Eiskalt

  • Auf der Intensiv angekommen, hatten inzwischen die beiden Pflegekräfte, die zurück geblieben waren und derweil die restlichen Patienten versorgt hatten, einen verwunderten Patienten aus der Einzelbox auf den Flur geschoben, wo er darauf wartete, dass die Schwester der Normalstation ihn abholte. „Frechheit-mitten in der Nacht verlegt zu werden!“ beschwerte sich der frisch operierte, aber stabile Patient, aber da bekam er von der Intensivpflegekraft ordentlich Bescheid gestoßen. „Seien sie froh, dass es ihnen so gut geht, dass man sie auf die Normalstation verlegen kann, andere haben nicht das Glück“, sagte sie, desinfizierte den Bettplatz und rüstete ihn auf, als auch schon Ben um die Ecke gefahren wurde und den mosernden Patienten verstummen ließ, als er im Vorbeifahren einen Blick auf den Neuzugang werfen konnte. Ach du liebe Güte, der sah ja wirklich schlimm aus, alles war voller Blut, sogar der Arzt hatte Spritzer im Gesicht und auf seiner Kleidung. Aus dem Hals des jungen dunkelhaarigen Mannes ragte ein Schlauch, den der Arzt fest hielt, das Gesicht war immer noch bläulich verfärbt und die angeschwollene Zunge hatte gar keinen Platz im halb geöffneten Mund. Nun schwieg der Verlegungskandidat still, dagegen ging es ihm wirklich gut, er hatte zwar eine große Bauchoperation hinter sich, war aber abends sogar schon kurz vor dem Bett gestanden, aber ob der neue Patient das überleben würde, wagte er zu bezweifeln, so wie der aussah!

    Das stationäre Beatmungsgerät war schon im Zimmer und der Notfallwagen wurde bereit gestellt. Mehrere Trachealkanülen in unterschiedlichen Größen lagen zur Auswahl und gerade zog eine Schwester noch die Sedierungsperfusoren und das Noradrenalin auf, damit man Ben auch richtig tief schlafen legen konnte. Außerdem hatte man mehrere Coolpacks aus dem Gefrierschrank geholt und legte die-versehen mit einem Überzug- bereits auf Ben´s Leisten und nahm die dünne Zudecke weg, die nur zum Rüberfahren als Sichtschutz gedient hatte, um ihn jetzt zu kühlen und damit den Sauerstoffbedarf seines Gehirns herunter zu fahren.


    „Die Ehefrau hat ihn gefunden,“ teilte der Pfleger seinen Kolleginnen mit und weil die anderen ja Sarah bereits kennen gelernt hatten, äußerten sie Worte des Mitleids. „Welch ein Alptraum, aber hättet ihr gedacht, dass er ein Selbstmordkandidat ist?“ fragte die eine Schwester und übereinstimmend schüttelten alle den Kopf. „Dann hat er aber entweder gut geschauspielert oder es war eine Kurzschlussreaktion!“ kamen sie zum Schluss, aber letztendlich würde das nur Herr Jäger selber beantworten können, wenn er das überleben sollte und danach wieder fähig war zu sprechen.
    Der Arzt hatte inzwischen das andere Beatmungsgerät einstellen lassen, man hatte in Windeseile Ben vom Defimonitoring an den normalen Intensivmonitor umgehängt und nun würde man den langen Endotrachealtubus gegen eine kurze, dicke Trachealkanüle austauschen. „Ein weiterer Grund, warum ich froh bin, dass jetzt keine Angehörigen hier rumschwirren!“ bemerkte der Intensivarzt und griff schon zum derben, sterilen Spreizer-jetzt hatte er aber einen Mundschutz, einen sterilen Kittel und sterile Handschuhe angelegt.
    Der Tubus hatte nur einen Innendurchmesser von 6,5mm, das war zur Notfallbeatmung schon einmal kurzfristig Recht, aber angesichts von Ben´s Größe und damit auch der Weite seiner Luftröhre waren sechseinhalb Millimeter definitiv zu klein. Dadurch hatte er einen erhöhten Atemwiderstand und so entschied sich der Arzt für eine Trachealkanüle mit einem Innendurchmesser von 11mm. Diese Kanüle war wesentlich kürzer als der Tubus, da sie ja von Anfang an nicht dafür vorgesehen war, die Strecke vom Mund oder der Nase bis unter den Kehlkopf zu überwinden, sondern direkt vom Hautniveau in die Luftröhre führte, dort mit einem Bindeband um den Hals sicher befestigt werden konnte und durch eine innenliegende Metallspirale im Latexkörper auch sehr viel gewebefreundlicher und flexibler war. Allerdings war es ein relativ brutales Unterfangen das Loch im Hals des Patienten so zu vergrößern, dass die dicke Kanüle dort hinein passte.


    Man hatte derweil die Sedierungsperfusoren eingeschaltet, so dass Ben in einer tiefen Narkose lag, er bekam ein Muskelrelaxans, damit er nicht dagegen spannen konnte und wie schon erwartet, reagierte er damit, dass sein Kreislauf einbrach. Man stabilisierte diesen mit Noradrenalin und Volumengabe, also einer schnell gestellten Infusion, beatmete ihn weiter mit 100% Sauerstoff, saugte ihn ab, machte eine Blutgasanalyse aus dem ZVK, um zu wissen wo man stand, verabreichte ihm Bicarbonat gegen den niedrigen ph und als sich die Situation halbwegs eingependelt hatte, führte die Schwester, die jetzt den Tubus übernommen hatte, in diesen einen mit sterilem Gleitgel versehenen Führungsstab ein, der ein wenig länger war wie der Endotrachealtubus. Auf ein Nicken des Arztes entblockte sie dann den Tubus und zog ihn rasch über den Führungsstab, der als Schiene in der Luftröhre verblieb, heraus. Jetzt ging es um jede Sekunde, denn solange die Trachealkanüle nicht lag, war Ben komplett ohne Sauerstoffversorgung und so führte der Arzt jetzt den Spreizer neben dem Führungsstab in die Halswunde ein, drehte sein Instrument und dehnte und erweiterte in einer brutal wirkenden Aktion das Loch in Ben´s Hals, was auch ein hässliches Geräusch gab, als die Membran unterhalb des Kehlkopfs weiter einriss. Freilich hätte man rein theoretisch auch mit dem Skalpell den Schnitt sauber vergrößern können, aber man dachte im Moment einer Intubation immer schon an die Extubation und ein so entstandenes Loch wuchs wesentlich schneller zu als ein sauberer Schnitt. Eine weitere Schwester saugte das austretende Blut mit einem Sauger ab und rasch hatte die Pflegekraft die neue Trachealkanüle über den Führungsstab gefädelt und der Arzt übernahm sie nun und schob sie relativ gewaltsam in Ben. Sobald der Cuff, also der kleine Silikonballon am unteren Ende der Trachealkanüle, unter dem Hautniveau verschwunden war, blockte die Schwester ihn, der Arzt hielt den Beatmungsschlauch trotzdem noch eisern fest und zog nun den Führungsstab heraus, man schloss erneut den Ambubeutel an, beatmete Ben damit ein paar Mal und der Doktor hörte nun den Brustkorb ab, ob die Lunge seitengleich belüftet war.

    „Alles klar, ich lege jetzt gleich noch eine Arterie und dann gehe ich kurz duschen und mich umziehen!“ bemerkte der Arzt, auf dessen Brille ebenfalls kleine Blutspritzer zu entdecken waren. „Tun sie sich keinen Zwang an-ausnahmsweise kostet es auch keinen Kuchen, wenn sie beim Arterielegen ein wenig herum sauen!“ bemerkte die Schwester, während sie jetzt das voreingestellte Beatmungsgerät mit aufgestecktem geschlossenen Absaugsystem routiniert an die Trachealkanüle anschloss, noch einen speziellen mit Metall beschichteten Verband auf die frische Wunde legte und ein Haltebändchen um Ben´s Hals zog und in der passenden Weite mit Klett einstellte-jetzt war die Kanüle fest und sicher fixiert und konnte so leicht nicht mehr heraus rutschen.


    „Wir machen ihn nachher kurz sauber und möchten ihn dann in ein frisches Bett umlagern, sonst werden wir hier mit dem Putzen überhaupt nicht mehr fertig!“ erklärte sie, während sie schon die benötigten Dinge zum Legen eines arteriellen Zugangs aus dem Eingriffswagen holte. Der Arzt hatte den einen Kittel inzwischen ausgezogen, desinfizierte nun erneut seine Hände und schlüpfte dann in einen frischen sterilen Kittel und Handschuhe. Flugs legte er nach ausreichender Desinfektion eine Arterie in Ben´s Unterarm und da ging natürlich-wie sollte es auch anders sein-kein Tröpfchen daneben. „Habe ich jetzt einen Kuchen gut?“ fragte der Arzt schmunzelnd, aber die Pflegekraft, die derweil in Windeseile das Arteriensystem vorbereitet hatte und jetzt ein arterielles Blutgas vom Arzt in die Hand gedrückt bekam, das sie zur Analyse weiter gab, während sie schnell das Kunststoffschläuchlein verklebte und mit dem kalibrierten und genullten Arteriensystem mit Druckdom verband. Sie spülte alles durch und begann dann auch schon, ihren Patienten zu waschen, damit das frische Bett, das die Kollegen derweil schon aus der Schleuse geholt hatten, nicht beschmutzt wurde. „Nein lieber Doktor-du hast keinen Kuchen gut, ich habe doch gesagt-jetzt wäre es egal gewesen, ist nicht mein Problem!“ befand die Schwester und diese kleinen verbalen Kabbeleien und Rituale halfen allen, die auf einer Intensivstation arbeiteten, die oft psychisch sehr belastenden Situationen besser zu verarbeiten.
    Ein ehernes Gesetz besagte-wenn ein Arzt und sei es der Chefarzt persönlich- ein frisches Bett außerhalb einer Notfallsituation mit Blut versaute, musste er den Schwestern einen Kuchen spendieren, bevorzugt selbst gemacht, aber man gab sich auch mit Gefrierware zufrieden. So wusch die Schwester jetzt, während der Arzt sein Tun auf mehreren Zetteln, Reaprotokollen und im PC dokumentierte, Ben soweit nötig herunter, ihr Kollege, der derweil wie die anderen auch seine eigenen Patienten und die der Kollegin, die Ben betreute, versorgt hatte, half ihr den jungen Polizisten zu drehen und auch seine Rückseite und die dunklen Haare, die ebenfalls voller inzwischen bereits gerinnendem Blut waren, soweit möglich zu säubern und eine frische Einmalunterlage unter zu schieben. Als das geschehen war, hielt der Arzt noch die Trachealkanüle und den ZVK fest und übernahm den Kopf, während man Ben nun mit einem Rollbrett in das frische Bett zog und als man nun die Beatmungsparameter der Maschine anhand den Ergebnissen des Blutgases angepasst hatte, schloss man noch die Temperaturmessung an das Kabel des bereits seit der ersten OP am Rücken liegenden Dauerkatheters an und legte ein kühles Thermacairgebläse mit einer Einmaldecke über Ben, damit man die Zieltemperatur von 32-34°C erreichte.

    „So-jetzt können wir nur abwarten und hoffen, dass die Zeit der Mangelversorgung des Gehirns nicht zu lange war,“ bemerkte die Schwester und der Arzt verabschiedete sich, nachdem er kurz nach den anderen elf Patienten gesehen hatte, unter die Dusche in seinem Bereitschaftszimmer, das unmittelbar neben der Intensivstation lag. „Und gell Doktor-es gilt-wenn jetzt ne Rea kommt, möchten wir deinen Luxuskörper sofort und möglichst unbekleidet zu Gesicht bekommen!“ rief die Schwester ihm nach und der Arzt stöhnte mit einem gespielt genervten Gesichtsausdruck auf. „Wetten, dann könnt ihr euch nicht mehr auf eure Arbeit konzentrieren!“ rief er über die Schulter zurück und das Lachen des Pflegepersonals verfolgte ihn noch, bis er aus der Tür war.

  • Zu Sarah, die immer noch stocksteif und zusammen gerollt wie ein Igel im Bett lag und keinen klaren Gedanken fassen konnte, sogar ihre Tränen waren versiegt, kam nach kurzer Zeit der internistische Assistenzarzt, den die Nachtschwester verständigt hatte. Er versuchte einen Zugang zu ihr zu finden, aber Sarah war momentan nicht ansprechbar, darum wurde sie kurzerhand stationär aufgenommen, man nahm ihr Blut ab, maß den Blutdruck, der ganz schön im Keller war und dann bekam sie erstens eine Infusion gegen den Schock und dann noch eine Ampulle Tavor, deren Wirkung sie sich nur zu gerne überließ, die Augen schloss und sich dem Vergessen hingab-die Realität war gerade zu grausam, als dass sie sie hätte ertragen können.

    Semir hatte, während Sarah behandelt wurde, kurz vor dem Zimmer gewartet und die Nachtschwester, die selber nach der ganzen Aufregung ganz schön fertig war, brachte ihm eine Tasse heißen, dampfenden Kaffee, den er dankend entgegen nahm. „Sie sollte im Moment nicht alleine bleiben!“ sagte die Pflegerin zu ihm und Semir nickte. Das war ihm klar-Ben hatte aktuell nichts davon, wenn er an seinem Bett saß, er würde sich zwar später natürlich danach erkundigen, wie es ihm ging, aber momentan brauchte Sarah, die den Schock ihres Lebens erlitten hatte, ihn nötiger. „Ich bringe ihnen nachher einen bequemen Stuhl und danke, dass sie da bleiben!“ sagte die Schwester, die damit eine Verantwortung weniger hatte und Semir nickte. So saß er wenig später in einem bequemen gepolsterten Stuhl neben Sarah, die zu schlafen schien und hing im gedämpften Licht des Zimmers seinen Gedanken nach. Hätte er bemerken müssen, was in Ben vorging? Eigentlich ja, schalt er sich. Dessen gute Stimmung, die nicht echt gewesen war, wie er inzwischen wusste, hatte ihn gestern zwar irritiert, aber er hatte das Gefühl nicht greifen können, dabei hatte sein Freund sicher eindeutige Signale ausgesandt und wenn er sich da näher damit befasst hätte, wäre es nicht zu diesem schrecklichen Suizidversuch gekommen. Was wäre, wenn Ben das Ganze zwar überleben würde, aber sein Hirn irreparabel geschädigt war? Dann konnte man eigentlich nur hoffen, dass die Natur in diesem Fall gnädig war und ihn nicht mehr aufwachen ließ. Sarah würde es nicht schaffen, einen gelähmten Vollpflegefall und dazu zwei kleine Kinder zu betreuen und so würde Ben dann in einem Heim vielleicht viele Jahre vor sich hin vegetieren, ohne jemanden zu erkennen-oder noch schlimmer, vielleicht doch etwas mitkriegen, aber sich nicht äußern können!
    Immer wieder sah Semir das bläulich verfärbte Gesicht mit der heraus hängenden Zunge vor sich. Sicher hatten die Ärzte und Schwestern alles nur Menschenmögliche getan und machten das immer noch, aber ob Ben mit seiner Tat letztendlich nicht doch erfolgreich gewesen war und es den Ben, den sie kannten und liebten nicht mehr gab, nur noch seine leere Hülle, das konnte man zum augenblicklichen Zeitpunkt einfach nicht sagen.

    Sarah´s Atemzüge waren nun ruhiger geworden, sie schien tatsächlich eingeschlafen zu sein und nun trieb es Semir zu seinem Freund, er musste ihn sehen und einfach wissen, wie es ausschaute. Inzwischen war es drei Uhr geworden und Semir trat leise auf den Flur und wartete, bis die Nachtschwester, die gerade ihren dritten Durchgang machte, aus einem Zimmer trat. „Ich gehe kurz rüber auf die Intensiv, ich muss jetzt wissen, was mit meinem Freund ist!“ teilte er ihr mit und sie nickte und versprach, derweil nach Sarah zu sehen.
    Als Semir draußen an der Station läutete, wurde er auch gleich herein gelassen und stand wenig später vor Ben´s Bett, der darin mit entspanntem Gesichtsausdruck, bis zum Hals zugedeckt mit einer Papierdecke, die sich vom Luftzug des Kühlgebläses wölbte, lag und tief zu schlafen schien. Inzwischen war die Zunge so abgeschwollen, dass sie wieder Platz in der Mundhöhle fand, das Gesicht hatte eine normale Farbe, zwar blass, aber ansonsten sah sein Freund aus wie sonst. „Wie geht es ihm?“ wollte Semir wissen und die betreuende Schwester zuckte mit den Schultern. „Er ist tief sediert, wird für 24 Stunden gekühlt und ist unter einer Spur Katecholamine stabil. Ich denke, sein Körper wird das überleben, aber wie es mit seinem Gehirn aussieht, kann nur die Zeit zeigen!“ sagte sie leise und Semir nickte erschüttert. Er trat zu seinem Freund, strich ihm unendlich zärtlich über die Wange und sagte, auch wenn der das nicht verstehen konnte-vielleicht nie mehr etwas verstehen konnte: „Was ist dir denn da für ein Blödsinn eingefallen? Das Leben ist zu kostbar, um es einfach weg zu werfen, auch wenn man vielleicht nicht mehr laufen kann. Jetzt sieh zu, dass du wieder aufwachst, alles andere werden wir gemeinsam schaffen!“ aber als er kurz darauf die Intensiv wieder verließ und wie ein geprügelter Hund zurück auf die Normalstation zu Sarah schlich, bahnte sich die eine oder andere Träne ihren Weg, auch er schaffte es nicht, immer nur stark zu sein!

  • Semir schreckte plötzlich hoch, anscheinend war er doch in seinem Stuhl ein wenig eingenickt. Er wusste sofort wieder was geschehen war und als er einen Blick auf das Bett warf, erschrak er erst einmal. Es war leer, aber da hörte er schon die Toilettenspülung aus der Nasszelle und dann das Wasser laufen. Sarah hatte sich leise aus dem Bett geschlichen und machte sich frisch. Als sie wenig später wieder zu ihm ins Zimmer trat, sagte sie schuldbewusst: „Das hat ziemlich unbequem ausgesehen!“ und Semir konnte ihr nicht widersprechen, er spürte jeden einzelnen Knochen im Leib. Es war sieben Uhr und vom Flur konnte man schon die geschäftigen Geräusche des Krankenhausbetriebs hören.
    „Hast du in der Nacht noch nach ihm gesehen?“ erkundigte sich Sarah und Semir nickte. „Es war so gegen drei-er war da stabil und hat auch wieder ganz normal ausgesehen!“ erzählte er und Sarah hörte ihm gebannt zu. „Ich muss jetzt aber dringend zu ihm, ich halte das sonst nicht aus“, erklärte sie und holte aus dem Schrank eine Jeans. Irgendwie wollte sie untertags nicht in Leggins oder Jogginghose herum laufen, sie hatte sich auch schon den Zugang entfernt, denn jetzt schämte sie sich regelrecht für ihren Zusammenbruch. Nun wurde auch an der Tür geklopft und die Schwester der Tagschicht, die für diesen Bereich zuständig war, trat ein. „ Guten Morgen, wie fühlen sie sich denn?“ erkundigte sie sich freundlich, um dann betroffen hinzu zu fügen: „Es tut mir sehr leid, was mit ihrem Mann geschehen ist, wir haben gerade auf der Intensiv angerufen, er ist stabil und wird noch bis heute Nacht weiter beatmet und gekühlt“ erklärte sie und Sarah bedankte sich für die Auskunft. „Der Internist sieht später nach ihnen und die Notfallseelsorgerin kommt dann auch noch, die wollte sie eigentlich heute Nacht schon besuchen, aber da haben sie ja dann geschlafen“ plauderte die Schwester und Sarah, die im einen Moment noch ziemlich gefasst gewirkt hatte, begann nun wie aus dem Nichts zu weinen, woraufhin Semir aufsprang und sie einfach in den Arm nahm. „Oh-habe ich jetzt irgendwas Falsches gesagt?“ fragte die junge Schwester erschrocken, aber Semir schüttelte den Kopf. „Das hat nichts mit ihnen zu tun, wir sind nur von der ganzen Situation ziemlich überfordert“, erklärte er und strich der schluchzenden Sarah über die blonden Haare. „Schsch, jetzt beruhige dich erst Mal und dann gehen wir zu Ben!“ flüsterte er und Sarah nickte, während ihre Schluchzer langsam versiegten. „Vielleicht sollten sie erst noch frühstücken und die Visite abwarten, die kommt so gegen neun“, versuchte die Schwester nochmals ihr Glück, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich muss jetzt sofort zu meinem Mann, ich habe sonst keine ruhige Minute mehr, er braucht mich an seiner Seite!“ erklärte sie und suchte in der Jeans nach einem Tempotaschentuch, das sie auch fand und so ließen sie und Semir die junge Schwester einfach stehen und machten sich auf den Weg zur Intensiv.


    Dort angekommen läuteten sie und wurden auch gleich herein gebeten. „Wir haben euch schon erwartet-Sarah, wie geht es dir?“ fragte die Intensivpflegekraft herzlich, die Sarah in den letzten paar Tagen ja schon kennen gelernt hatte, legte den Arm um sie und führte sie in das Zimmer, in dem Ben ruhig schlafend im Bett lag. „Die Pupillen reagieren-zwar etwas verlangsamt, aber wie du ja weisst, ist das bei einer Hypothermiebehandlung und der tiefen Sedierung noch normal-viel schlimmer wäre es, wenn sie weit und lichtstarr wären, aber davon ist keine Rede und er hat auch nicht gekrampft!“ beruhigte sie ihre Kollegin und stellte sich dabei vor, was sie in so einer furchtbaren Situation wohl hören wollte. Auf gar keinen Fall irgendwelche Lügen oder falsche Hoffnungsparolen, einfach die Wahrheit und es war eine Tatsache-zum momentanen Zeitpunkt konnte niemand vorhersagen, welche Schäden Herr Jäger erlitten hatte, das würde man am nächsten Morgen sehen, wenn man ihn erwärmt hatte und die Sedierung ausschaltete.

    Sarah nickte, trat an das Bett und strich ihrem geliebten Mann unendlich zärtlich über die eiskalten Wangen und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn. „Du kannst mich und die Kinder doch nicht einfach alleine lassen! Was ist denn letzte Nacht nur in dir vorgegangen?“ schalt sie ihn ein wenig, aber wie zu erwarten war, kam keine Reaktion von dem sedierten Patienten. Der Herzschlag war regelmäßig, das Beatmungsgerät blies rhythmisch Luft in die Trachealkanüle und so ließ man Sarah und Semir, nachdem man ihnen zwei Stühle hergestellt hatte, ein wenig mit Ben alleine. Auch Semir saß nun schweigend da und hatte unter der Decke, die sich immer noch durch den Luftzug nach oben wölbte, nach Ben´s Hand gegriffen, die nicht einmal angebunden war. Semir versuchte ihm durch den Körperkontakt Stärke und Zuversicht zu übermitteln und als wenig später der Professor und der Viszeralchirurg zur Visite kamen, begrüßten sie zunächst einmal voller Betroffenheit die Ehefrau und den Freund ihres Patienten.
    „Es ist schrecklich, was heute Nacht geschehen ist, wir beten mit ihnen, dass er seinen Suizidversuch folgenlos übersteht, wir sind aus allen Wolken gefallen, als wir das heute Morgen erfahren haben!“ fasste der Professor in Worte, was auch ihn bewegte. Man nahm die Decke beiseite, kontrollierte erst die Bauchwunde und dann wurde Ben noch kurz gedreht und der Professor beurteilte die Rückenwunde, die aber, wie der Bauch, reizlos und trocken war. „Der Heilungsverlauf ist sehr zufrieden stellend, wir von unserer Seite her, sehen ganz zuversichtlich in die Zukunft, aber ihr Mann war da anscheinend anderer Ansicht!“ sagte der Professor ein wenig hilflos, während er sich die Hände desinfizierte und die Schwester ein neues Pflaster auf Ben´s Rücken befestigte, während Sarah ihn in Seitenlage stabilisierte. „Wie gesagt-ich werde für ihn beten!“ bekräftigte der Professor nochmals seine Worte und Semir war ziemlich überrascht, dass dieser so taff wirkende Mann anscheinend tief gläubig war. Aber es war kein Fehler-Ben konnte gerade jegliche himmlische Unterstützung gebrauchen, egal wie der Helfer hieß, ob Jahwe oder Allah!


    Die Schwester legte das Kaltluftgebläse wieder über Ben, aktuell hatte er keine zusätzlichen Kühlkompressen gebraucht, aber das war die Kunst, mittels physikalischer Methoden die Körpertemperatur im angestrebten Bereich zu halten und bei ihm funktionierte das aktuell sehr gut, denn bei zu tiefen Körperkerntemperaturen drohten sonst Herzrhythmusstörungen. Er musste auch wirklich tief sediert sein, ansonsten würde sein Körper mittels Schüttelfrost versuchen, die Temperatur zu erhöhen und es gab Fälle, da musste man sogar Eiswasser in die Magensonde füllen, um die Temperatur herunter zu bringen, aber auf eine Sonde hatte man bei Ben aktuell verzichtet-wenn alles gut war und er morgen erwachte, brauchte er sowas nicht und ansonsten musste man ihm sowieso eine Ernährungssonde legen.
    Als die Visite wieder weg war, kam Ben´s betreuende Schwester wieder zu ihnen. „Die Station hat gerade angerufen, drüben steht Frühstück für euch bereit und der Internist möchte auch nach dir sehen, Sarah, immerhin bist du aktuell selber noch Patientin. Ich verspreche euch, gut auf ihn aufzupassen und sofort anzurufen, wenn sich etwas verändert, egal ob zum Positiven oder zum Negativen. Stärkt euch, ihr werdet eure Kraft noch brauchen!“ gab sie zum Anstoß und so erhoben sich Sarah und Semir und machten sich auf den Weg auf die Normalstation. Semir hatte sein Handy stumm geschaltet, aber als er nun beiläufig darauf sah, waren mehrere Anrufe darauf, einer von Andrea, einer von Susanne und mehrere von Klaus und Corinna und aufseufzend konstatierte er, dass er wohl oder übel jetzt Bescheid sagen musste und das fiel ihm unheimlich schwer.

  • Auf der Normalstation angekommen, standen zwei Frühstückstabletts im Zimmer und Sarah und Semir aßen und tranken zwar mit wenig Appetit, aber sie wussten, sie mussten ihre Körper am Laufen halten. Danach kam ein Internist zu Sarah, mit dem sie sich einigte, noch weiter als Patientin zu bleiben. So hatte sie ein Bett im Krankenhaus und wenn es ihr auch körperlich wieder gut ging, die seelische Erschütterung war ihr immer noch anzumerken. „Dann können wir ihnen auch zur Nacht Medikamente geben, damit sie schlafen können!“ erklärte ihr der Arzt und Sarah nickte, war sich dabei aber sicher, dass sie nichts mehr nehmen würde.


    Semir ging währenddessen kurz vors Krankenhaus, wo die Sonne von einem strahlend blauen Himmel schien und die Vögel um die Wette zwitscherten. Es hätte aber genauso gut aus Eimern schütten können, er hätte es nicht bemerkt, zu unwichtig war das nach den schrecklichen Geschehnissen der vergangenen Nacht. Semir verständigte erst Andrea, die aus allen Wolken fiel. „Oh Gott, das ist ja schrecklich, ich drücke die Daumen, dass Ben wieder völlig gesund wird, grüß mir Sarah ganz lieb und richte ihr aus, dass ich ganz fest an euch denke!“ sagte Andrea voller Mitgefühl. Auch Corinna und Klaus waren entsetzt, als ihnen Semir mitteilte, aus welchem Grund er in der Nacht das Haus verlassen hatte, sie waren am Morgen aufgewacht und hatten sich keinen Reim darauf machen können, wo ihr Gast steckte, aber der schwierigste Anruf war der in der PASt. Semir wollte Ben seine Zukunft-wenn es denn überhaupt noch eine für ihn gab, nicht versauen und so teilte er Susanne und Frau Krüger nur mit, dass es bei Ben Komplikationen gegeben habe, der wieder beatmet auf der Intensivstation liegen würde und er bis auf weiteres nicht nach Köln zurück kehren würde. Zuvor hatte er ja schon angedacht gehabt, wieder zu arbeiten, wenn Ben heimatnah verlegt war und ihn dann eben immer nach dem Dienst zu besuchen, das Ganze schien jetzt so fern, er würde wohl noch eine lange Zeit nicht nach Hause zurück kehren! Ihm war klar, dass Susanne von ihrer Freundin Andrea schon bald erfahren würde, wie die Komplikationen bei Ben aussahen, aber die konnte ebenfalls schweigen wie ein Grab.


    Als er dann auf die Station zurück kehrte, war eine attraktive Frau mittleren Alters mit sportlichem Kurzhaarschnitt und ganz normaler Kleidung bei Sarah, die sich als Klinikseelsorgerin vorstellte. Semir war erst ein wenig skeptisch, denn ehrlich gesagt hatten weder Sarah, noch Ben, noch er mit Kirche und Religion sonst etwas am Hut, aber als er herzlich zum Gespräch eingeladen wurde, kam er bald darauf, dass diese Frau weder frömmelte, noch sie irgendwie bekehren wollte, sondern mit ehrlichem Interesse, Mitgefühl und Empathie ihren Worten lauschte und als auch Semir nun aufgefordert wurde, zu erzählen, wie er die schlimmen Minuten letzte Nacht erlebt hatte, stellte er fest, dass es ihn irgendwie erleichterte, darüber zu sprechen. „Wenn sie möchten, komme ich noch ein wenig mit ihnen auf die Intensivstation zu ihrem Partner und Freund!“ bot sie an und so standen sie wenig später zu dritt vor Ben´s Bett, der völlig friedlich vor sich hin schlief. „Was für ein gut aussehender Mann, was muss in ihm vorgegangen sein, dass er seinem Leben ein Ende setzen wollte, er muss Schreckliches durchgemacht haben und so etwas durch zu ziehen, erfordert einen unglaublichen Mut-und dennoch kommt es ihnen als Angehörige so vor, als habe er sich heimlich davon stehlen wollen!“ fasste sie in Worte, was Sarah und Semir beiden schon durch den Kopf gegangen war. „Wenn sie nichts dagegen haben, würde ich ihn gerne segnen, denn er kann gerade jegliche Hilfe brauchen und glauben sie mir, es gibt mehr zwischen Himmel und Erde, als wir uns vorstellen können!“ sagte sie dann einfach und Sarah und Semir nickten, schaden konnte es ja nicht und so legte die Frau ihre Hand auf Ben´s Stirn, sprach einen einfachen Segenswunsch und als sie sich dann zum Gehen wandte, erklärte sie Sarah und Semir freundlich. „Ich schaue ab sofort jeden Tag nach ihnen und Herrn Jäger, sie können mich auch anrufen lassen, wenn sie Hilfe brauchen, einfach den Schwestern Bescheid sagen, die verständigen mich dann!“ teilte sie ihnen mit und irgendwie war das tröstlich, jemanden vor Ort zu haben, der einfach für sie da war.


    So verging der Tag-Sarah und Semir wechselten sich an Ben´s Bett teilweise ab, dann saßen sie wieder alle beide da. Sarah sagte auch von Semir´s Handy aus Hildegard Bescheid, die aus allen Wolken fiel, aber wenigstens ging es den Kindern gut und die brauchten davon nichts zu erfahren. Nachmittags kamen noch Klaus und Corinna vorbei, die aber nicht auf die Intensivstation durften, sie waren keine engen Angehörigen. Aber sie brachten Süßigkeiten für Sarah und etwas Deftiges für Semir und gaben dem auch einen Haustürschlüssel. „Semir-ich gehe ab morgen wieder arbeiten und Corinna ist auch nicht immer da-fühl dich bei uns wie zu Hause und du kannst deine Wäsche gerne in der Dusche in den Abwurf geben, wir machen die dir dann fertig!“ bot Klaus an und Semir sah ein wenig schuldbewusst an sich herunter-müffelte er vielleicht? Aber das wäre auch kein Wunder nach den ganzen Angstschweissausbrüchen , die er in der Nacht gehabt hatte!

    Am frühen Abend kam noch die Nachmittagsvisite zu Ben und da wurde die weitere Behandlungsstrategie abgesprochen. „Herr Jäger wird noch bis um ein Uhr heute Nacht gekühlt. Dann wärmen wir ihn langsam auf, nicht mehr als ein halbes Grad pro Stunde. So dürften wir bis zum Morgen seine Normaltemperatur erreicht haben. Dann schalten wir die Sedierungsperfusoren aus und warten ab was passiert. Ich würde vorschlagen, sie versuchen heute Nacht einmal zu schlafen, sie sehen nämlich alle beide ziemlich fertig aus. Wir verständigen sie, falls sich etwas verändert und morgen kann es sein, dass unser Patient dringend ihren Beistand und ihre Unterstützung brauchen kann!“ gab der Chefarzt der Anästhesie den weiteren Plan vor und Sarah und Semir nickten folgsam. Ja morgen war der entscheidende Tag, sie würden sich beide bemühen, bis dahin fit zu sein, um dann für Ben da sein zu können, falls er dann wach wurde. Semir glaubte fest daran und auch Sarah nickte tapfer, obwohl ihre Erfahrung als Intensivschwester ihr da manch anderes Schreckensszenario bot. Vielleicht stand morgen Abend schon fest, dass Ben einen dauerhaften, irreparablen Hirnschaden erlitten hatte, denn wenn er ohne Sedierung nicht wach wurde, konnte sein, dass er als Apalliker überlebte und das wäre sozusagen der Supergau! Aber so ging Sarah folgsam in ihr Bett auf der Normalstation und Semir griff nach seinem Autoschlüssel. „Sarah, ich fahre jetzt zu Corinna und Klaus, ich muss tatsächlich dringend duschen und dann zusehen, dass ich eine Mütze voll Schlaf kriege, morgen früh um sieben bin ich wieder da, außer du lässt mich vorher anrufen!“ erklärte Semir und verabschiedete sich von seiner Freundin. Als er durch die wunderschöne Landschaft nach Mündling fuhr, kam es ihm so unwirklich vor, dass sein Freund gerade ein paar Kilometer weiter um sein Leben kämpfte und die restliche Welt sich weiter drehte, als wenn nichts gewesen wäre.

  • Wie angeordnet, wurden um ein Uhr Nachts die Kühlmaßnahmen eingestellt. Man legte aber nur eine leichte Decke über Ben, da die Erwärmung ja langsam erfolgen sollte. Wenn das Temperaturregelzentrum im Gehirn keinen Schaden erlitten hatte, sollte es funktionieren, dass der Körper des jungen Polizisten sich langsam erwärmte und so war es auch. Sarah hatte tatsächlich zunächst ein wenig einschlafen können, aber um drei Uhr trieb es sie aus dem Bett und so schlich sie leise durch die menschenleeren Gänge auf die Intensivstation. „Kannst du nicht schlafen?“ fragte die Nachtschwester und Sarah nickte stumm. „Na komm, du kannst mir gleich helfen ihn zu betten!“ sagte ihre Kollegin und so hielt Sarah ihren immer noch tief schlafenden Mann fest, der sich schon ein wenig wärmer anfühlte, während dessen Rücken sorgfältig eingecremt wurde, sie half ihn zu lagern, sah zu, wie er abgesaugt wurde, ohne irgendeine Abwehrreaktion und hoffte nur, dass das nach dem Abschalten der Sedierung anders sein würde. Als man sie danach mit der Liebe ihres Lebens, dem Vater ihrer Kinder und dem besten Freund, den sie je gehabt hatte, alleine ließ, legte sie ihre Hand, wie schon so oft, auf seinen Brustkorb und fühlte die regelmäßigen Atemzüge. Wenn sie nicht vom Fach gewesen wäre, hätte sie sich jetzt keine Sorgen gemacht, denn der zunehmend wärmer werdende Körper wirkte wie immer, aber so wuchs ihre unermessliche Angst mehr und mehr, dass da vor ihr nur noch eine leere Hülle lag und der Ben, den sie kannte und liebte, mit all seinen Macken, seinen Ecken und Kanten, einfach nicht mehr da war.


    Semir war am frühen Abend bei Corinna und Klaus eingetroffen und wurde herzlich von ihnen begrüßt. „Komm, setz dich ein wenig zu uns auf die Terrasse, wir haben dir einen schönen bayerischen Wurstsalat aufgehoben, ich hol dir schnell ein Bier und dann versuchst du dich ein wenig zu entspannen!“ lockte Klaus, aber Semir lehnte dankend ab. „Ich möchte keinen Alkohol trinken, denn ich weiss nicht, ob ich nicht plötzlich einen Anruf kriege und mit wehenden Fahnen ins Krankenhaus kommen muss. Ich setze mich nachher gerne noch ein bisschen zu euch, aber zuerst möchte ich duschen und ich nehme euer Angebot mit der Wäsche dankend an, so wahnsinnig viele Klamotten habe ich nämlich nicht eingepackt, wer hätte auch gedacht, dass ich so lange bleibe-wenn ihr mir die Maschine erklärt, kann ich das aber durchaus auch selber machen!“ sagte er, aber Corinna hatte sich schon erhoben und lächelnd den Kopf geschüttelt. „Das macht jetzt wirklich keine Mühe-sieh mal, ich zeig dir, wo du im Bad die schmutzigen Sachen rein werfen kannst, ich mache dann gleich eine Maschine an und tu die später in den Trockner, damit du wieder was Frisches hast,“ sagte sie und Semir holte aus seinem Zimmer jetzt die beiden Leinenbeutel mit der verschwitzten Wäsche und warf sie, wie ihm Corinna zeigte, in die Klappe an der Badezimmerwand. Von dort fiel sie direkt in die Waschküche im Keller in einen bereit gestellten Wäschekorb. „Weisst du-wir habe das in anderen Häusern gesehen und wenn man schon neu baut, kann man sich solche kleinen Spielereien ja gönnen, so ist unser Bad immer aufgeräumt!“ erklärte die junge Frau und Semir bewunderte die raffinierte Erfindung. Allerdings überlegte er für sich, dass seine Kinder, vor allem Lilly, da vermutlich alles rein werfen würden, nur keine schmutzige Wäsche, aber das würden seine Gastgeber schon noch selber merken, wenn sie mal Nachwuchs hatten. So aber hörte er, als er endlich unter der Dusche stand und das warme Wasser auf seinen Körper prasseln ließ, wie Corinna unten schon die Waschmaschine anwarf. Ausnahmsweise wählte sie ein Schnellprogramm und als Semir zwei Stunden später nach intensiven Gesprächen bei Wasser und der bayerischen Spezialität in sein Zimmer ging, um sich zur Ruhe zu begeben, stand dort schon ein Wäschekorb mit trockener, sauber zusammen gelegter Wäsche davor-ach darum war Corinna zweimal für eine längere Zeit verschwunden gewesen!

    Obwohl er es nicht erwartet hatte, fiel Semir in einen tiefen traumlosen Schlaf und erwachte erst um kurz vor sechs, als sein Handywecker ihn mit türkischer Musik weckte. Semir trat, nachdem er eine schnelle Morgentoilette durchgeführt hatte, leise auf den Flur, er hatte vorgehabt unterwegs beim Bäcker kurz zu frühstücken, aber Corinna und Klaus waren ebenfalls schon aufgestanden und so tranken sie dann gemeinsam noch Kaffee und aßen Müsli. Semir´s Gedanken schweiften zu Ben-ob der wohl noch jemals mit ihm auf der Dienststelle Schokocroissants futtern würde, seinen BMW verkrümeln und überall seine Süßigkeitenverpackungen rumliegen lassen würde? Wie oft hatte er sich deswegen geärgert und seinen jungen Kollegen geschimpft, aber jetzt würde er keinen Pieps sagen, wenn der eine ganze Plastiktüte voller Müll auf seinem Schreibtisch ausleeren würde-Hauptsache er kam wieder zurück.


    Sarah war nochmals kurz in ihrem Zimmer gewesen, und hatte sich ebenfalls gewaschen und eine Jeans angezogen, aber dann hielt sie nichts mehr und sie war an Ben´s Seite, als man kurz nach der Übergabe die Sedierung ausschaltete, denn inzwischen hatte er wieder seine Normaltemperatur von aktuell 36,8°C erreicht. Essen konnte sie aktuell nichts, aber den Becher Kaffee, den ihre Kollegen ihr brachten, nahm sie dankend an. Kurz darauf kam auch Semir und so saßen die beiden gespannt an Ben´s Bett, dem man inzwischen die Hände angebunden hatte und warteten auf eine Reaktion. Irgendwie geschah lange gar nichts und Sarah bekam immer größere Angst, aber dann trat ihre Kollegin ein, die Ben schon die letzten Tage im Frühdienst betreut hatte und bemerkte: „Ich werde ihn jetzt ein wenig ärgern, so langsam müsste die Sedierung abgebaut sein!“ und griff auch schon zum Absauger. Sie zog Einmalhandschuhe an, hängte den Schlauch an das geschlossene Absaugsystem und führte dann den sterilen Sauger durch die Trachealkanüle in Ben´s Luftröhre ein. Plötzlich riss der die Augen auf, spannte mit aller Kraft gegen die Handfixierung und nun liefen Sarah erste Tränen der Erleichterung übers Gesicht.

  • Um Ben war alles dunkel. Er fühlte lange nichts, ohne irgendeine Art von Zeitgefühl zu haben. Dann drangen irgendwelche Geräusche in sein Bewusstsein, er fühlte sich aktuell wohl, alles war friedlich, bis langsam Geräusche in sein Bewusstsein drangen. Irgendwie waren die so vertraut und auch so fremd, aber er versuchte gerade einen klaren Gedanken zu fassen, sich zu erinnern, was geschehen war und wo er sich befand. Sein Bauch tat ziemlich weh, sein Rücken und sein Hals ebenfalls, aber warum war das so? Auf einmal sagte eine fremde Stimme etwas von Ärgern und dann manipulierte jemand an seinem Hals herum. Plötzlich bekam Ben erneute Panik, er kriegte keine Luft, um seinen Hals war es eng-nein es war ein Versehen, er wollte doch nicht sterben! Panisch riss er die Augen auf, ohne etwas wahr zu nehmen, wollte das Kabel um seinen Hals entfernen, aber er schaffte es zunächst nicht, seine Hände nach oben zu bringen-er würde sterben und wollte doch leben! Wie eine Kakophonie hörte er Geräusche-mehrere unangenehmen Alarmtöne direkt neben seinem Kopf, verschiedene Stimmen, die auf ihn ein sprachen, aber er war so panisch, dass er sich nicht darauf konzentrieren konnte-das Kabel-er musste das Kabel wegmachen, er bekam keine Luft! Mit Anspannung aller Muskelkraft hatte er auf einmal eine Hand frei und die war schon oben an seinem Hals, da schrie die fremde Stimme: „Vorsicht, die Trachealkanüle-schnell, wir müssen ihn wieder sedieren!“ und plötzlich hielt ihn jemand mit eisenhartem Griff fest, er hörte auf einmal auch bekannte Stimmen, die aufgeregt durcheinander riefen und sah nun Semir´s erschrockenes Gesicht ganz nah vor seinem, aber dann wurden seine Abwehrbewegungen langsamer, seine Augen fielen zu und er versank wieder in der gnädigen Bewusstlosigkeit.


    „Das war knapp-Dankeschön!“, sagte die Schwester, als der Propofolbolus angekommen war und Ben langsam erschlaffte. „Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn er sich die Trachealkanüle rausgerissen hätte! Immerhin ist der ganze Halsbereich noch ziemlich verschwollen. Mann dass er gleich so viel Kraft hat, dass er die Handfixies abreißt, hätte ich nicht gedacht!“, wunderte sie sich und musste nun mit dem Noradrenalin höher gehen, denn Ben´s Blutdruck, der momentan wegen dem Stress auf über 200 hoch geschossen war, rauschte nun wegen dem Propofol in den Keller und die nächsten paar Minuten hatten sie und der Stationsarzt, der auch noch hinzu gesprungen war, alle Hände voll zu tun, um den jungen Patienten wieder zu stabilisieren.


    Sarah stand schreckensbleich daneben, hatte wieder zu zittern begonnen und war völlig handlungsunfähig, während Semir geistesgegenwärtig die Hand seines Freundes gepackt hatte, aber alle Kraft gebraucht hatte, ihn nieder zu ringen. „Immerhin-er wird wach!“, hörte sich Semir sagen und Sarah faselte mit dünnem Stimmchen: „Aber warum hat er sich denn nicht beruhigen lassen, wir waren doch alle da? Er hat uns vermutlich nicht erkannt, weil nur noch der Körper da ist, aber mein Ben, so wie er war, nicht mehr existiert!“, schluchzte sie, aber der Stationsarzt, der seinen Patienten jetzt wieder stabil hatte, drehte sich nun zu Sarah um. „Frau Jäger-das kann wegen diesem kleinen Intermezzo doch niemand voraussagen-das ist jetzt genauso reine Spekulation, als wenn ich behaupte, er sei völlig wach und orientiert. Er hatte gerade eine Panikattacke, aber sie müssen sich auch überlegen, unter welchen Voraussetzungen er das Bewusstsein verloren hat. Das Kabel um seinen Hals hat sich enger und enger gezogen und ihn stranguliert-jetzt hat er vermutlich das Bändchen der Trachealkanüle gespürt und war wieder in derselben Situation. Durch das Absaugen wurde ihm die Luft knapp, vermutlich hatte er auch Schmerzen und der Erfolg war diese Aktion. Wir werden jetzt das Sufenta und das Propofol niedrig dosiert weiter laufen lassen und ihn so fixieren, dass er seine Hände nicht hoch bekommt, glauben sie mir, wir haben die geeigneten Materialien dafür!“, kündigte er an und die Schwester kam jetzt schon mit verstärkten Handfixierungen, wie sie in der Psychiatrie bei tobenden Patienten gebraucht wurden. Da musste man schon Supermann sein, um sie abzureißen, denn die zogen sich, wie eine Art Hundehalsband eher zu, wenn man dagegen zerrte. „Auf jeden Fall kommt da was in seinem Gehirn-wie viel und was können wir aktuell nicht voraussehen, aber jetzt lassen wir ihn ein zweites Mal, diesmal langsam, wach werden, sie sprechen bitte mit ihm, dass er ihre vertrauten Stimmen hört und dann sehen wir weiter!“, ordnete der Doktor in bestimmendem Ton an, denn die Frau seines Patienten war selber so an der Kante, dass er schon überlegte, sie raus zu schicken. Aber sie bekam noch eine weitere Chance und es war sicher gut, wenn jemand dabei war, den der junge Patient kannte, wobei ihm persönlich schon der andere Polizist gereicht hätte, der vielleicht gerade ein Debakel verhindert hatte-außerdem hatte das Pflegepersonal nicht so viel Zeit, um sich neben das Bett zu stellen.


    So saßen wenig später Semir und Sarah wieder auf beiden Seiten des Bettes, streichelten Ben, redeten in betont ruhigem Ton miteinander, der die junge Frau, die vor Sorgen fast umkam, alle Kraft kostete und warteten darauf, dass er ein zweites Mal wach wurde.

  • Es dauerte eine Weile bis der Medikamentenbolus wieder so weit abgebaut war, dass Ben erneut aus den Tiefen der Bewusstlosigkeit an die Oberfläche schwimmen konnte. Diesmal aber war er zwar immer noch müde, aber schon lange bevor er die Augen aufschlug, hörte er zwei bekannte Stimmen, die sich beiläufig unterhielten. Semir hatte Sarah in ein Gespräch verwickelt, das sich um alles außer Katastrophen drehte, sondern hatte nette Dinge erzählt, die seine beiden Töchter angestellt hatten, als sie noch klein gewesen waren. Es gelang ihm, Sarah gut abzulenken und ihre Hysterie ein wenig runter zu drücken. Auch Begebenheiten, in denen Ben vorkam, der früher ja immer mal wieder als Babysitter engagiert worden war und eine sehr enge Beziehung zu Ayda und Lilly hatte, erzählte er, zum Beispiel, wie Ben von den Mädels nach allen Regeln der Kunst geschminkt und mit Haarspangen versehen worden war. Langsam löste sich Sarah´s Anspannung und sie musste sogar hin und wieder ein wenig lächeln, wenn sie sich das vorstellte. „Ja-sowas steht ihm mit Mia-Sophie vermutlich auch noch bevor. Tim hat zwar auch manchmal komische Einfälle, aber ich glaube, da sind Mädchen noch ein wenig einfallsreicher!“ setzte sie jetzt, ohne nach zu denken einfach voraus, dass Ben wieder im Kreise ihrer Familie leben würde und nun war Semir zufrieden, der außerdem bemerkte, dass die Augenlider seines Freundes zu flattern begannen.

    Darauf wurde nun auch Sarah aufmerksam und langsam begann sie wieder normal zu denken und vor allem professionell zu agieren. Sie nahm ganz fest die eine angebundene Hand ihres Mannes in die ihre und Semir machte dasselbe auf der anderen Seite. Eine Weile sprachen sie noch über Belanglosigkeiten, aber dann sagte Sarah ruhig, aber im Befehlston zu ihm: „Ben mach doch bitte mal die Augen auf!“ und nun runzelte der junge Polizist seine Stirn und obwohl anscheinend eine zentnerschwere Last auf seinen Lidern ruhte, gelang es ihm, sie zu öffnen und mit müdem Blick die Gesichter, die sich zu ihm beugten, wahr zu nehmen. Sein Herzschlag hatte sich nur ein wenig beschleunigt und bald fielen ihm die Augen von der Macht der Sedierungsmittel wieder zu, aber nun plumpste Sarah regelrecht ein Stein vom Herzen und als die Schwester wenig später ins Zimmer trat, sagte sie: „Er kann einfache Aufforderungen befolgen!“ und nun lächelte auch die Pflegekraft und stellte das Propofol jetzt ganz aus. Allerdings ließ sie das starke Opiat, das auch eine sedierende Wirkung hatte, noch weiter laufen und so wurde Ben zwar allmählich immer wacher, hatte aber keine Schmerzen und schwebte irgendwie immer noch auf Wolke sieben.

    Als der Arzt eine halbe Stunde später kam und ihn aufforderte, seine Hand zu drücken, konnte er auch das ausführen und jetzt schaltete der Doktor selber den Sufentaperfusor ebenfalls noch aus. „Er bekommt aber sofort ein Gramm Paracetamol als Kurzinfusion gegen die Schmerzen und wir geben noch Metamizol in die Infusion“, ordnete er an und sagte dann noch klar und deutlich zu seinem Patienten: „Herr Jäger, wir mussten bei ihnen einen Luftröhrenschnitt durchführen, sie haben eine Kanüle im Hals und es wird momentan schwierig sein zu sprechen, regen sie sich deswegen nicht auf!“, erklärte er und wenig später sah Ben die Menschen um sein Bett mit klaren Augen an. Er fixierte Sarah, verzog die Mundwinkel zu einem leisen Lächeln und bewegte die Lippen, aber da kam nichts raus-er war so froh sie zu sehen und nicht tot zu sein, an die Lähmung wollte er gerade nicht denken. Sarah erwiderte sein Lächeln und gab ihm einen liebevollen Kuss auf die Stirn, jetzt glaubte auch sie endlich, dass Ben ohne Hirnschaden überlebt hatte.
    Kurz darauf wurde er gebettet und als man seine Hände aus den fast unzerreißbaren Handfixierungen löste, passte Semir auf wie ein Schießhund, damit sein Freund nicht erneut einen Blödsinn anstellte, aber diesmal fasste er nicht nach oben, sondern ließ sich willig drehen, eincremen und lagern. Dann allerdings war er so erschöpft, dass er fast sofort einschlief und jetzt trauten sich Sarah und Semir doch abwechselnd einmal das Zimmer zu verlassen, um zur Toilette zu gehen und eine Kleinigkeit zu essen, immerhin war es inzwischen schon Mittagszeit.


    Am Nachmittag kam zunächst der HNO-Arzt zu Ben, der ihn mit dem Bett in Sitzposition brachte, das Tracheostoma gründlich abtastete, ihn bat, den Mund weit auf zu machen und ihm dann erst nur in den Hals leuchtete und dann mit einer Mullkompresse geschickt seine Zunge fasste und herauszog, um den Kehlkopf zu begutachten. Ben würgte zwar, ließ die Untersuchung aber widerstandslos über sich ergehen und der Arzt sagte dann, während er die Handschuhe auszog und seine Hände am Wandspender desinfizierte: „Leider sind der ganze Rachen und auch der Kehlkopf sehr verschwollen, die Trachealkanüle muss also unbedingt noch liegen bleiben, sonst hätten sie massive Atemnot, Herr Jäger!“ erklärte er und Ben nickte. Er hatte inzwischen erfasst, wie man ihn gerettet hatte und einerseits war es blöd nicht sprechen zu können, aber andererseits war er ganz froh, dass er Sarah jetzt nicht Rede und Antwort stehen musste, denn inzwischen hatte er ihr gegenüber ein furchtbar schlechtes Gewissen. Während Semir ziemlich normal wirkte, war Sarah nur ein Schatten ihrer selbst, mit tiefen dunklen Augenringen, die bei jedem Geräusch zusammen zuckte. Was hatte er ihr mit seiner blödsinnigen Aktion nur angetan? Vorsichtshalber ließ man seine Hände auch weiterhin in den Schlaufen-wenn eine Trachealkanüle längere Zeit lag, war es nicht mehr so schlimm, wenn sie heraus rutschte oder gezogen wurde, dann war das Loch in der Luftröhre weit genug, dass man zumindest eine dünnere wieder hinein bekam, aber bei Ben würde das schwierig werden und deshalb ließ man ihn fixiert, so schlimm es vielleicht auch für ihn war, aber immerhin hatte er schon einmal gezeigt, wozu er fähig war und bevor der Psychiater nicht grünes Licht gab und ihm keine Selbstmordgefährdung mehr attestierte, würde er angebunden bleiben. Damit das psychiatrische Gutachten stattfinden konnte, musste Ben aber sprechen können, denn das war ausschlaggebend für die Meinungsbildung und so würde das wohl noch eine Weile dauern.


    Semir hatte während einer kurzen Kaffeepause Andrea angerufen, dass Ben aufgewacht war, anscheinend keinen Hirnschaden hatte und sie das doch bitte den anderen auch mitteilen sollte, und die atmete voller Erleichterung auf. Sie verständigte auch Hildegard, denn irgendwie war Sarah heute zu gar nichts mehr in der Lage und Hartmut, der bei einem Abstecher in die PASt von Susanne die gute Nachricht erhielt, stieß mit ihr mit einer Dose Cola auf Ben´s Genesung an.


    Als Semir nun frohgemut auf die Intensiv zurück kehrte, wunderte er sich über den Menschenauflauf in Ben´s Zimmer. Als er neugierig näher trat, fiel ihm eine völlig fertige Sarah in die Arme, der sofort die Knie nachgaben: „Semir-er krampft!“ flüsterte sie noch schwach, bevor sie das Bewusstsein verlor.

  • Sarah war neben Ben´s Bett gesessen und hatte ihn angelächelt, als sein Blick plötzlich starr wurde und sie sofort wusste, dass jetzt gleich irgendetwas passieren würde. Da ging es auch schon los: Erst verkrampfte sich seine Kiefermuskulatur er biss sich auf die Zunge, die sofort massiv zu bluten anfing und dann begannen tonisch-klonische Krämpfe und Zuckungen seinen Körper zu schütteln. Sein Rücken bog sich durch und Sarah wollte schreien: „Nein, bitte nicht, der ist doch frisch operiert!“ aber Ben hatte ja keinerlei Kontrolle über seinen Körper mehr, seine Augen verdrehten sich nach oben, so dass man nur noch das Weiße sah und der Monitor und das Beatmungsgerät gaben schrille Alarmtöne von sich, die sofort die Kollegen und den Stationsarzt auf den Plan riefen, die in den Patientenzimmern, am Stationsarbeitsplatz und sogar im Aufenthaltsraum eine Anzeige auf den Kontrollmonitor bekamen.

    Sarah wusste eigentlich aus ihrer Berufserfahrung, dass sie jetzt gar nichts machen konnte und sollte, sondern die Abläufe des Anfalls ihre Eigendynamik hatten, die nur mit starken Medikamenten zu bekämpfen waren, oder aber auch von selber aufhören würden. Aber es war eben ein Riesenunterschied, ob da irgendein beliebiger fremder Patient krampfte, oder der Mann den man liebte und vor allem meldete sich in ihrem Kopf sofort die warnende Stimme, die wieder und wieder: „Hirnschaden, er hat sicher doch einen Hirnschaden!“, flüsterte.
    „Ich bringe schon das Diazepam!“, rief eine Schwester, die nach einem kurzen Blick zur Tür herein, sofort die eindeutige Diagnose gestellt hatte und der Stationsarzt nickte, stellte sich neben das Bett und machte eigentlich nichts weiter, als den Krampfanfall zu beobachten, um später dem Neurologen möglichst genau schildern zu können, um was für eine Art Anfall es sich gehandelt hatte. Man unterschied nämlich fokale Krampfanfälle, Absencen, tonische und klonische Krämpfe, wobei die Übergänge oft fließend waren, aber hier handelte es sich eindeutig um einen klassischen Grand-Mal-Anfall. Er hütete sich auch davor, irgendwas an Ben´s Mund zu manipulieren-früher hatte man nämlich sogar in der Erste-Hilfe-Kursen propagiert, den Patienten einen Beisskeil in den Mund zu schieben, aber davon war man abgekommen, denn ein Zungenbiss geschah meist gleich zu Anfang des Anfalls und war dann sowieso nicht mehr zu vermeiden und es hatte Fälle gegeben, wo wohlmeinende Helfer ein Fingerglied verloren hatten, oder es zu schweren Aspirationen gekommen war, weil ungeeignete Hilfsmittel von den Ersthelfern gewählt worden waren und die Patienten die dann eingeatmet hatten. Ben war durch die Tracheotomie ja vor einer Aspiration geschützt und ob man die Zunge nähen musste, würde man später nachschauen.


    Eine zweite Schwester war ins Zimmer geeilt, hatte das Bettgitter ganz hoch gemacht, damit Ben nicht heraus purzeln konnte und wenn er nicht durch die starken Handfixierungen fest gehalten worden wäre, hätte das durchaus geschehen können, so hoch warf es ihn im Bett. „Jetzt wird sich herausstellen, ob er gut operiert ist-nur gut, dass die Cages schon sitzen!“ meinte die Schwester, die inzwischen mit den 10mg Diazepam herbei geeilt war und das Medikament sofort in den ZVK spritzte. Langsam wurden die Krämpfe besser, der Arzt stellte den Sauerstoffgehalt der Beatmungsmaschine höher, denn aktuell war die Sättigung ziemlich abgesunken, aber Ben erholte sich schnell wieder und auch die leicht bläuliche Verfärbung der Gesichtshaut verschwand und wich einem zarten Rosaton, womit der Arzt und die Pflegekräfte zufrieden waren.

    Niemand hatte auf Sarah geachtet, die schreckensbleich zur Zimmertür zurück gewichen war und gerade alles, nur nicht Krankenschwester war, sondern ein geschockter, besorgter Angehöriger, wie jeder andere. Gut dass in diesem Augenblick Semir zur Tür herein kam und sie auffing, sonst wäre sie vermutlich mit voller Wucht auf den Boden geknallt, aber so stand Semir jetzt ebenfalls geschockt und hilflos da und hielt die ohnmächtige Sarah in seinen Armen. Erst als sie sich umdrehte, erfasste die Pflegekraft, dass Sarah kollabiert war und rief: „Ach du liebe Güte-Sarah, was machst du denn für Sachen!“, und warf sofort einen Deckenbezug aus dem Wäschewagen auf den Boden. „Legen sie sie hin!“ befahl sie Semir und nun hob man die Beine der jungen Frau, die genauso weiß wie das Laken war, nach oben, damit in ihrem Kopf wieder Blut ankam. Man maß den Blutdruck Sarah´s, die aber ziemlich schnell wieder zu sich kam und sie bekam jetzt die strenge Anordnung des Stationsarztes, sich sofort in ihr Bett auf der Station zu legen, sich aus zu ruhen und viel zu trinken. „Wenn du das nicht machst, Sarah, dann kriegst du wieder eine Infusion und ein Beruhigungsmittel gespritzt, du kannst hier und jetzt sowieso nichts machen!“ sagte die Pflegekraft und holte auch schon einen Rollstuhl.


    „Aber, aber ich muss doch bei Ben bleiben!“, flüsterte Sarah, doch der Stationsarzt schüttelte den Kopf. „Den haben wir gerade mit Benzos wieder schlafen gelegt. Er wird auch nach diesem Anfall eine ganze Weile komplett weg sein, was ja nicht ungewöhnlich ist. Ich rufe gleich den Neurologen an, der ist heute im Haus, er soll ein EEG machen und vielleicht veranlassen wir auch noch eine Bildgebung. Ich denke eigentlich nicht, dass da was herauskommt, aber sicher ist sicher. MRT können wir wegen des Metalls im Rücken keines machen, aber so ein CCT wäre vielleicht sinnvoll. Wir können jetzt nur abwarten, ob sich der Anfall wiederholt, oder ein einmaliges Ereignis bleibt. Momentan denke ich noch nicht über den Einsatz von Antikonvulsiva nach, das können wir gemeinsam mit dem Neurologen immer noch entscheiden. Nach einem solchen Ereignis mit einer temporären Mangelversorgung des Gehirns sind immer Anfälle möglich, das sollten sie eigentlich als Intensivschwester wissen, Frau Jäger, aber genaue Vorhersagen können wir erst treffen, wenn wir mit ihrem Mann normal kommunizieren können und ansonsten heißt es abwarten“, erklärte er und so begann für Semir und Sarah, die sich dann von ihrem Freund auf die Station bringen ließ und auch brav ins Bett legte, wieder ein banges Warten, was die Zukunft so bringen würde.

  • Ben war durch das Valium eine Weile völlig ausgeknockt, außerdem war so ein Krampfanfall auch körperlich sehr anstrengend, weil es ja für die Muskeln schwere Arbeit bedeutete, sich zu verkrampfen. Man sah in seinen Mund, aber der Zungenbiss hatte inzwischen zu bluten aufgehört und musste auch nicht genäht werden, allerdings würde ihm das ganz schön weh tun, wenn er wieder erwachte. Der Neurologe kam, machte ein EEG und stellte anhand der Hirnströme zweifelsfrei fest, dass es ein Krampfanfall gewesen war, was der Stationsarzt ihm auch bestätigte und zudem die Art der Krämpfe schilderte, ohne dass der Facharzt sich wegen der Prognose festlegte. „Ich würde auch ein CCT vorschlagen, damit wir nicht zum Beispiel eine Blutung oder eine Ischämie übersehen. Falls die Entzündungswerte hoch gehen sollten oder sich das Ereignis wiederholt, schlage ich auch eine Lumbalpunktion vor, nicht dass die Ursache in einer Entzündung der Hirnhäute liegt, allerdings glaube ich das ehrlich gesagt nicht und das Antibiotikum, das er gegen den pulmonalen Infekt bekommt, müsste ihn eigentlich dagegen schützen. Jetzt hoffen wir einfach, dass es ein einmaliges Ereignis infolge des stattgehabten Sauerstoffmangels war und er keine weiteren neurologischen und intellektuellen Ausfälle durch die Strangulation hat!“, erklärte er, während er nochmals Ben´s ganzen Körper untersuchte und die unwillkürlichen Reflexe auslöste. „Übrigens kommt da schon mehr als bei meiner letzten Untersuchung, ich würde frühzeitig mit basaler Stimulation beginnen, da haben wir doch einige Physios im Haus, die das sehr gut machen. Ich weiss, dass die Wirbelsäulenchirurgen immer Angst davor haben, dass ihre Patienten zu früh zu viel bewegt werden, aber gerade die kleinen Reize sind in dieser Phase wichtig!“ dozierte er und der Stationsarzt nickte zustimmend mit dem Kopf-er würde nachher gleich eine Anforderung im PC eingeben. „Mit Antikonvulsiva würde ich warten und nur falls sich das Krampfereignis wiederholt, stellen wir ihn mit Keppra ein-ich würde dann zweimal täglich ein Gramm aktuell als Kurzinfusion geben und später oral, aber wie gesagt-zuwarten ist jetzt zunächst einmal angesagt!“ fügte der Neurologe noch an und verabschiedete sich dann, um seinen nächsten Patienten, der einen Schlaganfall erlitten hatte und wenige Zimmer weiter auf der Stroke Unit-Abteilung lag, zu besuchen.


    Semir, der zwar zunächst ein wenig bei Sarah geblieben war, den es dann aber wieder zurück zu seinem Freund getrieben hatte, was die vollste Zustimmung seiner Freundin fand, hatte aus der Zimmerecke beobachtet, was der Neurologe mit seinem Partner machte. Er hatte gesehen, wie der Arzt dessen Kopfhaut an mehreren Stellen befeuchtete und sogar einige wenige Haare abrasierte, damit er die EEG-Elektroden anbringen konnte. Das würde allerdings bei Ben´s vielen Haaren später überhaupt nicht auffallen und war aktuell das kleinste Problem. Gebannt lauschte er den Worten der beiden Ärzte, aber auch ihm entging es nicht, dass der Neurologe erstens die Sache mit dem Krampfanfall ziemlich unaufgeregt bewertete und dann auch eine Besserung der Lähmungen feststellte. Allerdings verstand er auch, dass sich im Moment niemand an eine Prognose wagte-man würde also trotzdem warten müssen, bis Ben wach war und wieder sprechen konnte, bevor man überhaupt beurteilen konnte, ob er ganz der Alte sein würde. Mit Schaudern erinnerte er sich an einen ehemaligen Kollegen, der bei einem Autounfall schwere Kopfverletzungen erlitten hatte. Der hatte zwar überlebt, war aber seitdem auf dem intellektuellen Stand eines Kleinkinds, musste gewindelt werden und konnte zwar laufen und essen, aber ansonsten war von der Person, die er einmal gewesen war, nicht mehr viel übrig-er wollte jetzt nicht daran denken, dass Ben so etwas auch blühen konnte!


    Der Stationsarzt hatte auch noch die Wirbelsäulenchirurgen angerufen und der Professor persönlich sah mit ernstem Gesicht vorbei. „Das ist jetzt nicht schön mit dem Krampfanfall, aber wir müssen Geduld haben. Wenn ihr sowieso schon mit ihm ins CT fahrt, würde ich vorschlagen, ihr schaut am Rückweg noch in der Röntgenabteilung vorbei und macht vorsichtshalber noch ein paar Aufnahmen der Wirbelsäule in zwei Ebenen, damit wir beurteilen können, ob da irgendwo Metall durch die Streckkrämpfe ausgerissen ist“, war seine Anordnung und während jetzt die Schwester den Transport vorbereitete, machte der Stationsarzt die Termine fest. Semir sah währenddessen noch kurz bei Sarah vorbei, die inzwischen Corinna hatte anrufen lassen, die auch sofort an ihre Seite geeilt war und sie tröstete und nicht alleine ließ. „Der Neurologe war da, er sieht die Sache nicht so dramatisch, Ben kriegt jetzt noch ein paar Untersuchungen, wo ich nicht mit kann, aber danach darf ich wieder zu ihm“, berichtete Semir und Sarah nickte. „Sobald mein Kreislauf mitspielt, komme ich auch nach, aber aktuell bin ich noch so wacklig-wenn mich Corinna nicht gerade auf die Toilette begleitet hätte, wäre ich gleich wieder umgefallen!“ erzählte Sarah und Semir griff nach ihrer Hand: „Sarah-ich bin da und bleibe auch bei Ben. Ich habe letzte Nacht im Gegensatz zu dir ausgeschlafen, ich denke das Ganze war jetzt einfach ein bisschen zu viel für dich. Ruh dich aus und wenn Ben wieder wach ist, hat er viel mehr von deinem Besuch“, sagte er und Sarah fügte noch leise hinzu: „Ja wenn er wieder wach wird!“


    Als die Untersuchungen beendet waren und Ben nach dem Intensivtransport quer durchs Haus und zweimaligem Umlagern, erst auf den CT-Tisch und dann noch auf den Röntgentisch, wieder zurück im Zimmer war, gab der Stationsarzt erst einmal Entwarnung. „Der Radiologe konnte in seinem Gehirn keine Auffälligkeiten feststellen-gut, man hätte jetzt auch nur eine Blutung, eine Hirnschwellung oder eine alte Ischämie gesehen, manche frische Defekte kann man nur im MRT erkennen, aber das geht leider im Augenblick wegen der Gefahr der Metalllockerung durch den Magneten nicht. Wir gehen jetzt aber davon aus, dass der Krampfanfall zwar durch den Sauerstoffmangel verursacht war, aber keine massiven Schäden vorliegen. Diesbezüglich können wir nur abwarten. Das Metall ist Gott sei Dank auch an Ort und Stelle-sowohl der Radiologe als auch der Professor haben sich die Bilder angesehen, ich gebe jetzt mal vorsichtige Entwarnung!“, teilte er Semir mit, der nun ans Bett seines Freundes trat und sanft seine Hand in die Seinige nahm. „Ben-reiß dich zusammen und werde einfach wieder ganz gesund!“ bat er ihn und merkte dann, wie Ben ganz schwach versuchte seinen Händedruck zu erwidern.

  • Ben war dagelegen und hatte die Gegenwart seiner Frau genossen, die an seinem Bett saß. Manchmal war es ganz gut, wenn man nicht sprechen konnte und sich deshalb auch nicht rechtfertigen musste! Er wollte ihr eigentlich dringend sagen, dass ihm schon exakt in dem Moment, als sich die Schlinge um seinen Hals zugezogen hatte, klar geworden war, dass er leben wollte und auch alles tun würde, um wieder so selbstständig wie möglich zu werden, aber trotzdem blieb das schlechte Gewissen, was er ihr angetan hatte. Aus den Gesprächen hatte er entnommen, dass Sarah ihn gefunden und dann gemeinsam mit dem Personal sein Leben gerettet hatte-er hätte ihr diese ganze Aufregung aber ersparen können, war sie durch ihre eigene Entführung und die Rettung in letzter Sekunde doch sowieso schon angeschlagen! Aber so musste er einfach warten, bis es ihm möglich war, sich zu verständigen. Dann überkam ihn plötzlich ein merkwürdiges Gefühl, er sah Lichtblitze und kniff die Augen zu, um ihnen zu entgehen, aber da wurden sie nur noch mehr. Voller Entsetzen merkte er, wie seine Muskeln sich kontrahierten und dann wusste er nichts mehr.


    Irgendwann kam er langsam zu sich, er war furchtbar müde, sein Körper war schwer wie Blei und seine Gedanken schwappten träge in seinem Kopf. Dann spürte er, dass er sich anscheinend auf seine Zunge gebissen hatte-aua, tat das aber weh-und er hatte Muskelkater irgendwie am ganzen Körper. Er merkte, wie er herum gehoben und geschoben wurde-anscheinend war er in der Röntgenabteilung, aber ihm war einfach alles egal und so schloss er seine Augen erneut und ließ die Ärzte und Pfleger machen. Schon wieder fehlten ihm ein paar Stunden seiner Erinnerung und das war irgendwie beängstigend, aber die Müdigkeit ließ nicht zu, dass er sich größere Gedanken machte, darum schlief er einfach weiter. Dann hörte er Stimmen-aha anscheinend erstattete der Arzt gerade Sarah und Semir Bericht über seinen Gesundheitszustand und er versuchte, genau zuzuhören, was aber sehr schwierig war, denn irgendwie fehlte ihm der Zusammenhang. Dann aber hörte er die Schlagworte Krampfanfall, Gehirn und nun war ihm plötzlich klar, warum seine Zunge so schmerzte-er hatte anscheinend gekrampft und sich da drauf gebissen. Wenn er nur nicht so müde wäre-er musste seinen Angehörigen doch wissen lassen, dass er noch da war und sein Kopf auch funktionierte! Dann wurde es still im Zimmer und plötzlich fühlte Ben eine vertraute Berührung an seiner Hand, die immer noch angebunden war, wie er konstatierte. Semir sprach mit ihm und beschwor ihn wieder gesund zu werden und zum Zeichen, dass er ihn verstanden hatte, mobilisierte Ben alle Kraft und erwiderte den Händedruck, bevor er sich wieder seiner übergroßen Müdigkeit hin gab.


    Als er das nächste Mal wach wurde, fühlte er sich schon besser und war auch munterer. Er öffnete die Augen und Semir, der ihn anscheinend gerade besorgt gemustert hatte, blickte ihn überrascht an, weil er ihn gleich fixierte. Dann wanderte Ben´s Blick suchend im Zimmer herum und seine Lippen formten eine tonlose Frage, die Semir aber sofort verstand: „Wo ist Sarah?“, sollte das heißen und er gab seinem Freund die ehrliche Antwort: „Ben-die liegt auf der Station in ihrem Bett und muss sich ein wenig ausruhen-das Ganze war wohl ein bisschen zu viel für sie, aber mach dir keine Sorgen, ihr fehlt nichts Ernstes und wenn ihr Kreislauf wieder mitspielt, wird sie dich sicher bald besuchen kommen!“, teilte er ihm mit und innerlich jubelte er-Ben war wieder da und reagierte nicht nur gezielt, nein er konnte sich sogar verständlich machen!
    Wenig später wurde Ben von den Pflegekräften frisch gelagert, abgesaugt und Blutgase angefertigt und Semir nutzte die Gunst der Stunde, um zu Sarah zu eilen, die immer noch blass war, jetzt aber ziemlich viel getrunken hatte, unter anderem auch Cola, das ihr Corinna besorgt hatte und deren Kreislauf sich allmählich beruhigte. „Sarah-Ben ist wach und hat nach dir gefragt!“ sprudelte er regelrecht heraus und jetzt hielt Sarah nichts mehr in ihrem Bett. Sie bedankte sich bei Corinna, die ihr den ganzen Nachmittag zur Seite gestanden hatte und darüber selber sehr froh war-so hatte sie wenigstens das Gefühl, sich wegen ihres Fehlers ein bisschen revanchieren zu können. Sie hatten gemeinsam Hildegard angerufen und erfahren, dass es den Kindern und Lucky gut ging, allerdings fiel ihre Kinderfrau aus allen Wolken, hatte sie doch erst kurz zuvor einen Anruf erhalten, dass Ben über dem Berg war und jetzt war schon wieder alles anders mit dem Papa der ihr anvertrauten Kinder! Die Sorgen hörten einfach nicht auf und auch sie litt mit Sarah, die ihr sehr nahe stand, ziemlich mit. Sarah schickte ihre Cousine nun nach Hause, schlüpfte aus ihren Leggins und in die Jeans und machte sich im Badezimmer noch ein wenig frisch. Dann ging sie mit neuem Elan auf die Intensivstation und wurde von ihren Kollegen dort mit einem freundlichen: „Na geht’s wieder?“, begrüßt, was sie mit einem Nicken beantwortete. Wenig später neigte sie sich über Ben und küsste ihn und obwohl er noch ziemlich geplättet war, roch er ihren Duft-Corinna hatte Sarah gut ausgestattet und ihr wohlriechendes Deo und neben Kleidung auch Schminksachen gebracht-und dann zog ein Lächeln über sein Gesicht. Seine Lippen formten ein paar Worte und Sarah konnte sofort verstehen, was er sagen wollte: „Ich liebe dich!“, und plötzlich war sie sich ganz sicher-alles würde gut werden!

  • Als die Nacht herein brach, befahl Semir, dass Sarah sich in ihrem Zimmer ins Bett legen sollte und schlafen. Er würde bei Ben bleiben und Sarah, die nicht schon wieder umfallen und allen Sorgen machen wollte, fügte sich. Die Nachtschwester brachte dann den bequemen Mobilisationsstuhl mit Kopfkissen und Decke für Semir und so schlief der neben seinem Freund und es wurde eine ruhige Nacht ohne irgendwelche besondere Vorkommnisse. Die Schwester hatte den Monitorbildschirm auf Privatmodus gestellt, was bedeutete, dass der im Zimmer dunkel war, aber man draußen an der Stationszentrale und von jedem anderen Monitor aus die Werte einsehen konnte. Sie wechselte noch die Infusionen und Perfusoren, so dass in nächster Zeit nichts leer werden und piepen würde und dann schloss sie die Schiebtür. Einmal in der Nacht kam sie leise herein, saugte Ben ab und bettete ihn mit Semir´s Hilfe, aber dann schliefen die beiden Freunde Seite an Seite wieder ein und auch der Krampfanfall wiederholte sich nicht.


    Am Morgen lief die Morgenroutine an und wenig später kam auch schon Sarah, die gut geschlafen, bereits ihr Frühstück vertilgt hatte und wieder auf dem Damm war. Sie half ihren Mann zu waschen und jetzt war er so wach und fit, dass die Schwester der Frühschicht beschloss, ihn nicht mehr zu fixieren, denn er reagierte völlig adäquat. Sie nahm auch die Beatmungsmaschine, an der Ben schon völlig ohne Unterstützung in einem Spontanatemmodus geatmet hatte, weg und setzte nur ein sogenanntes T-Stück-einen Plastikaufsatz mit auswechselbarem Filter- auf die Trachealkanüle auf und gab ihm minimal Sauerstoff darüber. Bei der Visite waren alle sehr zufrieden, der Viszeralchirurg ordnete noch die Entfernung der letzten Easyflowdrainage aus der Bauchwunde an, was die Schwester umgehend erledigte und Ben einen Moment das Gesicht vor dem kurzen Schmerz verziehen ließ, aber dann wurde ein dicker Verband darauf gemacht und man ließ den Patienten mit seinen beiden Betreuern wieder alleine. Semir hatte sich ebenfalls kurz frisch gemacht und in der Cafeteria gefrühstückt.


    „Nachher soll der HNO-Arzt nochmals in ihren Hals schauen, vielleicht können wir es heute wagen, die Kanüle zu entfernen!“, informierte ihn der Stationsarzt und tatsächlich-als wenig später der Facharzt in Ben´s Hals sah, nickte er zufrieden mit dem Kopf. Heute hütete er sich allerdings, die Zunge zu packen und heraus zu ziehen, sonst wäre Ben ihm vermutlich vor Schmerz an die Gurgel gegangen, denn er war durch den Zungenbiss übel verletzt „Das sieht gut aus im Rachen, Herr Jäger, wir geben ihnen noch ein wenig Cortison zur Abschwellung und eine halbe Stunde später werden sie ihr lästiges Anhängsel dann los!“, sagte er und wenig später spritzte die Intensivpflegekraft ihrem Patienten 250mg Prednisolon in den ZVK. Eine halbe Stunde später fuhr man den Notfallwagen ins Zimmer-der würde im Stand-By bleiben, bis Ben sicher gut Luft bekam-und dann schickte man Sarah und Semir kurz vor die Tür. Falls es nicht klappte und man Ben reintubieren musste, würde das eine blutige unschöne Sache werden, denn man fuhr in diesem Fall mit einem Spreizer in das Loch im Hals und stopfte regelrecht mit Gewalt eine dünnere Kanüle hinein und das war nicht schön anzusehen. Wenn Patienten längere Zeit tracheotomiert waren, wuchs ein dünnes Häutchen um die Wunde und kleidete das Tracheostoma aus. Dann war es problemlos möglich die Kanüle einfach so zu wechseln, aber bei Ben waren es gerade mal zweieinhalb Tage, da war das einfach eine frische Wunde am Hals.

    Man saugte Ben ein letztes Mal ab, was ihn heftig zum Husten brachte, drehte den Sauerstoff für ein paar Minuten hoch, damit er gut aufgesättigt war und als der Stationsarzt das Kommando gab, entblockte die Schwester die Kanüle und der Arzt zog sie nun einfach mit derselben Drehbewegung, mit der er sie eingeführt hatte, heraus. Sofort wischte die Schwester den Hals mit einer trockenen sterilen Kompresse ab und klebte dann einen wasserdichten Hydrofilm darüber. Plötzlich ging die Luft wieder auf dem normalen Weg über Nase und Mund und Ben, der voller Angst die ganzen Manipulationen über sich hatte ergehen lassen, holte tief Luft. Man stülpte ihm noch eine Ohiomaske übers Gesicht und führte ihm kurzzeitig Sauerstoff in einer höheren Dosierung zu, aber das war gar nicht nötig, denn Ben bekam problemlos Luft, er hatte nur noch ein gewisses Kloßgefühl und natürlich Schmerzen am Hals. Allerdings tat das nicht so weh wie seine wunde Zunge-das war aktuell der Hauptschmerz, obwohl er ja durchaus ziemlich hoch dosiert Schmerzmittel bekam. „Na das hat ja wunderbar geklappt!“ freute sich der Stationsarzt und drehte den Sauerstoff auch schon runter. „Bitte mach mir doch in ein paar Minuten noch ein Blutgas!“, bat er die Schwester und zu Ben gewandt, sagte er: „Wenn sie auch nur irgendwie das Gefühl haben, sie bekommen schlecht Luft, oder ihr Hals schwillt zu, sagen sie bitte sofort Bescheid!“ und der krächzte nun: „Mach ich!“, was ein Lächeln auf dem Gesicht des Arztes erscheinen ließ. Na da war ihre nächtliche Aktion in seinem letzten Dienst ja sehr erfolgreich gewesen und wieder einmal hatten sie ein Leben gerettet. Außerdem wirkte der Patient überhaupt nicht mehr suizidal, aber trotzdem würde er jetzt den Psychiater verständigen, der ein längeres Gespräch mit ihm führen würde.


    Sarah und Semir waren wie zwei Tiger auf dem Flur vor der Intensivstation auf und abgelaufen. Einerseits verstanden sie ja warum-vor allem Sarah, die ja wusste, was bei einer Dekanülierung alles passieren konnte und warum man sie raus geschickt hatte- aber dennoch war es einfach schwer, Ben jetzt im Stich zu lassen. Beiden fiel ein Stein vom Herzen, als man sie etwa 15 Minuten später wieder herein holte und der Patient ganz zufrieden mit einer guten Sättigung und ohne Kanüle im Bett lag und das Ganze anscheinend gut überstanden hatte. „Schatz-wie wunderbar, ich liebe dich!“, flüsterte Sarah gerührt und nach einem kurzen Räuspern, denn ein wenig komisch war es schon noch und außerdem sprach es sich schwer mit einer wunden Zunge im Mund, antwortete Ben: „Ich liebe dich auch-und sorry, dass ich euch so viel Kummer gemacht habe!“ , und daraufhin schloss er die Augen und ruhte sich, mit Argusaugen bewacht von seinen beiden engsten Vertrauten, noch ein wenig aus.

  • Es dauerte nicht sehr lange, dann kam ein großer, kräftiger, sehr sympathisch wirkender Physiotherapeut zu Ben: „Herr Jäger, ich würde sie gerne passiv erst ein wenig durch bewegen und dabei auch versuchen, ihre beschädigten Nervenbahnen zu stimulieren. Ist das in Ordnung für sie?“ fragte er und bat dann Sarah und Semir: „Ich habe gehört, dass sie vom Fach sind, bzw. ein enger Freund, aber ich würde sie bitten, uns etwa 30 Minuten alleine zu lassen-zur Befunderhebung und damit mein Patient und ich uns kennen lernen können. Danach würde ich ihnen auch Übungen zeigen, die sie gemeinsam mit ihm machen können!“ bat er und nach einem kurzen Seitenblick auf Ben, der aber nickte, erhoben sich Sarah und Semir. „Wir gehen auf einen Kaffee in die Cafeteria-bis dann!“ sagte Sarah mit einem Lächeln und dann verließen sie und der kleine Türke das Zimmer. „Herr Jäger-ich habe schon gehört, was sie alles hinter sich haben und dass es für sie so schlimm war, dass sie keinen Ausweg mehr gesehen haben. Ich würde ihnen jetzt gerne dabei helfen körperlich wieder fit zu werden und das wird in den nächsten Wochen und Monaten für sie zwar viel Arbeit bedeuten, aber ich kann ihnen versprechen dass es sich lohnen wird, sich darauf einzulassen. Der Körper ist ein Wunderwerk der Regeneration und noch kann niemand sagen, wie ihre beschädigten Nervenbahnen heilen werden. Wir fangen hier langsam an und in der Reha wird das dann weiter geführt, darf ich sie aufdecken und mir ihren Körper ansehen?“, fragte er und Ben, dem der große Mann auf Anhieb sympathisch war, nickte. Der nahm erst die Decke beiseite, entfernte bis auf das kleine flache Kopfkissen alle Lagerungshilfen und zog Ben dann auch das Hemd aus, das er allerdings sorgfältig zusammen faltete und auf seinen Schambereich legte. Dann scannte er erst mit seinen Blicken den Patienten, nahm aber sofort seine großen warmen Hände dazu, deren Berührungen sehr angenehm waren. Er begann mit dem Kopf und bat Ben die Augen zu schließen. Vorsichtig und doch bestimmt, berührten die Hände den Kopf, die Stirn und die Kiefergelenke. Ben hatte durch den Schmerz im Mund unwillkürlich die Zähne fest aufeinander gebissen, aber als er jetzt gebeten wurde locker zu lassen und der Therapeut dabei nachdrücklich an den Kiefergelenken manipulierte, bemerkte er voller Erstaunen, wie der Schmerz weniger wurde. „Verspannung bedeutet Schmerz, Herr Jäger-ihre aktuelle Aufgabe, bevor man mit den großen Bewegungen anfangen kann ist jetzt, aktive Entspannungsübungen zu erlernen und bewusst Muskeln an- und entspannen und da fangen wir gleich mit der Kiefermuskulatur an“, erklärte er. Dann forschten die Hände weiter zum Nacken und auch dort zog der Mann sanft Ben´s Kopf nach oben, drückte hier, schob ein wenig da und schon fühlte der junge dunkelhaarige Polizist sich besser. Stück für Stück berührte der fremde Mann ihn, aber mit jeder Berührung und auch den sachlichen Erklärungen dazu wuchs Ben´s Vertrauen und erstaunt nahm er seinen Körper mit seinen ganzen Schmerzen und Verwundungen wieder wahr, den er irgendwie ausgeblendet hatte, als ob er nicht mehr zu ihm gehören wollte. Es waren ja tatsächlich Teile des Unterkörpers völlig sozusagen vom Netz, aber andere Nervenbahnen waren intakt und deren Verlauf ertastete der Physio, stellte die Grenzbereiche fest und fragte immer wieder: „Spüren sie das?“ und Ben fühlte in sich hinein und nickte entweder oder verneinte. Gerade die Innenseiten der Oberschenkel waren hoch sensibel und der große Mann mit den ebenfalls großen und doch so sanften Händen sagte: „Ich werde ihrer Frau nachher ein paar Übungen zeigen, denn sie kommen da durch die Operationswunde gerade nicht so gut ran, aber von da aus müssen wir arbeiten. Nerven haben Vernetzungen, es gehen Impulse durch den Rückenmarkskanal nach unten, so dass sie aktuell einen inkompletten Querschnitt haben, aber ich kann ihnen nur aus meiner langjährigen Erfahrung mit Traumapatienten sagen: Solange das Rückenmark nicht komplett durchtrennt ist, bestehen Chancen, ich kann natürlich keine Prognose abgeben, aber vielleicht können sie eines Tages doch wieder laufen, ich wünsche es ihnen!“ machte er Ben Hoffnung und der schöpfte gerade wieder neuen Mut.


    Nun kamen auch schon Semir und Sarah zurück und wie versprochen, zeigte der Krankengymnast ihr noch, was sie an Ben´s Beinen machen sollte. „Stimulieren sie mehrmals täglich mit sanftem Druck die Nerven, streichen sie, reiben sie-immer sanft, es soll nicht weh tun- die Hautareale, aber das Gehirn muss die Beine wieder wahr nehmen-und viele andere Dinge auch, aber das kommt später!“ sagte er und breitete dann die Decke wieder über Ben und zog ihm geschickt das Hemd an, ohne ihn dabei zu entblößen, obwohl sich Ben gerade vor Sarah und Semir ja nicht geniert hätte. Aber es zeugte von Achtung vor dem Schamgefühl seines Patienten und als der Physio sich jetzt verabschiedete und während er seine Hände desinfizierte versprach, morgen wieder zu kommen, sagte Ben: „Dankeschön-ich freu mich drauf!“ und nun ging der Mann mit einem leisen Lächeln.
    Als die Schwester wenig später ins Zimmer kam, sagte sie: „Und wie fühlen sie sich nach dem Besuch unseres Wunderheilers?“ und Ben sagte ohne nachzudenken: „Besser-viel besser!“ und es war wirklich eine Tatsache.


    Als allerdings nach einer kurzen Pause dann der Psychiater, der ihm auf den ersten Blick unsympathisch war, zu ihm kam, um das verlangte Konsil zu machen, wurde er ziemlich schnell wieder auf den Boden der Tatsachen zurück geholt. Sarah und Semir wurden kurzerhand hinaus geschmissen-nicht wie vorhin freundlich zum Gehen aufgefordert- und eine halbe Stunde lang musste Ben sich wegen seines erneuten Suizidversuchs rechtfertigen und hatte die allergrößte Mühe den Arzt davon zu überzeugen, dass er seine Tat nicht wiederholen wollte. Nach diesem Gespräch lag er völlig erschöpft und voller Schmerzen in seinen Kissen, die Schwester gab ihm vorsichtig einen Schluck stilles Wasser mit einem Trinkhalm zu trinken, denn inzwischen klebte Ben´s wunde Zunge am Gaumen und sie sagte mitfühlend: „Lassen sie es sich nicht so zu Herzen gehen, es gibt Menschen, die wollen anderen helfen und welche, die das nicht können-wir können uns leider nicht aussuchen, welcher Arzt aus der Psychiatrie zum Konsil geschickt wird, aber auf diesen hier könnten wir alle verzichten. Aber das Wichtigste ist-er hat auf den Konsiliarschein geschrieben, dass er bei ihnen keine akute Suizidgefahr mehr sieht und so können sie, sobald es ihnen körperlich ein wenig besser geht, heimatnah in eine Rehaklinik verlegt werden!“ stellte sie Ben in Aussicht und darüber war er jetzt sehr froh und schlief dann vor Erschöpfung schon, als Sarah und Semir, die draußen ein wenig spazieren gegangen waren, zu ihm zurück kamen.

  • Ben´s Genesung schritt zügig voran, am nächsten Tag bekam er schon milde Breikost zu essen, Semir übernachtete noch ein weiteres Mal bei ihm auf der Intensiv und weil der Hals nicht zu schwoll und Ben weiterhin außer Schmerzmitteln keine Medikamente mehr brauchte, wurde bei der Visite entschieden, dass er am Nachmittag-inzwischen war es Freitag geworden-auf die Normalstation verlegt werden konnte. „Wenn keine weiteren Komplikationen eintreten und sie auch nicht mehr auf die Idee kommen Blödsinn zu machen“, sagte der Professor mit vielsagendem Blick, woraufhin Ben verlegen weg sah, „können wir sie am Montag in die Rehaklinik zur Anschlussheilbehandlung verlegen. Ihre Frau hat ja bereits eine Klinik heraus gesucht, die nicht allzu weit vor den Toren Kölns liegt, so dass sie regelmäßig Besuch von ihren Angehörigen empfangen können. Die Einrichtung hat einen guten Ruf und es gibt auch Standards, die deutschlandweit in der Rehabilitation von Wirbelsäulenverletzten gleich sind, aber wenn nächste Woche ihre Schonzeit, die das Metall zum Einwachsen und das Gewebe zum Abschwellen gebraucht hat, vorbei ist, dann liegt es an ihnen, ihrer Motivation und ihrer Mitarbeit, wie fit sie letztendlich werden!“, bläute er ihm ein und der junge dunkelhaarige Polizist nickte. „Am Montagmorgen komme ich noch zur Abschlussuntersuchung zu ihnen auf die Station und dann werden meine Kollegen bei Köln die Weiterbehandlung übernehmen.
    Ich weiss, es ist eine ganz schöne Strecke, aber ich würde mich sehr freuen, wenn sie in einigen Monaten, wenn sie selber wieder fahren können, zu einem Zwischencheck zu mir kommen würden-rufen sie einfach zuvor an und vereinbaren einen Termin. Nächstes Jahr kann man dann vermutlich das Metall entfernen-bis auf die Cages, die bleiben drin, aber ich würde ihnen raten, dann ebenfalls hierher zu kommen-es ist bei uns Knochenflickern wie am Bau-prinzipiell machen wir es schon ziemlich ähnlich, aber wer weiss, wo die Leitungen verlegt sind, ist klar im Vorteil!“, sagte er augenzwinkernd und nun stellte Ben die für ihn alles entscheidende Frage: „Wie sieht es aus-denken sie, ich kann jemals wieder laufen?“ fragte er, aber da zuckte der Arzt mit den Schultern: „Ich bin nicht der Herrgott, auch wenn ich versuche einen guten Draht nach oben zu pflegen!“, sagte er schmunzelnd und bekreuzigte sich-man sah schon, dass man im katholischen Bayern war. „Aber ob und wie Nervenbahnen sich erholen ist eine Frage der Zeit, der Stimulation und letztendlich auch von Glück. Meine Kollegen und ich haben unser Möglichstes getan, auf jeden Fall haben sie keine komplette Querschnittlähmung, aber was da noch kommt, kann aktuell Keiner voraussehen. Vertrauen sie auf sich und ihre Kraft-ihre Familie und ihre Freunde werden sie mit Sicherheit unterstützen und glauben sie mir, egal was auch geschehen wird-das Leben ist zu wertvoll, um es einfach weg zu werfen-was denken sie, warum ich mir sonst oft die Nächte um die Ohren schlage, um jungen wie alten Unfallopfern eine Chance zu geben? Sie können wieder glücklich sein-egal ob etwas zurück bleibt oder nicht-nehmen sie ihr Schicksal an und machen sie das Beste draus-ihre entzückenden Kinder werden es ihnen danken!“, befahl er regelrecht nach einem Blick aufs Nachtkästchen, wo ein Foto stand auf dem ihre ganze Familie drauf war. Es war an der Hochzeitsfeier geschossen worden und Corinna hatte es vorbei gebracht-ein Bild aus glücklichen Tagen, Ben auf seinen zwei Beinen mit Tim auf dem Arm und Sarah mit der in die Kamera strahlenden Mia-Sophie in ihrem weißen Kleidchen. „Ich werde mir Mühe geben!“, flüsterte Ben nun und das kam wirklich von Herzen.


    Nach der Visite kam wieder der Physiotherapeut und behandelte Ben, heute eine ganze Stunde lang. Diesmal durften Sarah und Semir die komplette Zeit dabei bleiben und beobachteten fasziniert, wie die riesigen Hände des kräftigen Mannes Ben ganz sanft berührten. Wieder begann er am Kopf, mobilisierte die Kiefergelenke und zeigte Ben auch gleich ein paar Übungen wie die Zunge weit heraus strecken, um die zu entspannen. Man sah wie die langsam heilte, aber wund war sie immer noch. Der Halswirbelsäule widmete er sich ebenfalls sorgfältig. „Durch die Strangulation ist es dort mit Sicherheit auch zu kleinen Gewebeschäden gekommen, schlafen ihnen nicht die Arme manchmal ein?“ fragte er, während er ans Kopfende des Bettes trat und Ben regelrecht lang zog, was augenblicklich einen Teil seiner Schmerzen verschwinden ließ. Ben nickte: „Wenn ich meinen Kopf dann anders hinlege verschwindet das wieder“, gab er Bescheid und der Physio nickte. „Wir müssen eine Narbenbildung in den Weichteilen dort unbedingt verhindern, ich werde das in den physiotherapeutischen Verlegungsbericht extra reinschreiben, nicht dass sich die Kollegen in Köln auf die untere Körperhälfte fokussieren. Ich komme übrigens morgen nochmals zu ihnen, eigentlich habe ich das Wochenende frei, aber ich muss eh mit meiner Frau zum Einkaufen in die Stadt und behandle sie dann morgen nochmals eine Stunde, das habe ich mit meinem Chef schon ausgemacht. Bis Montag ohne Physiotherapie ist in ihrem Fall zu lange und wir wollen doch nichts versäumen!“ gab er Bescheid und Sarah wunderte sich, wie flexibel das Personal hier war. Sowas würde an der Uniklinik in Köln keiner machen, entweder man hatte Dienst oder frei. Allerdings fiel ihr dann wieder ein, dass die Physios dort generell am Wochenende auch eine Notbesatzung fürs Haus stellten, die dann wahrscheinlich die wichtigen Fälle sieben Tage die Woche versorgten.

    So sahen sie und Semir nun staunend zu, wie Ben von oben bis unten massiert, bewegt und stimuliert wurde und die manchmal doch auch kräftigen Berührungen und Manipulationen anscheinend schmerzfrei über sich ergehen ließ. Zum Schluss holte der große Mann noch eine Art stabilen, leicht aufgeblasenen Gummiballon heraus und legte den, indem er Ben, der nun eine Weile zur Rückenbehandlung auf dem Bauch gelegen hatte, darauf drehte, unter dessen Po. „Dort hinten kommt am Meisten, diese Nervenbahnen werden sich vollständig erholen, darum versuchen wir jetzt gleich die Piriformismuskeln, das sind diese ganz kleinen Muskeln, die zwischen den Wirbeln liegen, zu trainieren. Sie versuchen jetzt mit ganz kleinen Anspannungen diese Muskeln in Aktion zu setzen. Sehen sie-hier bekommen sie ein Manometer in die Hand, da haben sie die Eigenkontrolle. Wenn die Nadel ausschlägt haben sie es richtig gemacht!“, erklärte er und mit ein bisschen Übung schaffte Ben es tatsächlich seine Muskeln im unteren Rücken und am Gesäß so anzuspannen und zu entspannen, dass die Nadel ausschlug. „So-das machen sie jetzt noch zehn Minuten, dann Pause und heute über den Tag verteilt noch dreimal. Damit können sie auch am Wochenende alleine üben und wir sehen uns dann morgen!“ verabschiedete er sich, aber Ben hatte kaum Zeit dafür, denn voller Konzentration brachte er die Manometernadel ein ums andere Mal zum Ausschlagen, wobei ihn Sarah und Semir fast ein wenig belustigt betrachteten. Er sah gerade aus wie Tim, wenn der etwas Neues lernte, aber sie waren sich jetzt beide sehr sicher, dass Ben alle Kraft in seine Genesung stecken würde.

  • Am Nachmittag kam Ben tatsächlich auf die normale Station. Man hatte Sarah heute offiziell entlassen, denn man konnte der Krankenkasse schlecht einen so langen Aufenthalt verkaufen, ohne entsprechende Diagnostik-jetzt blieb einfach alles so wie es war, nur war Sarah jetzt wieder nur Begleitperson. Dadurch hatte sie mehr Freiheiten und getraute sich auch tatsächlich am Nachmittag ein wenig zu Corinna und Klaus zu fahren, während Semir bei Ben blieb. Semir würde nachts wieder bei dem jungen Paar schlafen, weil Ben ja dann Sarah an seiner Seite hatte. Stillschweigend waren sie überein gekommen, dass sie Ben bis zu seiner Verlegung einfach nicht alleine lassen würden, egal ob er protestierte oder nicht, zu tief saß noch der Schock über die Ereignisse der Nacht von Sonntag auf Montag.
    Sarah und Corinna machten einen Waldspaziergang, Sarah telefonierte zuvor lange mit Hildegard, wobei sie es vermied mit Tim zu sprechen, weil er das letzte Mal danach lange nach der Mama geweint hatte. „Weisst du Corinna-ich vermisse meine Kinder so schmerzlich, obwohl ich sicher bin, dass die bei unserer Kinderfrau bestens versorgt sind, aber jetzt habe ich sie schon so lange nicht mehr gesehen, ich habe große Sehnsucht und freue mich auf Montag, wenn ich sie endlich wieder in meine Arme schließen kann, wenn alles planmäßig verläuft. Ich habe extra aus dem Internet gemeinsam mit der Frau vom Sozialdienst eine Rehaklinik ausgesucht, die möglichst nahe bei Köln ist, damit wir Ben immer besuchen können. Ich hoffe er ist jetzt vernünftig geworden, denn ich halte das nicht mehr aus, wenn er nochmals versucht, sich etwas anzutun, aber er hat uns hoch und heilig versprochen, dass er da keinen Gedanken mehr daran verschwendet, nur habe ich davon am Sonntag ja auch überhaupt nichts gemerkt und das macht mir ein bisschen Angst!“, vertraute sie ihrer Cousine an, während die beiden sich Bewegung verschafften. „Ich bin ja keine Fachfrau, aber ich denke, wenn jemand ernsthaft vorhat, sich umzubringen, dann wird er das auch schaffen-eine Kollegin von mir war in der geschlossenen Abteilung der Psychiatrie und hat es sogar dort gemacht. Aber du sagst ja, er übt wie verrückt, also denke ich einfach, er will jetzt doch leben und du musst deinem Mann auch irgendwann wieder vertrauen. Danke übrigens, dass du auch mir wieder vertraust-ich hatte schon Angst, dass du nach meiner blöden Aktion mit dem Handyfoto, das uns beinahe in einem Harem hätte verschwinden lassen, nichts mehr mit mir zu tun haben wolltest!“, sagte Corinna, während sie einen steilen Berg zügig hinauf wanderten. „Corinna ich war stocksauer auf dich, aber wir sind nun schon so viele Jahre, seitdem wir Kinder waren, miteinander verbunden, es ist ja nochmals gut raus gegangen, ich war zwar sauer auf dich, aber jetzt gibt es einfach wichtigere Dinge in unserem Leben, als miteinander zu streiten!“, beschied ihr Sarah, während sie ein wenig schwerer atmend die Anhöhe erklommen hatten und nun einen grandiosen Blick über das Ries hatten. „Danke!“, sagte Corinna nun einfach und drückte die Vertraute ihrer Kindertage ganz fest und Sarah erwiderte die Umarmung.


    Die beiden Scheichs saßen in Frankfurt in Untersuchungshaft. Dennoch hatten sie ja das Recht auf einen Anwalt und auch wenn sie gut Deutsch sprachen, verlangten sie einen, der ihre Sprache verstand und wenig später sprachen sie unabhängig voneinander mit einem Mann aus ihrer Heimat, der einer Frau zuliebe nach Deutschland ausgewandert war und hier eine florierende Kanzlei betrieb. Einer der Scheichs fand schnell heraus, dass dessen Familie noch in der Heimat war und er bekam das Messer auf die Brust gesetzt: „Ich verlange von dir zwei Dinge: Erstens sorgst du dafür, dass wir so schnell wie möglich nach Hause ausgeliefert werden und dann wollen wir Rache an den beiden Polizisten, die uns verhaftet haben und dem Typ, der dafür verantwortlich ist, dass wir aufgeflogen sind und das bisher anscheinend überlebt hat-immerhin lautet die Anklage bei ihm nicht auf Mord, sondern nur auf schwere Körperverletzung, wie uns mitgeteilt wurde. Finde heraus, wo die drei sich aufhalten und bestrafe sie mit dem Tod, am besten durch Unfall, ansonsten wird deine Familie ausgerottet, die Männer und Kinder werden getötet, die Frauen verschwinden im Harem und du weisst-ich habe die Macht dazu!“ drohte der Scheich und wenig später verließ ein zitternder Anwalt das Untersuchungsgefängnis-das Dumme war, er wusste, dass er tun musste, was der einflussreiche Scheich verlangte, sonst war seine Familie im mittleren Osten, die ihm viel bedeutete, verloren.

  • In der Klinik verging das Wochenende. Ben war wieder in dem Zimmer auf der Normalstation, wo er versucht hatte, sich umzubringen. Ihm fiel durchaus auf, dass entweder Sarah oder Semir immer bei ihm waren und sozusagen Schicht schoben und ein furchtbar schlechtes Gewissen ihnen gegenüber bemächtigte sich seiner. Als er sich hatte davon stehlen wollen, war er von dem vordergründig so schlüssigen Gedanken beseelt gewesen, dass er seine Familie und seine Freunde von einer Last namens Ben befreien wollte, aber er hatte ja bereits im letzten Moment festgestellt, dass er durchaus leben wollte, aber wie sollte er ihnen das verklickern? Außerdem wurde er mit Hilfe des Physiotherapeuten und dessen sachkundiger Anleitung auch stündlich beweglicher und als Sarah das nächste Mal die Beininnenseiten massierte, wie der Krankengymnast das vorgeschlagen hatte, bemerkte er, dass er nun schon bis unters Knie spürte, wo Sarah hin fasste, die Ärzte und Therapeuten hatten also durchaus Recht! Der Transport nach Köln-natürlich liegend- war bereits für den Montag gegen zehn angeleiert und sie hatten besprochen, dass Semir am Morgen mit dem gepackten BMW zum Krankenhaus kommen und mit Sarah auf dem Beifahrersitz den Krankenwagen eskortieren würde. Er hatte schon einmal gesagt, dass sie sich keine Sorgen mehr machen sollten, er würde sich nichts mehr antun, aber irgendwie glaubten sie ihm nicht. Den Psychiater hatte er davon überzeugen können, aber bei den liebsten Menschen auf der Welt gelang ihm das nicht.

    Sarah und Semir hatten auch keine konkreten Vorstellungen, wie es in der Reha weitergehen sollte und Semir hatte schon beschlossen wegen Gästezimmern nachzufragen und im Zweifelsfall zu behaupten, Ben stünde unter Personenschutz, wie er das allerdings alleine schaffen sollte, stand in den Sternen. Kein Polizist, der als Personenschützer eingeteilt war, hatte 24 Stunden, sieben Tage die Woche Dienst, wie sollte er das den Leitern der Klinik verklickern-und wie der Chefin in der PASt, die ja nichts davon erfahren sollte, denn so eine Reha konnte durchaus Monate dauern? Sarah musste dringend zu ihren Kindern und würde freilich ganz oft kommen, aber die ging vermutlich nicht als Bodyguard durch-eine verzwickte Situation!


    Ben konnte inzwischen schon wieder normale Sachen essen und trinken, sie durften nur nicht scharf gewürzt sein-die Zunge heilte, auch war es möglich, ohne dass ihm schwindlig wurde, das Kopfteil höher zu stellen, er übte wie verrückt mit dem flachen Gummiballon und konnte das Manometer spielend zum Ausschlagen bringen, ehrlich gesagt freute er sich auf die Reha, auch wenn er keine Ahnung davon hatte, was ihn dort erwarten würde, aber er würde mitmachen, das war klar! Vor der Verlegung auf die Station hatte man noch den ZVK und die Arterie entfernt. Lediglich einen peripheren Zugang hatte man für alle Fälle gelegt, aber abgestöpselt. Ben sollte auch seine Medikamente als Tabletten nehmen und weil die Entzündungswerte ebenfalls im Normbereich waren, hatte man auch das Antibiotikum abgesetzt. Nur der Blasenkatheter begleitete ihn noch, aber das nahm er hin, wie auch die Schmerzen, die er durchaus noch hatte, aber sie waren auszuhalten, anders als vor der zweiten OP und er bekam auch regelmäßig Schmerztabletten.


    Am Sonntag kamen noch Corinna und Klaus um sich zu verabschieden, sie brachten einen weichen Käsekuchen mit und ein paar Becher Kaffee to go und verabschiedeten sich dann herzlich. „Ben-wir sind dir von Herzen dankbar. Du hast ohne auf dich selber Rücksicht zu nehmen als Polizist und Freund gehandelt, als Corinna entführt wurde und hast jetzt deshalb massive gesundheitliche Probleme. Wie das alles zusammenhing, war damals noch nicht abzusehen, aber du hast dein Bestes getan und mit Hilfe deiner Freunde und Kollegen sitzen jetzt die Übeltäter hinter Schloss und Riegel, die militärischen Geheimnisse sind wieder sicher-jetzt musst nur du wieder gesund werden. Wir drücken dir dafür die Daumen und Sarah wird uns auf dem Laufenden halten!“ sagte Klaus und hatte Tränen der Rührung in den Augen als er Ben die Hand drückte. Sie aßen und tranken gemeinsam und als die Besucher weg waren, fasste Ben sich ein Herz. Gerade waren Semir und Sarah gemeinsam im Zimmer, im Fernseher lief eine Sportsendung, aber jetzt schaltete Ben das Gerät entschlossen aus. „Sarah-Semir, ich muss mit euch reden!“ sagte er, denn gerade fiel ihm ein Spruch ein: „Nur sprechenden Menschen kann geholfen werden“, und daran würde er sich jetzt halten. Seine Frau und sein bester Freund setzten sich an sein Bett und musterten ihn aufmerksam, was hatte Ben auf dem Herzen?


    „Glaubt ihr, ich merke nicht, dass ihr mich nicht aus den Augen lasst? Seitdem ich versucht habe, mir etwas anzutun, habt ihr mich nicht mehr alleine gelassen und ich danke euch dafür!“, sagte er und hob die Hand, als Sarah etwas darauf erwidern wollte. „Schatz-lass mich ausreden, bitte! Inzwischen ist mir klar geworden, dass ich euch etwas Furchtbares angetan hätte, wenn mein Versuch erfolgreich gewesen wäre und dafür möchte ich mich bei euch entschuldigen. Sich einfach so davon stehlen ist egoistisch, wobei ich euch versichern kann, dass ich am Sonntag in der Nacht von dem Gedanken beseelt war, es wäre besser, die Welt wäre von einem Krüppel wie mir befreit. Da hat aber auch Selbstmitleid eine Rolle gespielt, das ist mir inzwischen klar geworden. So einige Ärzte und auch Pflegekräfte haben mir inzwischen deshalb mit Recht den Kopf gewaschen, nur ihr seid so mitfühlend und milde zu mir, dass ich mich damit gar nicht wohl fühle. Ich habe euch zwar schon gesagt, dass ich in letzter Sekunde dann doch nicht mehr sterben wollte und eigentlich nur durch dein beherztes Eingreifen, Sarah, gerettet werden konnte, aber das hätte ich mir ja auch durchaus vorher überlegen können. Ich finde ihr solltet mich jetzt alle beide ordentlich verhauen, dann wäre mir wohler und ich verspreche euch, auch wenn ihr mir vielleicht aktuell nichts mehr glaubt, dass ich mein Möglichstes tun werde, um wieder so fit wie möglich zu werden. Ich merke jeden Tag, wie es besser geht und auch wenn es vielleicht nie mehr so wie früher wird-ich bin bereit zu kämpfen, mich abzurackern und das Bestmögliche heraus zu holen. Aber das Wichtigste ist-ich werde mich nicht mehr versuchen umzubringen-glaubt mir das bitte und ich freue mich auf die Reha. Nur würde ich da ungern mit zwei Babysittern anrücken, ich mache mich ja vor meinen Mitpatienten und dem Personal lächerlich, bitte fahrt ihr morgen, wenn ihr mich sozusagen abgeliefert habt, nach Hause und besucht mich nur gelegentlich. Allerdings möchte ich dringend so bald wie möglich meine Kinder sehen, ich habe eine wahnsinnige Sehnsucht nach ihnen!“ schloss er seine Rede und nun überzog ein strahlendes Lächeln das Gesicht sowohl von Sarah als auch von Semir, der Ben auch gleich eine symbolische Backpfeife verpasste. „Normalerweise hätte ich dich jetzt in den Bauch geboxt, aber ausnahmsweise halte ich mich damit zurück, das würde vielleicht unter diesen Umständen zu sehr weh tun-nimm also das und jetzt sind wir quitt-du hast mich überzeugt!“ erwiderte er schlicht und Sarah küsste nun ihren Mann innig und hatte dabei Tränen in den Augen. „Was Schöneres hättest du uns jetzt nicht sagen können, ich liebe dich und vertraue dir!“ war alles, was sie nun heraus brachte, während ihr die Tränen der Rührung und der Erleichterung übers Gesicht liefen.


    So kam es, dass Semir den Abend und die Nacht ruhig, nach Wurstsalat und Bier auf der Terrasse, in Mündling verbrachte und Sarah und Ben nach dem Durchgang der Nachtschwester noch eine Kuschelstunde in seinem Bett abhielten, obwohl das aus hygienischen Gründen nicht gerne gesehen wurde, aber das war ihnen schlichtweg egal.

  • Am nächsten Morgen fand nach der Morgentoilette und dem Frühstück die Abschlussuntersuchung statt. Der Professor war zufrieden, einer seiner Assistenten hatte bereits den Verlegungsbrief vorbereitet, dem man jetzt nur noch die Erkenntnisse des Professors hinzu fügte, den Brief dann ausdruckte und eintütete. Auch der Physiotherapeut hatte sich hingesetzt und separat seine Einschätzung und die durchgeführten Maßnahmen für die Kollegen dokumentiert und auch die Pflege fügte einen Pflegeverlegungsbericht hinzu. Zusammen mit den CDs der Röntgen-und CT-Bilder kam alles in einen dicken Umschlag, Sarah half Ben in eine kurze Jogginghose und ein Shirt, denn er wollte ungern im Flügelhemdchen anreisen und wenig später wurde er von zwei jüngeren Sanitätern, die sich auf einen geruhsamen Krankentransport freuten-mit der Hin- und Rückfahrt, wobei sie sich abwechseln würden, war ihre Schichtzeit von 12 Stunden ausgefüllt-auf eine Trage gepackt, zugedeckt und angeschnallt. „Hallo Herr Jäger, wir machen jetzt eine lange Fahrt zusammen, ich hoffe, sie werden nicht so leicht reisekrank!“, plapperte der eine, nachdem er sich vorgestellt hatte, aber Ben schüttelte lächelnd den Kopf. „Ich bin diesbezüglich Kummer gewöhnt- der Fahrstil meines Kollegen hier, mit dem ich den halben Tag auf der Autobahn verbringe, ist auch nicht so gut, wenn man nen vollen Magen hat, ich bin da abgehärtet!“, sagte er mit einem Grinsen und Semir, der schon mit gepacktem BMW eingetroffen war, zog ein bitterböses Gesicht. „Pah-das stimmt überhaupt nicht, du solltest mal daneben sitzen, wenn du am Steuer bist, das ist noch viel schlimmer! Warte nur, ich werde gleich zu Frau Krüger sagen, dass du wegen Reisekrankheit leider nicht mehr im Außendienst arbeiten kannst!“ flachste er, aber jetzt zog ein Hauch des Kummers über Ben´s Gesicht, was Semir sofort dazu brachte, einzulenken. „Partner-ich habe es nicht so gemeint, ich bin mir ganz sicher, dass wir wieder gemeinsam über die Autobahn düsen und Verbrecher jagen werden!“, sagte er weich und nun glättete sich Ben´s gefurchte Stirn wieder.

    Nach der Verabschiedung von den Schwestern und Pflegern, denen Sarah, wie auch der Intensiv, etwas in die Kaffeekasse gesteckt hatte, wurde noch das Lunchpaket für Ben eingepackt und dann starteten sie Richtung Köln. Der Krankenwagen wählte nicht die kürzere Strecke, die Semir immer gefahren war, sondern fuhr geradeaus über die B2 bis Nürnberg und von dort auf die A3, der man bis kurz vor dem Ziel folgen würde. Semir rollte hinter dem Fahrzeug drein, hatte aber mit dem Fahrer die Route vorher besprochen. Auch Sarah und er hatten allerhand Leckereien dabei, die Corinna ihnen eingepackt hatte. Sie würden auch mal an einer Raststätte anhalten, damit alle außer Ben zur Toilette gehen konnten und nach etwa drei Stunden würden sie gemeinsam den Imbiss einnehmen. Die Sanis hatten sich zuvor beim Bäcker eingedeckt und nach einer zügigen Fahrt mit wenig Stau machten sie kurz hinter Würzburg Rast und nahmen gemeinsam hinten im Sanka bei geöffneten Türen und einem wundervollen Blick auf die Residenz ein wohlschmeckendes Mahl ein. „Ich kann fast nicht glauben, dass es erst gute zwei Wochen her ist, als wir hier in der Gegenrichtung gefahren sind!“, bemerkte Ben nachdenklich und nun schwiegen alle-wie viel war seither geschehen, was vielleicht ihrer aller Leben komplett umkrempeln würde!


    Weitere zweieinhalb Stunden später kamen sie am frühen Nachmittag in der Rehaklinik an. Die lag in landschaftlich schöner Gegend an einen Berghang geschmiegt. Der moderne Bau passte sich hervorragend in die Landschaft ein und man konnte die gepflegten Außenanlagen erkennen. 250 Patienten fanden hier Platz und während der Sanka unter dem Vordach parkte und Ben auf seiner Trage ausgeladen wurde, ging Sarah gleich mit den Unterlagen zur Anmeldung, die eher der Rezeption in einem Hotel glich. Ben wurde zunächst einmal in ein bequemes Bett umgelagert und Semir beobachtete mit Argusaugen, dass da auch alles richtig lief. „Na Herr Jäger-sie haben ihren Polizeischutz ja gleich mitgebracht!“ lachte die Schwester, die ihn aufnahm freundlich. „Ich hoffe alles ist zu ihrer Zufriedenheit, nicht dass ich mich gleich im Knast wieder finde!“ sagte sie frech und Semir sah nun schuldbewusst zu Boden. Gerade wurde ihm wieder klar, warum Ben ihn oft spöttisch mit „Papa“, betitelte. Die Sanis hatten beiläufig erwähnt, dass Ben Polizist war und der kleine Türke sein Partner war und sein Blick hatte anscheinend soeben Bände gesprochen: „Niemand tut meinem Freund etwas, sonst bekommt er es mit mir zu tun!“, sagte der aus, aber die lockere Freundlichkeit, die hier herrschte, war richtiggehend wohltuend.
    Die Sanitäter verabschiedeten sich-sie wollten wenn möglich den Stau rund um Nürnberg umgehen und brachen deshalb nach einem Kaffee aus dem Automaten sofort Richtung Heimat auf. So lief Semir nun neben dem Bett her, das ins Patientenzimmer gefahren wurde und kurze Zeit später stieß Sarah dazu. „Jetzt ruhen sie sich erst ein wenig aus, trinken etwas und dann machen wir die pflegerische Aufnahme. Später macht auch der Oberarzt noch die Aufnahmeuntersuchung und dann wird bereits der Trainingsplan für die nächsten Tage erstellt!“ erklärte die Schwester und Sarah beeilte sich zu versichern: „Ich fahre nachher auch noch zu uns nach Hause und bringe das ganze Sportzeug-wir haben leider gar kein Gepäck dabei!“, erklärte sie, aber die freundliche Schwester mit den strahlenden dunklen Augen schüttelte den Kopf. „Frau Jäger-machen sie sich keinen Stress. Wir haben schon gehört, was sie alles hinter sich haben-zur Not haben wir für die Nacht auch hier ein Krankenhaushemd, für die ersten Trainingseinheiten tut es das, was er anhat , also würde ich vorschlagen, sie fahren später nach Hause, ruhen sich selber aus und bringen morgen im Laufe des Tages das Gepäck-haben sie eine Liste erhalten?“, fragte sie und Sarah nickte-der Sozialdienst in Donauwörth, der die Anschlussheilbehandlung organisiert hatte, hatte ihr die ganzen Unterlagen gegeben, aber sie war doch seither nicht mehr zuhause gewesen!

    Die Schwester ließ sie erst einmal alleine und Sarah, Ben und Semir konnten sich ein wenig umschauen und das freundliche Zimmer, das eher wie ein Hotelzimmer aussah, auf sich wirken lassen. Alles war groß und geräumig, helle Holzfarben herrschten vor und geschmackvolle Bilder und ein großer Flachbildfernseher zierten die weiß gestrichenen Wände. Ein kleiner Balkon lag vor dem Zimmer, nirgends gab es Schwellen, aber wie magisch wurden Ben´s Augen von dem Rollstuhl angezogen, der in der Ecke des Zimmers stand-würde der sein Schicksal in Zukunft bestimmen?

  • Der Anwalt hatte ja Akteneinsicht und deshalb die Personalien aller Beteiligten. Klar war auch, dass er sich selber zwar die Finger nicht schmutzig machen, aber dennoch den Auftrag der Scheichs ausführen würde. Er ließ also seine Kontakte spielen und hatte binnen Kurzem einen willigen Helfershelfer gefunden, der ebenfalls aus dem Mittleren Osten stammte, perfekt Deutsch sprach und gegen Bezahlung keine Skrupel kannte. Bei einem Gespräch unter vier Augen wurden ihm die Adressen und Dienstgrade der drei beteiligten Polizisten mitgeteilt und ein Vorschuss bezahlt. Nach der Ausführung der Morde, die auftragsgemäß wie ein Unfall aussehen sollten, würde eine große Summe fließen, die den Auftragskiller die nächsten Jahre sorgenfrei machen sollten-er würde mit dem Geld in die Heimat reisen und dort galten eh andere Gesetze, da war er auch vor den Nachforschungen der deutschen Polizei sicher. Aber er war überzeugt davon, dass nicht der Hauch eines Verdachts auf ihn fallen würde, da er ja weder persönliche Verbindungen zu seinen Opfern hatte, noch sich dumm anstellen würde. Als er sich die erste Adresse ansah-ein wunderschönes kleines Gutshaus, malerisch gelegen unweit von Köln, stellte er nach kurzer Zeit fest, dass da augenblicklich niemand wohnte. Gut-er würde schon herausfinden wo dieser Ben Jäger steckte, vermutlich noch in irgendeinem Krankenhaus, aber er hatte ja noch zwei Opfer.


    Als Nächstes observierte er die zweite Adresse-da wohnten eine Frau und zwei Kinder, aber von seiner nächsten Zielperson war auch nichts zu entdecken, an der Klingel stand Gerkhan und als er sich einem der Mädchen gegenüber, das im Garten spielte, als alter Bekannter ausgab und es über den Zaun fragte, wo denn der Papa sei, bekam er zur Antwort, dass der gerade verreist sei, aber es gleich die Mama holen würde. Bis Andrea zusammen mit Lilly wieder am Gartentürchen war, war da niemand mehr und Andrea sah verwundert, aber eigentlich nicht beunruhigt die Straße hinunter. Zu Semir kamen öfter mal alte Bekannte, meistens weil sie was brauchten, oder sich Hilfe bei einem Strafzettel erwarteten, der Mann würde schon wieder kommen, wenn es wichtig war.


    Der nächste auf der Liste war ein gewisser Hartmut Freund und nach kurzer Zeit hatte der Auftragsmörder festgestellt, dass der einen Oldtimer fuhr, der aber in der Nacht ganz einfach auf der Straße geparkt war. Ein Lächeln zog über sein Gesicht-wenn so ein alter Schlitten versagte und der Fahrer bei dem Unfall zu Tode kam, würde niemand Verdacht schöpfen. In diesem Fahrzeug gab es noch keinen Airbag und so stand ziemlich schnell fest, wie Hartmut sterben würde und spät in der Nacht, als in der Seitenstraße, in der Hartmut wohnte und selig den Schlaf der Gerechten schlief, niemand mehr unterwegs war, kroch ein dunkel gekleideter Mann unter den Wagen und manipulierte daran herum. Er würde aus der Entfernung die Sache beobachten und im passenden Moment aufs Knöpfchen drücken, so dass dann die Bremsen versagten, seine Chance würde kommen-wenn nicht morgen, dann übermorgen oder in ein paar Tagen! Er legte sich noch ein paar Stunden ins Bett, um sich dann rechtzeitig mit einem gemieteten Fahrzeug, das von einem Verleih stammte, der es mit den Papieren nicht so genau nahm, auf die Lauer zu legen und Hartmut auf dem Weg zur Arbeit zu beschatten, der Vorteil war-er hatte Zeit, viel Zeit, wie ihm der Anwalt eingebläut hatte.


    In der Rehaklinik sah Ben seine beiden Begleiter an. „Ihr habt ja gehört-ich werde jetzt dann vom Arzt und der Pflege untersucht und aufgenommen, ich denke alles Wichtige steht in den Unterlagen, oder ich kann es dem Personal hier mitteilen. Fahrt ihr jetzt nach Hause und Sarah, gib den Kindern einen Kuss von mir und streichle Lucky. Morgen kannst du mir ja dann die Sachen bringen, die auf der Liste stehen und frag mal, wann es denn sinnvoll ist, mit den Kindern hierher zu kommen-ich möchte sie unbedingt sehen, wenn auch vielleicht nicht lange. Du Semir richtest bitte Andrea einen lieben Gruß aus und drückst deine Töchter von mir-lange genug haben sie jetzt meinetwegen auf dich verzichten müssen! Und in der PASt grüßt du bitte auch alle ganz herzlich!“, bat er und Sarah und Semir sahen sich an. Das war sozusagen ein eindeutiger Rausschmiss, aber sie konnten Ben verstehen-er würde hier die nächsten Wochen, wenn nicht Monate verbringen und wollte nicht gleich mit Babysitter anrücken.
    So verabschiedeten sie sich herzlich und als sie wieder im BMW saßen und die dreißig Kilometer bis Köln fuhren, hatte Semir mit Jenni telefoniert und ganz schnell heraus gefunden, dass Sarah´s Wagen jetzt auf dem Parkplatz der PASt stand-Jenni hatte ihn persönlich aus der Tiefgarage unter der Domplatte geholt und auf dem Gelände der Autobahnpolizei geparkt. Der Schlüssel und auch Sarah´s und Corinna´s Handys lagen in der Dienststelle und so führte der erste Weg direkt in die PASt, wo die Kollegen sofort zu ihnen stürmten und sich erkundigten, wie es Ben ging. „Und Herr Gerkhan-kann ich morgen wieder mit ihnen rechnen? Unsere Personaldecke ist sehr dünn?“, fragte die Chefin und Semir nickte. Irgendwann musste der Alltag ja wieder einkehren und Ben nahm gerade sein Leben selber in die Hand.


    In der Rehaklinik war inzwischen die nette Schwester zu ihm ins Zimmer gekommen. „So Herr Jäger, ich habe mir gerade die Diagnosen und den Pflegeverlegungsbericht aus Donauwörth durchgelesen, in einer Stunde kommt auch noch der Arzt zu ihnen, aber ich möchte sie mir jetzt erst einmal aus pflegerischer Sicht anschauen. Morgen haben sie gleich um neun einen Termin mit unserem Sportdirektor, der dann gemeinsam mit uns den Trainingsplan festlegen wird. Die Glocke haben sie ja sicher bereits gesehen, scheuen sie sich nicht zu läuten, wenn sie Hilfe brauchen!“, begann sie ihn aufzuklären, während sie die Decke bei Seite legte. Zunächst scannte sie ihn sozusagen mit ihren Blicken, als er vor ihr lag, sie beurteilte mit jahrelanger Erfahrung den Hautzustand, die Hautfarbe und den allgemeinen ersten Eindruck. Dann fragte sie: „Darf ich?“, und schob das Shirt nach oben. Die Bauchwunde war noch mit einem Klebepflaster verbunden, das sie nach Händedesinfektion und dem Anziehen von Einmalhandschuhen rasch und geschickt ablöste. „Die Klammern können wir am Freitag entfernen, habe ich nachgelesen, aber die Wundverhältnisse sind reizlos, wie die Kollegen geschrieben haben“, ließ sie ihn daran teilhaben, was sie feststellte. Den Hydrocollfilm der nach wie vor das abheilende Tracheostoma am Hals bedeckte, beließ sie, sah aber die Strangulationsstriemen. Im Geiste notierte sie, den Arzt dringend auf die psychologische Behandlung hinzuweisen. Ihr neuer Patient wirkte zwar ganz normal, aber er hatte erst vor einer Woche einen Suizidversuch unternommen, das musste dringend aufgearbeitet werden. Sie unterhielt sich mit Ben und versuchte heraus zu finden, ob er immer noch vorhatte, sich etwas anzutun, allerdings machte er gerade nicht den Eindruck. Und so grausam es klang-wenn jemand unbedingt sterben wollte, dann würde er es schaffen, man konnte niemanden rund um die Uhr bewachen, nicht einmal auf der Geschlossenen in der Psychiatrie.

    Sie besah sich Ben´s Beine, die schlaff im Bett lagen, stellte aber mit geübten Griffen fest, wie weit die Lähmung aktuell ging. Als Ben ihr erzählte, dass er im Gegensatz zu direkt nach dem Unfall nun bereits wieder bis zu den Knien etwas spürte, wenn auch nicht gleichmäßig rund herum, lächelte sie ihn an: „Sie werden sehen Herr Jäger-da geht noch was und deswegen sind sie ja auch bei uns!“ teilte sie ihm mit und ihr Optimismus war sehr wohltuend für den dunkelhaarigen Polizisten. „Den Blasenkatheter werde ich jetzt dann gleich entfernen, der stört nur!“ sagte sie dann und Ben sah sie fragend an: „Aber ich spüre doch gar nicht, ob ich aufs Klo muss. In Donauwörth haben sie mir erklärt, dass die Blase platzen kann, weil ich nicht merke, wenn sie voll ist!“ protestierte er ein wenig ängstlich und die Schwester sah ihn direkt an. „Das ist richtig, aber sie werden von mir lernen sich selbst einmal zu kathetern. Das ist das kleinere Infektionsrisiko beim Mann. Ein liegender Dauerkatheter ist eine Eintrittspforte für Erreger, während eine sporadische Blasenentleerung unter hygienischen Bedingungen dem Normalzustand nahe kommt. Außerdem-wie sollen sie so Dinge wie die Blasenfüllung wahrnehmen, wenn keine vorliegt? Sie werden lernen zu tasten, wie hoch die Blase steht, um so den richtigen Zeitpunkt zum Kathetern heraus zu finden. Keine Angst-es kommt beim Querschnitt äußerst selten zu Spontanentleerungen, sie müssen also keine Windeln tragen. Die Stuhlentleerung fördern wir zu festen Zeiten mit einem Mikroklist, man kann seinen Darm regelrecht erziehen. Wenn sie sich jetzt bitte noch umdrehen-Moment, ich helfe ihnen ein wenig!“ sagte sie, während Ben schon nach dem Bettgitter griff und sich auf die Seite zog. Nun wurde noch sorgfältig der Verband am Rücken abgelöst, nachdem sie die kurze Hose nach unten geschoben hatte. „Auch diese Wunde sieht gut aus-morgen entfernen wir die Fäden-so haben die das in Donauwörth vorgeschlagen und dann beginnt unsere Ergotherapie auch schon mit der Narbenbehandlung, damit es keine Verwachsungen in die Tiefe gibt, die ihrerseits zu Problemen führen können!“ erklärte sie, während sie schon einen frischen Verband auf die Rückenwunde klebte. Ganz nebenbei registrierte sie, dass Ben keinen Dekubitus am Po hatte und auch fähig war, sich selber zu lagern, man musste ihn vielleicht nur dazu anhalten, das regelmäßig zu tun.


    Nachdem er sich dann zurück gedreht hatte, schob sie die Sporthose, durch deren weites Hosenbein Sarah den Katheterbeutel gefädelt hatte, vollends nach unten und jetzt errötete Ben doch ein wenig, wobei er sich einen Dummkopf schalt. Was diese Schwester hier tat war ihr Job, aber dennoch war es ihm unangenehm, als sie nun zu einer 10 ml Einmalspritze griff, rasch und geschickt den Blockungsballon entleerte und dann den Katheter einfach so heraus zog. Ein wenig spürte er etwas, aber es war nicht wie normal-ob er dieses aktuell nutzlose Anhängsel da unten wohl jemals wieder für seine vorgesehenen Zwecke verwenden konnte? Die Schwester entsorgte den Beutel in ihrem mitgebrachten Abwurf, zog die Handschuhe aus und half ihm die Hose wieder nach oben zu schieben. „Ich komme später wieder und dann haben sie die erste Lehrstunde, aber zunächst bekommen sie jetzt noch die ärztliche Untersuchung, ich erledige derweil den Schreibkram!“ sagte sie freundlich, deckte ihn wieder zu und verließ mit ihrem mitgebrachten Pflegewagen den Raum.

  • Wenig später kam ein älterer Arzt zu Ben und stellte sich zunächst vor. Auch er hatte sich zuvor die mitgebrachten Unterlagen seines neuen Patienten durchgeschaut und mit der Schwester von vorhin gesprochen. In dieser Klinik waren Querschnittlähmungen an der Tagesordnung, also hatte man sehr viel Erfahrung damit, die geeigneten Pflegehilfsmittel, Geräte und Bewegungsbäder standen zur Verfügung und das Personal war speziell geschult. Auch Suizidversuche kamen in dieser Extremsituation häufiger vor-es war in den meisten Fällen für die Betroffenen der absolute Supergau, plötzlich zum Pflegefall zu werden. Deshalb waren hier auch fähige Psychologen angestellt, so dass nicht nur der Körper, sondern auch die Psyche systematisch wieder aufgebaut werden konnten, wenn sich der Patient darauf einließ. Und nicht zuletzt half es den Meisten, dass man hier nicht alleine betroffen war, sondern viele andere, denen es entweder schlechter ging als einem selber, oder die schon erstaunliche Fortschritte gemacht hatten, mit einem lebten und litten, sich plagten, aber auch mal Blödsinn machten. Gruppentherapien wurden deshalb genauso gemacht wie Einzelanwendungen und der Gesamtkomplex sorgte für die eigentliche Rehabilitation, aber das würde der gutaussehende junge Mann vor ihm schon am eigenen Leibe erfahren.

    „Guten Tag Herr Jäger-ich habe gelesen, dass sie Polizist sind!“ begann er das Gespräch. „Ich habe mir ihre Unterlagen bereits durchgesehen und mit der Schwester gesprochen. Ich würde sie jetzt einfach einmal ärztlicherseits von Kopf bis Fuß durchchecken und dann werden wir im Team morgen gemeinsam mit dem Physiotherapeuten, der sie gleich nach dem Frühstück anschauen wird, einen Behandlungsplan für sie erstellen. Wenn irgendetwas nicht passt, bitte immer sofort melden, wir stehen für alle Fragen jederzeit zur Verfügung!“, erklärte er und begann dann mit geschulten Händen zunächst einmal Ben´s Kopf zu betasten, leuchtete ihm in die Augen, ließ ihn den Mund öffnen und widmete sein Hauptaugenmerk dann der Halswirbelsäule. „Hatten sie in diesem Bereich schon mal Probleme?“, fragte er, aber Ben verneinte. „Allerdings schlafen mir zur Zeit oft die Arme ein, wenn ich meinen Kopf dann anders hinlege, vergeht das wieder-der Physiotherapeut in Donauwörth meinte, da wären irgendwelche Blockaden drin!“, erzählte der jüngere Mann und der Arzt nickte. „Das ist ja auch nicht verwunderlich-wie ich gelesen habe, haben sie versucht sich zu strangulieren und waren auch kurz reanimationspflichtig. Sie haben sich da erstens alle Halsgefäße vorübergehend abgequetscht und dann wurden mit Sicherheit auch die Halswirbel, nachdem sie das Bewusstsein verloren hatten, auseinander gezogen und es kam zu kleinen Mikrorupturen in der Muskulatur, die jetzt den Hals nur schwer stabilisieren kann, aber keine Angst-das kriegen wir hin!“ informierte er Ben, hielt einen Moment mit der Untersuchung inne und sah ihm direkt in die Augen. „Wie sieht es jetzt gerade aus? Ich denke jeder kann nachvollziehen, warum sie versucht haben sich umzubringen und sie sind auch nicht der Einzige hier, der das schon versucht hat. Ich würde jetzt aber gerne von ihnen wissen, wie sie sich heute einschätzen-verschwenden sie da noch einen Gedanken daran, oder ist das gerade nicht aktuell?“, fragte er und Ben schluckte. „Ich habe in der letzten Sekunde als ich dachte, es wäre gleich vorbei, erst gemerkt, dass ich schon noch gerne lebe. Außerdem hätte ich meiner Familie-ich habe eine wunderbare Frau und zwei tolle Kinder-und meinen Freunden etwas Schreckliches damit angetan, das ist mir allerdings erst nach meiner Rettung dann klar geworden!“, beantwortete er leise die Frage des Arztes und wandte den Blick voller Scham ab. „Das wollte ich hören!“, sagte der zufrieden und fuhr mit der Untersuchung fort. Er besah sich Ben´s Oberkörper und die muskulösen Arme, die keinerlei Bewegungseinschränkung hatten und testete die Reflexe dort, die aber normal waren.


    „Vertragen sie das Essen und Trinken?“ fragte er und Ben nickte. „Nur scharfe Sachen und Fruchtsäuren tun mir noch an der Zunge weh, auf die ich mich während meines Krampfanfalls gebissen habe, wie mir gesagt wurde, aber sonst habe ich die Tage schon ganz normal gegessen“, gab er Auskunft und der Arzt sagte daraufhin: „Dann ziehen wir den Zugang nachher gleich noch raus-sie bekommen natürlich von uns noch Schmerzmittel solange sie sie brauchen, aber eben in Form von Tabletten oder Tropfen-jedes Plastik im Körper ist eine potentielle Infektionsquelle, das möchten wir gerne vermeiden. Der Blutdruck, den die Schwester vorher gemessen hat, war in Ordnung, Fieber haben sie auch keines, also raus damit, wie eben auch mit dem Katheter!“ informierte er den jungen Dunkelhaarigen und der nickte, während der Arzt nun den Bauch abtastete. „Ben spannte unwillkürlich die Muskulatur an, denn es tat natürlich noch ziemlich weh , immerhin war die Bauchoperation gerade mal eineinhalb Wochen her und der Arzt sagte mitfühlend: „Das glaube ich gerne, dass sie da noch Schmerzen haben-wir geben ihnen nachher gleich eine Tablette, sie haben ja auch zwei Riesen-OPs hinter sich, aber aus ärztlicher Sicht sieht das gut aus und da sie auch eine gute Bauchmuskulatur haben, die den Rücken stabilisieren kann, werden wir sie bald im Rollstuhl haben!“ gab er Auskunft und wie magisch wurde Ben´s Blick nun wieder von dem Gefährt in der Ecke angezogen. „Ich will aber wieder laufen können!“ sagte er leise und der Doktor sah ihn nun ernst und mitfühlend an. „Natürlich wäre das schön und wir werden alles versuchen, damit das für sie möglich wird, aber versprechen kann ihnen das niemand. Natürlich können sich der Körper und auch die Nerven wieder erholen, aber für eine spezielle Prognose ist es einfach noch zu früh, versteifen sie sich also nicht darauf. Sehen sie die kleinen Fortschritte, freuen sich darüber, wenn sie wieder mobil sind und sich komplett selber versorgen können, wenn auch im Rollstuhl-das ist unser Erstziel. Was danach noch wieder kommt ist ein Geschenk, aber versprechen kann ihnen niemand, dass sie ihr alte Leben wieder zurück bekommen, so sehr sie sich das auch wünschen.“, sprach er Klartext und Ben musste nun schlucken.

    „Wie sieht es mit dem Stuhlgang aus-merken sie, wenn sie zur Toilette müssen?“ fragte der Arzt, aus den Unterlagen wusste er, dass Ben bereits abgeführt hatte, sonst hätte man ihn auch nicht verlegt, aber es war eben nicht zu erkennen, wie weit die Kontrolle des Schließmuskels fortgeschritten war. „Irgendwas merke ich, aber meistens, wenn es zu spät ist!“ antwortete Ben auf die Frage verlegen, das hatte ihm in Donauwörth sehr zugesetzt. „Auch das ist normal-es ist aber gut, wenn sie überhaupt ein Empfinden in diesem Bereich haben. Die versorgenden Nerven treten im Kreuzbeinbereich aus, also ziemlich weit unten, was erstens bedeutet, dass das Rückenmark nicht komplett geschädigt ist, sondern noch Nervenstränge durchgehen und außerdem ist dann auch die Blasenkontrolle mit ein bisschen Training vielleicht in kurzer Zeit wieder vorhanden, das Zielgebiet ist nämlich dasselbe!“ erklärte er. „Wir werden das auch intensiv trainieren, denn die Ausscheidungskontrolle ist ein großer Punkt in einem problemlosen Alltag!“, fügte er hinzu und Ben wurde es jetzt ein bisschen leichter ums Herz, anscheinend waren seine speziellen Probleme gar nicht so speziell und darum getraute er sich dem Arzt nun eine Frage zu stellen, die ihn die ganze Zeit schon sehr beschäftigte. „Wie sieht das eigentlich aus? Kann man als Querschnittgelähmter noch irgendwann wieder Sex haben und da auch was empfinden?“ fragte er voller Bangen und der Arzt sah ihn mit einem feinen Lächeln an: „Das kommt darauf an, wie sie Sex definieren, aber ich verspreche ihnen, sie werden-vielleicht auch mit Hilfsmitteln- mit ihrer Frau auch wieder im Bett glücklich sein, nur vielleicht anders als vorher-dazu haben wir aber auch einen Vortrag und spezielle Schulungen im Programm, das macht dann eine unserer Psychologinnen, die auch Sexualtherapeutin ist.“, klärte er ihn auf und Ben nickte.

    Kurz musste er sich drehen und der Arzt besah sich seinen Rücken und das Gesäß. Nun betastete der Arzt noch die Beine und Füße, stellte mit Reflexhammer, Trockeneis und einer stumpfen Nadel fest, wie weit das Gefühl schon reichte und ob die Nerven dort gleichermaßen auf Druck, Schmerz, Wärme und Kälte reagierten, was verschiedene Nervenbahnen waren, aber er war sehr zufrieden mit seinen Untersuchungsergebnissen, obwohl aktuell der Achillessehnenreflex beidseits noch erloschen war, aber der Patellarsehnenreflex unterhalb der Kniescheibe war zwar abgeschwächt, aber beidseitig vorhanden. „Wie kommt das-dass ich innen zwar bis unterhalb der Knie schon was spüre, aber meine Oberschenkel außen völlig taub sind-das ist doch nicht logisch?“ fragte Ben nun und der Arzt sah ihn erstaunt an. „Hat ihnen das noch niemand erklärt? Entwicklungsphysiologisch entstehen Rückenmark und Nerven bei Embryos aus dem sogenannten Neuralrohr. Mit zunehmendem Wachstum differenzieren sich in der Frühschwangerschaft dann Arme und Beine und die Nerven wachsen da sozusagen mit. Allerdings treten die an verschiedenen Stellen aus dem Spinalkanal aus und so liegen die Versorgungsgebiete nach einem speziellen Schema angeordnet eher kreisförmig um die untere Körperhälfte. Man sagt da Dermatome dazu. So kann man auch bei Schmerzen oder Gefühlsstörungen anhand des Musters genau bestimmen, in welcher Etage das Problem liegt, was zum Beispiel bei Bandscheibenvorfällen wichtig ist. Ich gebe ihnen bei Gelegenheit dazu eine Tafel, oder noch besser-wir haben hier in der Klinik ja freies Internet-lassen sie sich ihr Tablet oder ihren Laptop bringen und schauen sie sich das selber an, dann haben sie es auch zuhause. Geben sie einfach „Dermatom“ als Suchbegriff ein, dann gibt es da mannigfaltige Abbildungen. Durch die Frakturen und Quetschungen der Nerven nach ihrem Sturz haben sie leider nicht nur in einer Etage Probleme, aber wenn es gut operiert ist, ist der knöcherne Anteil der Wirbelsäule stabil und die Nerven müssen sich erholen oder vielleicht auch neu einwachsen. Inwieweit das allerdings klappt wird die Zeit zeigen, sie müssen einfach Geduld haben!“ beendete er die Untersuchung und Ben seufzte auf-Geduld war noch nie seine Stärke gewesen!
    Der Arzt desinfizierte seine Hände am Desinfektionsmittelspender und verließ dann nach einer freundlichen Verabschiedung seinen Patienten, der jetzt Viel zum Nachdenken hatte. Aber er fühlte sich in dieser Klinik schon mal gut aufgehoben und das war wichtig!

  • Sarah war derweil zu Hildegard gefahren. Tim spielte versunken im Sandkasten im Garten und Mia-Sophie machte gerade im Kinderwagen daneben, der im Schatten der Markise stand, ein kleines Nachmittagsschläfchen. Lucky und Frederik lagen hechelnd unter einem großen Baum, denn Hildegard war vorhin mit ihnen im Park Gassi gewesen und die beiden wohlerzogenen Hunde hatten dort andere Hundekumpels getroffen und mit denen gespielt und getobt, was die Kinder begeistert beobachtet hatten. Als nun Sarah läutete und von Hildegard in den Garten geführt wurde, tanzte auf einmal ein überglücklicher Lucky um sie herum und gab Laute des Entzückens von sich, die man dem grauen Riesen gar nicht zugetraut hätte. Tim sah auf und sprang dann sofort aus der Sandkiste, rief laut: „Mama!“, und schmiss sich in ihre Arme. Von dem Lärm wachte auch Mia-Sophie auf, die erst den Mund kurz zu einem Weinen verzog, aber dann, als Sarah sie liebevoll heraus nahm und ebenfalls an sich drückte, mit einem Glucksen den Kopf an ihrer Schulter barg und die kleinen Ärmchen um sie schlang.
    Sarah setzte sich und die Tränen des Glücks liefen über ihre Wangen, jetzt erst wurde ihr bewusst, wie sehr sie ihre Kinder vermisst hatte! „Wo ist der Papa?“, fragte Tim und sah sich suchend um, aber jetzt musste Sarah ihm das erklären: „Tim, der Papa kann so bald noch nicht zu uns kommen, der ist in einer Klinik, aber ganz bald gehen wir ihn besuchen, er freut sich schon auf euch!“ sagte sie und nun nickte Tim altklug und sagte: „Papa ist krank!“ und darauf konnte Sarah nichts erwidern, obwohl die Sache ja eigentlich viel komplizierter war.


    Hildegard brachte der jungen Frau einen Kaffee und stellte selbst gebackene Kekse auf den Tisch, bei deren Herstellung Tim ihr geholfen hatte, wie er stolz in seiner Kindersprache erzählte. Sarah war von Herzen froh, dass ihre Kinder so liebevoll betreut wurden und berichtete nun ihrer Vertrauten erst einmal persönlich, wie es Ben so ging und dass er jetzt voller Motivation steckte. „Morgen werde ich ihn mit den Kindern kurz besuchen und ihm seine Sachen bringen. Ich freue mich aber jetzt auf unser Zuhause und wollte dich bloß fragen, ob ich dir morgen Lucky nochmals kurz vorbei bringen darf, während wir in die Rehaklinik fahren. Ich kann ihn ja schlecht im heißen Wagen lassen und wie lange wir weg sind, weiss ich auch noch nicht!“ erklärte sie und Hildegard nickte mütterlich. „Na klar bringst du Lucky vorbei und du weisst ja-auch du und die Kinder sind immer gern gesehene Gäste hier bei mir-wobei Tim und Mia-Sophie eigentlich keine Gäste, sondern fast ein wenig hier zuhause sind und darüber freue ich mich sehr, denn die beiden sind mir unheimlich ans Herz gewachsen!“, sagte sie freundlich und nachdem sie eine ungefähre Zeit ausgemacht hatten, Sarah ihren Kaffee ausgetrunken und die Kekse probiert und gelobt hatte, half sie ihr, die Kinder zum Wagen zu bringen und anzuschnallen. Lucky war ebenfalls wie selbstverständlich in seine Box im Kofferraum gesprungen-jetzt gings heim, allerdings hatte er genau gerochen, dass Herrchen nicht dabei war und auch schon länger nicht mehr in dem Wagen gesessen hatte. Sarah hatte am Herweg noch ein paar frische Kleinigkeiten eingekauft, denn wer hätte auch ahnen können, als sie zu dem Wochenendtrip nach Bayern aufgebrochen waren, dass sie erst knappe drei Wochen später wieder heimkehren würden und Ben´s und damit auch ihrer aller Leben sich vielleicht grundlegend gewandelt hatte?
    Gott sei Dank hatte sie in ihrem Heimatort eine liebe Nachbarin, die ihr wie selbstverständlich die Blumen in Haus und Garten gegossen und auch gelüftet hatte, nachdem sie von Jenni Bescheid bekommen hatte, so roch die Luft auch nicht abgestanden und alles hätte sein können wie immer, wenn nicht Ben´s ungewisses Schicksal im Raum gestanden hätte. Aber gemeinsam würden sie das schaffen-da war sich Sarah ganz sicher!


    Bei Ben in der Klinik war inzwischen die Schwester ins Zimmer getreten und hatte auf dem Tisch einige Utensilien abgelegt, was Ben sozusagen das Herz in die Hose rutschen ließ. „Herr Jäger-jetzt schauen wir erst einmal gemeinsam, wie voll ihre Blase ist und entscheiden dann, ob jetzt schon Zeit zum Kathetern ist, oder noch nicht!“ sagte sie freundlich und schlug wie selbstverständlich seine Decke zurück. Momentan schob sie nur seine kurze Sporthose ein wenig nach unten und fühlte auf seinen Bauch. „So Herr Jäger, jetzt müssen sie zunächst einmal lernen, ihre Blase zu tasten. Erst wenn sie mindestens auf der Hälfte der gedachten Linie zwischen dem Bauchnabel und dem Schambeinhöcker steht, ist es sinnvoll sie zu entleeren. So oft wie nötig, aber eben auch nicht zu häufig, ist die Devise, weil natürlich jedes Kathetern wieder ein Infektionsrisiko birgt. Ich fühle sie erst kurz über dem Schambein, also ist sie noch nicht voll genug-jetzt versuchen sie es!“ ermunterte sie ihn und führte seine Hand, die er zögernd auf seinem Bauch abgelegt hatte. Ben runzelte die Stirn und versuchte konzentriert zu tasten und tatsächlich-wenn man wusste, wie sich das anfühlte, war es gar nicht so schwer. „Und was machen wir jetzt?“ fragte er unsicher und die Schwester schlug lächelnd die leichte Sommerdecke wieder über ihn. „Abwarten und Tee trinken!“, ist jetzt die Antwort, die sich regelrecht anbietet!“ erwiderte sie freundlich und mit einem Lächeln, während sie ihre Hände am Spender, der im Zimmer hing, desinfizierte.

    „Ich bringe ihnen jetzt erst einmal ihr Abendbrot, normalerweise legen wir Wert darauf, dass unsere Patienten die Mahlzeiten gemeinsam im Speisesaal einnehmen, aber mit ihnen müssen wir erst Rollstuhltraining machen, ihr Kreislauf wird das lange Sitzen noch nicht mitmachen, aber das ist normal nach einer solchen Verletzung und dauert ein wenig!“ erklärte sie sachlich und Ben war einerseits froh, dass die Schwester so nett und kompetent wirkte, aber andererseits war ihm ganz schön bange vor dem, was ihm bevor stand. Trotzdem aß er seine zwei belegten Brote und trank auch Tee und Wasser dazu, denn sein Verstand sagte ihm, dass er da ja sowieso nicht drum rum kam und tatsächlich, eine Stunde später war es so weit und er konnte seine Blase auf der angegebenen Höhe tasten.


    „Ich glaube es ist so weit!“, vermeldete er mit einem Kloß im Hals, als die Schwester das Tablett abräumte. „Gut in ein paar Minuten bin ich bei ihnen!“, sagte sie freundlich und tatsächlich stand sie kurz darauf vor ihm. „Jetzt zunächst einmal ein paar Erklärungen: Gute Vorbereitung und hygienisches Vorgehen ist bei dieser Sache sehr wichtig. Wenn sie den Dreh erst einmal heraus haben, ist es nicht schwierig, sie werden hier einige Patienten und Patientinnen kennen lernen, die den ISK-den intermittierenden Selbstkatheterismus- schon seit Jahren problemlos praktizieren. Prinzipiell gilt aber-nie gewaltsam vorgehen und Kraft anwenden, sonst können sie sich selber schwer verletzen. Die Einmalkatheter sind in der Handhabung praktischer, als der Dauerkatheter aus Silikon mit dem sie gekommen sind, die sind nämlich ein wenig steifer, hydrophil beschichtet, so dass kein Gleitmittel nötig ist und lassen sich gut vorschieben, ohne dass sie den Katheter selber vorne anfassen müssen, was wiederum zu einer Verkeimung führen könnte. Das Erste was sie normalerweise tun, bevor sie beginnen, ist ihre Hände gründlich zu waschen-wir machen das jetzt kurz am Bett mit der Waschschüssel“, sagte sie und brachte ihm auch schon die nötigen Utensilien und ein Einmalhandtuch zum Abtrocknen, während sie sein Kopfteil ein wenig höher fuhr, was er auch zum Essen schon hatte kurze Zeit aushalten können.
    „Dann legen sie sich Sprühdesinfektionsmittel und den Katheter bereit und öffnen die Verpackung nur hinten, wo sie ihn auch anfassen. Es gibt jetzt zwei Variationen-Patienten die mobil sind, setzen sich oft dazu auf die Toilette und lassen den Harn dorthinein ablaufen-in ihrem Fall brauchen wir aber einen Ablaufbeutel, der ist ebenfalls steril verpackt, den setzen sie jetzt bitte einmal auf!“, sagte sie und zögerlich öffnete Ben die Verpackung und steckte den Beutel ans Katheterende auf. „Ich empfehle ihnen, gerade bis sie ein wenig Routine haben, die Hose ganz herunter zu schieben, damit ihre Kleidung nicht stört!“ wies sie ihn dann an und folgsam entledigte sich Ben seiner Hose ein Stück weit. „Jetzt nehmen sie das Desinfektionsspray und besprühen damit erst ihre Fingerspitzen und dann den Harnröhreneingang, die Vorhaut müssen sie dazu natürlich zurück schieben!“ leitete ihn die Schwester an und jetzt vergaß Ben ganz sich zu genieren, denn die sachlichen professionellen Erklärungen ließen da keine Scham zu-das war eine Sache die gemacht werden musste und irgendwie erleichterte es ihn, als die Schwester dezent darauf hinwies, dass hier in der Klinik viele Patienten waren, die dasselbe praktizierten wie er.
    „Jetzt nehmen sie den Katheter, ziehen ihn mit einer Hand aus der Packung und achten darauf, nirgends hinzukommen-dann ist er nämlich unsteril und muss entsorgt werden. Das passiert schon mal, aber lieber werfen sie einen kontaminierten Katheter weg. So ein Ding kostet zwar etwa drei Euro, aber die Kosten dafür werden von den Kassen übernommen und jeder Harnwegsinfekt ist bei einem Querschnittgelähmten ne Riesensache!“, fuhr die Schwester mit der Erklärung fort. „Noch ein kleiner Tipp aus der Praxis-manchmal klebt die Verpackung ein wenig fest-die meisten nehmen die dann mit den Zähnen, bis das Schläuchlein frei ist, so geht das am besten. So jetzt halten sie ihren Penis kopfwärts und führen den Katheter einfach ein. Wenn ein Widerstand kommt, hören sie bitte sofort auf, dann ziehe ich mir sterile Handschuhe an und schaue was los ist, aber sonst machen sie jetzt einfach und wir sehen, ob es klappt!“ sagte sie und Ben atmete einmal tief ein, überwand sich und tat, was die Schwester gesagt hatte-fühlen tat er sowieso fast nichts dort unten. Wenig später füllte sich der Beutel, der zwischen seinen Beinen lag mit Urin und als es aufhörte zu laufen, wurde er noch angewiesen, den Katheter ein wenig zu drehen und zurück zu ziehen, damit auch noch der letzte Rest entleert wurde. „Wenn Harnreste in der Blase verbleiben, können sich die infizieren, deshalb ist es wichtig, die Blase immer vollständig leer zu machen, jetzt ziehen sie den Katheter heraus und werfen ihn mitsamt dem Beutel daran in den Abfalleimer, den ich ihnen nebens Bett gestellt habe!“ folgte die letzte Anweisung und aufatmend machte Ben, was ihm aufgetragen wurde. „So fertig, das haben sie gut gemacht, ich bringe ihnen noch einen feuchten Waschlappen für ihre Hände, sie können sich wieder anziehen und ab sofort werde ich mich um diese Sache nur noch kümmern, wenn es Probleme gibt, scheuen sie sich aber nicht, mich oder jede andere Pflegekraft zu fragen. Ich lege einige Katheter ins Nachtkästchen, das Spray bleibt auch da und für unterwegs gibt es auch desinfizierende Feuchttücher für die Hände-da stelle ich ihnen jetzt eine Packung her, damit sie gerade auch nachts ganz unabhängig sind, bis sie das Bett selbstständig verlassen können!“, sagte sie noch und ging auch schon aus dem Zimmer, während Ben seine Hose wieder mühsam nach oben bastelte und das Bett flach stellte. Eigentlich war das gar nicht so schlimm gewesen und er war jetzt fast ein bisschen stolz auf sich.

  • Semir wurde von Andrea und den Mädchen freudig empfangen. Nachdem heute ein warmer Junitag und Ayda mit den Hausaufgaben bereits fertig war, machte Andrea kurz eine Maschine mit Semir´s Wäsche an, soweit er sie nicht in Mündling bereits gewaschen hatte und dann gingen sie gemeinsam in ein Freibad in der Nähe mit einer neuen Wasserrutsche. Zu selten kam es bei ihnen vor, dass der Papa unter der Woche am Nachmittag Zeit hatte und da war es im Bad eben nicht so voll wie am Wochenende. Semir rutschte mit seinen Kindern und beim Schwimmen, Plantschen und Toben fiel der Stress mit einem Schlag von ihm ab. Er hatte ein gutes Gefühl-Ben würde alles tun, damit er so viele Funktionen zurück bekam wie möglich und sein Leben würde vielleicht anders sein als vorher, aber er war sich sicher, dass er sich an die neue Situation gewöhnen würde. Allerdings gab es ihm einen Stich ins Herz. Ob Ben noch jemals- so wie er gerade-mit seinen Kindern die Wasserrutsche benutzen könnte, stand in den Sternen.
    Sie kauften gleich im Bad noch Eis und Pommes und nachdem sie danach die glücklichen Kinder gemeinsam ins Bett gebracht hatten, kuschelten sich Semir und Andrea noch auf der Couch bei einem Glas Rotwein zusammen und erst jetzt erzählte der kleine Türke seiner Frau genau, was er die letzten Tage in Bayern erlebt hatte. Sie hatten zwar jeden Tag telefoniert, aber sich dabei im Arm zu halten, war einfach etwas anderes! Danach gingen sie bald zu Bett und Semir schlief wie ein Stein und erwachte am Morgen erfrischt. Als er zur Arbeit fuhr, erspähte er-wie so oft-einige Fahrzeuge vor sich Hartmut´s Wagen, dessen heißgeliebte Lucy. Sie fuhren beide immer pünktlich um dieselbe Zeit los und nachdem Hartmut zufällig im selben Stadtteil wie Semir lebte, war es gar keine Seltenheit, dass sie sich begegneten. Die KTU und die PASt lagen zwar ein wenig voneinander entfernt, aber die Richtung war die gleiche und der Arbeitsbeginn ebenfalls. Semir hatte laut türkische Musik laufen-etwas was sowohl Ben als auch Andrea zur Weißglut treiben konnte, aber für ihn war das entspannend und er sang gut gelaunt mit, während er in einigem Abstand Hartmut durch den morgendlichen Verkehr folgte. Es war gar nicht so viel los, die Urlaubssaison hatte bereits begonnen, viele Kölner fuhren bei dem wundervollen Wetter auch mit dem Rad und so kamen sie zügig voran. Dann näherten sie sich an einer Gefällstrecke einer Kreuzung und unmittelbar vor Hartmut schaltete die Ampel auf Rot. Semir sah voller Entsetzen, dass ein großer Tanklastzug in die Kreuzung einfuhr, aber Hartmut nicht gebremst hatte, sondern mit vollem Tempo auf das riesige Gefährt zu schoss. Dann gab es einen Knall und das hässliche Geräusch von Metall, das auf Metall quietschte. Semir beobachtete wie in Zeitlupe, wie Hartmut anscheinend bewusstlos hinterm Steuer des im Frontbereich völlig verbeulten Fahrzeugs hing und sah auch schon Benzin aus dem Tank des Oldtimers auslaufen und kurz darauf Flammen züngeln. Er schnallte sich ab, sprang aus dem Wagen und schrie den Passanten und den Insassen der stehenden Fahrzeuge zu: „Weg hier!“ während er wie ein Wahnsinniger Richtung Unfallstelle rannte.
    Der Attentäter, der Hartmut´s Wagen in einigem Abstand ebenfalls gefolgt war, wendete in einer Hofeinfahrt und sah zu, dass er wegkam, als auch schon ein lauter Knall ertönte und ein riesiger Feuerball in den morgendlichen Kölner Himmel schoss.


    Ben hatte gut geschlafen. Einmal hatte er sich in der Nacht selbstständig kathetert und die Nachtschwester, die ein paarmal nach ihrem Neuzugang gesehen hatte, konstatierte zufrieden, dass er sich anscheinend auch bewusst drehte, da musste sie keine Angst haben, dass er sich wund lag. Er hatte am Abend noch eine Schmerztablette bekommen und als am Morgen die Frühdienstschwester ihm beim Waschen half, konnte er schon ziemlich viel selber machen. „Sobald sie eine längere Zeit sitzen können, kleben wir eine Duschfolie auf die Rücken- und die Bauchwunde und dann können sie duschen. Das wird ihnen auch gut tun nach dem Sport!“ informierte sie ihn und das klang in Ben´s Ohren total verheißungsvoll. Sport und Dusche-das waren zwei Schlagworte, die ihn einem normalen Leben näher brachten und als er nun wieder in seinem Zimmer gefrühstückt hatte, kam auch schon der Physiotherapeut zu ihm, um seine spezielle Aufnahme zu machen und dann ein erstes Trainingsprogramm zu erstellen. Er stellte sich vor und wie der Arzt und die Schwester am Vortag, besah auch er sich den neuen Patienten von Kopf bis Fuß. Sehr detailliert machte er eine Bestandsaufnahme des Bewegungsspielraums, zeichnete in einen Plan die genauen Lähmungen ein, prüfte die aktiven und passiven Gelenkbeugungen und Streckungen und begann dann auch schon mit der ersten Trainingseinheit-vorerst noch im Bett im Zimmer. Jetzt verstand Ben auch, was die überall angebrachten Griffe und Bügel sollten, denn der Physiotherapeut brachte ihn erst dazu, sich mittels Technik im Bett aufzurichten und mobilisierte dann die gelähmten Beine heraus, so dass Ben für kurze Zeit an der Bettkante saß. Er stabilisierte ihn, sagte ihm worauf er achten sollte, aber nach sehr kurzer Zeit wurde Ben furchtbar schwindlig, der Schweiß brach ihm aus und er bat darum, wieder hingelegt zu werden. Schnell erledigte das der Mann, der genau wusste wie er hin fassen musste und tröstete dann seinen neuen Patienten, als dem nun die Tränen der Verzweiflung in die Augen schossen. „Wie soll denn das nur werden, wenn mir, sobald ich nur ein wenig aufrecht bin, sofort schwindlig wird-ich kann doch da keinen Sport machen und auch das Zimmer nicht verlassen!“ klagte der Dunkelhaarige, aber der Physio ließ sich von dem Anfall von Mutlosigkeit nicht aus dem Konzept bringen. „Herr Jäger das sind die typischen Nachwirkungen des spinalen Schocks bei einer Querschnittlähmung. Hier treten unbewusste Regulationsmechanismen in Kraft, die können wir zwar nicht direkt willentlich beeinflussen, aber wir können den Körper an die aufrechte Körperhaltung gewöhnen. Wir werden ihnen ab sofort mindestens jede Stunde einmal beim Aufsetzen helfen, irgendwann versackt das Blut dann nicht mehr in den Beinen, was übrigens die Ursache für den Schwindel ist. Ihr Körper und vor allem ihr Nervensystem sind lernfähig, glauben sie mir das und zusätzlich trainieren wir den Oberkörper noch im Liegen, damit ihre dort gut ausgeprägte Muskulatur in Schuss gehalten oder sogar noch weiter aufgebaut wird. Sobald dann ein längeres Sitzen möglich ist, sind sie im Rollstuhl sehr mobil, das verspreche ich ihnen, weil ihre Armmuskeln ihnen bei der Fortbewegung helfen werden. Ich bringe ihnen nachher noch Hanteln und Flexiband und zeige ihnen ein paar Übungen, die sie selber machen können. Zum vormittäglichen Vortrag, den alle neuen Rehapatienten sich anhören sollten, werden sie im Bett gebracht und da können sie auch schon die ersten Mitpatienten kennen lernen. Ich erstelle jetzt gemeinsam mit den Ärzten und Schwestern ihren speziellen Trainingsplan, den kriegen sie dann erst einmal für die erste Woche ausgedruckt-wenn ihnen etwas zu viel wird oder nicht passt, bitte jederzeit melden und ach ja-gerade in den Gruppentherapien-kein falscher Ehrgeiz, hören sie auf, wenn sie kräftemäßig an die Kante kommen, zu viel ist da fehl am Platz. Was sie diese Woche noch nicht schaffen, gelingt ihnen dann in der nächsten spielend einfach-geben sie sich selber und ihrem Körper Zeit.“, mahnte er ihn und dann stand auch schon die Schwester im Zimmer.
    „Wir müssen zum Vortrag!“, belehrte sie den Physio nach einem Blick auf die Uhr und der zog eine Grimasse. „Ach ja-Pünktlichkeit wird hier im Haus sehr groß geschrieben!“, sagte er noch und rollte mit den Augen, während er schon die Bettbremse löste und der Schwester half, die Liegestatt aus dem Zimmer zu rangieren.

Jetzt mitmachen!

Sie haben noch kein Benutzerkonto auf unserer Seite? Registrieren Sie sich kostenlos und nehmen Sie an unserer Community teil!