieder ihn an. „Das ist in der Tat einiges, was du weißt. Aber da du ein schlauer Junge bist und ich weiß, dass du einer der Bullen bei der Drogenfahndung warst, die mir wirkliche Probleme gemacht haben ...“, der Russe deutete mit einer Handbewegung das Halsabschneiden an. „… kann ich dich doch nicht gehen lassen, oder? Wenn ich dich hier und jetzt wegschaffe, wäre mein Leben doch viel leichter.“ Mikael legte den Kopf schief. „Wer sagt dir, dass ich die Beweise nicht irgendwo deponiert habe. Eine Lebensversicherung sozusagen.“
    „Du bist Hansens Sohn, ich gehe davon aus, dass du das hast“, antworte ihm sein Gegenüber.
    „An wie viel hast du gedacht Kleiner? Was denkst du wie viel ist dein Schweigen wert?“
    Mikael blieb lange stumm, um den Eindruck zu machen, dass er wirklich ernstlich über das Angebot nachdachte.
    „Ich bin ein nette Mensch Kuznetsov, ich denke ich komme mit 20.000 im Monat klar.“
    „20.000?“
    „Ja. 20.000 Euro. Von irgendetwas muss ich ja auch leben als Vollwaise. Mein Vater hat mir leider nicht besonders viel überlassen.“
    Kuznetsov streckte die Hand aus. „Deal“, sagte er in Russisch.
    „Deal“, antwortete Mikael, während er seine Hand ergriff. Kuznetsov drückte seine so fest, dass der meinte, die Knochen müssten ihm brechen.


    „Du findest alleine nach Hause?“, wollte Kuznetsov wissen und er nickte, während er ein falsches Lächeln aufzog. „Ich bin hier aufgewachsen. Ich kenne jeden Winkeln in diesem Viertel.“ Mikael atmete tief durch, während er durch die staubige Halle in Richtung Ausgang ging. Er wusste es war noch nicht vorbei. Kuznetsov würde sich nicht so leicht geschlagen geben, sondern glaubte, dass er ihn in der Falle hatte. Kurz bevor er die Eisentür erreicht hatte, die in die Freiheit münden würde, gab ihm jemand einen harten Stoß gegen den Rücken. Als der nächste Schlag kam, war er mehr als bereit dafür. Er hatte ein perfektes Bild davon im Kopf. Sein Kopf fuhr herum und er erkannte Ilja. Im selben Moment schlug dieser mit der Faust zu. Er konnte dem Schlag problemlos ausweichen, doch schon wurde die Faust wieder auf ihn zu gestoßen. Er duckte sich unter seinem Arm weg und ließ seine Faust in die Magengrube des Mannes gleiten, woraufhin dieser aufjaulte. Doch er behielt nur kurz die Überhand. Während er mit Ilja beschäftigt war, rammte ihm Kuznetsov eine Faust heftig in die Rippen. Ihm blieb kurz die Luft weg und er taumelte. „Es war dumm von dir“, rief ihm Kuznetsov zu. Er schlug ihm seine Faust ins Gesicht, doch er traf nur die Schläfe. Als Revanche erhielt er von Kuznetsov einen Schlag gegen die Nieren. Er keuchte auf.
    „Eins muss man dir lassen, du hast Stehvermögen“, jauchzte Kuznetsov, doch dann verzog sich sein Gesicht zu einer unheilvollen Fratze. „Ilja! Sorg dafür, dass der Kleine dieses Mal nicht davon kommt.“ „Du denkst wirklich dein kleiner Gorilla ist ein Gegner für mich“, fauchte Mikael und spuckte Blut aus.
    Ilja schlug erneut zu und traf diesmal seinen Wangenknochen mit einer solchen Wucht, dass er zu Boden fiel. Wütend preschte er wieder nach oben. „Ihr kommt nicht davon. Ihr werdet euch für Galinas Tod verantworten müssen!“ „Galina, Galina, Galina … so langsam gehst du mir auf die Nerven. Sie war eine Prostituierte nichts weiter. Niemand vermisst sie“, zischte Ilja und ließ seine Haare wieder los, worauf er nach vorne auf den Boden sank. „Du hast sie getötet nur so zum Spaß. Erst hast du sie vergewaltigen lassen, um sie dann aus dem Weg zu räumen!“
    Ilja lachte. „Ja und es hat dem Herrn Staatsanwalt Laitinen sogar sehr viel Freude bereitet.“ Der narbige Mann hielt sich die Hand vor den Mund. „Ups, nun ist mir doch tatsächlich sein Name rausgerutscht.“ Wieder hallte das tiefe Lachen des Russen durch die Fabrikhalle. „Aber was soll’s. Du überlebst die nächsten Stunden ja doch nicht.“ Ilja griff nach seinem Kopf und knallte ihn hart gegen den Betonboden. Schwärze breitete sich um ihn aus.


    Mikael erwachte mit einem klopfenden, stumpfen Schmerz hinter der Stirn. Als er die Augen öffnete, fand er sich gefesselt auf einem Stuhl sitzend wieder. Sein Kopf hing schwer auf seiner Brust, sein Atem ging stockend. Jeder Atemzug tat ihm in der Brust weh. Er hatte zu hoch gepokert und doch war alles glatt gegangen, denn noch lebte er. „Kuznetsov, du Arsch“, zischte er.
    Kuznetsov umkreiste ihn, blieb dann stehen und umfasste mit der linken Hand seinen Unterkiefer. „Du dachtest wirklich, dass du eine Chance hast?“ Mikael sah sein Gegenüber stumm an und zuckte dann mit den Schultern.
    „DU dachtest, dass du mich erpressen könntest?“ Kuznetsov lachte laut und hämisch. „Du bist doch nichts, als ein kleiner Bulle“, sagte er spöttisch. Er sah zu Ilja. „Wie konntest du dich überhaupt von so etwas überrumpeln lassen?“
    „Du hältst dich wohl für eine ganz große Nummer“, fauchte Mikael und sah den Mann vor sich herausfordernd an. „Du glaubst, die Bullen wären zu dumm, um herauszufinden, dass die ganze Sache nur ein riesen Fake ist. Der große Boss, das Phantom, das nur in Russland ist. Stellvertreter die Arbeit machen lässt.“ Kuznetsov's Grinsen verschwand. „Du denkst, dass niemand meiner Kollegen das auch herausfinden könnte? Ich kann dir versichern. Sie werden es. Du wirst untergehen, ob du mich heute tötest oder nicht!“ Das ließ sich der Russe nicht gefallen und schlug dem jungen Kommissar mit der Faust mitten ins Gesicht. Der metallische Geschmack von Blut lag ihm auf der Zunge. Er hustete und spukte es aus – direkt auf die Stiefelspitze des Russen. Mit einem starren Blick musterte er sein Gegenüber. Dieser sah Mikael tief in die Augen und als dieser seinem Blick stand hielt und ihn dabei auch noch überheblich angrinste, holte Kuznetsov wieder aus und versetzte ihm den nächsten Schlag in das Gesicht. Sein Kopf wurde brutal zur Seite geschleudert und vermutlich wäre er zu Boden gefallen, wäre er nicht an den Stuhl gebunden.


    „Es wird Zeit, dass du gehst!“ Kuznetsov zog eine Waffe hervor und drückte sie gegen Mikaels rechtes Knie. Das kalte Metall presste sich an seine Haut. Kuznetsov lächelte, während er den Druck mit der Waffe erneut verstärkte. Er hielt dem Blick stand. Egal was passieren würde, diesen Triumph würde er diesem Mann nicht gönnen. Er würde keine Angst zeigen. Er würde mit hoch erhobenem Kopf in den Untergang gehen. „Weißt du was Kleiner. Dieser Blick den du hast, er erinnert mich an deinen Vater.“ Der Russe lachte, während sein Finger den Abzug etwas mehr herunterdrückte. „Weißt du wie viel du ihm wert warst?“ Mikael hatte Schwierigkeiten sich die Überraschung über diese Aussage nicht anmerken zu lassen. Was zur Hölle meinte Kuznetsov damit? Was hatte sein Vater mit all dem zu tun? Der Mann vor ihm lachte noch lauter auf. „4 Millionen hat er mir gegeben, damit ich dich gehen lasse. 4 Millionen, damit ich seinen Sohn nicht anrühre.“ Sein Herz begann zu rasen, klopfte überlaut in seinen Ohren. Sein Vater hatte ihn damals von Kuznetsov freigekauft? Sein Vater war es gewesen und nicht nur Häpis Drogenlieferung!
    „Ach du wusstest es nicht?“, stellte Kuznetsov fest. Mikael atmete tief durch. Er musste seinen Körper wieder unter Kontrolle kriegen. Er musste klar denken und die Sache mit seinem Vater bei Seite schieben. „Und wenn? Es würde nichts ändern. Mein Vater hat mit deinem jetzigen Untergang nichts zu tun!“, fauchte er und lachte leise. „Du könntest flüchten, denn bald wird alles hier voller Bullen sein.“ Sein Gegenüber zog die Augen zu Schlitzen zusammen. „Das soll ich dir glauben? Ilja hat jeden Winkel von dir nach einer Wanze durchsucht.“ Mikael lächelte nur. „Wir können es ja testen, oder nicht?“ Der Druck der Waffe verstärkte sich gegen sein Knie.
    „Du hältst dich wohl für besonders schlau! Aber ich muss dich enttäuschen, du bist es nicht! Du bist nichts weiter als ein kleiner Möchtegernbulle. Ein Wurm!!!“
    Kuznetsov's Finger näherte sich dem Abzug. Dann durchzog ein Schuss die Luft der Lagerhalle.





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    nächster Teil dann am Dienstag

  • Der Russe zuckte zurück, als ein Schuss durch die Fabrikhalle hallte. „Ganz schnell die Pfoten von meinem Kollegen, oder ihr geht bald als Schweizerkäse durch“, schrie eine Stimme und Mikael blickte zur Seite. Kasper stand in der Halle, dahinter einige weitere Polizisten. Alles war nach Plan verlaufen. Er hatte die beiden in eine Falle gelockt, während Kasper auf sein Stichwort gewartet hatte. „Die Hände dahin, wo ich sie sehen kann!“, schrie der blonde Kommissar erneut. „Ich würde tun was er sagt. Er ist kein besonders guter Schütze … er könnte aus Versehen deinen Kopf treffen“, sagte Mikael emotionslos und lächelte dabei leicht. Kurz darauf hörte er noch einmal Kaspers Stimme, die die beiden Verbrecher erneut ermahnte, dass sie seiner Forderung nachkamen.


    Mikael konnte sehen, wie sowohl dieser Ilja als auch Kuznetsov abwogen, wie ernst ihre Lage wirklich war. Ob es ein Entkommen aus dieser Situation gab. Kuznetsovs Augen zuckten hin und her. Schließlich schien er einzusehen, dass er keine Chance gegen so viele Polizisten hatte, legte die Waffe auf die Erde und hob die Hände. Kurz darauf tat es ihm Ilja gleich und es dauerte nicht lange und das Klacken von Handschellen hallte in der Fabrikhalle wider.
    Kuznetsov sah zu ihm herunter. „Ich hätte damit rechnen müssen. Du bist deinem Vater wirklich sehr ähnlich. Man wusste nie, woran man bei ihm wirklich ist. Er hatte immer etwas in der Hinterhand, etwas was seinen Gegnern den Hals brechen konnte.“
    „Ich habe mir damals geschworen, dass ich dich bekomme und ich habe dich bekommen. Du bist über dein eigenes Konzept gefallen. Geldgier kann auch der Polizei von Nutzen sein. Man muss seinen Quellen nur etwas bieten und sie wenden sich gegen dich.“ Mikael lächelte sein Gegenüber an, der nun wütend durch die Nase ausatmete, ehe er von einem uniformierten Kollegen, ebenso wie Ilja, abgeführt wurde.


    „Du bist vollkommen wahnsinnig!“ Kasper beugte sich herunter und löste das dicke Seil von seinen Händen und Füßen. Mikael konnte ihn über das Surren in seinen Ohren kaum verstehen. Sein Kopf pochte. „Jaja … wir haben ihn doch und mir geht es gut.“
    Er stand auf, ignorierte das kurzzeitige Schwindelgefühl, und zog dabei sein Armband von seinem Handgelenk. „Das dürfte ausreichen, damit die beiden die nächsten Jahre hinter Gittern hocken werden.“ Kasper hielt seine Hand auf und das Armband landete in seiner Handfläche. „Scheiße, du hättest ruhig etwas früher das Stichwort sagen können. Du wärst fast draufgegangen!“ Mikaels Mundwinkel zogen sich nach oben. „Man merkt wirklich, dass du in behüteter Umgebung in einem der reichsten Viertel Helsinkis aufgewachsen bist. Ich habe mich doch gut geschlagen.“
    Der blonde Kommissar ließ das Armband samt dem kleinen Empfänger, der kaum sichtbar am Anhänger befestigt war, vor seinen Augen baumeln. „Sieh dich im Spiegel an und sage das noch einmal“, murmelte er leise, war sich aber doch sicher, dass Mikael ihn verstanden hatte.
    „Ein bisschen Wasser und das Gröbste ist ab“, gab dieser Konter.
    „Du solltest in ein Krankenhaus gehen.“
    „Und dann?“
    „Werden Sie sich das genauer ansehen.“ Kasper zog Mikaels Kapuzenpullover nach oben, worauf dieser leicht vor Schmerzen aufschrie. „Bist du bescheuert“, knurrte er.
    „Nein, aber du, wenn du das nicht untersuchen lässt“, sagte Kasper und ließ den Pullover nun wieder nach unten gleiten. „Außerdem brauchen wir die Verletzungen für die Akten dokumentiert“, fügte er an und zwinkerte mit dem linken Auge.
    „Hinterlistiger Arsch“, nuschelte Mikael und setzte sich dann in Bewegung. Kasper lief einige Meter hinter ihm her. „Ich fürchte, wir haben danach dann noch einen Besuch zu machen. Willst du mit zu Laitinen?“ Mikael schüttelte den Kopf. Er hatte wirklich kein Interesse diesem Mann entgegenzutreten. Vermutlich würde er sich verlieren und zuschlagen. „Wir sind ein paar Jahre zu spät, als das wir ihn dafür noch rankriegen könnten“, sagte er.
    „Das vielleicht schon, aber ich kenn da einen guten Journalisten. Der würde für diese Story vieles machen.“ Mikael blieb stehen und drehte sich zu seinem Freund um. „Du nimmst Verhaltenszüge an, die mir Angst machen Herr Kramsu. Solche schmutzigen Dinge einem ehrenvollen Staatsdiener anzutun.“ Der Blonde lachte. „Ich sorge mich nur um einen Freund. Irgendwie muss ja Max über die Runden kommen. Es ist hart als Journalist, gerade im Zeitalter der digitalen Medien.“


    Es war fast Mitternacht, als sie die Untersuchungen im Krankenhaus schließlich beendet hatten. Mikael sollte dort bleiben, aber schon als der Arzt diesen Gedanken ausgesprochen hatte, wusste Kasper, dass sein Freund dieser Empfehlung nicht nachkommen würde und darauf bestand nach Hause zu fahren. Kasper drehte sich zu seinem Beifahrer. Mikael hatte den Ellenbogen auf dem heruntergekurbelten Fenster liegen und sah gedankenverloren in die Nacht. Kasper fragte sich, was wohl in Mikael vorging. War er erleichtert, dass er den Mann geschnappt hatte, den er so lange suchte oder würde das nichts an dieser Rastlosigkeit ändern, die den jungen Kommissar vor Jahren befallen hatte und selten los ließ?


    Als sie bei dem kleinen Einfamilienhaus angekommen waren, konnte Kasper sehen, dass Eva bereits nervös am Fenster wartete. Ihre Arme waren eng um den Körper geschlungen und als sie sein Auto sah, war sie in Richtung Tür gesprintet. Sie wurde aufgerissen, doch Eva trat nicht heraus. Sie blieb stehen, als würde sie eine durchsichtige Wand vom Weiterlaufen abhalten. „Deine Frau wartet“, sagte Kasper und sein Beifahrer sah auf. Mikael schien überhaupt nicht mitbekommen zu haben, dass sie wieder zu Hause waren. Er nickte leicht und drehte sich dann zu ihm. „Danke Kasper … für alles“, murmelte er verlegen und löste dann den Sicherheitsgurt mit schmerzverzerrtem Gesicht, öffnete die Tür und stieg aus.


    Der Blonde Kommissar verfolgte, wie sich das Ehepaar in den Arm nahm und Mikael ihr einen Kuss gab. Er legte den Gang ein und fuhr los. Sein Arbeitstag war noch nicht beendet und es wartete noch eine Festnahme auf ihn, die ihm mehr als Spaß machen würde.

  • Ben legte die Schachtel mit kleinen Schokoladen auf Veikkos Bettdecke und holte sich einen Stuhl an Veikkos Bett. „Na, wie geht’s?“ Veikko zuckte mit den Schultern. „Gut denke ich.“ Der finnische Kollege musterte ihn kritisch. „Was ist mit dir passiert? Gegen den berühmten Schrank gelaufen?“ Ben lächelte. „So in etwa kann man das ausdrücken. Ich war in der Wohnung von Niemi und habe deine Waffe geholt.“
    Veikko richtete sich mühselig in dem Bett auf und biss die Zähne zusammen, als eine Schmerzwelle seinen Körper durchfuhr. „Du … bist … alleine dort hin?“, presste er leise hervor, als es ihm endlich gelungen war.
    Der deutsche Kommissar setzte sich hin und lachte verlegen, während er zu Boden sah. Zu gerne würde er dieser Situation entgehen, denn seinen Fehler würde er nicht gerne zugeben. „Ich dachte niemand ist so dumm und kehrt zurück. Er hat mich angegriffen, aber es ist alles gut gegangen. Das spielt auch jetzt keine Rolle mehr.“
    Er wendete den Kopf wieder auf den finnischen Kommissar, der sich inzwischen auf das mitgebrachte Geschenk stürzte und genüsslich eine der Schokoladen in seinen Mund schob. „Wie meinst du das?“, fragte Veikko mit vollem Mund.
    „Es gibt Neuigkeiten aus Finnland. Sie haben Kuznetsov geschnappt.“ Veikko hielt inne. „Sie haben was?“ „Kuznetsov geschnappt“, wiederhole Ben erneut.
    „Ja, das habe ich doch verstanden, ich bin ja nicht taub. Einfach so im Vorbeigehen, oder wie soll ich mir das vorstellen?“ Ben zuckte mit den Schultern. „Als Semir heute Morgen angerufen hatte, wusste er auch keine Details. Ich glaube Kasper hat die Aktion geleitet … naja Antti hat im Hintergrund rumgeschrien, also hat Kasper wohl etwas gemacht, was nicht gerade unter ungefährlich einzustufen ist.“ „Was hat er gesagt, also Antti?“ Ben zog die rechte Augenbraue hoch. „Keine Ahnung, denn ihr habt diese Angewohnheit dauernd Finnisch zu sprechen.“ Veikko ließ den Kopf in sein Kissen fallen. „Kasper eine Aktion … die gefährlich ist. So recht möchte ich das nicht glauben. Er ist einer dieser Regeltypen und vor allem ohne Absprache mit Antti …“
    „Es scheint aber wohl so gewesen zu sein.“
    „Hmm. Du denkst, dass der Komplize – wer auch immer das nun war – nicht wieder auftaucht?“
    „Naja, sagen wir so. Ich habe trotzdem erst einmal eine Streife dort postiert. Er hat etwas gesucht und wenn er es gestern Abend nicht gefunden hat, dann kommt er sicherlich wieder zurück.“
    Veikko nickte. „Da könnte etwas Wahres dran sein.“ Dann lächelte er breit und hielt Ben die Schokolade hin. „Möchtest du auch etwas davon?“
    „Wenn du so fragst!“ Gierig auf den Süßkram streckte der deutsche Polizist die Hand aus und gönnte sich eine der kleinen Schokoladen.


    Der restliche Tag verlief dann eher ruhig. Ben war noch einige Stunden bei Veikko geblieben, der vor Langeweile schon überhaupt nicht mehr wusste, was er mit sich anstellen sollte, und dann zur Dienststelle gefahren. Die Besprechung bei Kim Krüger begann mit einer Standpauke, da natürlich auch sie sein eigenmächtiges Handeln mitbekommen hatte. Danach allerdings wurde es ruhiger und sie besprachen das weitere Vorgehen im Fall Kuznetsov. Sie war, wie er, der Meinung, dass man die Streife noch für einige Zeit vor dem Haus belassen sollte, ehe man sie abzog. Sicher war sicher. Den Nachmittag verbrachte Ben schließlich damit noch einige Kilometer auf der Autobahn herunterzuspulen. „Ach habe ich das vermisst“, seufzte er, als er sich an einer kleinen Raststätte einen Snack gönnte.



    Am gleichen Tag in Finnland:
    „Ich glaub es nicht, hinter meinem Rücken! Es hätte Gott weiß was passieren können.“ Anttis Halsschlagader pochte bedrohlich und Kasper versank tiefer in seinen Stuhl. Er hatte mit dieser Ansprache gerechnet, aber dennoch fühlte er sich derzeit alles andere als wohl in seiner Haut. „Es ist aber doch alles gut gegangen. Ich war die ganze Zeit in Mikaels Nähe“, versuchte sich der blonde Polizist zu verteidigen.
    Antti verschränkte die Arme vor der Brust. „Pah! Und wenn sie auf ihn geschossen hätten? Was wäre dann gewesen? Ein Schuss an die richtige Stelle und es hätte dir nicht mehr viel genutzt, dass du die GANZE ZEIT in Mikaels Nähe warst.“
    Er hob beschwichtigend die Hände, obwohl er wusste, dass sein älterer Kollege gerade erst so richtig in Fahrt kam. Wenn es um Mikael ging, da kannte er bekanntlich kein Halten und würde ihm diese Aktion sicherlich noch Tage vorhalten. „Gut Antti, du bist sauer. Verständlich, wir haben dich außen vorgelassen. Aber wir haben Kuznetsov und diesen Ilja Kornilov. Denkst du nicht, dass es Mikael hilft? Er hat endlich die Menschen gefasst, die ihn so lange in seinen Albträumen verfolgt haben. Und ja, diese Chance war es mir Wert das Risiko einzugehen!“
    Der Ältere sah ihn lange stumm an und atmete einige Male tief ein und aus. „So siehst du das also?“
    Kasper versuchte den Augenkontakt zu vermeiden. Natürlich sah er das überhaupt nicht so. Er war nicht der Auffassung, dass diese Festnahme Mikael über seinen derzeitigen psychischen Zustand hinweghalf. Es würde vielleicht für den Augenblick helfen, aber nicht auf Dauer. Mikael hatte ihm zwar versprochen, dass er trotz des Erfolges einen Psychologen aufsuchen würde, aber ob er es am Ende auch tat, das war eine ganz andere Geschichte. Vermutlich würde er nachhelfen müssen und ihn zu seinem Glück zwingen.
    „Nein“, sagte er schließlich. „Es wird noch dauern, bis Mikael wieder in Ordnung kommt, aber es ist ein wichtiger Schritt denke ich.“
    „Denkst du?“ Antti hatte sich also noch nicht wieder beruhigt.
    „Denke ich“, wiederholte er und stand dann auf. „Es tut mir leid, aber wir haben auch noch andere Fälle auf den Schreibtisch. Lass uns weiterarbeiten.“
    Kasper wollte an Antti vorbei in Richtung Schreibtisch gehen, doch dieser packte zu und umgriff mit seiner Hand seinen Oberarm. „Lass mich gehen!“, schimpfte er leise.
    „Wir sind noch nicht fertig!“
    „Antti. Kasper hat nur das getan, was Mikael von ihm verlangt hat und es war mit dem Chef abgesprochen“, kam es nun von einer dritten Stimme und er merkte, wie der Griff um seinen Arm sich lockerte. Er sah an seinem älteren Partner vorbei und lächelte. „Danke Semir“, sagte er und setzte dann seinen Weg in Richtung Schreibtisch fort. Stillschweigend hockte er sich über den Bericht der letzten Nacht, darauf bedacht nicht aufzusehen und damit womöglich Augenkontakt mit Antti zu haben.





    Mikael schob sich ein Stück Croissant in den Mund und schlug die Zeitung auf. Schon auf der Titelseite sprang ihm ein Bild von Pekka Laitinen entgegen. „Staatsanwalt wegen Missbrauchsvorwürfen verhaftet“, titelte die Schlagzeile darunter und er überflog den Text, den er auch ohne Abdruck des Autors zweifelsfrei seinem Freund Max Hagenström zuordnen konnte. Kasper hatte also sein Vorhaben umgesetzt und Max einen kleinen Tipp zukommen lassen. Er blätterte die Zeitung weiter und studierte den Sportteil. Sein Lieblingseishockeyclub hatte einmal mehr verloren und er drohte in der Wettgemeinschaft der Abteilung seine Führung zu verlieren. Das hatte er wohl davon, wenn er in diesem einen Fall nicht auf seine Statistiken, sondern sein Bauchgefühl vertraute. Er überflog noch schnell die übrigen Ergebnisse, um mit Erleichterung festzustellen, dass er immerhin ein paar Resultate richtig getippt hatte. Veikko würde ihm also doch noch nicht auf die Pelle rücken, wenn es um den Gesamtsieg ging.
    Mikael faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Tisch. Sein Blick fiel zur Seite. Tarmo hatte sich inzwischen ebenfalls in der Küche eingefunden, saß neben ihm und schnüffelte mit bebender Nase. Er sah ihn mit treuherzigen Augen an, als er das Croissant in seiner Hand erblickte. Er ließ sich schließlich erweichen. „Gut Junge, aber nur ein Stück.“ Natürlich gab sich Tarmo nicht mit einem Stück zufrieden. Der Hund war nicht dumm und wusste, dass er leicht zu beeinflussen war und so fiel Tarmos Anteil an seinem Frühstück am Ende um einiges größer aus als sein eigener.
    „Du sollst ihm doch nicht immer etwas geben. Er soll sein eigenes Futter essen.“ Eva trat in den Raum. Sie küsste ihn in den Nacken und fuhr mit ihrer Hand durch seine Haare. „Aber mein Essen scheint ihm um einiges besser zu schmecken“, wehrte er sich und reichte ihr die Zeitung. „Das Schwein bekommt endlich was er verdient.“ Seine Frau griff nach der Zeitung und überflog den Artikel jetzt ebenfalls. „Dank des Einsatzes von Hauptkommissar Kasper Kramsu“, las sie laut vor und sah ihn an. „Was ist mit deinem Einsatz? Du bist derjenige, dessen Körper nun von blauen Flecken übersät ist“ „Ich wollte nicht, dass Max es reinschreibt“, gab er sich bescheiden. Die Wahrheit war, dass er Laitinen gerne viel früher dranbekommen hätte, für das war er Galina angetan hatte. Es fühlte sich gut an, dass sie die Menschen, die ihren Tod zu verantworten hatten, endlich festgenommen hatten, aber dennoch überwog derzeit ab und an noch der Wunsch, dass er sie viel früher hätte bekommen können, wenn er bei Häpi nur energischer gewesen wäre.
    „Später muss ich noch ins Präsidium, das Protokoll mit Kasper durchgehen“, sagte Mikael nach einer Weile und Eva nickte. Er holte tief Luft. „Aber heute Nachmittag … wie wäre es wenn wir … also ich habe mir gedacht, dass wir mal wieder etwas mit den Kindern und auch uns würde es sicherlich gut tun …“ Mikael sah, wie Eva sich Mühe gab bei seinem Rumgedruckse nicht gleich loszulachen. „Ich dachte wir könnten ins Kino gehen. Es läuft ein Kinderfilm, der hat ganz gute Kritiken.“ Sie gab ihm einen Kuss von der Seite. „Das wäre schön. Wir waren schon lange nicht mehr im Kino.“
    „Ja, das ist wohl wahr“, bestätigte er und schämte sich gleichzeitig dafür, dass er wohl der einzige Grund dieses Faktums war.


    Eva hatte sich inzwischen gegenüber von ihm hingesetzt. „Geht es dir jetzt besser?“ Sein Blick war gesenkt und dennoch konnte er sehen, wie viel Angst ihr diese Frage bereitete. Ihr Messer schwang in der zittrigen Hand auf und ab. Er sah hoch und lächelte. „Ja … ja, ich denke schon. Ja, ich glaube, jetzt kann ich wieder wirklich leben.“ Seine Hand griff nach ihrer freien. „Mit euch.“

  • Semir sah aufmerksam in das Büro des Chefs der Mordkommission. Mikael und Kasper saßen vor dem Schreibtisch von Ville Rautianen und schienen mit ihm ausführlich die gestrige Aktion zu bereden. „Ich verstehe es immer noch nicht“, schimpfte Antti neben ihm. „Die haben mich nicht beachtet … Pah! Die dachten, dass ich die ganze Aktion gefährden würde.“ Semir nickte nur, um sich zu keiner unüberlegten Äußerung hinleiten zu lassen. Antti konnte in einigen Situationen ziemlich unangenehm werden und seine Wutausbrüche waren bei vielen Kollegen gefürchtet.
    „Hast du ihn dir angesehen? Hast du? Mikael hat überall blaue Flecken, eine Platzwunde an der Stirn und die … die tun so, als wäre alles in Ordnung. Einen erfolgreichen Zugriff nennen die das.“
    „Es war Mikaels Entscheidung. Er hätte Kasper auch früher den Zugriff starten lassen können“, sagte der deutsche Polizist nun vorsichtig.
    „Hast du dir das Band angehört?!“, gab Antti wutschnaufend Kontra.
    „Es ist Finnisch.“ Semir lächelte verlegen. Natürlich hatte er dabeigesessen, als Antti sich das Band vor wenigen Stunden angehört hatte, aber er hatte Nichts verstehen können. Es wurde entweder auf Finnisch oder auf Russische geredet, dennoch war ihm klar, auf welche Stelle sein Freund ansprach. Es gab eine Pause von drei Minuten, in denen Mikael nicht sprach, sondern nur Kuznetsov und Kornilov auf Russisch.
    „Ich bin mir sicher, Kasper wusste über das Risiko Bescheid.“
    Antti war von seinem Stuhl aufgesprungen und sah nun aus dem Fenster. „Kasper kann kein Russisch, genauso wenig wie ich. Er hatte keine Ahnung worüber diese Leute geredet haben und doch wartet er ab … was wenn er geordert hätte Mikael zu erschießen?!“
    Semir lächelte gezwungen. Antti hatte natürlich in allem Recht, was er sagte. Es war eine unbedachte Aktion der beiden jungen Beamten gewesen und auch er hieß sie nicht wirklich gut. Bei dem Zugriff hätte einfach zu viel schief gehen können. Zu viel hatte auf dem Spiel gestanden.


    Als die beiden jungen Beamten aus dem Büro traten, suchte Kasper schnell die Flucht und verschwand an seinen Schreibtisch am anderen Ende des Großraumbüros. Der Blonde wusste, dass es wohl noch einige Tage dauern würde, bis Antti ihm verziehen hatte und ein Gespräch nicht in Vorwürfen enden würde. Mikael hingegen blieb vor ihnen stehen. Seine Mundwinkel zogen sich nach oben, während er die Hände in den Taschen seines Pullovers versteckte. „Ich wollte euch nicht im Unwissen lassen, aber es ging nicht anders“, sagte er mit fester Stimme.
    „Es hätte Gott weiß was passieren können!“, polterte Antti ungehalten los.
    Mikael wippte mit dem Kopf seicht auf und ab. „Aber es ist nichts passiert. Ich bin in diesem Milieu aufgewachsen, Antti. Ich weiß wie weit ich gehen kann!“
    „Wirklich? Die Verletzungen sprechen eine ganz andere Sprache!“ Semir konnte sehen, wie der Körper des Älteren vor Wut bebte, aber Mikael schien mit dieser Seite von Antti besser klar zu kommen als Kasper. Er lächelte nur. „Es sind keine schlimmen Verletzungen, sie werden verblassen. Im Gegensatz zu Erinnerungen. Die kann ich jetzt endlich loslassen, weil ich mein Versprechen gehalten habe, was ich mir damals selbst gegeben habe.“
    Semir sah, wie sich Anttis Mund öffnete und er etwas erwidern wollte, doch dann seufzte er nur und schüttelte den Kopf. Mikael wandte sich zu Semir. „Wenn Andrea und die Kinder hier sind … ich würde mich freuen, wenn ihr zum Essen vorbeikommt. Ruf mich an, okay?“
    „Ähm, ja … natürlich“, antwortete ihm Semir, der noch etwas perplex war von der ganzen Situation.
    Der Jüngere sah zu Boden. „Na dann … ich werde mal wieder los. Einen schönen Arbeitstag noch.“ Mikael sah kurz auf, ehe er dann mit gesenktem Kopf das Büro verließ, nachdem auch Antti und Semir sich verabschiedet hatten.


    Mikael war nicht besonders weit gekommen, als er eine Stimme hinter sich vernahm. „Herr Häkkinen.“ Er drehte sich um. Eine Frau, die bis vor wenigen Minuten noch im Foyer der Dienststelle gestanden hatte, kam hinter ihm den Weg zur Straße entlang gelaufen. „Ja?“ Sie verkürzte den Abstand zwischen ihnen und streckte ihm die Hand aus. „Lone Salminen. Sonderdezernat Totenwinter.“ Er griff nach ihrer Hand. „Wer hat sich den Namen ausgedacht? Der Polizeipräsident persönlich?“ Die Frau gegenüber von ihm lächelte. „Vermutlich. Ich war es nicht.“
    „Was wollen Sie?“, fragte er nun.
    „Sie.“
    „Mich?“ Er schüttelte mit dem Kopf und setzte sich wieder in Bewegung. Lone Salminen folgte ihm. Er hörte ihre Absätze auf dem Gehweg klappern. „Sie sind ein begabter Polizist. Ihre Auffassungsgabe ist erstaunlich, sie kombinieren schnell und sehen Dinge, die andere übersehen. So jemanden wie Sie brauchen wir.“
    Er schob seine Hände in seinen Kapuzenpullover und lief weiter ohne eine Antwort zu geben. Irgendwann würde sie schon verstehen, dass er kein Interesse hatte. Das Klappern ihrer Absätze wurde jedoch nicht leiser oder verstummte. Sie war immer noch dicht hinter ihm. „Ich habe ihre Akte gelesen. Sie sind der Mann den ich haben will.“
    Dieser Kommentar entlockte ihm ein Lachen und nun blieb er entgegen seinem ursprünglichen Plan doch stehen. Er drehte sich um. „Sie haben meine Akte gelesen? Dann sollte ich an ihrem Urteilsvermögen zweifeln. Niemand würde so jemanden in sein Team holen.“
    „Polizisten sind auch nur Menschen, die Fehler machen. Ich denke es ist gerade ihre Vergangenheit, die Sie zu einem der Besten in Helsinki“, sie lächelte, „vielleicht sogar Finnland macht.“
    Er zuckte mit den Schultern. „Sie brauchen mir keinen Honig um den Mund schmieren. Sie waren sicherlich schon bei meinem Chef. Sie sollten wissen, dass ich beurlaubt bin. Und wenn nicht, hätte ich einen Job, wo ich zufrieden bin.“
    Lone Salminen nickte. „Totenwinter ist vorwiegend eine lose Einheit. Nur wenige Kommissare bilden das ständige Team. Wir kommen nur zusammen, wenn es spezielle Fälle gibt. Ansonsten verbleiben Sie in der Mordkommission.“ Sie trat näher an ihn heran, zog eine Karte aus ihrer Jackentasche und hielt sie ihm entgegen. „Nehmen Sie sich die Zeit, die Sie brauchen. Sie können mich auch in ein paar Monaten noch anrufen.“ Mikael nahm die Karte entgegen und drehte sich um. „Sie sollten sich nicht zu große Hoffnungen machen Frau Salminen. Suchen Sie sich besser schon einmal jemand anderen.“


    Im Präsidium besprach Semir indes mit Antti die letzten Einzelheiten zu dem Mordfall. Jetzt, wo er beendet war, hatte der deutsche Kommissar eigentlich keine Funktion mehr und konnte endlich seinen verdienten Urlaub aufnehmen, den er für diese Sache geopfert hatte. Er freute sich schon darauf, dass er gemeinsam mit Andrea und den Kindern die Stadt erkunden würde, die er zwar schon von einigen Besuchen kannte, aber noch nie wirklich als Tourist kennengelernt hatte. Er war gespannt, wie es Andrea hier gefallen würde. Bei seinem ersten Abenteuer in Finnland war er selbst noch nicht wirklich begeistert gewesen, aber inzwischen hatte er das kleine Städtchen liebgewonnen. Außerdem wusste er, dass sich seine Frau bereits darauf freute nach vielen Monaten endlich wieder Eva wiederzutreffen, wo sich doch zwischen ihnen inzwischen eine innige Freundschaft entwickelt hatte. Die zwei Frauen telefonierten manchmal Stunden miteinander und er war sich sicher, dass dabei auch er und Mikael keine kleine Rolle einnahmen. Immerhin beschwerten sich die Beiden über genau die gleichen Dinge. Sie arbeiteten zu lange, hatten zu wenige Zeit mit der Familie und ließen sich von ihrem Job auffressen.

  • Semir sah zur Seite. Antti hatte ihn, Andrea und die Kinder in den Helsinkier Zoo eingeladen und obwohl der Vormittag voller Spaß war, hatte er nicht einmal gelächelt. „Ist es wegen Mikael?“, fragte er, während Ayda und Lilly die Elche bestaunten. Der Einsatz war nun drei Tage her und eigentlich war Semir der Überzeugung gewesen, dass Mikael tatsächlich Fuß gefasst hatte. Das Benehmen seiner Freunde machte ihn allerdings stutzig. Antti war schweigsam und nachdenklich, Kasper hingegen hatte sich immer wieder freigenommen und schien bei Mikael zu sein.
    „Sie sind so groß Papa!“, berichtete Ayda aufgeregt vom Zaun des Geheges und er lächelte.
    „Es ist nur … mit meiner Frau und Niilo. Ich war oft hier“, antwortete Antti mit belegter Stimme. „Vielleicht hätte ich nicht hier herkommen sollen. So viele Erinnerungen auf einmal.“
    Semir nickte. Er konnte sich den Schmerz seine Familie zu verlieren nicht einmal annähend vorstellen. Andrea und die Kinder bedeuten für ihn alles. Es war schon lange her, als Anttis Frau und sein Sohn bei einem Verkehrsunfall gestorben waren, doch seit diesem Augenblick hatte er nie wieder eine feste Freundin für längere Zeit gehabt.
    Semir blickte zu dem imposanten Tier hinauf. Auch er hatte sich einen Elch niemals so riesig vorgestellt. „Warst du mit Mikael nie hier? Ihr unternehmt doch viel zusammen?“, fragte er nach einer Weile.
    „Mikael würde seine Kinder nie in einen Zoo lassen. Er findet es grauenhaft, Tiere so einzusperren.“
    „Für einen Tierrechtler hätte ich ihn nun nicht gehalten.“
    „Er ist in drei Tierschutzvereinen“, erläuterte Antti.
    „Tarmo kommt doch auch aus einem Tierheim“, setze Andrea ein, die mit dem Smartphone ein paar Fotos von Ayda und Lilly mit dem Elch machte.
    „Das ist doch was anderes, Andrea-Schatz“, erklärte Semir.
    „Wieso? Also ich finde, man sieht sehr wohl, dass Mikael sehr viel an Tieren liegt.“
    „Was du alles siehst“, grummelte Semir hervor.
    „Mama, ich will auch ein Foto mit dir“, mischte sich Ayda ein und Andrea nickte. „Sofort Schatz!“, sagte sie. Dann gab sie Semir das Handy in die Hand und stürmte zu ihren Kindern.
    Semir hielt das Smartphone etwas hoch, und begann ein paar Fotos zu schießen.
    Antti seufzte neben ihm. „Niilo hat die Bären geliebt. Er konnte es nie abwarten, dass wir endlich zu den Bären kommen. Vielleicht ist es ja noch derselbe Bär. Wie alt werden Bären?“
    „Ziemlich alt, glaube ich. Es könnte also sein“, antwortete Semir, während er das nächste Foto machte.
    Antti griff nach dem Handy. „Lass mich die Fotos machen. Der Vater sollte nicht darauf fehlen.“
    Der deutsche Kommissar nickte dankbar. „Du hast Recht.“ Er sprintete zu seiner Familie und gesellte sich zur Gruppenaufnahme. Als sie fertig waren, stürmten die Kinder bereits zum nächsten Gehege.
    „Du solltest jeden Augenblick mit ihnen genießen. Du weißt nie, wann es vorbei ist“, sagte Antti.
    „War Niilo ein aufgeweckter Junge?“, fragte jetzt Andrea, die sich gemeinsam mit den Männern etwas zurückfallen gelassen hatte.
    „Ein Wirbelwind … so sagt man es doch auf Deutsch, oder?“
    „Ja“, stimmte sie zu.
    „Er hat viel Arbeit gemacht, wollte immer unterhalten werden. Aber dennoch waren wir immer glücklich.“


    Inzwischen waren sie am Braunbärgehege angekommen. „Ja. Es ist ganz sicher der Gleiche“, hörte Semir seinen Freund neben sich sagen und als er nun zur Seite sah, lächelte Antti, während er beobachte, wie Lilly mit großen Augen den Bären ansah.


    Es war 15:00 Uhr, als sie beschlossen, wieder aufzubrechen, und den Zoo verließen. Auf dem Heimweg entschieden sie sich dazu eines der Boote zu nehmen, welches die Zoo-Insel in der Meeresbucht vor Helsinki mit dem Festland verband, nachdem sie auf den Hinweg mit dem Bus gefahren waren. Ein schöner Abschluss, wie Semir fand, auch wenn er sich gewünscht hätte, dass das Boot deutlich weniger schaukeln würde. Als sie den Hafen erreichten, verspürte er ein leichtes Übelkeitsgefühl und musste sich bemühen, das vor Antti zu verbergen.
    „Und heute Abend, da gehen wir nett Essen. Ich lade euch alle ein“, erklärte Antti, als sie in die Straßenbahn gestiegen waren. Andrea wollte sich unbedingt noch den Senatsplatz ansehen, von dem Eva so geschwärmt hatte und der Deutschtürke war sich bewusst, dass seine Befürchtungen wahr wurden und Andrea ein straffes Urlaubsprogramm geplant hatte. Vermutlich würde er die Stadt noch besser kennenlernen, als ohnehin schon.



    ***


    Kasper setzte sich auf die Bank, die vor dem Haus seines Freundes stand. Mikael saß neben ihm, den Blick ins Nichts getaucht. Mikael und Eva hatten ihm am Abend zum Essen eingeladen und er hatte gerne angenommen, wenn es auch ein Vorwand war, um nach seinen Freund zu sehen.
    „Hast du bei dem Arzt angerufen?“, fragte Kasper nach einer Weile der Stille.
    „Nein. Es geht mir ja auch wieder gut“, kam es von der Seite.
    „Und für wie lange?“
    „Für immer.“
    „Rede keinen Scheiß!“
    Mikael zeigte keine Reaktion und sah weiter nach vorne.
    „Verflucht! Ich rede mit dir! Du schaffst das nicht, Mikael. Du bist nicht okay!“
    „Lass mich!“
    Kasper schaffte es nicht mehr, die aufstauende Wut im Griff zu haben, und packte mit seiner rechten Hand nach Mikaels Pullover.
    „Sag mal, spinnst du!“ Mikaels Hand umgriff seinen Arm und er sah ihn an. Die hellblauen Augen funkelten vor Wut. Doch Kasper lockerte seinen Griff nicht. Es musste aufhören. Heute. Hier und Jetzt!
    „Wie lange glaubst du, löst der Galina-Fall deine Probleme?“ Der Händedruck des blonden Kommissars wurde fester. „Du musst begreifen, dass du krank bist. Du hast ein psychisches Problem, Mikael. Das löst sich nicht so in Luft auf!“
    „Ich bin nicht krank!“ Mikael riss Kaspers Arm mit voller Wucht von seinem Pullover weg und sprang auf. „Mir geht es gut!“
    „Rede es dir nur ein …“
    „Es ist die Wahrheit! Die verdammte Wahrheit … was ist dein Problem, Kramsu!“
    Kasper erhob sich von der Bank. „Mein Problem? Vielleicht, dass ich den Freund, den ich mal hatte, verloren habe, weil der sich in etwas verliert, was ich nicht verstehen kann!“
    „Ich hatte es Galina versprochen! Ich habe es ihr versprochen, dass ich auf sie aufpasse!“
    „DU WARST SIEBZEHN!“, schrie Kasper zurück. All die zurückgehaltene Wut brach aus ihm heraus. „Und du bist verdammt noch mal nicht mehr Michael Hansen! Du bist Mikael Häkkinen, du hast eine Frau, die dich über alles liebt und die du verlieren wirst, wenn du nicht zu diesem verfluchten Arzt gehst und dir professionell helfen lässt!“
    „Hansen und Häkkinen sind eine Person.“ Mikael wollte ins Haus gehen, doch Kasper zog ihn zurück. „Sind sie das?“, faucht er. „Sind sie das wirklich?“
    Der Schwarzhaarige sah in mit einem herausfordernden Grinsen an. „Sonst wäre ich ja schizophren, oder?“
    „DU begreifst es einfach nicht, oder? DU willst nicht sehen, was du den Leuten um dir herum antust … denn ich weiß, dass du kein ignorantes Arschloch bist. Antti hat Angst, wenn du dich nicht alle 24 Stunden bei ihm meldest. Bei jedem Anruf Eva zittert seine Hand, ehe er ans Telefon geht. Und Eva? Du hast die Frau zerstört, die du liebst!“
    Mikael erwiderte nichts und sah ihn nur an.
    „Sie kann nicht mehr glücklich sein und unbeschwert, wegen dir!“, fuhr er fort. „Weil sie immer Angst haben muss, vor dem nächsten Augenblick, wo du sie wieder alleine lässt, um dich etwas aus der Vergangenheit zu stellen, was bis vor wenigen Monaten keine Rolle gespielt hatte. Wieso musstest du gegen deinen Opa ermitteln? Sag es mir!“
    „Ich … er sollte mich in Ruhe lassen … und Ben …“, flüsterte Mikael leise und blickte auf die Erde.
    „Er stand nie vor deiner Haustür! Er kam nicht her und hat dir gesagt, dass du ihm danken musst, dafür, was er getan hat! Es gab keinen Grund dieses Gespenst deiner Vergangenheit zu jagen!“
    „Aber Ben …“
    „Nein, Mikael. Die Angst ihn zu verlieren ist eingebildet!“
    „Er hätte ihn ermordet!“ Mikaels Stimme wurde lauter, ungehalten. „Er hätte Ben ermorden lassen, wäre ich nicht zu ihm gekommen, hätte das alles getan!“
    „Hätte er das wirklich? Wieso hätte Hansen einen Polizisten ermorden sollen. Sag es mir!“
    „Es waren Leute von ihm vor Bens Tür. Ich habe Sie gesehen!“ Mikael preschte nach vorne und drückte Kasper gegen die Wand. „Ich habe Sie gesehen!!!“
    „Und? Hast du einmal überlegt, dass sie vielleicht wegen dir da waren?“, fuhr Kasper unbeeindruckt fort. „Du bist es doch, dem er all die Monate gefolgt ist. Du warst es doch, der zu ihm hinfahren musste und ihm sagen musste, dass er nicht zur Familie gehört! Und ihr habt es mit Bens Dienstwagen getan!“
    Unbewusst wurde Mikael Griff lockerer. „Da … da war diese Notiz in Georgs Akten …“
    „Du weißt aber nicht, wann er sie dahin geschrieben hat. Ben wurde erst zu deiner Schwäche, als du bei ihm in der Villa aufgetaucht bist, ist dir das bewusst?“
    „Das stimmt nicht! Das ist eine Lüge!“ Der Druck des Schwarzhaarigen wurde wieder härter.
    „Die Angst in dir, Mikael … die ist echt. Das weiß ich, aber sie hat alles in dir so fest umklammert, dass du nicht mehr atmen kannst. Sie zerstört dich. Alles, was du bist. Die Angst vor dem Verlieren deiner Freunde, die Angst vor deiner Vergangenheit. Aber, beide Dämonen wirst du nie ruhig stellen können … sie werden nicht einfach so gehen. Es wird immer ein neuer Dämon emporsteigen, den du glaubst jagen zu müssen, um glücklich zu sein. Ein neuer Dämon, der dich wieder in die Dunkelheit zieht!“
    Kasper spürte, wie Mikaels Druck sich langsam zu lösen begann, dann fiel sein Arm an seine Seite. „Du musst zu diesem Arzt. Es wird immer schlimmer, du verlierst dich jedes Mal mehr. Und du zerstörst die Leute, die du schützen willst, bei jedem Mal etwas mehr …“
    Mikaels Augen wurden wässrig und er sank auf die Knie. „Ich … ich will doch nur meine Freunde beschützen … nicht den gleichen Fehler machen, wie bei Joshua …“
    Kasper hockte sie zu seinem Freund herunter und drückte dessen Schulter. „Weißt du, wieso ich dir geholfen habe? Weil du sonst alleine gegangen wärst und dann wärst du jetzt tot! Du wärst da nicht lebend rausgekommen. Das weißt du und das weiß ich! Und ich weiß, dass es dich nicht gestört hätte zu sterben, weil du aufgehört hast, das Leben vollständig zu lieben.“
    Kasper zog einen Zettel aus seiner Jacke und steckte ihn in Mikaels zur Faust geballte Hand. „Das hier ist der einzige Weg raus aus der Dunkelheit, denn glaub mir, es wird sonst nicht lange dauern und man wird dein Gehirn von irgendeinen Gehweg kratzen.“
    Kasper stand wieder auf und drehte sich um. „Ich hole dich übermorgen ab“, sagte er noch, ehe er aus dem Garten verschwand.


    Mikael öffnete die Hand und zog den Zettel heraus. Ein Datum und eine Uhrzeit standen darauf. Mehr nicht und doch gleichzeitig auch so viel.

  • Ben stöhnte laut auf und griff nach einer der Schokoladen auf Veikkos Nachtschränkchen. „Verstehst du? Nichts. Der Typ ist wie vom Erdboden verschluckt!“
    Veikko nickte. „Wohin kann er verschwunden sein?“
    „Was weiß ich! Ich weiß nur, dass die Krüger die Überwachung nicht mehr länger dulden wird.“ Ben lehnte sich zurück und verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Weißt du, was das heißt?“
    „Ich bin nicht dumm“, erwiderte Veikko und sah aus dem Fenster. „Der könnte also tatsächlich davon kommen?“
    „Natürlich gibt es eine offizielle Fahndung, aber du weißt, dass es nach mehreren Tagen oft nur wenig neue Hinweise bringt.“
    Der Finne nickte wieder. „Zumal man den Hintermann hat.“
    „Eben.“
    Ben griff erneut nach der Schokolade. Dieser Fall störte ihn. Sie hatten den Hintermann, aber eben nicht den Typen, der für Veikkos Zustand verantwortlich war. Der war wie vom Erdboden verschluckt und obwohl er schon zwei Mal diese Wohnung auf den Kopf gestellt hatte, fand er einfach nicht das, wonach der Kerl gesucht hatte. Vielleicht hatte er es ja gefunden, als er ihn überrascht hatte?
    „Jenny ist oft hier, nicht?“, lenkte er das Thema jetzt von dem fürchterlich ernüchternden Fall weg.
    „Ja.“
    „Nichts weiter? Ich bekomme nur ein Ja?“
    „Soll ich dir die Uhrzeiten nennen, wann sie hier ist? Was willst du denn hören?“
    Ben grinste. „Na, ob du vielleicht etwas für sie empfindest – so was halt.“
    „Und du sollst mein Beziehungsberater sein?“ Veikko schüttelte den Kopf. „Ehrlich Ben, das würde sicher nichts werden, wenn du dich einmischt.“
    „Ihr würdet ein tolles Paar abgeben“, erklärte Ben.
    „Achja?“
    „Wirklich, ich sehe doch, wie ihr aufgeht, wenn ihr zusammen seid.“
    Veikko lachte. „Glaub mir Ben, mir reicht eine Beziehung mit einer Polizistin. Ich werde es nicht noch einmal versuchen.“
    „Hör mal! Du bist derjenige, der immer darauf besteht, dass Laura noch gar keine Polizisten war, als ihr zusammen was hattet.“
    „Was hattet? Wie sich das anhört, immerhin waren wir verheiratet!“
    Ben musterte Veikko. „Ach komm, mir kannst du ruhig sagen, wenn du in Jenny verschossen bist.“
    „Bin ich nicht!“
    Der Ältere seufzte. „Wirklich, mach es doch nicht so kompliziert, Veikko. Ich meine, Jenny ist auch nicht ganz abgeneigt.“
    „Hast du kein eigenes Liebesleben?“ Veikko ließ den Kopf genervt in sein Kissen sinken. „Meines würde ich derzeit gerne alleine regeln.“
    Widerwillig gab Ben klein bei. „Mir ist derzeit sonst nichts vergönnt. Im Büro ist es fürchterlich langweilig. Kein Semir, kein Veikko – was soll ich da machen?“
    „Arbeiten?“, erwiderte der finnische Kollege und lachte jetzt leise. „Wäre zumindest eine Option.“
    „Arbeit ohne dich macht keinen Spaß, Schnuffel.“
    „Ich bin ja hoffentlich bald wieder raus, mein Herzblatt“, erklärte der Schwarzhaarige.
    „Ja? Du bist noch mindestens eine Woche auf der normalen Station, du Held. Was hast du dich aus so überrumpeln lassen?“
    „Ich weiß nicht … hab wohl mein Gehirn ausgeschaltet“, nuschelte Veikko verlegen hervor.
    „Hast du … ja“, bestätigte Ben und lächelte. „Aber das passiert jedem mal.“
    „Zumindest dir“, fügte sein finnischer Freund hinzu.
    „Haha.“ Ben winkte ab und sie schwiegen eine Weile, ehe Ben erneut das Wort ergriff. „Semir hat mir übrigens eine Whatsapp geschickt.“
    Veikkos rechte Augenbraue hob sich skeptisch. „Semir?“
    Ein schiefes Grinsen bildete sich um Bens Mund. „Vielleicht auch jemand anders, aber sie kam von Semir.“ Er zog sein Handy hervor und reichte es Veikko, nachdem er die Bilder geöffnet hatte, die er am Vormittag erhalten hatte. „Habt ihr eine Eichhörnchen-Plage in Helsinki?“
    Veikko lachte. „Sie waren sicher auf Seurasaari.“
    „Sauras … wie?“
    „Sag mal. Du hast wohl das Touristenprogramm immer noch nicht durch?“, erwiderte Veikko gespielt empört.
    „Nein … wohl nicht.“
    „Ist so’ne kleine Insel … paar Kilometer vom Stadtkern. Gibt es ein Freilichtmuseum und eben Haufenweise Eichhörnchen. Kein Wunder, die werden ja auch immer gefüttert.“ Veikko lachte. „Manchmal hast du da keine ruhige Minute, ohne das du eins dieser Kerlchen am Bein kleben hast!“
    „Klingt romantisch.“
    „Kiira hat vielleicht geschrien, als wir das erste Mal dort waren … sie war Drei, glaube ich. Ist lange her. Ich musste sie den restlichen Spaziergang tragen.“
    Ben lächelte, als sich die Szene vor seinem inneren Auge abspielte. „Da ist Semir wohl ein leichtes Opfer, wegen seiner Größe … was?“



    ***


    Während Andrea und die Kinder in den Garten gingen, betrat Semir das Haus, um nach Mikael zu suchen. Nachdem sie am Vormittag die Stadt unsicher gemacht hatten und Andreas Urlaubsplanung gefolgt waren, stand am Abend ein gemeinsames Grillen auf dem Programm.


    Als Semir den hellblau gestrichenen Flur entlang ging, hörte er Stimmen aus der Küche, die er Kasper und Mikael zweifelsfrei zuordnen konnte. Er ging aber dennoch nicht weiter, da ein Foto an der Wand seine Aufmerksamkeit erhaschte. Das Foto hatte er noch nie gesehen, aber der neue Rahmen ließ darauf schließen, dass es noch nicht lange dort hing. Er stellte sich davor und betrachtete die Personen. Mikael war darauf vielleicht 16, aber was ihn wirklich verwunderte, war der Mann, der daneben stand. Andreas Hansen. Der Mann, den Mikael noch vor wenigen Monaten verkrampft versucht hatte aus seinem Gedächtnis zu streichen. „Es war bei einem Angelausflug.“ Der deutsche Kommissar sah zur Seite. Mikael stand inzwischen neben ihm und lächelte. Semir nickte perplex. Eine Tatsache, die auch Mikael nicht entging. „Er ist ein Teil meines Lebens, oder nicht? Ich würde lügen, wenn ich behaupten würde, dass ich durch ihn eine schlechte Jugend hatte. Er war vieles, aber ein schlechter Vater war er nie.“ „Er hat dich entführen lassen und auf dich geschossen“, erwiderte Semir nun und sah dann wieder auf das Bild. Vater und Sohn sahen darauf glücklich aus. Andreas Hansen hatte die Hand auf Mikaels Schulter gelegt und lächelte breit in die Kamera. Er sah aus wie ein perfekter Vater, wäre da nicht diese Kleinigkeit, dass er auf seinen eigenen Sohn geschossen hatte. „Ich bin mir inzwischen sicher, dass er mich durch diesen Schuss gerettet hat. Das Krankenhaus war ein sicherer Ort, zumal ich Polizeischutz vor der Tür hatte.“ „Weiß Ben von deiner Meinung?“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Er weiß, dass ich Andreas als einen Teil von mir sehe … vielleicht bin ich naiv, aber wer sagt, dass er Ben nicht auch schützen wollte?“ „Mit Gift?“, hakte Semir nach. „Wo ein Gift ist, gibt es auch ein Gegengift, Semir.“ Der deutsche Kommissar nickte auch wenn er im Grunde der Begründung nicht wirklich folgen konnte, aber wenn es Mikael half, wollte er auch nicht auf seiner gegenteiligen Behauptung bestehen. Immerhin war Andreas Hansen eins dieser Kapitel im Leben des finnischen Kommissars, die ihn lange Jahre nicht zur Ruhe kommen lassen hatten. Wenn er es auf diese Weise loslassen konnte, so würde er der Letzte sein, der ihm etwas Gegenteiliges eintrichtern würde. Für ihn zählte nur, dass es Mikael endlich wieder besser ging.
    Semir drehte sich von dem Bild weg und musterte Mikael. „Wie waren die ersten Stunden beim Psychiater?“, fragte er jetzt vorsichtig nach. Er vernahm ein leichtes Lachen von dem Schwarzhaarigen. „Er geht mir schon jetzt auf den Geist. Ich weiß nicht ob ich noch oft hingehen werde.“
    „Wieso?“
    Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung … ich weiß nicht, er kramt in meinem Kopf all diese schlechten Sachen raus, sucht eine Ursache dafür, dass es mir so schlecht geht und ich … er ist ein Fremder, er hat in meinem Schädel nichts zu suchen.“
    Semir nickte. „Aber es geht dir besser oder?“
    „Aber das ist doch nicht sein Verdienst“, schimpfte Mikael leise und blickte nach draußen, wo seine Kinder mit dem Hund und Ayda spielten. „Ich kann nicht ewig in der Vergangenheit leben und jetzt wo Galinas Mörder gefasst sind. Ich denke ich habe den richtigen Weg wieder gefunden, auch wenn ich den gerne mit Josh bestreiten würde.“ Der junge Kollege wandte seinen Blick wieder zu Semir. „Ich bin albern, ich weiß … ich meine, du und Antti … ihr habt schon zwei Mal einen Kollegen verloren und ihr steht hier und macht euren Job weiter, als könnte euch nichts umhauen und ich? Ich zerbreche an einem Mord, der nun schon mehr als fünf Jahre her ist.“
    „Das ist Unsinn, Mikael“, entgegnete Semir sofort. „Ich denke noch heute an Tom und Chris. Joshua und du, ihr seid schon eurer Jugend Freunde. Du kannst das nicht vergleichen. Er war ein wichtiger Teil von deinem Leben.“
    Mikael nickte. „Und dieser Teil ist jetzt meine Familie. Ich werde es schaffen für Eva und die Kinder. Ich weiß, dass ich stark genug bin dafür.“
    Semir legte seine Hand auf Mikaels Schulter und drückte sie leicht. „Ich bin mir sicher, dass du stark genug bist!“
    Der junge Finne lachte. „Nun klingst du aber albern und kitschig, Semir.“
    „Immerhin habe ich dir ein Lachen entlockt. Das will momentan schon was heißen!“
    „Ja das stimmt. Das hast du“, antwortete Mikael nachdenklich und steckte die Hände in seinen Kapuzenpullover. „Lass uns raus gehen. Sonst fangen die noch ohne uns mit dem Essen an.“

  • Kasper trat in das Gebäude und grüßte mit leicht erhobener Hand den Mann hinter dem Tresen. Sie kannten sich gut, immerhin waren Mikael und er mehrmals im Monat hier. „Er ist an den Boulderwänden“, wurde ihm Auskunft gegeben, ohne dass er danach fragen musste und er nickte. Er lief geradeaus weiter in eine der großen Hallen. Da am Vormittag nicht besonders viel los war, hatte es nicht lange gedauert und er hatte Mikael gefunden. Er hing kopfüber an einer der Wände und schien darüber nachzugrübeln, wie er den nächsten Griff erreichen konnte. Kasper verkürzte den Abstand schnell und sah noch einige Sekunden stumm auf seinen Freund. Mikael hatte wie üblich beim Bouldern die Umgebung vollkommen ausgeblendet. So wartete er noch, bis sein Freund sich mit einem Sprung zum nächsten Griff beförderte, ehe er seine Stimme erhob. „Du warst nicht im Gerichtssaal.“ Mikael drehte den Kopf leicht über die Schulter. „Wozu? Ich wusste ja, dass er verurteilt wird.“ Kasper nickte. Mikael hatte kein Unrecht gehabt, denn die Beweise waren erdrückend gewesen. Er hatte selbst mit seinem Vater geredet, der Richter war und der hatte ihm mehrmals bestätigt, dass er bei dieser Beweislage keine Chance hätte, bald wieder auf freiem Fuß zu sein.
    „Antti hat sich Sorgen gemacht. Du bist nicht an dein Handy gegangen.“ „Es liegt in meinem Spind.“ Mikael löste sich von der Wand und landete anschließend butterweich vor seinen Füßen. Er deutete mit dem Arm in Richtung einer kleinen Bar, die außerhalb der großen Halle hinter einer Glastür lag. „Lass uns etwas trinken.“ Kasper nickte und folgt seinem jüngeren Freund. „Du bist aber sicher nicht hier, um mir zu erzählen, dass Antti sich Sorgen macht. Das ist nämlich nicht wirklich etwas Neues.“ Der Blonde seufzte und schüttelte den Kopf. „Nein, es geht um etwas das Kuznetsov immer wieder im Gericht gesagt hat.“ „Und das wäre?“ „Er sagt, er hätte die Morde in Köln nicht in Auftrag gegeben.“ Mikael hatte sich inzwischen auf einen der Barhocker gesetzt und zwei Wasser bestellt. „Warum kommst du damit zu mir? Was hab ich damit zu tun?“ „Naja, ich wollte hören, wie deine Meinung dazu ist.“ „Ich bin beurlaubt.“ „Ach komm, dass hat dich auch nicht interessiert, als es darum ging ihn zu schnappen.“ Dieser Kommentar entlockte dem Schwarzhaarigen ein kleines Lächeln. Mikael nickte und drehte sein Glas gedankenverloren in seinen Händen. „Es ist verdammt leer im Präsidium“, fuhr Kasper fort. „Es ist nicht einmal die Sache dass Veikko in Köln ist, sondern in unserem Arbeitszimmer. Ich meine den Gedankenaustausch mit dir. Ich brauche Hilfe, ich stecke fest. Also was denkst du?“ Kasper hielt ihm die Akte hin. „Du bringst mir gleich die Akte? Du musst es ja wirklich nötig haben“, kommentierte Mikael leise, nahm die Mappe aber dennoch entgegen und begann zu lesen. „30 Minuten?“, fragte der Blonde mit einem Lächeln und Mikael winkte ab. „Jaja, wird ausreichen … vollkommen.“
    Es hatte nicht ganz 30 Minuten gedauert und Mikael hob den Kopf von der Mappe. „Da ist etwas, was Häpi zu mir gesagt hat. Er sagte, die Handschrift von Kuznetsov, jeder könnte sie übernehmen, weil sie so bekannt ist“, begann er. „Das hat er gesagt?“, hakte Kasper erstaunt nach. „Nicht in diesem Zusammenhang. Er wollte mich dadurch davon abbringen nach Galinas Mörder zu suchen. Aber er hatte Recht. Jeder kennt sie und jemand nutzt das vielleicht aus, um euch auf eine falsche Fährte zu locken. Auf einer Raststätte Mitten am Tag – das ist wahrlich nicht Kuznetsov Stil.“
    „Nun, das alleine macht ihn aber nicht unschuldig.“
    Mikael nickte. „Schalldämpfer. Er benutzt keinen Schalldämpfer … dann diese Übergriffe in Janne Niemis Haus. Kuznetsovs Leute wären geflüchtet oder hätten wenigstens dafür gesorgt, dass Veikko und Ben später nicht den Mund aufmachen können, um eine detaillierte Aussage zu machen. Und damit meine ich nicht einen Schraubenzieher in den Körper rammen, sondern einen Schuss in den Kopf oder das Herz.“
    Kasper fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Du könntest Recht haben“, murmelte er leise. „Hat Veikko sich die Spuren in Köln persönlich angeschaut?“, wollte Mikael nun wissen. „Ich denke schon, aber vielleicht ist er auch zu abgelenkt durch seine neue Flamme.“ Die beiden Jungkommissare lachten. „Und Ben hat es wirklich noch nicht gemerkt. Der scheint in solchen Dingen wirklich ein Brett vor dem Kopf zu haben“, stellte Kasper fest und grinste dabei breit. Selbst ihm war die Veränderung an seinem Kollegen nicht entgangen, wenn er mal für ein Wochenende in Helsinki war. Veikko war ohne Pause mit seinem Handy beschäftigt und mit den Gedanken meist woanders, wenn sie abends durch die Kneipen zogen. Mikael lachte bei seiner Bemerkung leise und erhob sich dann von seinem Stuhl. „Du solltest Veikko sagen, dass er sich die Spuren noch einmal genau ansieht. Vielleicht findet er ja etwas, wenn er einen anderen Blickwinkel einschlägt und davon ausgeht, dass Kuznetsov nicht der Täter ist.“ „Es wäre ziemlich peinlich, wenn er etwas finden würde. Denn das würde bedeuten, dass wir den falschen Typen gejagt haben.“ Kasper griff nach seinem Glas, um es in einem Zug zu leeren. „So und ich muss jetzt auch wieder ins Revier, sonst vermisst Papa Antti mich auch noch.“ Kasper stellte das leere Glas wieder hin und ging in Richtung Ausgang, als Mikaels Stimme erneut erklang. „Nimmst du mich mit? Ich bin mit der Straßenbahn hergekommen.“ Die Augenbraue des Blonden zog sich nach oben. „Du fährst immer noch kein Auto? Ich dachte es geht dir besser und die Besuche bei diesem Arzt helfen dir. Hast du zumindest letzte Woche gesagt.“ „Nein, nein, damit hat es nichts zu tun“, beschwichtigte Mikael sofort. „Ich habe über die letzten Monate nur die Vorzüge des Öffentlichen Verkehrs kennengelernt.“ „Und die wären? Es ist laut, man wird im Feierabendverkehr angerempelt und und und.“ Sein Gegenüber nickte. „Ja schon, natürlich. Aber es ist auch der beste Ort, um zu analysieren.“ „Du beobachtest also die anderen Leute. Na gut, dass ich keine Bahn fahre. Aber gut, hol dein Zeug. Ich werde dich mitnehmen.“
    „Ich muss beim Psycho-Doc raus.“
    Kasper nickte. „Wird gemacht!“



    Knapp eine Stunde später saß Kasper schweigend vor seinem Computer. „Was ist los? Du siehst aus, als würde dich etwas mächtig stören.“ Er sah auf und blickte in das Gesicht von Eetu, einen uniformierten Kollegen in seinem Alter. „Es geht um einen Informanten, Eelis Mäkelä.“
    „Der, weshalb wir gestern zum Flughafen fahren sollten?“
    Kasper nickte und spielte nachdenklich mit seinem Kugelschreiber. Er hatte sich erhofft von Mäkelä irgendwelche Informationen zu erhalten, doch der Typ war seit knapp einem Monat vom Erdboden verschluckt gewesen. Niemand wusste etwas über seinen Verbleib und dann hatte man vor ein paar Tagen sein Auto auf dem Flughafen-Dauerparkplatz entdeckt. Alles sprach dafür, dass sich Mäkelä ins Ausland abgesetzt hatte, aber er fand keinen triftigen Grund dafür. „Ja. Ich finde es komisch. Warum haut er ab ohne seine Familie?“, äußerte er seine Zweifel nun laut.
    Eetu zuckte mit den Schultern. „Ich habe aufgehört Verbrecher verstehen zu wollen. Die ticken anders, da muss man nicht jede Handlung nachvollziehen können. Vielleicht hat er ne große Nummer gelandet, viel Kohle bekommen oder er musste fliehen? Wer weiß das schon. Die Welt der Russenmafia ist kompliziert.“
    Kasper stöhnte auf. „Du sagst es!“

  • Veikko brach einen Riegel Schokolade ab und schob ihn in den Mund. „Wie viel von dem Zeug, kann ein normaler Mensch nur in sich reinschieben ohne dick zu werden?“, kommentierte Semir und musste lachen. „Weiß nicht, ich sag es dir, wenn es passiert ist“, erwiderte Veikko mit vollem Mund und brach einen weiteren Riegel ab, den er in Semirs Richtung hielt, der jedoch dankend die Hände hochhob. „Nein, lass lieber. Ich bin auf Diät, nachdem Andrea der Meinung ist, ich habe ein paar Pfunde zu viel auf den Rippen.“
    „Was sie nicht weiß macht sie nicht …“ Das Klingeln von Veikkos Handy unterbrach den Finnen bei seiner Antwort und er hielt es sich mit einem leisen Stöhnen ans Ohr, während sich Semir wieder der langweiligen Aktenarbeit zuwendete. Veikko sprach ohnehin auf Finnisch und so verstand er nichts außer ein paar Wortfetzen, die Nein und Ja bedeuteten.


    „Perkele“, schimpfte Veikko leise, als er das Smartphone nach zehn Minuten wieder hinlegte.
    „Was ist passiert?“
    Der junge Kollege aus Finnland neigte sich in seiner Stuhllehne nach hinten. „Mikael hat soeben in nur 30 Minuten unseren Fall komplett auseinander genommen. Das ist passiert!“, schimpfte er und brach dabei das nächste Schokoladenstück von der Tafel ab.
    „Wie soll ich das verstehen?“, wolle Semir wissen, hielt jedoch inne als Ben mit einem Kaffee in das Büro trat. „Was ist … ihr schaut, als wäre gerade etwas grauenhaftes passiert.“
    „Mikael hat unseren Kuznetsov-Fall zerrupft“, brachte Semir seinen Partner auf den neusten Stand und Ben setzte sich mit fragendem Blick auf seinen Platz. „Wie zerrupft?“
    „Kasper kam da etwas komisch vor, da Kuznetsov nie den Mord in Köln gestanden hat und hat wohl die Akte Mikael gegeben … Mr. Super-IQ ist der Meinung, dass kann so alles nicht stimmen.“
    „Und wir sind Mikaels Meinung, weil?“
    „Er Recht hat“, brachte Veikko mit dünner Stimme heraus. „Alles was Kasper aufgezählt hat, klang vollkommen logisch und nachvollziehbar.“
    Ben stöhnte. „Das heißt, wir haben uns gerade von jemand vorführen lassen, der momentan überhaupt nicht im Polizeidienst ist?“
    „Und der nur 30 Minuten auf die Akte gesehen hat“, fügte Semir an.
    „Der soll mir noch einmal erzählen, dass er nach seinem Unfall noch immer Probleme hat und länger braucht Dinge in den richtigen Zusammenhang zu bringen“, predigte Ben leise.


    Ben raufte sich durch die Haare. „Heißt wir müssen jetzt wieder bei Null anfangen, oder?“ Veikko nickte und griff nach dem Tennisball, doch Ben fing ihn bereits, ehe er nur ein einziges Mal gegen die Wand ticken konnte. „Bitte nicht“, murmelte er leise und verstaute den Ball schnell in seiner Schreibtischschublade. Stattdessen griff Veikko nun wieder nach seiner Schokolade und brach den nächsten Riegel ab, um ihn in seinem Mund verschwinden zu lassen. „Fragt sich nur wo wir ansetzen sollen?“, murmelte der finnische Kollege leise und sah dabei abwechselnd von Ben zu Semir.
    Der Braunhaarige nickte nachdenklich. „Hätte Mikael nicht im gleichen Zug unseren Fall komplett lösen können? Das nervt.“
    „Ich würde sagen, wir statten diesem Restaurant-Besitzer, Topias Miettinen, einen Besuch ab. Er schien euch damals doch verdächtig“, schaltete sich jetzt Semir ein.
    „Aber im Fall Kuznetsov“, konterte Ben kritisch.
    „Es kann dennoch nicht schaden ihn noch einmal genauer unter die Lupe zu nehmen“, sagte Veikko und griff nach seiner Jacke, die über dem Stuhl hing. Doch ehe er aufstehen konnte, hatte Semir seine Stimme erhoben. „Es ist doch hoffentlich klar, dass du hier bleiben wirst.“
    „Wie? Warum?“
    Der Älteste im Raum zeigte auf seinen Brustkorb. „Weil du gerade erst einige Tage wieder im Dienst bist und ich keine Lust habe, bald wieder Krankenbesuche zu machen.“
    „Aber …“
    „Nichts aber, du bleibst hier Veikko Henrik Lindström“, wiederholte Semir wohl wissend, dass die Zunahme des Zweitnamens eine gewisse Ernsthaftigkeit brachte.
    Der junge Kommissar aus dem hohen Norden zog ein langes Gesicht, während Ben mit einem breiten Grinsen nach seiner Jacke griff. „Viel Spaß beim Papierkram Veikko“, rief er ihm noch zu, während er Semir aus dem Büro folgte. „Du mich auch Ben …“
    Veikko seufzte und rief sich anschließend die Akte auf. „Blöder Mistfall“, schimpfte er und ging noch einmal alle Details durch, die sie bei den ersten Untersuchungen vor gut einem Monat gesammelt hatten. Seine Hand fuhr mechanisch wieder an die Schokolade, doch er musste feststellen, dass nichts mehr übrig war. „Dreck!“ Nicht einmal Nervennahrung schien ihm vergönnt zu sein.





    Veikko sah von seinem Computer auf, als die Chefin in den Raum trat. „Herr Lindström, haben Sie einige Minuten. Es ist wichtig.“ Der junge Kommissar blickte an Kim Krüger vorbei. Zwei Männer in schicken Anzügen standen im Großraumbüro der PAST. „Worum geht es denn? Habe ich was verbrochen oder was sucht das FBI vor meiner Tür?“
    „Das sind die Kollegen Müller und Meier von der Drogenfahndung“, antwortete sein Gegenüber unmittelbar. „Und bitte Herr Lindström. Kein unangebrachter Sarkasmus oder ein lockerer Spruch. Professionell.“ Er erhob sich mit einem lauten Seufzer von seinem Schreibtisch. „Sie sollten mich inzwischen kennen, ich bin immer professionell. Soll ich meinen Anzug noch schnell aus der Reinigung holen oder geht es auch so.“
    „Herr Lindström“, kam sofort mit scharfer Stimme und er nickte. „Jaja. Ich komme.“


    Veikko reichte den Kollegen die Hand und sie stellten sich aneinander vor, ehe man sich gemeinsam im Büro von Kim Krüger einfand. Es hatte nicht lange gedauert und die beiden Beamten der Drogenfahndung hatten ihr Anliegen laut geäußert. Man wolle alle Unterlagen zum Fall Kuznetsov bekommen, da man derzeit einer Spur nachginge. Der finnische Kommissar hatte ihnen erklärt, dass er mehr Details wolle, da sich auch für sie neue Ansätze ergeben hätten.
    „Laut unseren Informationen gibt es einen Mann neben Kuznetsov, der nun die Geschäfte im großen Stil übernehmen kann“, äußerte Niklas Müller und zupfte dabei an einer Falte seines Anzuges. Seine braunen Augen suchten den Blickkontakt mit seinen blauen. „Ist das etwas Neues? Läuft es nicht immer so in der Drogenszene?“, fragte er und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Natürlich, aber ich denke auch bei Ihnen werden inzwischen die Informationen aus Finnland angekommen sein, dass Kuznetsov den Mord in Köln bestreitet.“
    „Ja, wir sind uns ziemlich sicher, dass er ihn nicht begangen hat. Es gibt ein paar Details, die dafür sprechen.“
    „Sie wissen also bereits mehr?“, schaltete sich nun der ältere der beiden Hauptkommissare, Henning Meier, ein.
    „Nein. Es gibt nur Anhaltspunkte, die gegen Kuznetsov als Mörder sprechen. Kleine Nuancen. Stichhaltiges haben wir noch nicht. Die Kollegen Jäger und Gerkhan sind derzeit bei einigen Befragungen, die den Sachverhalt eventuell aufklären werden“, antwortete Veikko und verschränkte dabei die Arm hinter seinem Kopf. „Aber Sie sind von der Drogenfahndung, der Mord hat für Sie keinerlei Bedeutung.“
    Müller nickte. „Es geht um eine Drogenlieferung. Einer unserer V-Männer hat uns einige Details genannt. Es wird eine LKW-Lieferung erwartet.“
    „Was haben unsere Ermittlungen damit zu tun?“ Veikko beugte sich interessiert nach vorne.
    „Es ist nicht ganz abwegig, dass wir den gleichen Mann suchen, oder nicht?“ Müller strich sich durch sein kurzes braunes Haar. „Wir möchten Akteneinsicht, um uns ein Bild zu machen. Und wir möchten, dass Sie sich zurückhalten mit ihren Ermittlungen. Scheuchen Sie unsere Zielperson nicht auf.“
    „Wissen Sie. Ich verstehe nicht, was wir von dieser Zusammenarbeit haben. Wir sollen Ihnen alle unsere Informationen geben, aber bekommen selbst nichts, nada y niente?“
    „Sie haben mit einem Drogenfall nichts zu tun, Herr Lindström. Sie sind die Autobahnpolizei.“
    Veikko lachte leise auf. „Das letzte Mal als ich nachgeprüft habe, lagen Drogen mehr in unserem Aufgabenbereich als Mord. Speisen Sie mich nicht mit Zuständigkeitsfloskeln ab. Wo fahren Drogen-LKWs? Bingo, auf der Autobahn. Ergo, hier kommen wir ins Spiel!“
    Müller schüttelte den Kopf. „Es kommt nicht in Frage, dass wir sie über diese brisante Lieferung informieren werden. Zu viele Mitwisser werden die ganze Operation gefährden!“
    Veikko löste die Hände von seinem Hinterkopf und beugte sich nach vorne. „Halten Sie mich für dumm? Ich kann auch einfach auf der finnischen Seite nachfragen. Der KRP hat sicherlich keine Probleme uns einzubeziehen. Wissen Sie, ich und Herr Korhonen sind sehr gut bekannt aus früheren Fällen.“
    Müller sah ihn missmutig an, schwieg aber.
    Der junge finnische Hauptkommissar griff in seine Tasche und fischte sein Handy heraus. Darauf reagierte nun auch Müller. „Gut. Herr Lindström … wir werden Ihre Dienststelle in diesen Fall einbeziehen. Vermutlich erleichtert es das ganze ohnehin.“ Veikko lächelte breit, steckte sein Smartphone wieder in die Tasche und ließ sich von den deutschen Kollegen der Drogenfahndung auf den aktuellen Stand bringen.
    „Es geht um einen heiklen Fall von organisiertem Rauschgifthandel im großen Stil“, begann Maier. „Es sind nur wenige Kollegen vom KRP, unserer Abteilung in weiteren Dienststellen in Finnland, Russland und Deutschland einbezogen. Geleitet wird das Ganze von einer Sondereinheit, Totenwinter.“
    Veikko nickte. „Wozu die Geheimniskrämerei? Warum kommen Sie erst zu uns, wo wir diese Mordermittlung wieder begonnen haben? Und vor allem: Woher wussten Sie von meinem Gespräch mit Herrn Kramsu?“
    „Wer Summen bewegt wie der weltweite Rauschgifthandel, der kann sich alles kaufen“, mischte sich nun Müller wieder in das Gespräch ein. „Sogar die Polizei.“
    „Das bestreite ich doch nicht. Aber das ist keine Antwort auf meine Frage. Belauschen Sie mich oder meinen Kollegen Kramsu?“ Veikko hatte sein Handy wieder herausgezogen und inspizierte es nun gründlich.
    Maier zog die Mundwinkel nach oben. „Wir belauschen weder Sie noch Herrn Kramsu, also kommen wir zum Wichtigen zurück. Es wird in den kommenden Wochen eine große Lieferung Rauschgift erwartet. Laut unserem Informanten soll die Route über Finnland nach Deutschland gehen. Endpunkt ist Köln.“
    Veikko nickte. Er konnte sich denken, wen sie dann im Blick gehabt hatten. Mikael. Dennoch lenkte er ein. „Was heißt große Lieferung?“
    „Einige LKW-Ladungen. Genaueres ist noch nicht bekannt.“
    Maier hielt ihm ein Handy hin mit einem Bild. „Maksim Smirnov. Er leitet die Geschäfte eines russischen Mafiosi hier in Deutschland.“
    Veikko griff nach dem Handy und sah sich den Mann genau an. Die Gesichtszüge, die Frisur. „Das ist der Typ, der mich in Janne Niemis Haus angegriffen hat“, murmelte er in Gedanken.
    „Janne Niemi hat für ihn Geschäfte gemacht. Kleine Gefälligkeiten, könnte man es nennen. Er war unser Informant“, klärte ihn Müller auf.
    „Und warum erfahren wir davon erst jetzt? Man hätte uns doch sofort informieren können? Oder hat es ihnen Spaß bereitet zuzusehen, wie wir im Dunkeln stochern?“ Veikko reichte dem älteren Beamten das Handy wieder zurück. „Was ist mit Topias Miettinen?“
    „Über seine Rolle sind wir uns noch nicht vollkommen bewusst. Klar ist, dass Smirnov des Öfteren in seinem Lokal verkehrt hat.“



    *


    „Sie wissen noch kein Lieferdatum?“, fragte Semir, nachdem er gemeinsam mit Ben den Neuigkeiten gelauscht hatte, die Veikko brachte. Der junge Beamte schüttelte den Kopf. „So die Informationen, aber wer weiß, ob die uns auch wirklich alles mitgeteilt haben. Laut den M&M’s …“
    „M&M’s?“, unterbrach Ben.
    „Müller und Maier? Ist das nicht offensichtlich“, warf Veikko ein und lächelte dabei lausbübisch. „Nun denn. Laut den M&M’s wird es in der kommenden Woche sein. Solange sollen wir die Füße still halten in unserem Mordfall, oder wie es der Herr Müller formulieren würde, auf die Bremse drücken.“
    Die beiden Autobahn-Kommissare nickten. „Gut, aber ist denn gesichert, dass wir den gleichen Mann suchen?“, warf Semir ein.
    Veikko griff nach dem Tablet, welches auf dem Tisch lag und tippte mit flinken Fingern darauf rum, ehe er es in Bens Richtung hielt. „Maksim Smirnov. Sergey Petrovs Mann in Deutschland. Kommt er dir nicht auch bekannt vor?“ Die Augen des Braunhaarigen weiteten sich. „Diese Anzugträger haben uns also all diese Informationen vorenthalten ohne auch nur ein schlechtes Gewissen zu bekommen?“
    „Scheint so“, antwortete der Finne trocken.

  • Dimitry Sokolov nippte an seinem Wodka und besah sein Gegenüber. Auf Sergey Petrovs kantigem Gesicht zeichnete sich ein Lächeln ab. „Wie laufen die Geschäfte in Finnland?“, wollte sein Boss wissen. „Gut. Es gibt keine Probleme. Die Polizei ahnt nichts. Die waren voll und ganz mit Kuznetsov beschäftigt, dass sie uns keinerlei Beachtung geschenkt haben.“
    Sergey Petrov nickte zufrieden. „Kuznetsov ist ein Narr und das hat er nun davon!“ Er lachte schallend auf. „Ich habe ihm immer gesagt, dass auf dem Markt nur Platz für einen großen Mann ist und der bin nun einmal ich.“ Petrov wurde ernst. „Sorge dafür, dass uns keiner der Esten und Finnen in die Suppe spuckt. Wir beide wissen, dass dort gerade der Kampf um Kuznetsovs Nachfolge herrscht. Mach denen klar, dass die Entscheidung schon zu meinen Gunsten gefallen ist.“
    Dimitry nickte. „Hast du schon ein Datum für deine große Lieferung im Kopf?“
    „Du wirst es schon noch erfahren. Kein Angst Sokolov.“
    „Es muss einiges dafür in die Wege geleitet werden, Chef. Es ist eine große Sache.“ Sokolov lehnte sich an das Geländer des Balkons. „Ich muss vieles mit meinen Partnern bereden, wenn alles glatt laufen soll.“
    „Gut gut … in drei Tagen Sokolov. Dann gehen die LKW über die Grenzen“, erklärte ihm Petrov. Er griff zur Flasche und füllte sich das Wodkaglas erneut. „Das wird das Geschäft des Jahrhunderts! Finnland wird einen neuen großen Namen bekommen. Vergiss Hansen, vergiss Kuznetsov! Jetzt komme ich!“
    Sokolovs Augen weiteten sich. „Die LKW sind bereits unterwegs?“
    „Denkst du, ich könnte das nicht alleine? Sicher, sind sie das.“


    *


    Es war 16:00 Uhr, als die Hauptkommissare der Autobahnpolizei das Polizeipräsidium Düsseldorf in Unterbilk erreichten. Semir schlängelte sich in seinem BMW durch den dichten Feierabendverkehr rund um den Jürgensplatz und lenkte das Auto langsam auf den Parkplatz des Gebäudes. „Zum Glück waren wir schon einmal hier“, verkündete Ben von der Beifahrerseite, als er auf das große steinerne Gebäude blickte. „Und wir sind sogar schon etwas früher hier, wenn wir uns also doch in dem Klotz verlaufen, haben wir noch genug Zeit nach dem Weg zu fragen“, fügte Semir an, als er seinen Dienstwagen einparkte. Die drei Ankömmlinge stiegen aus und begaben sich in Richtung des Präsidiums, wo sie in einer halben Stunde zu der gemeinsamen Besprechung erwartet wurden.
    Schon bevor sie das Gebäude erreicht hatten, kam ihnen eine Frau um die 50 entgegen. Sie lächelte und hielt ihnen die ausgestreckte Hand entgegen. „Lone Salminen. Sonderdezernat Totenwinter, wir leiten diese Ermittlungen.“ Veikko war der erste, der ihr die Hand entgegenstreckte. Er hatte Semir und Ben auf dem Weg hierher erklärt, dass er bereits mit Lone Salminen zu tun gehabt hatte, als er noch bei der Spurensicherung gearbeitet hatte. Vor sieben Jahren hatte sie zu Europol gewechselt, war vor einem Jahr aber wieder nach Helsinki zurückgekehrt und führte nun die Sonderabteilung Totenwinter, die länderübergreifend Gewaltdelikte untersucht. „Ich sehe, Sie sind erwachsener geworden Herr Lindström“, sagte die finnische Kommissarin. Die deutschen Kollegen wussten sofort, worauf sie ansprach. Bis vor einem Jahr hatte Veikko in seinen Haaren grüne Strähnen getragen. „Ich werde meiner Tochter peinlich“, gab der Angesprochene nach einer Weile Antwort, wobei er sich durch das pechschwarze Haar fuhr. Veikko drehte sich zu Semir und Ben um und stellte sie nun ebenfalls Lone Salminen vor. Danach machte sich das Quartett auf in Richtung des Besprechungsraumes, wo es erneut viele Hände zu schütteln galt, ehe es losgehen konnte.


    Als sich die Kommissare der Dienstelle Autobahn hingesetzt hatten, sah sich Ben um und studierte die Gesichter der Personen, die am Tisch saßen. Einige hatten sich bereits einen Kaffee eingegossen, der nun vor ihrer Nase dampfte. Es handelte sich um insgesamt fünf Dienststellen, die an der Aktion beteiligt waren. Neben der Autobahnpolizei waren auf deutscher Seite das Drogendezernat und der Zoll vertreten. Auf der finnischen Seite wurde die Aktion von dem Sonderdezernat Totenwinter und dem KRP geleitet. Alle Fäden liefen bei Lone Salminen zusammen, die ihr Handwerk außerordentlich gut zu verstehen schien, denn bis jetzt schien die Zusammenarbeit zwischen den Dienststellen gut zu verlaufen.


    „In Ordnung, Leute“, eröffnete Salminen die Besprechung. „Die meisten von Ihnen wissen inzwischen Bescheid, aber ich möchte alle auf einen Nenner bringen.“ Dann dimmte sie die Raumbeleuchtung über die Fernbedienung und öffnete eine Präsentation. Der Beamer unter der Decke warf eine Karte an die Wand. Helsinki war dort ebenso abgebildet wie auch Köln. „Unser Informant hat uns inzwischen detaillierte Informationen zu der bevorstehenden Drogenlieferung zukommen lassen. Es wird sich um drei LKW’s handeln, von denen einer in Helsinki erwartet wird und zwei hier in Köln. Der Termin ist in drei Tagen angesetzt.“
    Sie machte eine Pause, ehe sie ihren Vortrag fortführte. „Gemeinsam mit dem Zoll haben wir entschieden, dass es das Beste ist, wenn wir besagte LKW-Ladungen problemlos passieren lassen. Wir wollen die Beute und die Hintermänner. Keine halben Sachen.“
    „Weiß man denn inzwischen, wie die Route aussehen soll“, warf Semir ein.
    Im Raum wurde es kurz laut und einige Kommissare tuschelten miteinander, ehe Lone Salminen wieder die Stimme erhob. „Wir wissen nur, dass es sich um eine von Andreas Hansens Routen handeln wird. Wahrscheinlich eine derjenigen, die der Polizei noch immer nicht bekannt sind.“
    „Fragen wir Hansens Kleinen“, sagte Mikke Korhonen, der Leiter der KRP.
    „Das könnten wir tatsächlich tun“, antwortete Salminen. „Nur haben wir davon nichts. Alle Routen, die Herrn Häkkinen durch seinen Vater bekannt waren, wurden von ihm der Polizei bereits offengelegt. Ich sehe keinen Grund an dieser Aussage zu zweifeln. Du etwa Mikke?“ Korhonen schüttelte den Kopf und gab in diesem Punkt klein bei, denn es war ihm keinesfalls entgangen, dass die finnische Oberkommissarin ein Interesse an Mikael Häkkinen hatte und ihn für ihr Team gewinnen wollte. Und Lone Salminen war jemand, mit dem er es sich nicht verscherzen wollte. Sie hatte viele gute Kontakte nach ganz oben.
    „Wir haben noch keine Spur auf die Route, nehme ich an?“ Es war die erste Wortmeldung von Veikko, der seinen Stuhl bereits leicht zurückgekippt hatte.
    „Ja, bis jetzt jedenfalls“, sagte Salminen.
    „Es kann ja nicht so schwer sein. Man müsste sich nur die bisherigen Routen genau ansehen. Bei Hansen musste es schnell gehen, er hasste lange Transportwege. Außerdem handelt es sich um LKW, heißt die Seewege fallen weg und wir können uns auf die Straßen konzentrieren.“
    „Das stimmt, Lindström“, räumte die Kommissarin ein. „Ich werde diese Aufgabe an Sie und die Kollegen von der Autobahnpolizei übergeben. Finden Sie heraus, welche Routen in Frage kommen und verschaffen Sie uns so einen Vorsprung. Auch für den Fall, dass unserer Informant uns nicht mitteilen kann, wo die Übergabe stattfinden wird.“
    Veikko sah zu Ben und Semir rüber, die ihm mit einem Nicken zu verstehen gaben, dass sie nichts an dieser Aufgabe auszusetzen hatten. „In Ordnung“, antwortete er dann.
    Lone Salminen nickte. „Ich erwarte ihre erste Rückmeldung diesbezüglich am morgigen Nachmittag.“
    Die Besprechung dauerte noch weitere zwei Stunden. Man drehte und wendete die verschiedenen Vermutungen und Hypothesen, sortierte die einzelnen Arbeitsschritte und teilte diese den Abteilungen zu. Unmittelbar danach verließen die meisten der Anwesenden das Gebäude. Ben, Semir und Veikko gehörten zu den letzten, da Lone Salminen mit ihnen noch einmal die zugetragene Aufgabe durchging und die Wichtigkeit betonte.


    Als sie schließlich das Polizeipräsidium von Düsseldorf verließen, war es bereits später Nachmittag. Die angenehm warme Sommerabendluft und machte einer frischen Brise Platz, die allerdings die Rückfahrt nach Köln etwas angenehmer werden ließ und sie auf das Einschalten der doch oft lästigen Klimaanlage verzichten konnten. Der Abschied auf dem Parkplatz der Autobahnpolizei fiel kurz aus. Semir hatte beteuert, dass er sich beeilen wollte, um noch Zeit für Andrea und die Kinder zu haben. Ben sah seinem Kollegen hinterher, wie er mit dem BMW wieder auf die Autobahn fuhr, und drehte sich dann zu Veikko um. „Noch Lust auf ein Bierchen, bis vor wir nach Hause fahren?“, erkundigte er sich. Der finnische Hauptkommissar lächelte verlegen. „Du, ich hab schon etwas vor, tut mir leid. Aber wir können das sicherlich nachholen, oder nicht?“
    Ben zog einen Schmollmund. „Muss ja eine Hammer-Frau sein, wenn du mit ihr mehr Zeit verbringst als mit mir!“
    „Ist sie auch, ist sie auch. Du kannst mich irgendwo in der Stadt rauslassen. Den restlichen Weg fahre ich dann mit dem Bus.“
    „Aha, es ist also auch ein Geheimnis, wo deine Herzdame wohnt?“
    Veikko lachte laut. „Vielleicht ist sie ja beim Geheimdienst, eine Spionin?“, merkte er an und begab sich dabei zu Bens Mercedes.
    „Das vermute ich so langsam auch, so wie du dich benimmst und ein Staatsgeheimnis aus ihr machst. Lange wirst du das aber nicht mehr machen können. Das weißt du hoffentlich?!“
    Veikko winkte ab. „Jaja Ben. Irgendwann stelle ich sie dir ja schon vor.“

  • Jenny spürte die warme Abendsonne auf Veikkos Haut. Ihre Finger fuhren über seinen Oberkörper, während er davon berichtete, wie die Besprechung in Düsseldorf verlaufen war. Ihre Hand stoppte für einen Augenblick auf seinem Herz und sie verfolgte einige Zeit das gleichmäßige Schlagen. „Ich denke, dass es nicht schwer sein wird diese Route zu finden. Es gibt nicht viele Straßenwege nach Deutschland. Gut man könnte die Fähre benutzen, aber auch dort wäre es nicht besonders schwer herauszufinden, welche es denn ist“, erläuterte Veikko euphorisch und strich durch ihre Haare. „Vielleicht kann ja auch Mikael helfen, er hat ja immerhin einige Monate intensiv den Job seines Vaters gemacht und das würde bedeuten, dass er vielleicht weiß, wie man solche Routen …“
    Sie lachte und gab ihm einigen innigen Kuss. „Das interessiert mich gerade überhaupt nicht!“
    Ihre Finger erkundeten seinen Oberkörper weiter und machten auf seinem Tattoo halt. Ein Engelsflügel. Sie folgte den Linien und sie spürte, wie sich sein Körper urplötzlich verkrampfte. Er griff nach ihrer Hand.
    „Lass das!“ Seine Stimme klang hart und fordernd. Sie befreite sich aus seinem ungewöhnlich harten Griff. „Was ist los? Was hat das Tattoo für eine Bedeutung?“ Sie wusste, dass seine plötzliche Ablehnung damit zusammenhing. Er blockte immer ab, wenn es darum ging.
    Veikko stand auf und schlüpfte in seine Hose, die vor dem Bett lag. Wenig später griff er nach seinem T-Shirt und zog es sich über den Kopf. „Willst du jetzt gehen?“, fragte Jenny leise. „Ja“, antworte er einsilbig und war bereits dabei das Schlafzimmer zu verlassen, ohne sich überhaupt auf die Suche nach seinem Pullover zu begeben. Er wollte nur schnell weg. Sie sprang auf und hechtete ihm hinterher. „Nur weil ich wissen will, was es mit diesem Tattoo auf sich hat?“
    „Ich habe dir schon mehrmals gesagt, dass es nur mich etwas angeht. Es ist privat!“, presste Veikko kurz angebunden hervor.
    „Und ich dachte, dass du mich lieben würdest. Hast du kein Vertrauen in mich?!“
    Er drehte sich um und sah sie an. „Ich möchte einfach nicht darüber reden. Das ist etwas ganz normales und hat nichts mit vertrauen zu tun!“ Danach öffnete er die Wohnungstür und ließ sie erstaunt zurück. Was war nur in ihn gefahren? Jedes Mal, wenn sie das Tattoo erwähnte, blockte er ab. Jenny sah aus dem Fenster, um sich zu vergewissern, dass Veikko auch wirklich ging und nicht irgendwo im Treppenhaus darauf wartete, dass sie ihm folgen würde. Nur Sekunden später sah sie ihn auf der Straße und löste sich enttäuscht wieder von dem Fenster. Vielleicht waren sie und Veikko ja doch nicht füreinander gemacht, wie sie bisher gedacht hatte?




    Ben löste seinen Blick vom Fernseher, als er hörte, wie ein Schlüssel in der Haustür umgedreht wurde. Wenig später stand Veikko im Wohnzimmer. „Ich dachte, du würdest heute bei deiner neuen Flamme übernachten. Übrigens wäre es wirklich mal an der Zeit, sie uns auch vorzustellen!“ Der Finne stöhnte und setzte sich neben Ben auf das Sofa. „Ja, schon …“
    „Aber?“
    Veikko raufte sich durch die Haare. „Ich weiß nicht. Ich denke, ich habe den Abend vermasselt.“
    „Was ist denn passiert?“
    Der Finne zog sein T-Shirt am Ärmel ein Stück nach unten und zeigte auf sein Tattoo. „Sie will wissen, was es bedeutet und ich … ich weiß nicht, wie ich es ihr sagen soll … Scheiße!“
    Ben nickte. „Dir ist klar, dass du ein Kind warst, als deine Eltern der Sekte beigetreten sind?“
    „Und wenn schon! Diese Tatsache ändert doch nichts daran, dass ich all die Jahre überhaupt nicht verstanden habe, wie gefährlich diese Gruppe war. Ich war 17, als ich nach und nach begriffen habe, was da überhaupt abgeht. Es entschuldigt überhaupt nichts!“ Veikko lehnte sich zurück und stöhnte. „Warum nur ist das mit der Liebe so kompliziert?“
    „Es ist nicht kompliziert. Du machst es dir nur gerade kompliziert. Wenn sie dich liebt, wird sie das verstehen. Erklär es ihr einfach in Ruhe, okay?“
    „Du hast leicht reden. Deine Eltern waren in keiner Sekte, die denkt, der Teufel wohnt in allem und jeden!“
    Ben lächelte. „Wie hast du es damals Laura erzählt? Sie wusste doch von all dem oder nicht?“
    „Das ist etwas vollkommen anderes! Ich meine, wir haben ein Kind erwartet und ich musste ja wohl ehrlich mit ihr sein!“, wehrte sich Veikko sofort und griff nach Bens Bierflasche, um sich einen Schluck zu gönnen, was dieser mit einer Grimasse zur Kenntnis nahm.
    „Es ist genau das Gleiche! Mach es dir doch nicht komplizierter, als es eigentlich ist. Wenn diese Frau dich liebt, wird sie es verstehen. Wie gesagt, du warst noch ein Kind. Du konntest überhaupt nichts für die Verbrechen dieser Leute.“
    Veikko stöhnte und versank noch tiefer in das Sofa. „Es fühlt sich aber so an … als hätte ich das alles ändern können, was meiner Familie zugestoßen ist, als hätte ich sie retten können vor dem Zerbrechen.“
    Ben nickte. Er konnte Veikko gut verstehen. Diese Sekte hatte seine komplette Familie zerstört. Er war von seiner eigenen Familie entführt worden, weil irgendein Mann behauptete, Veikko wäre vom Teufel besessen gewesen. Seine Mutter und die Schwester waren auf der Flucht erschossen worden und sein Vater saß noch immer seine Strafe ab. Ihn bestrafte Veikko mit Ignoranz. Jede Woche bekam Veikko von seinem Vater einen Brief, den er kommentarlos ohne ihn zu lesen im Müll verschwinden ließ. Zu gerne würde Ben einen lesen, doch bisher hatte er seine Neugier gut im Griff gehabt.
    „Du hättest nichts ändern können, Veikko. Sie haben diesen Weg für sich gewählt und nichts auf der Welt hätte sie davon abhalten können.“ Ben drückte sanft die Schulter seines Freundes. Veikko sah ihn an und lächelte. „Jaja, ich weiß, dass du Recht hast … aber trotzdem. Ich bin noch nicht bereit ihr das alles zu erzählen. Was soll ich tun? Alles riskieren? Immerhin liebe ich sie und ich weiß, dass ich sie enttäuscht habe, heute Abend.“
    „Vielleicht versteht sie es, wenn du ihr das alles noch einmal in Ruhe erklärst. Sag ihr, dass du es ihr erzählen wirst, wenn du dich bereit fühlst. Sag ihr, dass es nicht mir ihr zusammenhängt.“
    Veikko stöhnte leise auf. „Ja, ich werde es versuchen, Ben.“
    Danach griff der Finne nach seinem Laptop, den er am Abend zuvor achtlos neben das Sofa geschmissen hatte. „Und jetzt werde ich mich mal auf die Suche nach dieser mysteriösen Drogenroute machen. Wäre doch gelacht, wenn wir da nichts finden, was uns hilft.“
    Ben griff nach der Bierflasche, die auf dem Tisch stand. „Manchmal überlege ich, ob Mikael wirklich nicht mehr darüber weiß, als er uns sagt. Ich mein, er verheimlicht immer etwas. Da ist immer irgendwas, was er nicht mit seinen Freunden teilt.“
    Ihm antwortete nur das Hämmern der Laptop-Tasten.
    „Hast du keine Meinung dazu, Veikko?“
    „Mhm? Nein, eigentlich nicht.“
    „Im Grunde kennst du aber Mikael schon länger als ich …“
    Veikko sah kurz zur Seite. „Tue ich das? Ich glaube nicht … wir sind doch erst zehn Jahre Freunde. Wie lange seid ihr Freunde?“
    Ben zuckte mit den Schultern.
    „Ach komm, sag! Es sind mehr als elf, da bin ich mir sicher.“
    „Ja, es sind mehr als zehn … du hast ja Recht. Aber Michael war ganz anders … er war nicht so … ich weiß nicht. Verschlossen ist das falsche Wort, denn ich weiß, dass auch Michael mir nicht alles erzählt hat.“
    „Das hört sich creepy an, wenn du von zwei Personen erzählst, wenn es doch nur um eine geht“, kam es von der Seite und Ben vernahm Veikkos Lachen.
    „Kommt man leichter an ihn ran, wenn man immer um ihn herum ist … ich meine nicht so wie ich, alle paar Monate mal …“
    Das Tippen verstummte. „Ich weiß nicht … früher war es nicht so schwer. Die letzten Monate hat er mit keinem von uns geredet … ich glaube …“ Veikko sah ihn an. „Ich denke, dass derzeit nur Kasper wirklich zu ihm durchkommt. Der Samthandschuh von Antti, der funktioniert einfach nicht mehr … dafür ist zu viel passiert.“
    „Denkst du, dass er wieder in Ordnung kommt? Ich meine, wo er …“
    „Ja.“
    Ben nickte. Das bestimmende und Selbstbewusste Ja von Veikko machte ihm Mut. Sein Freund würde dieses Mal diese Dunkelheit in ihm drin besiegen. Er lächelte und beugte sich zu Veikko herüber. „Also sag an, was hast du bisher für Ideen.“

  • Die drei Kommissare hatten sich gemeinsam mit Kim Krüger im Sitzungszimmer der Dienststelle zusammengefunden. Lone Salminen war, wie ein paar andere Beamte der Sondereinheit, über Telefonkonferenz zugeschaltet worden.
    Nachdem Kim Krüger einige Worte zur Einführung gesagt hatte, gab sie das Wort an Veikko weiter. Der finnische Kriminalkommissar berichtete davon, was er am gestrigen Abend noch über die Routen von Andreas Hansen herausgefunden hatte und was er für die wahrscheinlichsten Wege hielt, wie der LKW über Helsinki nach Deutschland kam. „Noch bin ich aber nicht ganz fertig. Ich muss erst noch ein paar Eventualitäten durchgehen“, beendete er seinen Bericht.
    „Das ist doch schon einmal einiges“, ertönte die Stimme von Lone Salminen über die Lautsprecher. „Unser Informant hat ebenfalls ein paar Neuigkeiten. Er konnte uns ein genaueres Datum nennen und ist in die Planungen intensiv mit einbezogen.“
    „Heißt, wenn etwas steigt, dann wissen wir wo und wann?“, hakte Semir nach. „Wozu brauchen wir dann überhaupt die möglichen Routen?“
    „Ja“, bestätigte ihm Salminen und lächelte. „Ich möchte alle Eventualitäten im Blick haben. Glauben Sie mir, Herr Gerkhan, ich habe schon so manchen Polizisten bei viel Geld schwach werden sehen.“
    Semir nickte. Da war natürlich etwas Wahres dran. „Wann soll das genaue Datum sein?“
    „In zwei Tagen“, erklärte Lone Salminen. „Ich habe mit Müller und Maier abgesprochen, dass ich ihr Team in den Zugriff bei der Übergabe einbeziehen werde.“



    Es wurden noch einige grundlegende Dinge besprochen, ehe Kim Krüger und Lone Salminen sich einig waren, dass alle wichtigen Neuigkeiten zu dem Fall besprochen wurden. Die Leiterin der Sondereinheit versprach sich zu melden, sobald es neue Informationen gab. Im Gegenzug erklärte Veikko sie sofort anzurufen, wenn er alle Routen durchgegangen war und wusste, welche die Wahrscheinlichste war.



    *



    Jenny sah aufgeregt auf die Tür zum Konferenzraum. Angespannt wartete sie darauf, dass sich die Tür endlich öffnen würde. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals und sie zappelte aufgeregt mit den Füßen. Was konnte denn so lange dauern? Es war doch eine einfache morgendliche Besprechung. Als sich die Tür schließlich öffnete, sprang sie regelrecht auf und ging in Richtung Konferenzraum. Nur Mut Jenny, sagte sie sich selbst, nur Mut. Sanft zog sie Veikko zur Seite. „Können wir kurz reden?“, flüsterte sie. „Ich habe zu tun. Wir sind kurz davor die Route der Drogenlieferung zu knacken.“ Sie sah zu Boden. „Woher soll ich wissen, dass ich für dich nicht nur eine Bettgeschichte bin?“ Sein Blick verhärtete sich. „Das denkst du?“, fragte er mit leiser Stimme, um die Aufmerksamkeit der umherstehenden Kollegen nicht zu ergattern.
    „Ja … denn du scheinst nicht den Mumm zu haben, zu mir zu stehen. Du teilst nichts Privates mit mir, blockst ab und machst ein großes Staatsgeheimnis aus unserer Beziehung.“ Veikko lächelte und griff nach ihrer Hand. Dann beugte er sich vor, küsste sie zärtlich und trat zurück. „Ich liebe dich!“, sagte er laut und Jenny spürte die verwunderten und überraschten Blicke aller Kollegen auf sich. „Veikko“, murmelte sie leise und fühlte, wie ihr Gesicht heiß wurde vor Scham. So öffentlich wollte sie das Liebesgeständnis nun auch nicht haben. Es hätte ihr gereicht, wenn er den engsten Kollegen davon erzählt hätte. „Es soll ruhig jeder wissen, dass wir ein Paar sind“, wiederholte Veikko laut und drückte ihr abermals einen Kuss auf die Lippen.
    „Was zur …“ Ben, der bereits in seinem Büro war, sah durch die Glasscheibe auf die Szene wenige Meter vor sich. Veikko hatte Jenny vor versammelter Mannschaft einen Kuss gegeben. Langsam begannen sich in seinem Kopf die Puzzleteile zusammenzufügen. Er fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. Er hatte all die Monate über von seiner Kollegin geredet und er hatte es nicht bemerkt. Wie blind konnte man eigentlich sein?
    „Was ist denn?“ Semir war durch seinen Aufschrei der Überraschung ebenfalls aufmerksam geworden und stellte sich neben seinen Partner. Ein breites Grinsen breitete sich im Gesicht des Deutschtürken aus. „Ach ne. Sieh einer an.“
    „Das geht schon Wochen“, erklärte Ben ihm. „Er hat von einer Freundin erzählt, aber ich bin nie darauf gekommen, dass es Jenny sein könnte.“
    „Nein? Die haben hier doch offensichtlich herumgeflirtet.“
    „Schon, natürlich. Ich hatte auch vor sie zu verkuppeln – gut das ist ja jetzt nicht mehr nötig – aber ich wollte erst abwarten, bis er mit seiner Flamme Schluss macht.“
    Semir lachte. „Na das scheint sich ja jetzt erübrigt zu haben.“ Der Ältere drehte sich von der Scheibe weg. „Und nun lass uns weiterarbeiten.“
    Ben sah noch einige Minuten auf das Paar und setzte sich dann ebenfalls wieder an seinen Arbeitsplatz. „Ich glaub es nicht“, murmelte er leise, „Jenny und Veikko. Ein Paar.“


    Es dauerte nicht länger als fünf Minuten und dann wurde die Tür zum Büro der beiden Kommissare aufgezogen und Veikko kam herein. Der schwarzhaarige Finne setzte sich an seinen Platz und öffnete den Deckel seines Laptops. Ben sah ihn erwartungsvoll an, doch Veikko sagte nichts. Stattdessen schien er binnen weniger Sekunden in seine Arbeit vertieft. „Erde an Veikko.“ Der Angesprochene sah auf. „Ja?“ „Du bist mir ja ein Held. Führst mich an der Nase herum.“
    „Es war nicht besonders schwer“, antwortete Veikko und sah wieder auf den Laptop. „Sogar Kasper hat es vor dir herausgefunden.“
    „Was soll das denn heißen?“ Empört verschränkte Ben die Arme vor der Brust.
    „Dass du ziemlich langsam warst, Herr Ermittler.“
    „Pff!“ Ben lachte kurz auf und wandte sich dann wieder seiner Arbeit zu. Es würde schon noch ein Zeitpunkt kommen, an dem er sich hierfür bei Veikko rächen konnte. Und Rache war bekanntlich süß.

  • Zwei Tage später
    Es war 15:00 Uhr und die Wolken am Himmel hingen tief über dem Gelände. Es war ein altes nicht mehr genutztes Bergwerk. Laut Informationen des Informanten war dies der Ort, wo die Übergabe der Drogenlieferung über die Bühne gehen sollte. Oder zumindest einer der Orte. Insgesamt soll es sich um zwei LKW-Ladungen handeln. Das Bergwerk war nur einer von zwei Umschlagsplätzen. Ben spielte nervös mit dem Mikrofon von seinem Headset. Veikko, Jenny und Semir sowie einige Kollegen von der Drogenfahndung und der finnischen Spezialeinheit sollten hineingehen, während die restlichen Beamten die Höhle von Außen sicherten. Ben hätte einiges getan, um ebenfalls ins Innere der Höhle zu dürfen, aber Maier und Müller, die die Aktion leiteten, ließen in diesem Fall nicht mit sich reden. „Das Höhlensystem hat die Größe von drei Fußballfeldern, was das Ganze nicht wirklich erleichtert“, hatte Müller kommentiert.


    Vor etwas mehr als zehn Minuten war ein weißer Lieferwagen in die Höhle gefahren. Wie die Kollegen im Inneren des Bergwerks berichteten, war der Deal bereits im vollen Gange.
    „Verdächtiger lädt Paletten von der Lieferfläche des LKW“, hörte er Semirs Stimme in seinem Ohr. „Sollen wir zugreifen?“
    „Wartet noch“, erklärte Müller daraufhin.
    „Worauf? Die Vorgabe lautet doch, dass wir sie in der Höhle festsetzen sollen.“
    „Bis die komplette Ladung im Kleintransporter ist“, sagte Lone Salminen.
    „Verstanden.“ Diesmal war es Veikko gewesen, der antwortete.
    Ben zappelte mit dem Fuß. Er konnte es nicht erwarten, dass endlich der Befehl zum Zugriff kam. „Irgendetwas stimmt nicht!“ Am anderen Ende der Leitung brach Hektik aus. Ben hörte schnelle Schritte, hektisches Atmen, Rufe. Verflucht, was war denn plötzlich da drinnen los?“
    „Semir was geht da vor sich?“
    Er erhielt keine Antwort. Dann gab es einen lauten Knall. Eine Explosion oder etwas Ähnliches.


    Ben sah, wie ein mittelgroßer Mann mit einem Lieferwagen in hoher Geschwindigkeit aus der Höhle fuhr. Er zögerte nicht lange und stürmte zu seinem Mercedes. Er ließ sich hinter den Fahrersitz fallen, drehte den Schlüssel im Zündschloss um, legte den ersten Gang ein und beschleunigte den Wagen. Er sah in den Rückspiegel. Einige der uniformierten Kollegen hatten es ihm gleichgetan und wenig später flogen die ersten Funksprüche. Das Ganze hatte sich in Bruchteilen von Sekunden abgespielt und trotzdem hatte der Flüchtige bereits einen Vorsprung von gut 40 Metern. Ben trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch und beschleunigte rasant. Er war nicht gewillt, diesen Typen davon kommen zu lassen und schnell erreichte die Tachonadel die 150er-Marke.
    Er griff zum Funkgerät. „An alle Einheiten! Der Flüchtige bewegt sich mit dem gesuchten Fahrzeug über die B70 in Richtung A1.“
    Bens Adrenalinspiegel hob sich immer weiter. Noch war er an dem mutmaßlichen Drahtzieher dran, doch dieser hatte nach einigen Überholvorgängen wieder etwas an Abstand gewonnen. Ben drückte das Gaspedal durch und holte alles aus seinem Wagen heraus. Die Meter zwischen ihm und dem weißen Kleintransporter wurden immer weniger und bald hatte er sich danebengesetzt. Er blickte zur rechten Seite und erkannte Smirnov im anderen Auto. Nun wusste er immerhin, mit wem er es zu tun hatte. Ben wollte nach dem Funkgerät greifen und seinen Kollegen davon berichten, als der Fahrer des anderen Fahrzeugs sein Lenkrad herumzog und ihn streift. Zunächst noch sanft, doch beim zweiten Mal deutlich stärker. Ben wich mit einem Schlenker aus und drückte gewaltsam auf die Bremse, um zu verhindern, dass ihn sein Gegner in den Straßengraben schieben konnte.


    Smirnov nutzte die Situation aus und setzte sich mit quietschenden Reifen ein weiteres Mal von ihm ab. „So nicht Freundchen!“, fluchte Ben laut und schaltete den Mercedes mit durchgedrücktem Gaspedal schnell wieder hoch. Mit beiden Händen umklammerte er das Steuer, während die Nadel auf dem Tacho höher und höher kletterte. Dennoch schaffte er es nicht, den durch sein Bremsmanöver entstandenen Abstand wieder zu verkürzen.


    Auf einmal kam der Wagen des Flüchtigen in einer scharfen Rechtskurve ins Schleudern. Ungebremst kam Smirnov von der Fahrbahn ab und flog aus der Kurve. Unzählige Male überschlug sich das Auto, ehe es durch einen Baum gestoppt wurde und kopfüber auf einem Acker liegen blieb. Ben sog erschrocken die Luft ein und stieg auf die Bremse. Hastig löste er seinen Sicherheitsgurt und sprintete in die Richtung, wo der Wagen lag. Sicherheitshalber zog er seine Pistole aus dem Holster, auch wenn er bezweifelte, dass der Typ nach diesem Unfall noch viel Gegenwehr leisten würde. Neben der Fahrertür angekommen kniete er sich in die feuchte Ackererde, die durch einen mehrstündigen Regenschauer in der vergangenen Nacht aufgeweicht war und ihn tief einsacken ließ. Die Scheiben des Wagens waren zersprungen, das Glas lag zersplittert über einige Meter des Ackers verteilt. Die Augen von Smirnov starrten ihn an, ohne dass darin Leben zu finden war. Mit zittrigen Fingern suchte Ben nach einem Puls, fand jedoch keinen. Der Mann war tot. „Verdammt!“, fluchte Ben laut und löste sich wieder vom Wagen. Mit langsamen Schritten ging er zurück zu seinem Wagen und ließ sich auf den Fahrersitz fallen. Er schloss die Augen und holte einige Male tief Luft, um seinen Körper zu beruhigen. Dann griff er nach dem Funkgerät. „Cobra 11 an alle. Der Flüchtige kam bei einem Unfall von der Straße ab und verstarb noch am Unfallort“, sprach er hinein und teilte den Kollegen noch den genauen Standort mit.


    Es dauerte nicht lange und auf dem Acker wimmelte es von Polizisten und Beamten der Spurensicherung. Ben hatte sie kurz eingewiesen, lehnte jetzt aber an seinem Mercedes und beobachtete das Treiben aus der Ferne. Er wusste, wie es die Spurensicherung hasste, wenn man ihnen in die Arbeit pfuschte, darüber hinaus konnte er sicherlich ohnehin nicht von großem Nutzen sein bei solchen Arbeiten. Er hörte, wie ein Auto unmittelbar hinter seinem Mercedes zum stehen kam, und sah zur Seite. Die Wagentüren öffneten sich und Müller und Maier waren aus dem Wagen gestiegen. Während Maier in Richtung des Ackers lief, ging Müller in seine Richtung. Seine Gesichtszüge waren ernst und fast schon traurig. „Ich bringe leider keine guten Nachrichten für dich“, begann Müller leise, als er vor ihm stand.
    In Bens Magengegend breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Ein eigenartiges Gefühl der Beklemmung übernahm Besitz von ihm. „Was ist los?“, fragte er mit dünner Stimme.
    „Es geht um deine Kollegen … in dem Stollen. Es gab eine Explosion und der Eingang ist verschüttet … viele der Kollegen, sie haben es nicht raus geschafft.“ Müller sah verlegen auf die Erde.
    „Du meinst, sie … Semir, Veikko und Jenny … sie sind noch da drin? Sie sind vielleicht …“ Er schüttelte den Kopf, weil er diesen Gedanken nicht aussprechen wollte. Müller nickte. „Die Rettungskräfte sind schon vor Ort, aber du hast ja selbst gesehen, was für Ausmaße der Stollen hatte.“
    Ben schluckte. „Müller, ich muss …“
    Der ältere Beamte nickte und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich werde dich fahren. Der Kollege kann später deinen Wagen nehmen, ja?“
    „Danke“, nuschelte Ben, folgte Müller wie in Trance zu dessen Auto und ließ sich auf dem Beifahrersitz fallen. Er schloss für einen Moment die Augen. Er musste sich sortieren. Eine Explosion. Wie groß waren die Chancen, dass es seinen Freunden gut ging? Vielleicht waren sie ja ganz in der Nähe des Eingangs, vielleicht aber auch im Kern des Höhlensystems. Dort, wo man sie eingeteilt hatte. Was war, wenn sie von herabfallenden Steinen getroffen wurden? Was war, wenn einer schwer verletzt war und man sie nicht rechtzeitig finden würde?
    „Jäger … es geht ihnen sicherlich gut.“ Ben öffnete die Augen und sah zur Seite. „Hoffentlich“, antwortete er leise und richtete seinen Blick wenig später aus dem Fenster, wo die Bäume an ihnen vorbeizogen.


    *


    In Jennys Kopf war ein lästiges Klingeln zu hören und ihr Gleichgewichtssinn setzte für einige Zeit vollkommen aus. Sie hustete, um den dicken Staub aus ihren Lungen zu befördern und richtete sich langsam auf. Die junge Streifenpolizistin sah umher, konnte in der von Staubpartikeln durchzogenen Luft kaum etwas erkennen.


    Dann fiel jedoch etwas in ihr Blickfeld. Hektisch rannte sie darauf zu. „Veikko!“, rief Jenny erstickt und sank vor dem Schutthaufen auf die Knie. Sie beeilte sich die Latten und Holzstücke hochzuheben und hinter sich zu werfen. Scharfe Holzsplitter und Nägel gruben sich in ihre Hände und zerrissen die Haut, doch sie machte immer weiter. Sie hielt inne, als plötzlich Bewegung in den Schutthaufen kam. Mit einem kräftigen Ruck schob Veikko einige Holzstücke und Steine von sich. Sein Gesicht kam zum Vorschein, voller Staub und Dreck. Er hustete, setzte sich anschließend auf und wischte sich mit dem Ärmel über das Gesicht. An der Schläfe hatte er eine Platzwunde. Er fluchte leise auf Finnisch und tastete anschließend seinen Körper nach weiteren Verletzungen ab. Am linken Oberarm stoppte seine rechte Hand kurz. Sein Pullover war aufgerissen und Jenny konnte eine Fleischwunde darunter erkennen. „Geht es dir gut?“, fragte Veikko und hustete erneut. Sie nickte. „Ja … ja es geht mir gut.“


    Der Finne sah sich um. „Wo ist Semir?“ Jennys Augen weiteten sich. Sie hatte Semir in ihrer Sorge um Veikko kurzzeitig komplett vergessen. Die junge Beamtin schüttelte seicht den Kopf. „Ich weiß nicht. Ich habe ihn nicht gesehen seit der Explosion.“ Veikko nickte und richtete sich mühselig auf. „Wir müssen ihn finden. Hoffentlich ist er nirgends verschüttet!“ Er wühlte in seiner Tasche nach dem Funkgerät, musste jedoch feststellen, dass es durch die herabfallenden Steine komplett zerstört war. Kurz darauf zog er sein Handy heraus. Dieses war zwar unbeschadet, er musste jedoch feststellen, dass es ihnen nichts half. Sie hatten keinen Empfang. Die Taschenlampe hatte etwas abbekommen, war aber immerhin noch funktionstüchtig. Sie spendete trotz des zerbrochenen Glases Licht, was sie aber auch nicht wirklich weiterbrachte. Er leuchtete um sie herum, konnte vor dickem Staub allerdings nur wenige Schritte weit sehen. Er beleuchtete die Decke des Stollens. Die Explosion hatte die Holzstützen entfernt und der dicke Querbalken war ebenfalls herabgestürzt. Das Gestein war geborsten, und da es nun nicht mehr gestürzt wurde, erschienen Risse, die sich zusehends ausbreiteten. Er schluckte. Wenn das ganze Konstrukt zusammenbrach, waren sie hier unten gefangen oder schlimmer, vielleicht sogar lebendig begraben. Er drehte seinen Kopf zu Jenny und fällte eine Entscheidung. Er drückte ihr die Taschenlampe in die Hand und zeigte nach Westen. „Ich will, dass du diesen Gang entlang gehst. Er führt wieder hier raus. Beeil dich und schau dich nicht um. Renn, bis du draußen ankommst.“
    „Und du?“
    „Ich werde Semir suchen.“
    Jenny nickte, lief dann aber in die komplett andere Richtung. „Du glaubst doch wohl nicht, dass ich euch beide hier alleine drin lasse. Ich habe das auch gesehen, ich habe gesehen, was passieren kann.“
    Er lief hinter ihr her, blieb jedoch abrupt stehen, als von seinem Knie Schmerzen durch seinen ganzen Körper schossen. „Perkele“, fluchte er leise.
    Jenny wirbelte herum. „Was ist?“
    „Nichts, alles gut. Bitte dreh um Jenny. Bitte! Ich will nicht, dass dir etwas passiert.“
    Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein. Wir werden jetzt gemeinsam Semir suchen und dann finden wir gemeinsam einen Weg aus dieser Höhle. Alle zusammen!“
    Er stimmte schließlich zu. Umso länger sie diskutierten, desto mehr Zeit verloren sie. Jenny reichte ihm die Taschenlampe und er versuchte auszumachen, wo Semir sein konnte. Er war nicht weit vor ihnen gewesen. Einige Meter nur, also musste er irgendwo hier sein.


    Schließlich setzte sich Veikko in Bewegung und machte dabei den Versuch die Schmerzen so gut es ging auszublenden. Jeder Schritt war eine Qual, sorgte für dumpfe Schmerzen in seinem ganzen Körper, aber er war gewillt, diese Tatsache Jenny nicht wissen zu lassen. Es würde sie nur unnötig aufhalten, wenn sie sich jetzt auch noch Sorgen um ihn machen würde.

  • Als sie das Gelände erreichten, schluckte Ben schwer. Gemeinsam mit ihnen waren Wagen des THW und der Feuerwehr angekommen. Er verfolgte aus dem Auto, wie Lone Salminen mit den Männern sprach, denn er fand einfach nicht den Mut auszusteigen und auch aktiv in diese Szene einzugreifen. Er schreckte hoch, als jemand sanft an die Autoscheibe klopfte. Ben sah auf und erkannte seine Chefin auf der anderen Seite der Scheibe. Er atmete ein letztes Mal tief durch und öffnete dann die Beifahrertür, um auszusteigen. Als seine Beine den Boden berührten, wurde ihm bewusst, wie sehr ihm die Situation zusetzte. Es kam ihm vor, als würde er auf Wackelpudding stehen. „Frau Krüger“, begrüßte er sie mit erstickter Stimme.
    Kim Krüger lächelte unsicher. „Wir werden alles tun, damit die Kollegen den Stollen wieder lebendig verlassen, das verspreche ich Ihnen Jäger.“
    Er nickte unsicher und sah in die Richtung, wo Lone Salminen stand, die sich gerade mit einem Händedruck von den jeweiligen Einsatzleitern verabschiedete.


    Die finnische Oberkommissarin kam auf sie zu und teilte ihnen in wenigen Sätzen die aktuellen Informationen mit. Es hielten sich derzeit noch acht Beamte in dem Stollen auf, davon kamen drei von der Autobahnpolizei, zwei von Lone Salminens Abteilung, zwei vom Drogendezernat und einer vom Zoll. „Die Leitung der Bergungsteams verschafft sich gerade einen Überblick. Man möchte keinen Mann reinschicken, wenn die Sicherheit nicht gewährleistet ist“, schloss die blonde Frau ihren Bericht ab und sah traurig in Richtung des Höhleneingangs. Insgeheim bewunderte Ben diese Frau, immerhin waren auch zwei ihrer Kollegen in diesem Stollen gefangen.


    Ben drückte seine Arme fester gegen das Auto und hoffte, dass weder Lone Salminen noch seine Chefin sahen, dass er zitterte. Dieses Gefühl der Ohnmacht hatte noch nicht nachgelassen. Es wirkte alles so unwirklich, dass er sich immer wieder mit einem Blick auf das Treiben am Eingang der Höhle versichern musste, das es kein Trugbild war. „Wie lange wird das dauern“, fragte er mit dünner Stimme nach. Die Finnin zuckte leicht mit den Schultern. „Das konnte man mir nicht sagen, aber sie gehen davon aus, dass Teile der Höhle bereits eingestürzt sind und das ziemlich in der Nähe des Ausgangs, denn ansonsten hätten es sicherlich einige Beamte inzwischen nach draußen geschafft.“ Ben schluckte. Das würde bedeuten, dass Semir und die anderen eingeschlossen waren. Vielleicht waren sie schwer verletzt oder … Er schüttelte den Kopf. Nein, so etwas durfte und wollte er nicht denken. Es ging ihnen sicherlich gut und sie warteten darauf, dass die Bergungsmannschaft die Steinmauer beiseite räumte. Ben fuhr sich mit den Händen durch die Haare und schloss für einen Augenblick die Augen. „Ich … ich muss Veikkos Angehörige verständigen und Andrea … ich, was sage ich ihnen denn?“, kam ihm urplötzlich in den Sinn.
    Kim Krüger legte ihm die Hand auf die Schulter. „Ich werde mich darum kümmern, dass die Familien verständigt werden. Sie müssen das nicht tun, Herr Jäger. Ich weiß, wie es in Ihnen aussehen muss. Glauben Sie mir, auch ich wünschte, dass Herr Gerkhan, Frau Dorn und Herr Lindström bereits hier bei uns wären.“ Er nickte schwermütig. „Danke …“



    *



    Veikko musste erneut husten. Die Luft war von feinem Staub erfüllt, der sich nicht legen wollte und die Sicht einschränkte. Die Taschenlampe nutze ihnen nur wenig. Jenny hustete hinter ihm, um ihre Lungen vom Staub zu befreien.
    „Verdammt, Semir muss doch irgendwo sein. Er war ganz in der Nähe gewesen“, klagte er. Sein Herz pochte wild in seiner Brust und er spürte, wie Panik ihn ergriff. Er hoffte inständig, dass es Semir gut ging und dass sie ihn finden würden, ehe Teile der Höhle oder womöglich das Konstrukt ineinander fielen. Seine Hand umgriff die Taschenlampe fester und er biss die Zähne zusammen. Die Schmerzen in seinem Bein waren größer geworden, doch er konnte sie bisher gut überspielen. „Semir! Bitte antworte!“, rief er abermals in die dunklen Höhlengänge hinein.


    „Hier! Ich bin hier!“, schrie eine Männerstimme irgendwo aus dem Nichts. Sofort rannte Veikko los in die Richtung, aus der er die Stimme vernommen hatte. Für einen Augenblick waren die Schmerzen vergessen, die seinen Körper umklammerten. „Veikko! Hier! Mein Bein. Es ist eingeklemmt, ich schaffe es nicht alleine mich zu befreien!“, ertönte es abermals und endlich konnte er Semir ihm im Licht der Taschenlampe sehen.


    Veikko reichte Jenny, die dicht hinter ihm war, die Taschenlampe und kniete sich hin. „Alles okay mit dir?“, fragte er Semir. „Mein Bein. Es ist … ein … eingeklemmt“, stöhnte Semir leise vor Schmerz. Der finnische Kommissar nickte. „Es ist okay. Wir bekommen das hin … es ist einer dieser Querbalken daraufgefallen“, meinte er. „Meinst du, du kannst den wegschieben?“, wollte Semir wissen. Der Ältere war nicht dumm. Auch wenn die Sicht durch den noch immer herumwirbelnden Staub und das fehlende Sonnenlicht schlecht war, sah er das Blut auf der Kleidung seines jungen Kollegen. Besonders an der Schläfe und am Oberarm, aber auch am Knie, das sich nur wenige Zentimeter von seinem Kopf entfernt befand, blutete er.
    „Ich bin mir sicher, dass Jenny und ich es zusammen hinbekommen.“
    Jenny nickte eifrig. „Wir werden das schaffen, Veikko und ich holen dich da raus!“, sagte sie und klemmte die Taschenlampe zwischen ihre Zähne.
    Veikko griff nach dem Balken, unmittelbar unter ihm fasste Jenny zu. „Wenn wir es schaffen, den Balken etwas anzuheben, schaffst du es alleine dein Bein herauszuziehen?“
    „Ich werde es versuchen. Ich denke ja.“ Semir biss auf die Zähne und warte angespannt auf seinen Einsatz. Er konnte sehen, wie Veikko das Gleiche tat. Noch einmal alle Kräfte bündeln für diesen einen kleinen Moment.


    Sie hatten Glück, wie es geplant war, schafften sie es den schweren Holzbalken ein Stück hochzuheben und Semir konnte sein Bein herausziehen. Er stöhnte vor Schmerzen leicht auf und ließ sich erschöpft gegen die Wand hinter sich fallen. Er atmete hektisch einige Male ein und aus. Veikko beugte sich unmittelbar zu ihm herunter und betastete das Bein, worauf er nur noch lauter aufschrie. „Bist du von allen guten Geistern verlassen!“
    „Es ist gestaucht oder im schlimmsten Fall gebrochen.“
    Semir lachte leise auf. „Darauf wäre ich auch gekommen, ohne dass du darauf rumdrückst!“


    „Veikko. Semir.“ Der beunruhigte Unterton in Jennys Stimme sorgte dafür, dass sie sofort die volle Aufmerksamkeit der beiden Hauptkommissare hatte. Sie folgten ihrem Blick an die Decke. Auch hier hatte der fehlende Halt der Stützbalken dafür gesorgt, dass die Höhle instabil war. Veikko nickte und wandte sich wieder Semir zu. „Kannst du aufstehen?“, wollte er wissen und hielt Semir die Hand hin.
    Dieser griff danach und ließ sich von dem jüngeren Kollegen hochziehen. Als er jedoch das Bein belastete, musste er krampfhaft ein Stöhnen unterdrücken. Schmerzen zogen wie eine Flutwelle durch seinen gesamten Körper. Ehe er wieder zu Boden fallen konnte, griff Veikko jedoch zu und legte ihm einen Arm um die Hüfte. „Ich stütze dich“, sagte er und Semir nickte nur, während er einen Aufschrei notdürftig herunterschluckte. „Ich komme mir vor, als wäre ich ein invalider, alter Mann“, stieß er leise hervor, während er versuchte sein verletztes Bein nicht zu belasten.
    „Du bist ein alter Mann“, ließ sein Helfer mit einem breiten Lächeln folgen, richtete seinen Blick dann wieder auf Jenny und wurde ernst. „Leuchtest du uns den Weg?“
    „Ja.“ Jenny begab sich wenige Zentimeter vor sie und leuchtete die Tunnel der Höhle mit der Taschenlampe aus, während sie in langsamem Tempo nur wenige Zentimeter hinter der uniformierten Beamtin folgten.

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  • Es waren Stunden vergangen, in denen sie nun schon durch die dunklen Gänge irrten, gelenkt nur vom fahlen Licht der Taschenlampe. Jeder Schritt fiel ihnen schwerer und schließlich stolperte Veikko und landete gemeinsam mit Semir auf dem staubigen und steinigen Boden. Jenny hatte sich blitzschnell umgedreht und leuchtete sie an. „Ich bin über einen Stein gestolpert“, murmelte Veikko und kämpfte sich wieder nach oben. Doch Semir wusste es besser. Veikko schienen langsam die Kräfte auszugehen und dass er ihn noch mitschleppen musste, half nicht besonders viel. „Rede keinen Unsinn, du bist verletzt“, begann Semir.
    „Nur am Arm. Es ist nichts Schlimmes!“, wehrte sich Veikko und zog Semir etwas gröber nach oben, als dem Deutschtürken lieb war. Sofort wurde ihm bewusst weshalb: Veikko hatte seine Verletzung am Knie vor Jenny verheimlicht.
    „Leuchte auf sein Knie, Jenny.“ Das Licht der Taschenlampe senkte sich sofort und wenig später war ein leiser Aufschrei der jungen Polizistin zu vernehmen. Sie war sofort niedergekniet. „Scheiße, das ist eine tiefe Schnittwunde. Warum hast du nichts gesagt?“
    „Warum? Was denkst du. Wir haben keine Zeit, wir müssen hier raus, ehe das ganze Höhlensystem zusammenbricht!“
    Jenny drückte Veikko die Taschenlampe in die Hand. „Ich werde Semir jetzt stützen, du wirst den Weg leuchten!“
    „Ich …“, setzte der finnische Kollege an, doch dann nickte er nur und setzte sich humpelnd in Bewegung, wo es nicht mehr nötig war, die Verletzung zu verstecken. Er hatte verstanden, dass es ihm unmöglich war, sowohl sein Gewicht, als auch das von Semir zu tragen.


    Als sie wenige Meter zurückgelegt hatten, drang ein Rumpeln drohend durch die Gänge und das Trio verharrte für einen Augenblick in seinen Bewegungen. „Das hat ganz nah geklungen“, äußerte Jenny leise und Semir nickte. Nur kurze Zeit später war ihnen bewusst, wie nah der Einbruch wirklich gewesen war. Das Licht der Taschenlampe fiel auf eine Mauer aus Felsen und Erde.
    „Nein, nein, nein!“ Veikko war verzweifelt auf die Mauer zugelaufen und versuchte die Steine zur Seite zu schieben, hatte jedoch wenig Erfolg. Immer wieder rutschten neue Steine nach.
    „Wir müssen einen anderen Ausgang finden“, unterbrach Semir das hektische Treiben seines jungen Kollegen.
    Veikko wirbelte herum. „Wir haben keine Ahnung, wo genau wir sind! Wir sind gefangen in diesem Labyrinth aus Gängen und Abzweigungen und es gibt nur zwei Nebenzugänge. Was macht dich so sicher, dass wir sie finden? Scheiße, wir werden draufgehen!“
    Ehe Semir etwas antworten konnte, hatte sich Veikko wieder herumgedreht und buddelte erneut in der Mauer. Die Atmung des jungen Kommissars aus Helsinki wurde hektischer. Er geriet in Panik.
    „Veikko Henrik Lindström!“ Semirs scharfe Stimme ließ den Finnen erstarren. „Veikko, wir werden die Mauer nicht lösen können und selbst wenn, sieh dir die Statik an. Es wird nur noch mehr zusammenbrechen“, fuhr er mit sanfterem Ton fort. Der junge Kollege nickte. „Ich weiß“, gab er leise zu und drehte sich zu ihnen.
    „Wir sollten umdrehen, wir sind doch vorhin an einer Gabelung vorbeigekommen oder nicht? Sie könnte doch zu einem der Nebeneingänge führen. Hast du den Plan noch im Kopf, Veikko?“, äußere Semir.
    Veikko lachte. „Nein, ich habe den Plan nicht im Kopf! Ich habe nur ein Wirrwarr im Gehirn, wenn ich mich versuche an die Skizze zu erinnern!“
    Der Hauptkommissar aus Deutschland nickte.
    „Wir werden diese Gabelung finden und sicherlich führt sie in den Teil des Stollens, der von der Explosion nicht betroffen ist. Dort haben wir größere Chancen“, warf nun Jenny ein. Die beiden Männer nickten und so setzte man sich langsam wieder in Bewegung.


    Bereits nach einer kurzen Strecke des Weges musste sich Semir eingestehen, dass er sich das Ganze einfacher vorgestellt hatte. Sein Körper war seiner Grenze bereits gefährlich nahe gekommen. Er war erschöpft und sein Bein schmerzte entsetzlich. Am liebsten würde er jedes Mal laut aufschreien, wenn er den Boden berührte. Er kämpfte mit jedem Schritt und er konnte sehen, dass Veikko das Gleiche tat. Der Schwarzhaarige war dazu übergegangen das verletzte Bein nur noch so wenig wie möglich zu belasten und auch den verletzen Arm hatte er notdürftig in seinem Kapuzenpullover fixiert. Er fragte sich, wie lange es wohl dauerte, bis man sie hier drin finden würde. Würde man überhaupt riskieren Leute hier hineinzuschicken, wo alles drohte einzustürzen? Immer wieder hörten sie leises Rumpeln in dem Stollensystem und sie alle waren sich bewusst, was es bedeutete. Die Gänge stürzen nach und nach ein. Immer mehr Teile der Höhle wurden zerstört. Semir hoffte, dass die Gabelung, die er gesehen hatte, sie in den sicheren Teil der Höhle beförderte, der von der Explosion verschont war, denn ansonsten würden ihre Chancen, die Sache unbeschadet zu überstehen sicherlich enorm sinken.
    Ein leises Fluchen von Veikko holte ihn wieder zurück aus den Gedanken und er sah, wie die Taschenlampe leicht flackerte. „Was geht uns wohl zuerst aus? Der Sauerstoff oder das Licht? Was denkt ihr?“, fragte Veikko mit zynischem Unterton nach, beantwortete die Frage jedoch selbst, als wenig später die Taschenlampe erlosch. „Das Licht also!“
    Veikko kramte in seiner Tasche. Wenig später zog er sein Handy raus, das allerdings nur notdürftig Licht spendete. „Es hat nicht zufällig einer von euch eine Taschenlampen-App?“, wollte er wissen. „Nein, dafür war mir mein Speicherplatz zu lieb“, gab Semir Antwort, „aber sobald wir hier raus sind, wird es meine erste Handlung sein!“
    Der Deutschtürke warf einen kurzen Blick auf das erleuchtete Display und die darauf eingeblendete Uhrzeit. Es war 18:00 Uhr. Sie waren also erst drei Stunden gefangen. Semir verfiel wieder ins Grübeln. In seinem Kopf ging er alle möglichen Alternativen durch, die sie hier drin noch erwarten könnten, doch zu einem Abschluss kam er nie. Es gab zu viele Faktoren, die ihnen noch zum Verhängnis werden konnten. Der Staub, der Sauerstoff, die Verletzungen und die Einsturzgefahr der ganzen Höhle.


    *


    Ben ging mit zittrigen Knien zum Auto zurück und ließ sich davor in den Staub fallen. Er lehnte sich an das kühle Metall und verschränkte die Arme auf den angewinkelten Knien, vergrub den Kopf in den Armen und versuchte seiner Gefühle Herr zu werden. Sein ganzer Körper rebellierte und er fühlte sich nur machtlos. Machtlos und der Situation ausgeliefert. Vor seinem inneren Auge sah er immer wieder die Bilder, die sich vor knapp 15 Minuten ereignet hatten. Die Rettungskräfte hatten die ersten Meter der Höhle sichern und betreten können, doch waren kurz danach mit einem Leichnam wieder herausgekommen. Der Kollege vom Zoll hatte den Einsturz der Höhle nicht überlebt. „Das muss ein schlechter Traum sein“, nuschelte er leise. „Ich wünschte, es wäre so.“ Er sah hoch. Die hellen blauen Augen von Lone Salminen sahen ihn an, ehe sie sich neben ihm hinsetzte. „Es ist schrecklich nichts tun zu können, nicht wahr?“ Er nickte und sein Blick fiel wieder auf die Höhle.
    „Die Aktion hat uns nicht an den Hintermann herangeführt, wir haben kein Kontakt mehr zu unserem V-Mann und in dem LKW, den die Kollegen in Helsinki gestoppt haben, war nur Backpulver“, redete die Chefin der Spezialeinheit Totenwinter weiter.
    Ben würde darüber lachen, wäre die Situation nicht so fürchterlich absurd. Das alles war also vollkommen umsonst gewesen? Seine Kollegen waren eingeschlossen und wofür?
    „Denken Sie, dass Petrov die Höhle mit Absicht hochgehen lassen hat?“
    Lone Salminen zuckte mit den Schultern. „Ich denke ja, aber natürlich haben wir dafür keine Beweise. Er ist nicht dumm, er wird sich herauswinden und wir haben keine Chance ihm viel zu tun in Russland.“
    Ben nickte und sah wieder auf das Treiben der Rettungskräfte. „Denken Sie, dass die Kollegen … also die anderen, dass sie noch leben?“
    Ihr Blick hob sich und sie sah ihn den Himmel. Es war 20:00 Uhr. Die Sonne senkte sich und mit der Dunkelheit wartete ein neues Problem auf sie. Es würde die Räumungsarbeiten extrem behindern. „Ich habe in meiner langen Laufbahn viel erlebt. Es gibt immer Hoffnung auch in Situationen, die uns zunächst hoffnungslos erscheinen.“
    Mit diesem Satz erhob sich Lone Salminen und ließ ihn wieder mit seinen Gedanken alleine. Bens Hand fuhr in den Sand neben sich und er sah zu, wie er durch seine Finger wieder auf die Erde rann. Dann ballte er die Hand zur Faust und ließ sie in den Boden knallen. Es geht ihnen gut, sagte er sich in Gedanken und schloss die Augen, doch Tränen suchten sich ihren Weg in die Freiheit. Er ließ den Kopf wieder auf seine angewinkelten Beine sinken. Still und heimlich ließ er die Tränen laufen, so dass ihn niemand um ihn herum hören konnte.
    Sein Körper verkrampfte sich, als er Schritte hörte. Sie kamen immer näher und dann spürte er eine Hand auf seiner Schulter. „Ben“, sagte eine dünne Stimme und er sah auf, wobei er sich vorher eilig die Tränen von den Wangen wischte. „Andrea … Ich, ich …“ Ben atmete schwer. Sein Herz pochte wie verrückt in seiner Brust. Er schämte sich so unglaublich, dass er hier draußen war, während Semir in der Höhle eingeschlossen war.
    „Andrea, ich wünschte, ich könnte ...“
    Andrea hockte sich vor ihn hin und zog ihn an sich heran. Sie drückte ihn an sich heran. „Du kannst doch nichts dafür.“ Leise kamen Ben abermals die Tränen. Als Andrea dies bemerkte und ihn noch fester an sich drückte, brach in dem Hauptkommissar alles zusammen. Er schluchzte und ließ seiner Verzweiflung über die Situation freien Lauf.
    Als Bens Tränen versiegten, löste Andrea ihn ein Stück von sich. „Sie werden es schaffen. Hörst du?“, sagte sie mit gebrochener Stimme.

  • „Was Smirnov betrifft - Er hat uns die Arbeit abgenommen.“ Dimitry Sokolov lachte laut in den Lautsprecher des Handys.
    „Weniger Arbeit für dich mein Freund. Die Polizei wusste zu viel über ihn, er war unvorsichtig geworden.“ Sergey Petrov nahm einen Schluck aus seinem Wodkaglas. „Ich möchte, dass du dich darum kümmerst, dass alle Unterlagen aus Smirnovs Wohnung verschwinden. Dann kommst du zurück nach St. Petersburg. Ich habe eine neue Aufgabe für dich.“
    Damit beendete Petrov das Gespräch. Er legte das Handy auf den Tisch und blickte von seinem Balkon herunter auf die Landschaft. Es wehte eine leichte Brise und er würde wohl bald in sein Winterdomizil wechseln, denn die Temperaturen erreichten inzwischen nicht einmal mehr die 20er-Marke. Sergey Petrov sah auf den Mann, der mit ihm am Tisch saß. Andrei Titov, war sein Name. „Und nun zu dir.“ Er lächelte unheilvoll. „Ich mag es nicht, wenn jemand glaubt, dass er mit mir ein doppeltes Spiel spielen kann.“
    „Ich verstehe nicht“, sagte Titov mit Schweiß auf der Stirn, obgleich es kühl war.
    „Nur du wusstest von dem Datum der Lieferung. Es war eine Falle und du bist hineingetappt. Wie ein kleines dummes Häschen.“ Petrov lachte schallernd auf.
    „Ich habe dich nicht verraten.“ Titov zog ein gequältes Lächeln auf, versteckte die zittrigen Hände unter dem Tisch.
    „Ich bin dir nicht böse. Es hat doch sehr viel Spaß gemacht, oder nicht? Ein LKW mit Backpulver und einer mit einer kleinen Bombe für deine Kollegen. Ihr wolltet ein Spiel, ich habe euch eines gegeben.“
    Er stand auf und stellte sich hinter Andrei Titov. Seine rechte Hand ruhte auf dessen rechter Schulter. „Deine Hintergrundgeschichte, Andrei war wirklich gut. Ich habe wirklich für einen Augenblick geglaubt, dass du dir unter Kuznetsov bereits einen Namen gemacht hast. Aber eben nur für einen Augenblick.“
    „Warum jetzt, warum … warum nicht vor drei Jahren?“
    Petrovs Hand löste sich von Andrei Titovs Schulter und er wanderte wieder auf die andere Seite des Tisches. Seine Hände stützten sich nun auf die Rückenlehne seines Stuhles. „Ist das nicht offensichtlich? Ich brauchte dich, damit ich durch dich die Polizei kontrollieren kann. Es war leicht. Sie haben sich zu sicher gefühlt und das war mein Vorteil.“
    Titov umklammerte seinen letzten Hoffnungsschimmer, um sich aus seiner misslichen Lage zu befreien. „Man wird merken, wenn ich mich nicht melde!“
    Petrov zog den rechten Mundwinkel nach oben. „Vertraut man dir denn so sehr? Sag, Andrei, was hältst du von der Karibik?“
    „Wie?“
    „Sag, was hältst du davon!?“
    „Ich … schön da“, erwiderte der enttarnte V-Mann mit zittriger Stimme. Petov lachte. „Schön, dann wird das dein Reiseziel sein.“ Er zog sein Handy hervor und wählte eine Nummer. „Buch Titov einen Flug in die Karibik … natürlich das volle Programm mein Freund.“
    Andrei Titov schluckte. Er wusste, dass er nicht in wenigen Stunden im Flieger sitzen würde. Dies waren die letzten Minuten seines Lebens, oder waren es vielleicht nur seine letzten Sekunden? Ob es wohl stimmte, dass das Leben noch einmal an einem vorbeizog? Viel würde es nicht sein, dachte Titov, denn viel hatte er nicht erreicht. Er hatte nie die große Liebe erlebt, hatte nie ein wirklich ehrenvolles Leben geführt. Er hatte es gemocht, auf zwei Hochzeiten zu tanzen. Vielleicht wäre er sogar irgendwann auf die Seite von Petrov gewechselt? Vielleicht hätte er es tun sollen, als er die Chance hätte. Dann wäre der Rückblick auf sein Leben sicherlich üppiger ausgefallen. Aber nun war es zu spät für so einen Gedanken.
    Wird man in den letzten Minuten seines Lebens religiös? Hofft man damit, dem Tod von der Schippe springen zu können? Titov hörte abermals in sich hinein. Nein, er glaubte immer noch nicht an Gott.
    Das verräterische Klicken, das beim Entsichern einer Waffe ertönte, ließ Andrei Titovs Gedankengänge erfrieren. Wenig später fiel der Schuss, der ihm sein Leben aushauchte.


    Sergey Petrov sah zu, wie sich unter dem leblosen Körper von Andrei Titov eine Pfütze aus Blut sammelte. Er legte seine Waffe auf den Tisch und drehte sich mit seinem Wodkaglas in die andere Richtung, um auf St. Petersburg zu blicken. Er hob das Glas leicht an. „Schade um dich Andrei, du warst ein guter Mann!“


    „Petrov.“ Er sah sich um. Ein Mann Anfang 40 trat auf den Balkon. „Ah, Kyynänen. Du kommst genau zur rechten Zeit“, begrüßte er ihn und lächelte. „Ich habe einen Job für dich“, setzte er fort und machte dabei eine kopfnickende Bewegung in Richtung der Leiche von Titov.
    Ville Kyynänen verstand und machte sich sofort an die Arbeit, das Überbleibsel einer jahrelangen Zusammenarbeit verschwinden zu lassen. Es war wirklich schade um dich Titov, aber Kyynänen wird den Job an meiner Seite ebenso gut erfüllen, dachte er bei sich und nahm einen weiteren Schluck aus seinem Wodkaglas. „Und Kyynänen.“ Der Angesprochene sah von dem Toten auf. „Ja?“ „Danach werden wir uns einen tollen Abend erlauben. Du hast gute Arbeit getan. Meine Geschäftspartner in Helsinki sind sehr zufrieden.“
    „Es war doch eher dein Verdienst, du hast sie mit den falschen Lieferungen abgelenkt“, gab sich Kyynänen bescheiden.
    „Aber du hast unserem Mann an der Grenze das Fürchten gelehrt. Du solltest dich nicht kleiner machen, als du bist. Sehr gute Arbeit, ich werde dir den Posten an meiner Seite geben. Der ist ja nun frei.“ Kyynänen nickte eifrig und verstaute Andrei Titov in einem Müllsack.


    Sergey Petrov nippte an seinem Wodka, während er seinen neuen Mann bei seiner akribischen Arbeit beobachtete. Es hatte wirklich alles perfekt geklappt. Er hatte die Polizei mit dem falschen Datum auf Trab halten können und so von seinem dritten LKW abgelenkt, der problemlos die Grenze passieren konnte. Seine Geschäftspartner waren zufrieden und er war zufrieden. So liebte er das Leben!

  • Veikko fühlte sich erschöpft, müde und halb erfroren. Seine aufgeschürften Hände taten ihm weh, sein Bein schmerzte und die Wunde am Oberarm machte es nicht wirklich besser. Inzwischen hatten sie die Abbiegung gefunden, doch der Marsch nahm kein Ende. Alles, was sie vorantrieb, war die Hoffnung, dass am Ende die Freiheit warten würde. Dass sie es endlich aus diesem Höllenloch raus schafften. Sein Blick fuhr auf sein Handy. Es war 23:00 Uhr. Nacht.
    „Veikko, wir müssen anhalten. Wir brauchen alle eine Pause“, ertönte es von Jenny. Er sah sich um und leuchtete ihr mit dem faden Licht seines Smartphones ins Gesicht. „Wir haben keine Zeit anzuhalten. Wir müssen hier raus!“
    „Sie hat Recht. Wir müssen eine Pause machen. Nur für ein paar Minuten“, schaltete sich nun auch Semir ein. Veikko musterte den deutschen Kollegen genau. Schweiß bedeckte seine Haut, das Gesicht war vor Schmerzen verzerrt. „Okay, für ein paar Minuten!“, lenkte er ein und verfolgte, wie Jenny Semir langsam niedersetzte. Der Dienstälteste untersuchte vorsichtig sein Bein und sog die Luft zwischen den Zähnen ein. „Scheiße tut das weh!“, schimpfte er.


    Auch Semir beobachtete seinen männlichen Leidensgenossen kritisch. Je länger sie hier drin festsaßen, desto größer wurde die Panik von Veikko. Er schien nicht weniger erschöpft als er selbst, sträubte sich aber dagegen auch nur für wenige Minuten eine Pause zu machen. Veikkos Hände hatten leicht begonnen zu zittern und er schien bei jedem kleinen Geräusch zusammenzufahren. Semir versuchte sich zu erinnern, ob Veikko Platzangst hatte oder Panik vor geschlossenen Räumen, doch ihm wollte keinerlei ähnliche Situation einfallen. Erst nach einigen Minuten dämmerte es ihm langsam, was dem Kollegen Angst bereitete. „Es erinnert dich an diese Situation, wo du den Mann erschossen hast?“, brachte er das Problem zur Sprache.
    Veikko starrte ihn an, schüttelte dann aber den Kopf. Die Augen des Schwarzhaarigen weilten lange auf Jenny. „Die Sekte … du weißt schon, in der meine Eltern waren … immer, wenn wir als Kinder Unfug gemacht haben … es gab da so einen kleinen dunklen Raum und …“ Veikko schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig …“ Der Finne senkte den Kopf, um Jenny nicht in die Augen sehen zu müssen.
    „Welche Sekte?“, fragte die Brünette.
    Veikko stand auf. „Es ist nicht wichtig! Bitte können wir jetzt das Thema wechseln! Wir sollten weiter, ich habe keine Lust hier auch noch die Nacht verbringen zu müssen. Irgendwo muss es ja hier wieder rausgehen!“
    Veikko wartete nicht ab, ob sie auch hinterherkamen, sondern humpelte bereits weiter, das spärliche Licht seines Smartphones auf den Boden gerichtet.
    „Hat es mit deinem Tattoo zu tun?“, durchbrach Jenny nach einigen Metern die inzwischen aufgekommene Stille.
    „Ja“, kam es leise von vorne. Semir sah irritiert zur Seite. „Er hat die wohl nichts erzählt“, flüsterte er ihr zu. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, scheint als hätte er diese winzige Kleinigkeit seines Lebens ausgelassen.“


    Semir nickte nur und sie verfielen wieder in Schweigen, während sie den schier endlosen Gang entlang wanderten. Natürlich könnte er Jenny alles über diese Sekte erzählen. Er könnte ihr davon berichten, wie sie Veikko vor einigen Jahren entführt hatten, weil sie der Meinung waren, der Teufel wohnte in ihm. Er hätte ihr von diesen schlimmen Ritualen erzählen können, aber er tat es nicht. Es stand ihm nicht zu, über diese persönlichen Dinge zu reden. Veikko würde es bei Gelegenheit schon selbst übernehmen.


    „Was war das für eine Sekte? Wie alt warst du?“ Jenny hatte wohl noch nicht aufgegeben und war erpicht darauf Antworten zu erhalten. Veikko blieb stumm, humpelte weiter ohne sich auch nur umzudrehen, als könnte er das Thema totschweigen. „Ist das der Grund, warum du nie von deinen Eltern redest?“, kam die nächste Frage. Wieder antwortete Veikko mit Schweigen. „Ich bin nicht blind! Ich sehe, wie dir dieses Thema zusetzt, wie diese Freude am Leben jedes Mal aus deinen Augen verschwindet, wenn ich es anspreche!“


    Veikko drehte sich um, doch ehe er antworten konnte, durchfuhr ein dunkles Grummeln den Höhlengang. Die Blicke des Trios wanderten mit einer bangen Vorahnung nach oben. Es knirschte unheimlich im Gestein und die Risse wurden größer. Erste Brocken brachen aus der Decke und krachten zu Boden. Einer verfehlte Veikko nur knapp. Unbewusst verschärften sie das Tempo. Knapp hinter ihnen kam die ganze Decke herunter! Mit einem ohrenbetäubenden Rumpeln wurde der Gang verschüttet. Eine dichte Staubwolke wallte hinter ihnen her und schloss sie ein.
    Hustend und fast blind tasteten sie sich weiter, die schiere Todesangst verlieh ihnen Kraft, die sie schon glaubten, verloren zu haben. Ein unheimliches Grollen und Rumoren drang durch den Gang. Die staubige Luft sorgte dafür, dass jeder Atemzug zur Qual wurde.
    Wieder stürzte etwas in ihrer unmittelbaren Nähe zu Boden und zerbarst. Semir biss die Zähne zusammen, als immer wieder heftige Schmerzwellen sein Bein durchfuhren. Sie hatten die falsche Abbiegung genommen! Sie hatten es nicht aus dem instabilen Höhlenteil herausgeschafft und nun waren sie gefangen. Es gab nur noch den Weg nach vorne. Er glaubte zu sehen, wie einer der Stützpfeiler, sich neigte und das Knirschen lauter wurde. Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie Veikko den Anschluss verlor und auf die Knie fiel. Nur um Haaresbreite entging er einem herabfallenden Stein. „Jen … ny. Wir müssen … anhalten … Veikko“, presste er hervor und die junge Beamtin verstand. Sie durften sich nicht verlieren! Sie mussten irgendwie zusammenbleiben.
    „Lauft … verdammt!“, schrie ihnen der finnische Hauptkommissar entgegen.
    „Wir lassen niemanden zurück!“ Jenny löste sich kurz von Semir und riss Veikko wieder nach oben. „Reiß dich zusammen. Wir haben es bald geschafft!“, sprach sie ihm gut zu, während sie wieder Semirs Hüfte umschlang. Als sie sich wieder in Bewegung setzten, passierte das Unausweichliche. Das Schicksal war grausam genug und unmittelbar vor ihnen stürzte die Decke mit einem großen Krachen ein!

  • „Wir sind lebendig begraben“, sprach Veikko in einem dumpfen hoffnungslosen Ton, während er auf die Steine um sie herum blickte. Zehn Meter waren ihnen geblieben. Semir saß nur wenige Zentimeter von dem jüngeren Kollegen entfernt und beobachtete Jenny dabei, die nach einer Lücke in den Steinmauern suchte. „Behalte die Nerven, Veikko. Man wird uns finden“, versuchte Semir ihm mit ruhiger Stimme Mut zuzusprechen. Ohne Erfolg. „Achja? Du glaubst doch nicht wirklich, dass sie jemanden hier rein schicken?! Diese scheiß Höhle ist kurz davor zusammenzubrechen! Wir gehen drauf und können nichts dagegen unternehmen!“ Veikko war mit einem lauten Stöhnen aufgesprungen und stellte sich neben Jenny, wühlte hektisch in der Mauer. „Such doch mal richtig! Hier muss es ein Loch geben! Irgendwo!“
    „Was denkst du, tue ich die ganze Zeit!“
    „Offensichtlich keinen Weg finden, der uns hier raus beordert!“
    Semir beobachtete die Szene vor sich hilflos. Wie gerne wäre er aufgesprungen und dazwischen gegangen. Die beiden jungen Kollegen waren verzweifelt und besonders Veikko schien langsam an die Grenze zu gelangen. „Veikko, setz dich hin!“, unterbrach er das Treiben mit fester Stimme, doch fand keinen Zuhörer. „Veikko Henrik Lindstöm!!!“, schrie er nun und endlich hielt der schwarzhaarige Polizist inne. Er sah sich um und Semir meinte, all seine Angst und Verzweiflung spiegelte sich in den blauen Augen wieder. „Bitte setz dich. Was wir jetzt tun können, ist vor allem unsere Kräfte sparen. Wir wissen nicht, wie lange es dauern wird, bis man uns findet.“
    Veikko nickte stumm und ließ sich mit schmerzverzerrtem Gesicht auf die Erde fallen. „Mein Handyakku ist bald leer“, nuschelte er in Gedanken und legte das Gerät neben sich auf den Boden, so dass der dumpfe Lichtstrahl sein Gesicht erhellte. „Ich habe meins ausgestellt und Jenny um das Gleiche gebeten. Uns geht so schnell nicht das Licht aus, hörst du?“
    „Ja“, kam es mit dünner Stimme.
    Semir sah an Veikko vorbei. Er meinte ein Kopfschütteln von Jenny zu vernehmen, die sich kurz später neben Veikko hinkniete und es aufgegeben hatte, die Steine lösen zu wollen. „Zeig mir deine Wunde“, forderte sie.
    Ohne auf seine Antwort zu warten, griff Jenny kurz darauf nach seinem Handy und leuchtete auf das Knie.
    „Du hättest nicht mitkommen sollen.“ Jenny sah auf und blickte in Veikkos von Blut und Dreck verschmutztes Gesicht. „Ohne mich, wärst du mit Semir nicht besonders weit gekommen, oder nicht? Was hätte es mir gebracht, wenn ich dich verloren hätte, dafür aber draußen wäre?“ Sie gab ihm einen Kuss auf die trockenen Lippen und wandte sich dann wieder dem Knie zu. „Das sieht nach einer tiefen Fleischwunde aus. Vermutlich hast du sie dir durch irgendeinen Stein oder Nägel zugezogen.“ Der seichte Lichtstrahl des Smartphones wanderte zu Veikkos Oberarm. „Die sieht nicht viel besser aus“, gab Jenny bekannt, „Ich wünschte, ich hätte was zum verbinden oder ähnliches. Der ganze Dreck ist sicherlich nicht hilfreich für die Heilung.“
    „Wenn es hart auf hart kommt, kannst du mich ja erschießen. Damit ich nicht leiden muss, immerhin haben wir ja Waffen bei uns.“ Veikko zog die Mundwinkel leicht nach oben und drückte sanft ihre Hand.
    „Das ist nicht besonders witzig“, empörte Jenny sich.
    „Ich finde schon … wir sind eingesperrt, haben aber zumindest Waffen und Schutzwesten. Wenn die Steine also beginnen zu schießen, dann kann uns nichts passieren. Ist doch auch was!“
    Veikko lehnte den Kopf an die Steinwand und sah an die Decke, ehe er schließlich erschöpft die Augen schloss.


    Jenny lächelte sanft, strich durch Veikkos Haare und kniete sich dann neben Semir. „Und nun bist du an der Reihe. Lass mal sehen!“ Sie tastete vorsichtig das Bein ab und er biss die Zähne gegen die pochenden Schmerzen zusammen. „Es ist sicherlich gebrochen … oder verstaucht“, presste er leise hervor und war mehr als glücklich, dass Jenny nun wieder von ihm ließ.
    „Du solltest versuchen, das Bein so wenig wie möglich zu bewegen“, murmelte sie.
    „Danke Schwester Jenny, dessen bin ich mir durchaus bewusst“, konterte er und zwinkerte mit dem Auge. Der Blick der Polizistin fiel wieder auf Veikko. „Es ist gut, dass er jetzt schläft. Er muss erschöpft sein“, sagte sie leise.
    „Und wir auch. Wir sollten auch versuchen zu schlafen“, antwortete ihr Semir und schaltete das Handy neben sich aus. Dann schloss er ebenfalls die Augen und versuchte etwas Ruhe zu finden, wenn es ihm auch unmöglich schien auf dem harten Gestein.





    Die kühle Luft ließ Ben zittern. Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte kurz den Power-Knopf, um sich die Uhrzeit anzeigen zu lassen. 1:00 Uhr. Sein Blick fuhr über das Gelände vor ihm. Flutlichtmasten sorgten dafür, dass alles im künstlichen Licht erhellte. Andrea wurde inzwischen von einer Seelsorgerin versorgt, nachdem sie vor gut 30 Minuten beim Fund einer weiteren Leiche zusammengebrochen war. Ben rieb sich über die müden Augen. Er hatte versucht auf der Rückbank seines Mercedes zu schlafen, doch er konnte sich einfach keine Pause gönnen, solange seine Freunde dort drin waren.
    „Jäger.“ Er blickte zur Seite. Kim Krüger stand neben ihm und schien nicht weniger erschöpft als er selbst.
    „Herr Heikkinen ist auf den Weg hierher. Er wird spätestens morgen früh ankommen“, berichtete sie.
    Ben nickte. „Danke, dass sie ihn angerufen haben … Antti und Veikko, sie haben immerhin eine ganz spezielle Beziehung.“
    „So wie Sie und Gerkhan.“
    „Ja, so wie Semir und ich“, antwortete er mit gedämpfter Stimme und sah auf den Höhleneingang. „Wie weit ist man inzwischen?“
    „Leider nicht sehr weit. Es geht nur schleppend vorwärts. Die Decke muss immer wieder mit neuen Stützbalken stabilisiert werden. Auch an den Nebeneingängen hatte man wenig Erfolg. Sie wurden ebenfalls zerstört.“
    Ben schluckte schwer, als er seiner Chefin lauschte. Es gab also nicht einmal die Hoffnung, dass sie es alleine über einen der Nebenzugänge schaffen würden. Kim Krüger legte ihm die Hand auf die Schulter und drückte sie sanft. „Ich spüre, dass es ihnen gut geht. Sie werden sicher bald gefunden.“
    Er fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Diese Warterei treibt mich noch in den Wahnsinn! Ich will etwas tun können. Ich will ihnen helfen können, aber stattdessen können wir hier nur rumsitzen und zusehen. Zusehen, wie sie eine Leiche nach der anderen bergen“, brach aller Kummer aus ihm heraus. Er erreichte seine Grenzen. Er wusste nicht, ob er es verkraften würde, wenn noch mehr Leichen geborgen würden. „Zwei Kollegen sind tot Frau Krüger, zwei Kollegen …“
    „Sie leben, Ben. Hören Sie? Semir und die anderen leben!“, wiederholte die Chefin der PAST nun mit deutlich kräftiger Stimme und Ben wünschte, dass er ihr glauben könnte. Er wünschte, dass es wahr war und seine Freunde in Ordnung waren und irgendwo in dieser Höhle auf ihre Rettung warteten. Es geht ihnen gut, sagte er sich im Stillen immer und immer wieder. Es geht ihnen gut.

  • „Aufwachen!“, rief Jenny hektisch. „Da ist Licht! Es kommt Licht rein!“ Aufgeregt schoss die Polizistin in die Höhe und inspizierte die Decke. Tatsächlich, da war ein kleines Loch, groß wie eine halbe Faust. „Wir müssen ganz dicht unter der Erde sein, vielleicht bekomme ich es ja weiter auf!“ Sie machte sich an der Öffnung zu schaffen, merkte jedoch, dass es nicht viel half. Die dicken Steine ließen sich nicht lösen.
    „Jenny.“ Sie kam nicht umher die Sorge in der Stimme von Semir zu hören und drehte sich langsam wieder zu den anderen um, die sie in ihrer Euphorie vollkommen vergessen hatte. Sofort blieb ihr Blick auf Veikko hängen. Sein Kopf befand sich genau in dem Lichtstrahl und sie konnte sein Gesicht gut erkennen. Er war blass und verschwitzt. Seine Augen waren geschlossen. Sofort ließ sie von dem Loch und kniete sich zu ihm runter. „Veikko! Hey, mach keinen Scheiß. Komm aufwachen!“ Ihre Hand berührte seine Wange und eine unangenehme Hitze breitete sich in ihr aus. „Er hat Fieber“, ließ sie Semir wissen. „Kein Wunder bei den Wunden und dem Dreck. Versuch es noch einmal.“
    Jenny nickte unsicher und schüttelte Veikko jetzt sanft. „Komm schon. Bitte!“ Endlich kam der Angesprochene ihrer Bitte nach und kurz darauf starrten seine glasigen Augen sie an. „Du hast Fieber, die Wunden haben sich sicherlich entzündet“, sagte sie und er nickte. „Ich weiß“, murmelte er leise. Veikkos Blick folgte dem Lichtstrahl und dem Loch an der Decke. „Zumindest werden wir nicht ersticken.“
    „Sei nicht zynisch!“, ermahnte ihn Jenny.
    „Es war eine positive Bemerkung oder nicht? Vielleicht kommt ja hier irgendwann mal wer vorbei und wir sind gerettet.“ Veikkos Augen schlossen sich wieder. „Ich bin müde“, murmelte er leise, ehe er wieder einschlief.
    Jenny wollte ihn erneut wecken, doch dann nahm sie ein Kopfschütteln von Semir wahr und ließ es bleiben. „Es wird ihm sicherlich gut tun zu schlafen“, mutmaßte Semir und sie nickte. „Wie geht es deinem Bein?“
    „Es tut höllisch weh und ist etwas angeschwollen, aber ich denke, noch hält sich alles im Rahmen.“
    „Denkst du, dass wir es raus schaffen?“, stellte Jenny die Frage, die ihr schon seit Stunden auf der Zunge lag.
    „Ich bin fest davon überzeugt“, sprach ihr der ältere Kollege Mut zu. „Ben wird da draußen sicher alles tun, damit die Rettungsmaßnahmen schnell laufen. Man wird uns bald finden.“
    Jenny nickte und lehnte Veikko dann sanft an ihre Schulter. Seine Augen öffneten sich dabei einen Augenblick, doch dann schlief er weiter. Ihre Hand strich durch sein verschwitztes Haar und sie sah auf das Loch an der Decke. Sie wünschte, Veikko hätte Recht und es würde tatsächlich irgendwann einmal jemand an dieser Stelle vorbeikommen. Aber wie groß war diese Chance? Viel wahrscheinlicher war es da wohl, dass ihnen bald die Decke auf den Kopf fallen würde. Im wahrsten Sinne des Wortes.



    *



    „Ben.“
    „Antti.“
    Die beiden Kommissare standen sich nach einer befremdlichen Begrüßung lange still gegenüber, ohne dass jemand ein Wort verlor. „Hast du Mikael etwas hiervon gesagt?“, durchbrach Ben schließlich die beklemmende Ruhe und fuhr unterbewusst über den Anhänger seiner Kette. Mikael hatte denselben Anhänger, allerdings trug er ihn am Armband.
    Antti schüttelte den Kopf. „Nein, ich wusste nicht wie. Ich wollte nicht, dass er sich damit belastet, wo es ihm gerade besser geht.“
    „Ja, ist vermutlich besser so“, stimmte Ben leise zu.
    Beide Hauptkommissare lehnten sich nun nebeneinander an den silbernen Mercedes und beobachteten das Treiben der Rettungskräfte. „Veikko hat Angst in dunklen Räumen“, kam es nach einer Weile von Bens linker Seite.
    „Wie?“
    „Als er klein war. Die von dieser Sekte …“, Antti fummelte an seinem Hemdärmel, „ … wenn sich die Kinder nicht benommen haben, hat man sie eingesperrt. Oft für Tage in kleine dunkle Räume. Manchmal wurden sie auch geschlagen. Er hat Angst in dunklen Räumen.“ Ben sah Antti mit großen Augen an. „Was heißt Angst?“
    „Panikattacken“, antwortete der Finne einsilbig.
    „Wie groß? Wird er durchdrehen? Denkst du das? Willst du mir das sagen!“
    Anttis Faust knallte gegen das Blech von Bens Dienstwagen. „Ich weiß es nicht! Ich habe keine Ahnung, Ben. Vielleicht hat er sich im Griff, vielleicht aber auch nicht. Veikko mag nicht Mikael sein, aber auch er kann sich zusammenreißen, wenn die Situation es verlangt!“
    Antti atmete tief ein und aus. „Entschuldige, ich wollte nicht aufbrausend sein.“
    „Es ist okay“, murmelte Ben leise, „bei uns allen liegen die Nerven blank.“


    Antti nickte und sie verfielen wieder in Schweigen, ehe Lone Salminen auf sie zutrat. Sie reichte dem finnischen Hauptkommissar die Hand. „Antti, nicht die besten Umstände für ein Wiedersehen“, sagte sie und er nickte. „Nein, nicht wirklich. Gibt es was Neues, Lone?“
    Die Kommissarin sah auf die Erde und schüttelte den Kopf. „Ich wünschte wirklich, ich hätte etwas für dich Antti. Ich habe gehört, wie sehr du und Lindström euch vertraut. Die Rettungsarbeiten gehen weiterhin nur schleppend voran. Man hat bisher nur zwei tote Kollegen bergen können. Heinonen aus meiner Abteilung und ein Beamter vom Zoll.“
    Antti lächelte. „Du gibst dir hoffentlich keine Schuld an all dem.“
    „Weil uns Taskinen gelehrt hat, dass Schuld im Polizeidienst nichts zu suchen hat? Natürlich gebe ich mir Schuld Antti. Ich hatte die Verantwortung über die Kollegen da drin. Ich habe nicht alle Eventualitäten durchgespielt.“
    „Niemand kann alle Szenarien durchgehen. Es gibt immer Faktoren, die man nicht sieht. Das ist menschlich, Lone.“
    Sie lachte leise. „Solltest du es nicht besser wissen? Du hast einen Beamten, der dir all diese Eventualitäten in fünf Minuten aufzählt.“
    Antti trat einen Schritt auf Lone Salminen zu und strich ihr einige Strähnen hinter die Ohren. Seine Hand ruhte auf ihrer Wange. „Du willst ihn für dein Dezernat haben, also solltest du wissen, dass ihn der Augenblick, wo er es nicht gemacht hat zum Verhängnis wurde. Er ist keine Maschine, niemand ist das. Ich habe gesehen, was Schuld mit einem Menschen macht. Du konntest nichts dafür, du hast die Bombe nicht hochgehen lassen.“
    Sie atmete tief durch und lächelte. „Du solltest vor dem Kollegen nicht so tun, als würde uns etwas verbinden. Es war nur Sex, Antti.“
    Der blonde Kommissar lächelte. „Das hast du behauptet, nicht ich.“
    „Bist du denn darüber weg?“ Lone Salminen löste seine Hand von ihrer Wange und sah in Anttis Augen. Er schüttelte den Kopf. „Siehst du.“ Sie drückte seine Hand leicht und ließ ihn dann los. „Ich werde euch informieren, was die Besprechung ergibt“, sagte sie. Sie drehte sich um und ging in Richtung des Einsatzwagens, wo Kim Krüger bereits auf sie wartete.


    „Ihr zwei ward ein Paar?“ Ben musterte Antti verwirrt. Dieses Gespräch zwischen den beiden älteren Kollegen kam ihm mehr als kryptisch vor. Einerseits war er sich sicher, dass sie über Mikael gesprochen hatten, doch da war auch dieses unterschwellige andere Thema gewesen. „Wie sie sagte. Es war nur Sex.“ Der Ton in dem Antti diese Worte sprach, verriet, dass dort mehr war. Hatte sie ihm das Herz gebrochen? War das der Grund, warum er Antti in all den Jahren niemals mit einer Frau gesehen hatte. Allerdings war da diese Frage von Lone Salminen, die nicht zum Rest passte. Worüber war er nicht weg? „Was meinte sie damit, als sie fragte, ob du darüber hinweg bist?“, stellte er die Frage nun laut.
    „Hier geht es darum Veikko zu finden, nicht um mich.“
    „Aber es scheint dich zu belasten, du wirkst abwesend, seit sie das gesagt hat.“
    Antti sah ihn für einen Augenblick an, ehe er seinen Blick dann auf den Sandboden senkte. „Ich hatte eine Familie, Ben. Das meint sie. Sie sind tot, es war ein Autounfall.“
    Der deutsche Kommissar glaubte, dass sein Herz für einen Augenblick aussetzte, als er diesen Satz hörte. „Ich … das tut mir leid“, brachte er schließlich leise hervor und wünschte sich, Antti nie darauf angesprochen zu haben.
    Antti sah wieder auf. „Es ist lange her. Aber bitte sprich es nie wieder an. Nie wieder!“, sagte er mit ernstem Unterton und Ben nickte. „Ja … natürlich.“

  • Veikkos Kopf lehnte an der Schulter von Jenny, die die Hand seines unverletzten Armes hielt und sanft darüber strich. „Ich war Sieben“, murmelte Veikko leise. Semir, der nur unmittelbar neben dem Paar saß, sah zur Seite. Veikkos Stirn war schweißbenetzt. Seine Haare klebten ihm feucht ums Gesicht. „Ich war Sieben, als meine Eltern dieser Sekte beigetreten sind. Ich … erst habe ich nicht gemerkt, wie sie sind aber dann. Meine Eltern haben sich verändert und irgendwann habe ich es auch … ich … ich habe nicht gesehen, wozu diese Menschen fähig waren und …“
    „Du warst ein Kind“, unterbrach Semir.
    „Das ist eine dumme Ausrede! Die Wahrheit ist doch, dass ich meine Augen verschlossen habe. Ich war blind und habe geglaubt, dass es alles rechtens ist. All diese Schläge, ich dachte ich habe sie verdient.“ Veikko löste sich von Jenny und richtete sich an der Wand auf. Ein leichtes Stöhnen entkam seinem Mund, als er das verletzte Bein auf die Erde stellte. „Ich konnte oft Tage kaum laufen vor Schmerzen, aber man hat mir gesagt, ich muss mich zusammenreißen. Wenn sie gesehen haben, dass ich vor Schmerz aufschrie, dann ging es wieder in den Keller. Gottes Diener kennen keinen Schmerz!“
    Veikko setzte sich humpelnd in Bewegung und Jenny ließ ihn gewähren, zu geschockt war sie von dem, was sie gerade mit anhören musste.


    Der junge Finne fuhr mit der Hand in das Loch und versuchte mit aller Kraft irgendwie Felsblöcke daraus zu lösen. „Es gab diese Teufelsaustreibungen. Die Menschen bekamen ein Gift injiziert, sie haben gelitten und viele sind gestorben. Als mein Freund und ich älter waren, da haben wir es ausprobiert. Die Schmerzen, die waren so unvorstellbar und da habe ich begriffen, das alles, das ist ein Konstrukt aus Lügen!“
    „Veikko … es tut mir …“, murmelte Jenny mit dünner Stimme.
    „ … sag es nicht! Ich möchte nicht, dass ich dir leid tue. Das ist die Vergangenheit und ich lebe nicht in der Vergangenheit! Ich bin damals gegangen, habe getan als würde ich Mathematik studieren. In Wirklichkeit bin ich zur Polizei und habe meinen Eltern ein glückliches Leben vorgespielt. Sie haben bis zuletzt geglaubt, dass Laura und ich noch verheiratet sind. Man lässt sich nicht scheiden, musst du wissen …“ Er sah Jenny an und sie sah, wie sich einzelne Tränen in seinem schmutzigen Gesicht abzeichneten. „Ich war feige und habe deshalb meine Familie in Gefahr gebracht. Und jetzt, jetzt bin ich feige und habe Angst der Frau, die ich liebe, die Wahrheit zu sagen. Ich bin nicht besonders mutig, ich bin nicht wie Ben oder Semir. Wenn du also einen Mann suchst, der dich beschützt …“


    Jenny stand auf und stellte sich vor Veikko. Sie gab ihm sanft einen Kuss auf die trockenen und spröden Lippen. „Du bist nicht feige, du bist nur dumm“, sagte sie und lächelte. „Siehst du denn nicht, dass du mich immer beschützt? In dem Haus, du bist all diese Stufen hoch, weil du mich beschützen wolltest. Du wolltest, dass ich die Höhle ohne dich verlasse und du wolltest, dass ich mit Semir renne und dich liegen lasse. Du bist nicht feige!“
    Ein Lächeln zeichnete sich auf Veikkos Lippen ab. „Das hat sich vor einigen Tagen aber noch anders angehört. Da war ich feige, weil ich es niemandem sagen wollte, das zwischen uns.“ Jenny schüttelte den Kopf. „Du drehst mir die Worte im Mund herum!“
    Veikko gab ihr einen Kuss. „Danke, das du hier bist.“ Der junge Finne sah wieder nach oben und seine Hände verschwanden in der kleinen Öffnung.
    „Veikko, setz dich wieder hin“, forderte Jenny sofort, als sie sah, wie Veikkos verletztes Bein unter der Anstrengung zitterte.
    „Nein, wir müssen versuchen es größer zu bekommen!“, widersprach er umgehend und löste den ersten kleineren Stein von der Decke, worauf ihm etwas Sand in das ohnehin schon schmutzige Gesicht rieselte.
    „Veikko! Bitte, du hast Fieber und bist verletzt“, warf jetzt auch Semir ein, der in den letzten Minuten geschwiegen hatte und stummer Zuhörer gewesen war.
    Veikko schüttelte den Kopf. „Nein! Ich kann selbst für mich entscheiden, Semir. Vielleicht sollte ich mal Mikaels Leitsatz anwenden und erst aufgeben, wenn ich mich nicht mehr rühren kann. Ich bin noch nicht tot und ich habe auch nicht vor in dieser verkackten Höhle zu sterben!“


    Der Finne warf den nächsten faustgroßen Stein auf die Erde. „Nur damit Jenny durchpasst. Sie kann Hilfe holen, Semir. Das hier! Das ist unser Weg hier raus und ich werde es nicht unversucht lassen!“
    „Ich hoffe, du hast mit deinem schlauen Hirn vorher durchgerechnet, dass uns nicht alles auf den Kopf fällt“, äußerte Semir.
    „Sicher habe ich das“, antwortete Veikko ihm und lächelte. „Allerdings würde ich nicht so viel Wert darauf legen, vielleicht hat das Fieber schon einige Synapsen verkohlt.“
    Während Semir noch nicht vollkommen überzeugt war, hatte nun auch Jenny damit begonnen, vorsichtig Stein um Stein zu lösen.



    *



    Antti lehnte sich an den LKW der Einsatzleitung. Sein Blick war auf Ben gerichtet, der vor seinem Mercedes nervös auf und ab lief. Er fragte sich, wann der junge Kollege zum letzten Mal gegessen hatte oder zumindest geschlafen. Es musste bereits ewig her sein. Er sah sehr erschöpft aus. Seine braunen Augen waren rot unterlaufen, ohne jeglichen Glanz. Nicht nur einmal hatte er ihn davon abhalten müssen einfach selbst in Richtung des Stollens zu rennen und die Sache in die Hand zu nehmen. Doch die Warnung der Einsatzleitung war deutlich gewesen: Niemand durfte das abgesperrte Gebiet betreten. Zu groß war die Gefahr, dass etwas passierte. Aber wie lange würde sich der junge Kollege aus Deutschland noch daran halten?
    Antti durchbrach seine Beobachtung, als jemand aus dem Einsatzwagen kam. „Lone“, sagte er laut und die blonde Frau blieb stehen.
    „Antti, was kann ich für dich tun?“, fragte sie und lächelte.
    „Hast du schon etwas Neues? Irgendetwas?“
    Sie verschränkte ihre Hände vor dem Oberkörper. „Denkst du, dass ich es dir dann nicht mitgeteilt hätte?“
    „Du weißt, wie ich das meinte Lone.“
    Sie nickte. „Du hast dich nie gemeldet. Ich habe dir damals immer und immer wieder auf den Anrufbeantworter gesprochen“, sagte sie nun.
    „Du lenkst vom Thema ab“, konterte er störrisch. „Hier geht es nicht um uns. Hier geht es um meinen Kollegen, Veikko Lindström, und meinen Freund Semir Gerkhan!“
    „Warum hast du nie geantwortet? Warst du verletzt, dass ich gegangen bin?“
    „Mein Partner wurde gerade auf offener Straße erschossen, ich hatte wirklich andere Sorgen als eine kurze Affäre, die es zur Europol zieht“, antwortete er jetzt.
    „Ja, ich habe gehört, dass du deinen Polizeidienst danach an den Nagel hängen wolltest.“
    „Nun, ich habe es nicht.“ Er vergrub seine Hände in den Taschen seiner Jeanshose.
    „Es gibt noch nichts neues Antti. Man sucht weiterhin …“
    Er nickte und sah wieder rüber zu Ben. „Er ist der deutsche Kollege, der angeschossen wurde von Georg Hansen, nicht? Wegen ihm geht es Häkkinen so schlecht.“
    Er drehte sich wieder zu Lone Salminen. „Wenn du das so sagt, klingt es als wäre es Bens Schuld.“
    Sie lachte leise. „Du weißt aber doch, wie ich es meine Antti. Du solltest deinem Kollegen sagen, dass mein Dezernat seine Chance ist, sich zu rehabilitieren. Er wird wieder ernst genommen. Man vertraut im Präsidium meinem Urteil. Seine Karriere ist noch nicht zu Ende.“
    „Du willst ihn wohl unbedingt. Dass du nicht einmal davor zurückschreckst, mir diesen Job für Mikael schmackhaft zu machen.“
    Lone fuhr sich mit der Hand durch ihr Haar und rollte eine Strähne um ihren Finger. „Wäre ich nicht dumm diese Chance nicht zu ergreifen?“
    „Er ist noch nicht wieder bereit und solange muss er sich über kein Jobangebot Gedanken machen.“
    „Sagst du mir, wann er bereit ist?“
    Er zog die Augenbraue hoch. „Nein. Ich werde es dir nicht sagen. Er hat ja deine Karte, er wird dich schon anrufen, wenn er den Job will – falls er überhaupt zur Polizei zurückkommt. Er ist ein schlauer Junge. Er hat auch andere Perspektiven.“
    Sie nickte. „Ja, natürlich.“ Ihr Blick fiel auf die Höhle. „Unser V-Mann hat die Seiten gewechselt. Er ist verschwunden, die Kollegen haben aber ein Konto gefunden, von dem er vor einigen Stunden 2,5 Millionen Euro abgehoben hat. Er hat einen Flug in die Karibik gebucht, von dort verliert sich die Spur“, berichtete sie Antti nun.
    „Habt ihr geprüft, ob es nicht nur ein Ablenkungsmanöver ist? So etwas kann man auch sehr gut inszenieren“, gab er zu bedenken, doch sie schüttelte bereits den Kopf. „Wir haben alles geprüft.“
    „Nun. Dann wird es wohl so sein.“
    Sie lachte. „Du sagst es, als wäre es etwas Alltägliches.“
    Antti zuckte mit den Schultern. „Du weißt, dass ich Typen vom Drogendezernat grundsätzlich nicht besonders traue. Es ist so leicht, dem Geld zu verfallen. So leicht sich auf die Falschen einzulassen …“
    „Aber deshalb ist doch nicht jeder beim Drogendezernat so, Antti“, wies sie ihn zurecht, „wir hatten ihn überprüft. Er war der beste Mann für den Job.“
    „Nein, nicht jeder vom Drogendezernat ist so, da hast du natürlich Recht“, antwortete er ihr wohl wissend, dass auch Mikael nach seiner Ausbildung in dieser Abteilung gearbeitet hatte. Zumindest bei ihm war er sich ja sicher, dass er kein korrupter und käuflicher Polizist war.

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