Eiskalt

  • Die beiden Scheichs, die inzwischen ihre traditionelle Kleidung angelegt hatten, hatten mit Sarah und Corinna an der Raststätte angehalten. Gerade hatte das Midazolam wieder in der Wirkung ein wenig nachgelassen, so dass die beiden zwar noch benommen waren, aber doch selber gehen konnten. Sie durften nacheinander zur Toilette, allerdings blieb die jeweils andere als Geisel zurück und die Männer drohten: „Wenn eine von euch zu fliehen versucht, wird das die andere fürchterlich büßen!“ Sarah hatte das Gefühl, ihre Gedanken flössen zäh wie Honig, aber dann flüsterte sie plötzlich entsetzt: „Meine Kinder!“ aber die Scheichs lächelten böse: „Ein weiterer Grund, warum ich mich ruhig verhalten würde!“ sagte der eine und in Sarah war plötzlich eine furchtbare Angst, die sie lähmte-oh Gott, hoffentlich hatten die brutalen Typen denen nichts angetan und als sie fragte: „Was ist mit ihnen und wo sind sie?“ bekam sie keine Antwort, aber eines war für sie jetzt klar, sie würde sich wohl verhalten, damit sie die für sie wertvollsten Menschen auf der Welt-neben Ben natürlich-nicht in Gefahr brachte. Ihr brach es beinahe das Herz, wenn sie daran dachte, dass die vermutlich inzwischen aufgewacht waren und nun alleine in der fremden Wohnung waren, Angst hatten und nach der Mama weinten. Nur der Gedanke, dass Jenni ja noch vorbei kommen wollte, hielt sie davon ab, jetzt und sofort wahnsinnig zu werden-und den anderen Gedanken, der sich in ihren Kopf schob und das Bild von zwei ermordeten Kindern zeigte, konnte und wollte sie nicht zulassen, sonst würde sie auf der Stelle verrückt werden.


    Corinna konnte zwar ebenfalls noch nicht richtig denken, aber ihr fiel das Handy ein, das sie immer noch in ihrer Hosentasche spüren konnte. Wenn sie in der Kabine war, würde sie es wagen und die Polizei verständigen! Als sie sich erleichtert hatte, kramte sie mit zitternden Fingern das Mobilteil hervor und versuchte es einzuschalten. Ihre Finger waren so ungeschickt und die brennenden Augen wollten ihr immer wieder zufallen, aber sie bemühte sich, ruhig zu bleiben und hatte gerade zu wählen begonnen, als plötzlich die Tür zu ihrer Kabine mit Wucht aufgebrochen wurde, der Scheich mit zornblitzenden Augen vor ihr stand, ihr das Handy aus der Hand riss, es zu Boden warf und mit dem Absatz zertrat. Der Toilettengang hatte eindeutig zu lange gedauert und er war misstrauisch geworden. Gerade war zufällig keine andere Frau in dem Waschraum gewesen, die sich beschweren könnte und so war er wie der Racheengel in Person herein gestürmt und zerrte nun-nachdem er das Handy in den Müll geworfen hatte- Corinna am Arm hinter sich her, die leichenblass geworden war. „Ich hoffe du hast jetzt gerade keinen Fehler gemacht-aber warte nur, bis wir zuhause sind, dann werde ich dir schon Manieren beibringen!“ zischte er zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor und Corinna lief es kalt den Rücken herunter, sie hatte plötzlich ziemliche Angst! Wenig später saßen die beiden Frauen wieder im Fond des Mietwagens, sie hatten sich noch kurz angesehen und beide festgestellt, wie verändert die jeweils andere durch die farbigen Kontaktlinsen aussah. Auch eine vorwitzige Haarsträhne die sich ihren Weg nach draußen gesucht hatte war plötzlich schwarzbraun gewesen-was war nur mit ihnen geschehen? Bevor sie allerdings noch wacher wurden, hatte sich erneut eine Nadel ihren Weg in ihren Oberschenkel gebahnt und die bleierne Müdigkeit und völlige Willenlosigkeit umfing sie wieder und sie merkten kaum, wie der Wagen am Frankfurter Flughafen einfach abgestellt wurde, die Rollkoffer ausgeladen wurden und sie zur Gepäckaufgabe und zum Check-in bugsiert wurden. Die Waffen hatten die Scheichs in dem Wagen zurück gelassen, mit denen würde schwer durch die Sicherheitskontrollen zu kommen sein, aber mit den hilflosen Frauen würden sie schon anderweitig fertig werden und die Drogen, die sie dabei hatten, waren ausreichend, um die bis in die Heimat gefügig zu machen. Wie in Trance liefen die beiden durch die Sicherheitsüberprüfung, nachlässig wurden die Papiere kontrolliert und die Frauen in ihren Burkas wurden auch nicht durchsucht. Danach dämmerten Sarah und Corinna erneut im Wartebereich vor sich hin, bis sie dann über Rolltreppen in die Maschine gelangten und in der ersten Klasse in bequeme Sitze gedrückt und angeschnallt wurden. Der Flugbegleiter hatte schon begonnen sein Sprüchlein aufzusagen, wie man sich im Notfall verhalten sollte und gerade rollte man Richtung Startbahn, als der Flieger plötzlich anhielt und sich Unruhe breit machte.


    Der deutschtürkische Polizist hatte seinen Ausweis gezückt und war zu dem Mitarbeiter des Sicherheitsdienstes gestürzt, der sich breitbeinig im Terminal aufgebaut hatte, damit niemand durch das Drehkreuz zu den Start-und Landebahnen gelangen konnte. „Gerkhan, Kripo Autobahn-es besteht der dringende Verdacht, dass sich an Bord der Maschine nach Riad Terroristen befinden, eventuell auch mit einer Bombe-mein Kollege und ich müssen sofort die Passagiere einer Sichtprüfung unterziehen!“ schrie er und Hartmut, der gerade hinter Semir, der gerannt war wie der Teufel, aufschloss, konnte wegen diesem klugen Schachzug nur bewundernd den Kopf schütteln. Diese beiden Schlagworte: „Terroristen und Bombe“ setzten Mechanismen und Reaktionen in Gang, die kein Flughafenbetreiber und kein Securitymitarbeiter ignorieren konnte. Dabei war es ja nach wie vor nur Vermutung ihrerseits, dass Sarah und Corinna sich an Bord befanden, Hartmut wagte gar nicht daran zu denken, was passieren würde, wenn sie mit ihrem Verdacht falsch lagen! Semir und er, sie würden degradiert werden, er würde in Zukunft die Toiletten in der KTU putzen und Semir würde wieder auf Streife gehen, aber das war dem kleinen Deutschtürken, dem das Adrenalin durch die Adern schoss, gerade völlig egal. Der Mitarbeiter der Flughafensicherheit war blass geworden-verdammt, wie sollte er sich verhalten, aber auch Hartmut hatte nun seinen Ausweis hervor gezogen, der war echt. Der Mitarbeiter wägte ab, aber was letztendlich den Ausschlag gab, war die Aufforderung: „Kommen sie mit und bringen sie gerne auch Kollegen mit und verständigen sie ihre Vorgesetzten, aber wir müssen uns erst einmal unauffällig verhalten, um die Verdächtigen nicht aufzuscheuchen, vielleicht gelingt uns eine einfache Festnahme!“ und so saßen Sekunden später Hartmut und Semir gemeinsam mit dem Sicherheitsdienstler auf einem Elektrowagen und Semir hatte wie selbstverständlich das Steuer übernommen und raste zur Maschine, während soeben alle Starts und Landungen gecancelt wurden. Mit seiner Aussage hatte Semir gerade einen der Welt größten Flughäfen lahm gelegt, aber bei der aktuellen politischen Lage wagte kein Airport eine solche Warnung nicht ernst zu nehmen!
    Semir fuhr, was das Wägelchen her gab und als er die Maschine erspäht hatte, wurde gerade schon eine fahrbare Gangway für sie heran gerollt. Der saudische Flugkapitän war über Funk verständigt worden und war blass geworden-sowas war sozusagen der Supergau für alle, die im Flugverkehr arbeiteten und auch er hatte Familie und war für die Sicherheit seiner Passagiere verantwortlich. So kam es, dass wenig später Semir und Hartmut in den Flieger gelangten und der Kapitän sich auf Englisch für die Verzögerung entschuldigte, man müsse noch zwei verspätete Passagiere an Bord nehmen. Nur die potentiellen Terroristen keinen Verdacht schöpfen lassen, damit die keine Kurzschlusshandlung begingen!


    Hartmut und Semir hatten begonnen, durch die Reihen der Passagiere zunächst in der Economy Class zu gehen. Aufmerksam musterten sie die Gesichter der Menschen, aber es kam ihnen keines bekannt vor, obwohl so einige Frauen in Burkas darin saßen. Unruhe machte sich im Flugzeug breit und Semir befürchtete schon, dass ihn sein Riecher verlassen hatte, da betrat er die Erste Klasse. In diesem Moment sprang einer der Scheichs auf, den gerade die Nerven verließen-das konnte doch nicht wahr sein-so kurz vor dem Ziel aufgehalten zu werden ging einfach nicht-er würde sich Zutritt zum Cockpit verschaffen und die Maschine kapern, aber da hatte er nicht mit Semir gerechnet. Wie ein angriffslustiger Terrier sprang er auf ihn zu und hatte im selben Moment auch Sarah und Corinna in den Burkas erkannt, obwohl die durch die farbigen Kontaktlinsen sehr verändert aussahen! Der Scheich hatte Sarah jetzt abgeschnallt und hoch gerissen: „Wenn sie nicht sofort verschwinden, bringe ich sie um!“ schrie er und legte seinen Arm von hinten um ihren Hals, als wolle er ihr das Genick brechen, aber da war Semir schon bei ihm. Mit einem Tritt in die Kniekehle brachte er den Scheich dazu, Sarah los zu lassen, die benommen zur Seite taumelte. In bester Bodyfightmanier landete Semir auf engstem Raum einige Körpertreffer mit denen der Scheich nicht gerechnet hatte. Außerdem legte der normalerweise nie selber Hand an und hatte sich nicht einmal in seiner Kindheit geprügelt-wer mit dem goldenen Löffel im Mund geboren wurde hatte das in seiner Heimat nicht nötig! So schaffte es Semir ohne große Gegenwehr den dunkelhaarigen Mann kampfunfähig zu machen, zu Boden zu werfen und ihm Handschellen anzulegen. Der andere hatte sich komplett ruhig verhalten und nicht erkennen lassen, dass er dazu gehörte, aber Hartmut hatte mit geübtem Blick die Nervosität in den Augen des Mannes gesehen und auch, wie er Corinna am Arm festhielt. „Keine falsche Bewegung!“ sagte er nun warnend und tat so, als würde er eine Waffe ziehen, dabei hatte er weder die noch Handschellen dabei, aber Semir drückte ihm nun den gefesselten Scheich in die Hand, setzte dem anderen seine Waffe an die Schläfe und sagte: „Tu was mein Kollege gesagt hat, sonst puste ich dir dein Gehirn weg!“ und nun ergab sich auch der zweite Scheich.
    „Sarah-Corinna, geht es euch gut?“ fragte Semir nun, während hinter ihnen nun das Flugzeug plötzlich vor Menschen nur so wimmelte. Die Flughafenpolizei war hinzu geeilt und wenig später wurden die beiden Männer, bei deren Durchsuchung man noch zwei verdächtige USB-Sticks und mehrere Spritzen und Ampullen fand, mit einem Polizeifahrzeug mit verdunkelten Scheiben zum Verhör weggebracht und zwei Krankenwagen und ein Notarzt kümmerten sich um Sarah und Corinna, die immer noch nicht wussten, was mit ihnen gerade geschah. „Wie siehts aus?“ fragte Semir besorgt den Notarzt, der den beiden Frauen eine Infusion gelegt hatte. „Soweit ich das beurteilen kann, nicht all zu schlecht. Denen wurde mehrfach ein Sedierungsmittel gespritzt, ich denke das war Midazolam, wie ja die Ampullen, die sie bei den Entführern gefunden haben, beweisen. Da gibt es ein Antidot dafür, das spritze ich ihnen jetzt!“ sagte er und tatsächlich-wenig später konnten Sarah und Corinna sich wieder orientieren. „Was ist mit Tim und Mia-Sophie?“ fragte Sarah sofort angstvoll, aber Semir konnte sie beruhigen: „Die sind bei eurer guten Seele Hildegard, es geht ihnen soweit gut!“ sagte er und nun atmete Sarah erleichtert auf. „Gott sei Dank!“ sagte sie schwach, aber dann schloss sie ein wenig die Augen, sie war plötzlich nur noch eines-hundemüde!

  • Als Sarah kurz darauf die Augen wieder aufschlug, fragte sie: „Und wie geht es Ben?“ aber Semir konnte ihr nur wenig Auskunft geben, die letzten Stunden war er mit etwas anderem beschäftigt gewesen. „Sarah ich weiss es nicht-als wir die Nachricht von eurer Entführung erhalten haben, bin ich sofort los gefahren-ich muss jetzt dringend dort anrufen, damit er aufhört sich Sorgen zu machen, ich grüße ihn von dir-und Klaus muss auch verständigt werden!“ sagte er und kletterte aus dem Krankenwagen, um einige Anrufe zu erledigen. Draußen wurde er sofort von einer Meute Journalisten umringt, die ihm die Mikrophone vors Gesicht hielten, ein riesiges Aufgebot an Polizei, Feuerwehr, geschäftig dreinblickenden Anzugträgern und Männern in Latzhosen wimmelte um die Maschine herum, der Pressesprecher des Flughafens hatte die Journalisten auf ihn angesetzt und so schaltete Andrea gerade die Nachrichten ein, als Semir auf dem Bildschirm zu sehen war. „Was ist geschehen, stimmt es, dass eine Bombendrohung vorlag, ist es richtig, dass sie Autobahnpolizist sind und dass es Verletzte gab?“ und viele andere Fragen prasselten auf ihn herein. Der kleine Türke hob abwehrend die Hände: „Die Ermittlungen laufen noch, ich kann ihnen momentan keine weiteren Auskünfte geben!“ sagte er und in diesem Moment kamen auch schon Mitarbeiter des BKA und umringten ihn, um ihn zuerst zu befragen. Semir fluchte-das hatte es gerade noch gebraucht, aber er folgte den Kollegen willig zu deren bereit stehenden Kastenwagen mit getönten Scheiben-Hauptsache er war die Presseheinis los! „Herr Gerkhan-was ist hier los?“ fragte der Mitarbeiter der Behörde, die sich unter anderem mit Terrorbekämpfung beschäftigte und Semir sah Hartmut auch schon in dem Wagen sitzen und hilflos mit den Schultern zucken. Semir seufzte auf und umriss mit kurzen Worten die Geschehnisse der letzten fünf Tage, woraufhin er sich die Frage stellen lassen musste: „Warum haben sie uns nicht früher informiert?“ darauf aber keine Antwort gab. Du lieber Himmel, wie er so etwas hasste, aber in diesem Augenblick öffnete sich die Tür des BKA-Fahrzeugs und die Chefin stand vor ihnen.


    Selten hatte Semir sich so gefreut, seine Vorgesetzte zu sehen, auch wenn sie manchmal aneinander gerieten, sie stand doch hinter ihren Leuten und bewies das auch diesmal wieder: „Herr Gerkhan wird ihnen die nächsten Tage zu einem offiziellen Termin zur Verfügung stehen. Der Einsatz wurde mit meinem Wissen und meiner Billigung durchgeführt, die Entscheidung sie nicht zuzuziehen war begründbar und wie sie sehen können, ja durchaus erfolgreich. Im Augenblick stehe ich ihnen für weitere Fragen zur Verfügung, meine Mitarbeiter müssen sich dringend ausruhen!“ sagte sie und Semir ergriff sofort die Gelegenheit, aufzustehen und gemeinsam mit Hartmut die Flucht zu ergreifen. Sie verließen das Flughafengelände und gingen zum BMW-nur weg hier!
    Die beiden Krankenwagen waren auch bereits verschwunden, man würde sicher Sarah und Corinna eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus lassen, aber Semir hatte auch Jenny erspäht, die ihm aus der Ferne zu gewinkt hatte-die konnte er nachher anrufen, aber so trat er erst einmal aufs Gas und verließ die Menschenmengen, als schon sein Handy klingelte und er nach einem kurzen Blick darauf feststellen konnte, dass Andrea anrief. Er schaltete auf Freisprechen und schon ertönte ihre geschockte Stimme aus dem Lautsprecher: „Semir-ich dachte, du bist bei Ben in Nordschwaben und jetzt sehe ich dich im Fernsehen am Frankfurter Flughafen-was zum Teufel ist passiert und geht es dir gut?“ fragte sie angstvoll, aber Semir konnte sie beruhigen: „Doch Andrea-uns geht es allen gut, der Fall ist gelöst, wir haben die Bösen verhaftet, Sarah und Corinna sind auch in Sicherheit-du weisst vermutlich noch gar nicht, dass die entführt wurden?“ sagte er schuldbewusst, aber Andrea war von ihrer Freundin Susanne im Groben auf dem Laufenden gehalten worden, denn so nach und nach war ja die gesamte PASt in den Fall mit hinein gezogen worden. „Kommst du jetzt nach Hause?“ fragte Andrea nun, aber nach einem Blick auf Hartmut, der den Kopf schüttelte, antwortete ihr Mann: „Nein Andrea-es gibt jemanden, der mich gerade notwendiger braucht als du und die Kinder-ich fahre zurück zu Ben!“ und dem war nichts hinzu zu fügen.


    In der Klinik war Ben allmählich ein wenig klarer geworden. Allerdings stieg in gleichem Maße wie die Wirkung des Tavors nachließ, das Fieber und so warf er sich immer noch unruhig und Schweiß gebadet in seinem Bett umher, so dass die Schwester es aktuell nicht wagte, seine Hände los zu machen. „Meine Frau-was ist mit meiner Frau und meinen Kindern?“ fragte er immer wieder, während er mühsam nach Atem rang, aber niemand konnte ihm Auskunft geben.


    Klaus hatte sich in der Polizeidienststelle herum getrieben, als die Nachricht von der Entführung herein kam, die ihm der Dienststellenleiter versuchte schonend mitzuteilen.“Oh mein Gott-jetzt ist genau das passiert, was wir verhindern wollten!“ stöhnte Klaus fix und fertig und schlug die Hände vors Gesicht. Der Polizist brachte ihm Kaffee, erklärte, dass seine Kollegen sicher ihr möglichstes tun würden, um die Frauen zu befreien, aber Klaus war einfach nur fix und fertig und hatte jede Sekunde Angst, eine schlimme Nachricht zu erhalten. Um ihn abzulenken, hatte jemand den Fernseher angeschaltet und so sah er viele Stunden später plötzlich ein bekanntes Gesicht im Fernsehen-gerade war zuvor ein Liveticker eingespielt worden, wegen einer Bombendrohung am Frankfurter Flughafen. Wie elektrisiert schoss Klaus hoch, aber er hatte nicht einmal mehr ein Handy und Semir´s Nummer und saß jetzt auf glühenden Kohlen, bis endlich der erlösende Anruf in der Dienststelle eintraf. Semir, der zuvor kurz im Krankenhaus angerufen und gebeten hatte, Ben zu informieren, hatte danach die Polizeidienststelle informiert und man gab Klaus nun den Telefonhörer in die zitternden Hände. „Klaus-es gibt Entwarnung. Corinna und Sarah sind befreit, wir haben die Entführer geschnappt, nur ein Einzelner fehlt noch, aber auch den werden wir noch kriegen. Corinna wird zwar zur Beobachtung eine Nacht in Frankfurt in einem Krankenhaus bleiben müssen, aber ich denke, du kannst sie morgen abholen fahren, sie hat nur Schlafmittel bekommen und die wollen sie jetzt noch nicht entlassen. Für dich selber besteht vermutlich auch keine akute Gefahr mehr, du kannst dich nach Hause fahren lassen und Ben´s Bewacher können auch abgezogen werden, ich habe es gerade meinem nordschwäbischen Kollegen schon mitgeteilt. Und ach ja-noch was-Hartmut lässt fragen, ob er noch einmal für heute Nacht deine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen darf? Wir sind in etwa zwei Stunden in Mündling!“ sagte er und Klaus, dem vor Erleichterung beinahe die Tränen herunter liefen, stimmte natürlich sofort zu. Er ließ sich von einer Polizeistreife zu seinem Wagen bringen, der ja noch auf dem riesigen Parkplatz seiner Firma stand und es war kurz vor Mitternacht, als Semir mit seinem BMW in die Einfahrt in Mündling einbog.

    Kurz unterhielten sie sich und dann machte sich Semir bereits auf den Weg in die Klinik, als ihm in der Dunkelheit eine glühende Zigarettenspitze in einem ein wenig abseits hinter ein paar Büschen geparkten Wagen auffiel, die ihm komisch vorkam. Er fuhr zwei Querstraßen weiter, stellte den BMW ab und schlich leise zu Klaus´ Haus zurück, in das sich der und Hartmut inzwischen schon zurück gezogen hatten. Mit zwei Schritten war er bei dem älteren Wagen, riss die Tür auf und zog den überraschten Mann auf dem Fahrersitz heraus. Das war genau das Fahrzeug, nach dem die Fahndung lief und so konnte er den stinkenden und völlig überraschten und überforderten Verbrecher, der schon ganz verzweifelt war, weil er sei dem Morgen nichts mehr von seinem Komplizen gehört hatte, auf der Stelle festnehmen und von den uniformierten Kollegen abholen lassen. Es war schon weit nach Mitternacht, als Semir –jetzt selber ziemlich am Ende-im Donauwörther Krankenhaus ankam und nach einem kurzen Wortwechsel mit dem Pförtner, der ihn zunächst nicht herein lassen wollte, draußen an der Intensivstation läutete. „Gut dass sie da sind-ihrem Freund geht es sehr schlecht!“ empfing ihn die Nachtschwester, die auch gestern da gewesen war, mit ernster Miene und so trat Semir nun langsam in Ben´s Zimmer, das hell erleuchtet war und in dem geschäftiges Treiben herrschte.

  • Ben hatte furchtbar gefroren. Das Tavor hatte zwar nach und nach seine Wirkung verloren, aber leider war dafür das Fieber gestiegen. Ihm war gleichzeitig heiß und kalt, die krampfhaften Hustenstöße die ihn schüttelten, verursachten ihm Schmerzen im Rücken und an den versorgten Verletzungen. Sein Blutdruck war immer weiter in den Keller gegangen und man hatte ihm massiv Flüssigkeit zukommen lassen. Im Gegenzug wurde seine Atmung immer mühsamer. Die Spätdienstschwester hatte es nochmals versucht, ihm die Atemmaske des CPAP-Geräts aufs Gesicht zu schnallen und dann seine Hände losgemacht-sie hatte ihn beschworen, die Maske in Ruhe zu lassen, aber sie hatte den Raum gerade verlassen, da gab das Beatmungsgerät schon Leckagealarm-Ben hatte die Maske wieder von seinem Gesicht gezerrt, weil er darunter Beklemmungen bekam und schwitzte. Man versuchte anderweitige Atemgymnastik, aber war es durch das Fieber, die Nachwirkungen des Tavors oder einfach die psychische Ausnahmesituation-Ben machte nicht mit, konnte sich nicht konzentrieren, sondern murmelte nur immer: „Sarah!“ vor sich hin. Es erschien ihm wie ein schrecklicher Alptraum, die Liebe seines Lebens, die Mutter seiner Kinder-sie war entführt worden! Und leider war er Polizist genug, um zu wissen, dass das funktionieren konnte, sie ins Ausland zu bringen, so dass er und auch niemand anderer sie jemals wiederfinden würde. Und außerdem war er ein Krüppel und konnte schon deshalb keine Verbrecher jagen, obwohl gerade jetzt seine Frau seine Hilfe gebraucht hätte.
    Und seinen Kindern-ging es denen wirklich gut, wie Semir gesagt hatte, oder hatte man ihm die schreckliche Wahrheit nur nicht mitteilen wollen, damit er nicht aufhörte zu kämpfen? Menschen die unschuldige Frauen entführten und skrupellos militärische Geheimnisse durch Erpressung zu erlangen versuchten, würden keine Kinder schonen-wenn die ihnen im Weg waren, würden sie sie töten. Ja vermutlich waren sein süßer Tim, sein kleines Ebenbild, in dem er ständig Züge seiner selbst wiederfand und in dem er gedacht hatte weiterzuleben, wenn es ihn einmal nicht mehr gab, inzwischen bereits tot-ermordet, genauso wie seine blond gelockte Tochter, ein Baby, nach dem sich die Leute auf der Straße umdrehten, weil sie einfach nur goldig war und zudem ihrer Mutter sehr ähnlich sah.
    Die Verzweiflung schlug über ihm zusammen und im gleichen Maße wie das Fieber stieg, verwirrte sich auch sein Verstand und er wurde schwächer und schwächer. Das Husten strengte ihn so an und tat so weh-irgendwann ließ er es einfach sein und er merkte selber, wie das zähe Sekret seine Atemwege verstopfte, aber es war egal, ohne die Menschen, die ihm am meisten bedeuteten, wollte er sowieso nicht mehr weiterleben. Seinen Beruf konnte er gleichfalls vergessen mit der Querschnittlähmung-alles was ihm im Leben Freude gemacht hatte, war ihm genommen worden und zum wiederholten Male verfluchte er Semir, weil ihn der aus der Höhle gerettet hatte-er hätte es jetzt schon hinter sich und wäre vermutlich im Jenseits- wenn es denn so etwas gab- mit seinen Liebsten vereint.

    Inzwischen hatte er aufgehört zu kämpfen, sondern lag nur noch ganz still, atmete möglichst flach, damit er keinen Hustenreiz provozierte und tief in ihm drin hatte er völlige Gewissheit, dass seiner Familie das Schlimmste widerfahren war. Niemand sagte ihm irgendetwas und leider war Hildegards Anruf in dem ganzen Trubel, der gerade auf der Station herrschte, untergegangen und man hatte auch vergessen, ihm wenigstens auszurichten, dass es seinen Kindern gut ging-wer hätte auch gedacht, welche Horrorszenarien sich in Ben´s Kopf abspielten? Wenn er die Augen schloss, kamen ihm viele Gesichter des Todes, die er in seiner langen Berufslaufbahn gesehen hatte, wieder in den Sinn. Schrecklich zugerichtete Leichen drängten sich in seine Erinnerung, aber das Entsetzliche daran war, dass sie alle bekannte Züge hatten-jede sah einem Familienmitglied ähnlich und das trieb ihn fast in den Wahnsinn. So litt Ben Stunde um Stunde vor sich hin, seine Blutgase wurden schlechter und schlechter und man spielte jetzt bereits mit dem Gedanken, ihn wieder zu intubieren, aber noch war es nicht unbedingt nötig, vielleicht würde er ja das Ruder nochmals herum reißen!


    Der diensthabende Intensivarzt hatte gerade eine Reanimation erfolgreich abgeschlossen, als er gegen Mitternacht nochmals die aktuellen Werte der übrigen Patienten studierte. Dieser Jäger war sein Sorgenkind, der war völlig depressiv und nicht mehr so richtig zugänglich, seitdem sein Freund weg war. Er war in die ganze Geschichte nicht eingeweiht, ihm war nur so viel bekannt, dass es familiäre Probleme gab, irgendwer hatte etwas von Entführung gemurmelt, aber sie lebten in der friedlichen Provinz, da kamen doch keine Kapitalverbrechen vor-das hatte sicher nur irgendjemand so dahin gesagt, um sich wichtig zu machen. Trotzdem musste er , bevor er sich im Bereitschaftszimmer zur Ruhe begab, jetzt den jungen Polizisten nochmals genauer anschauen und wenn es nicht ohne Beatmung ging, dann intubierte man lieber jetzt in aller Ruhe, als in ein paar Stunden dann notfallmäßig. So trat er an Ben´s Bett und versuchte mit ihm Kontakt aufzunehmen, aber sein hoch fiebernder Patient, der Tränenspuren in den Augen hatte, drehte nur den Kopf weg, als er ihn ansprach. Er hatte das große Licht angemacht und nun zu seinem Stethoskop gegriffen, um den Brustkorb des sportlichen jungen Mannes abzuhorchen-man sah, dass der normalerweise auf seinen Körper achtete, denn die Muskeln waren gut ausgeprägt und klar definiert, er hatte kein Gramm zu viel auf den Rippen, aber das alles half ihm jetzt auch gerade nichts, denn er wirkte wirklich schwer krank und zwar nicht nur wegen der Lähmung.
    Als der Arzt den Thorax abhörte, erschrak er-die Geräusche da drin klangen alles andere als gut, da war eine Menge Schleim, der abgehustet gehörte und zudem war das Atemgeräusch abgeschwächt und hörte sich feucht an-er vermutete Pleuraergüsse. „Schwester-können wir den Patienten kurz drehen, ich möchte die Lunge von hinten auch noch abhören!“ bat er und die betreuende Nachtschwester nickte und löste die Handfixierungen. Sie befürchtete ebenfalls, dass man hier auf eine Beatmung zusteuerte und der ernste Gesichtsausdruck des Arztes ließ auch darauf schließen. „Können sie mir bitte noch das Ultraschallgerät bringen?“ bat der Arzt und wenig später fuhr die Pflegekraft das Gewünschte herein und der Arzt betrachtete aufmerksam die wabernden grauen Schatten auf dem Monitor, während Ben wegen der Kälte des Ultraschallgels erschauerte. „Herr Jäger, sie haben beidseitige Pleuraergüsse, also Flüssigkeitsansammlungen neben der Lunge, ich werde zumindest einen davon jetzt punktieren, vielleicht bekommen sie dann besser Luft!“ sagte er zu Ben, aber der schien nicht zu verstehen, was er zu ihm sagte, zumindest gab er keine Antwort. „Außerdem müssen wir sie dann noch endotracheal absaugen, wenn sie den Schleim nicht hochbringen, das wird ein wenig unangenehm werden!“ fügte er hinzu, aber wieder kam keine Reaktion von Ben, sondern der schloss nur die Augen und tat, als würde ihn das Ganze hier nichts angehen.

    In der Ferne hörte man die Türglocke draußen an der Intensiv-wer kam denn um diese Uhrzeit noch zu Besuch? Plötzlich vernahm Ben eine bekannte Stimme und fuhr wie elektrisiert ein wenig hoch, um dann mit einem Schmerzenslaut wieder aufs verschwitzte Laken zurück zu sinken-war das Semir? Kurz danach stand sein Freund, der ebenfalls ziemlich müde und erschöpft aussah, neben ihm und griff nach seiner Hand, während er voller Besorgnis den Arzt fragte: „Was ist mit meinem Kollegen?“ und der ihm nun ebenfalls die Befunde erklärte und die Maßnahmen, die er jetzt ergreifen würde. Außerdem teilte er ihm mit, dass die Patientencompliance zu wünschen übrig ließ und Semir schüttelte innerlich den Kopf-konnte dieser Weißkittel nicht Deutsch mit ihnen reden? Semir hörte dennoch intensiv zu und nickte, aber sobald der Arzt geendet hatte, wandte er sich an Ben, der die Augen jetzt geöffnet hatte, ihn ansah und voller Angst darauf wartete, was Semir ihm jetzt Schreckliches mitteilen würde. „Ben-ich komme gerade aus Frankfurt. Wir konnten in letzter Sekunde Corinna und deine Frau aus einem Flugzeug nach Riad holen, sie sind zwar eine Nacht zur Beobachtung im Krankenhaus, weil man sie mit Betäubungsmitteln gefügig gemacht hatte, aber es geht ihnen gut, wir haben die Entführer verhaftet und es besteht jetzt keine Gefahr mehr-für keinen von euch!“ sagte er und nun blickte Ben ihn ungläubig an und die Tränen der Erleichterung schossen in seine Augen. „Und meine Kinder?“ flüsterte er dann aufgeregt: „Die sind von Hildegard aus der Schutzwohnung abgeholt worden, ich weiss zwar nichts Näheres, aber es scheint ihnen gut zu gehen, sonst hätte eure Kinderfrau uns schon Bescheid gegeben!“ beruhigte er ihn und jetzt fiel die ganze Anspannung von Ben ab und er flüsterte nur glücklich: „Gott sei Dank!“ woraufhin er allerdings wegen der Anstrengung schon wieder nach Atem ringen musste.

  • In der Zwischenzeit war der Eingriffswagen herein gefahren worden und ehe Ben sich versah, hatte man eine Einmalunterlage, damit das Bett nicht beschmutzt wurde, seitlich unter seinen Oberkörper geschoben. Man bat Semir ans Kopfende des Bettes zu gehen und Ben´s Arm, den man nach oben gelegt hatte, fest zu halten. Als der Arzt sich nun grün vermummte und begann die Thoraxseite seines Patienten mit farbigem Desinfektionsmittel abzustreichen, bekam der junge Polizist einen ängstlichen Gesichtsausdruck. Die Luft war eh knapp und als er nun schneller atmete, stiegen ihm vor Aufregung die Schweißtropfen auf die Stirn. Würde das sehr weh tun?
    „Herr Jäger-sie bekommen natürlich eine Lokalanästhesie!“ beruhigte ihn der Arzt und Ben konzentrierte sich nun auf Semir´s beruhigende Hand, die ihn festhielt und ihm Sicherheit gab. Der Arzt ließ sich noch den Schallkopf des Ultraschallgeräts anreichen und verpackte das in eine spezielle Folie, in der sich steriles Gel befand, dann hielt er mit einer Hand den Ultraschall drauf und mit der anderen ertastete er den Zwischenrippenraum. Der Brustkorb war von vielen sehr empfindlichen Nerven durchzogen und so zuckte Ben dennoch zusammen, als sich nun die Nadel der Spritze in seine Seite unterhalb der linken Achsel bohrte. Allerdings war das nur ein kurzer Schmerz und dann war die Haut betäubt. Der Arzt klebte noch ein grünes Steriltuch mit Fenster in der Mitte fest und ließ sich dann von der Schwester das Einmalset zur Pleurapunktion anreichen. Als Ben kurz zur Seite sah und die dicke, scharf geschliffene Nadel erblickte, die nun gleich in ihm verschwinden würde, wurde ihm ganz anders. Semir der seinen Blick bemerkt hatte, griff nochmals fester zu, beugte sich ein wenig über ihn und flüsterte: „Du schaffst das!“ als sich die Nadelspitze auch schon in seinen Freund bohrte. An der Haut war es durch die Betäubung tatsächlich nicht schmerzhaft, aber als der Arzt nun unter Ultraschallkontrolle sein Werkzeug langsam vorschob, seufzte Ben auf. Oh verdammt, das tat nun schon weh-und sogar ziemlich. Er spannte seine Muskeln an, aber als der Arzt das bemerkte, sagte er streng: „Jetzt bitte ganz ruhig liegen bleiben, ansonsten besteht die Gefahr, dass ich die Lunge verletze!“ und nun bemühte sich Ben genau das zu tun.
    Verdammter Mist-gerade jetzt überkam ihn ein schrecklicher Hustenreiz, den er fast nicht unterdrücken konnte, aber da war die Spitze der Nadel, an den empfindlichen Interkostalnerven vorbei, schon mitten im Erguss gelandet und der Arzt brach nun rasch die Spezialnadel mit einer Sollbruchstelle in der Mitte, auseinander und schob das innen liegende Schläuchlein noch ein wenig weiter vor. Nun kam die Schwester dran, denn von dem dünnen, flexiblen Drainageschläuchlein aus Silikon, führte ein Schlauch weg zu einem sogenannten Dreiwegehahn. Auf dessen einer Seite war eine 50 ml-Spritze angebracht und auf der anderen Seite hing ein steriler Ablaufbeutel. Nun saugte die Schwester, während der Arzt die Drainage festhielt, mit der Spritze an, die sich sofort mit relativ klarem, gelbem Körpersekret füllte. Wenn die Spritze voll war, drehte man den Dreiwegehahn um und spritzte den Inhalt in den Beutel. Spritzenfüllung um Spritzenfüllung wurde aus Ben gesaugt und tatsächlich-er bekam jetzt immer besser Luft und man konnte am Monitor beobachten, wie die Sättigung stieg. Als die Pflegekraft nichts mehr aspirieren konnte, griff der Doktor ein letztes Mal zum Schallkopf, zog das Schläuchlein noch ein wenig zurück, damit man auch die letzten 30ml noch entleeren konnte, drückte dann eine sterile Kompresse auf die Einstichstelle und zog die Drainage vollständig heraus.
    „Jetzt haben sie es geschafft!“ sagte die Schwester zu Ben, der erleichtert aufseufzte und nun kläglich zu husten begann, allerdings das zähe Sekret einfach nicht hoch brachte und vor Rückenschmerzen bei jedem Hustenstoß zusammen zuckte. Der Arzt drückte noch ein wenig, entfernte dann das sterile Tuch, die Schwester klebte ein Pflaster über die Einstichstelle und gewann dann noch routinemäßig zwei Proben des Pleurapunktats aus dem Beutel, die man im Labor auf Zellen und Keime untersuchen würde. „Kein Wunder, dass ihnen die Luft knapp geworden ist, Herr Jäger!“ sagte der Arzt. „Das war eine ganze Menge Flüssigkeit-knapp ein Liter- die wir da raus geholt haben und hieß nun Semir den Arm los zu lassen, was der auch gleich erledigte.


    „Jetzt bringen wir es hinter uns und ich sauge sie gleich noch ab, ich merke schon, sie kriegen den Schleim überhaupt nicht hoch!“ erläuterte der Arzt und wechselte schon die Handschuhe, denn die, die er jetzt angehabt hatte, waren leicht blutig. Man bat Semir nun mit der Schwester die Plätze zu tauschen und die trat nun hinter Ben´s Kopf und fixierte den, während Semir auf Weisung neben seinem Freund stand und dessen beide Hände festhalten sollte. Der Arzt postierte sich auf der anderen Seite, griff zu einem dünnen, sterilen Absaugschlauch, gab Endosgel-ein steriles Gleitmittel ohne Medikamentenzusatz-darauf und schob nun auch schon den Schlauch, ohne Sog darauf, durch die Nase seines Patienten in den Rachenraum. Ben wollte nach oben greifen, um das störende Ding in seinem Hals reflexhaft zu entfernen, aber Semir hielt mit eisenhartem Griff seine Hände fest. „Jetzt husten, Herr Jäger!“ wurde er aufgefordert, aber Ben, dem bereits die Tränen in die Augen schossen, fiel es aktuell schwer, diese Aufforderung in die Tat umzusetzen, statt dessen würgte er erst einmal. Der Arzt, der nun wusste, dass er verkehrt war, zog das Schläuchlein ein wenig zurück und kommandierte nun erneut mit strenger Stimme: „Bitte nochmals husten!“ und Ben versuchte kläglich, der Aufforderung nach zu kommen. Im selben Moment öffnete sich die Stimmritze und der Arzt ergriff die Gelegenheit den Absaugschlauch in die Luftröhre zu schieben. Nun allerdings überkam Ben wirklich durch den Reiz ein wahnsinniger Drang zu husten und das war auch erwünscht, denn so wurde der zähe Schleim aus den unteren Bereichen der Bronchien hoch befördert. In weiser Voraussicht hatte die Schwester bereits ein steriles Absaugglas an den Absaugschlauch, der routinemäßig an jeder Intensiveinheit hing, angeschlossen und man gewann auch hier erst einmal einen ganzen Batzen zähes, grünlich-gelbes Sekret für die Bakteriologie. Ben konnte überhaupt nicht mehr aufhören zu husten, er meinte keine Luft mehr zu kriegen und versuchte panisch den Kopf hin- und her zu werfen, während der Doktor unbarmherzig den Schlauch unter ständigem Saugen noch ein wenig tiefer schob, bis er an der Carina, der Gabelung der Bronchien, anstieß. Ben meinte auf der Stelle ersticken zu müssen und voller Besorgnis konstatierte Semir, dass sein Freund sogar leicht blau anlief und der Monitor Alarm gab, weil die Herzfrequenz und der Blutdruck durch den Stress nach oben schossen. Das Absaugröhrchen hatte man entfernt und mit einem sterilen Schraubstopfen verschlossen und der Arzt holte jetzt systematisch den Schleim aus Ben, der krampfhaft nach Luft japste und dem der Schweiß aus allen Poren schoss. „Gleich haben sie es geschafft!“ sagte die Schwester begütigend und Ben seufzte auf, als endlich, endlich der Fremdkörper aus ihm gezogen wurde. Sofort ließ man ihn los, die Schwester wusch rasch sein Gesicht mit einem kühlen Waschlappen ab, bevor sie die Sauerstoffbrille wieder in seine Nase steckte und der Arzt und sie nun das Zimmer aufräumten.
    Dann holte sie eine Waschschüssel mit kühlem klarem Wasser und Semir half ihr, seinen Freund kurz abzuwaschen und das Bett, das komplett durchgeschwitzt war, zu überziehen. Die Sättigung war zwar nun deutlich besser und Ben lag ruhig, auch weil er völlig erschöpft von den ganzen Torturen war, aber während der Arzt nun noch verschiedene Zettel fürs Labor ausfüllte, Etiketten druckte mit denen die Röhrchen beschriftet wurden und eine Röntgenanforderung in den PC eingab, fuhr die Schwester das Beatmungsgerät für die Atemgymnastik näher. „Herr Jäger, vielleicht schaffen sie es jetzt, wenn ihr Freund bei ihnen ist, die Atemmaske zu tolerieren? Sobald die Thoraxaufnahme gemacht ist, würde ich das gerne nochmals probieren!“ kündigte sie an und nun stand auch schon die Röntgenassistentin mit der Mobilette, dem fahrbaren Röntgengerät vor ihnen.
    Man hob Ben, der überhaupt keine Kraft mehr hatte, nun ein wenig hoch, schob die kalte Röntgenkassette unter seinen Oberkörper und kurz verließen alle das Zimmer und die Röntgenfachkraft kommandierte: „Tief einatmen, die Luft anhalten!“ und drückte dann auf den Auslöser. „Jetzt dürfen sie weiteratmen!“ sagte sie dann mitleidig , denn man sah, wie fertig der junge Patient war. Ein letztes Mal wurde Ben noch angehoben und nun brachte die Nachtschwester, wie schon die Nacht vorher, für Semir den bequemen, flach gestellten Mobilisationsstuhl mit Decke und Kissen und schob den ganz nah neben Ben´s Bett. „Wenn es geht, dann nur so!“ hatte sie dem Deutschtürken zuvor mitgeteilt und der streckte sich nun, während die Schwester die Atemmaske auf Ben´s Gesicht befestigte und noch ein Blutgas abnahm, daneben aus und merkte erst jetzt, wie fix und fertig er selber war. Beruhigend griff er nach der Hand seines Kollegen und tatsächlich, seine Anwesenheit half Ben die momentan störende und enge Maske zu akzeptieren und als eine halbe Stunde später die Schwester, die auch gleich das Licht gelöscht hatte, nach ihrem Sorgenkind sah, umspielte ein leises Lächeln ihre Lippen. Er war eingeschlafen und auch der Mann neben ihm rührte sich nicht, hielt allerdings im Schlaf immer noch die Hand seines besten Freundes fest, als wolle er ihn nie mehr loslassen.

  • Sarah war in Frankfurt in eine Klinik eingewiesen worden. Zusammen mit Corinna lag sie in einem Zimmer auf der Intermediate Care-Station. Es ging ihnen zwar gut, aber die Ärzte wollten kein Risiko eingehen. Man wusste schließlich nicht, was für einen Medikamentencocktail sie bekommen hatten, um sie ruhig zu stellen und ob das Antidot nicht kürzer wirken würde als die Medikation. Weil aber soweit alles in Ordnung war, lagen die beiden Frauen monitorüberwacht und von der ganzen Aufregung hoch gepusht, wach nebeneinander. Jenni war noch kurz da gewesen, um Sarah zu versichern, dass es ihren Kindern gut ging und die völlig problemlos mit Hildegard mitgegangen waren und die Kindefrau auch schon über ihre Befreiung informiert war. „Tim hat einen Schokopudding versprochen gekriegt, Mia-Sophie hat sich an den Hals eurer guten Seele gekuschelt und war völlig zufrieden und hat auch nicht mehr geweint und morgen kannst du deine Kinder ja sicher wieder in die Arme schließen!“ erzählte ihr Jenni, bevor sie sich in den wohl verdienten Feierabend verabschiedete-sie würde jetzt mit Frau Krüger, die dem BKA derweil Rede und Antwort gestanden hatte, zurück nach Köln fahren und zuhause sicher sofort einschlafen-es war für alle ein langer aufregender Tag gewesen.


    Klaus, der inzwischen in seinem Haus zurück war, hatte Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt und tatsächlich-er hatte es geschafft, herauszufinden wo sich Corinna befand und ihr wurde kurz das Telefon gereicht: „Ich bin so froh dass du lebst-ich liebe dich!“ sagte er voller Rührung und Corinna musste fast ein wenig heulen. „Ich warte jetzt noch die Nacht ab, später kommt Hartmut, um bei uns zu übernachten, aber gleich morgen früh starte ich nach Frankfurt, entweder um dich zu besuchen, oder dich mit nach Hause zu nehmen!“ erklärte Klaus entschlossen-„und ach ja, wenn du heim kommst, ich habe auch eine Überraschung für dich!“ verkündete er mit geheimnisvoller Stimme und nachdem sie sich gegenseitig ihre Liebe versichert hatten, legte er auf. Corinna lag mit glückseligem Lächeln im Bett und erst als sie Sarah´s traurigen Gesichtsausdruck sah, war sie ein wenig schuldbewusst. „Du machst dir Sorgen wegen Ben?“ fragte sie und Sarah nickte, während sich langsam eine Träne ihren Weg zwischen den halb geschlossenen Lidern bahnte. „Ich wäre jetzt so gerne bei ihm, ich bin nur froh, dass wenigstens Semir gefahren ist. Und andererseits muss ich morgen vermutlich auch erst nach den Kindern sehen, bevor ich nur daran denken kann zu ihm zu fahren und ihn in dieser schrecklichen Situation zu unterstützen.“ brach es aus ihr hervor und sie weinte eine Weile bitterlich. Als sie sich wieder ein wenig beruhigt hatte, überlegte sie angestrengt. „Was mir immer noch völlig schleierhaft ist-wie haben diese Scheichs uns nur gefunden? Uns ist doch niemand gefolgt?“ fragte sie und nun setzte Corinna ein schuldbewusstes Gesicht auf. „Ich habe mein altes Handy mit geschmuggelt und Klaus eine Nachricht geschickt. Vermutlich ist es ihnen darüber gelungen, uns irgendwie ausfindig zu machen!“ beichtete sie und nun sah Sarah sie fassungslos an. „Das kann doch nicht wahr sein-beinahe wären wir deswegen im Harem gelandet, meine Kinder wären mutterlos und mit einem querschnittgelähmten Vater dagestanden, der sicher aktuell und vielleicht auch später selber mehr Hilfe und Unterstützung braucht, als er geben kann und du machst so einen Blödsinn!“ schrie sie ihre Cousine an, die abwehrend die Hände hob und nun ihrerseits schluchzte, sie fühlte sich deswegen ja selber so schlecht.
    Die betreuende Schwester hatte von draußen an der Zentrale gesehen, wie die Herzfrequenz der beiden Frauen in die Höhe geschossen war und kam eilig, um nach dem Rechten zu sehen, aber jetzt lag Sarah schon von der Gespielin ihrer Kindheit abgewandt, mit dem Rücken zu ihr und versuchte sich zu fassen. „Alles in Ordnung?“ fragte die Schwester, die die gespannte Stimmung im Raum durchaus mitbekam, aber sie erfuhr von den beiden nur ein Kopfnicken zur Antwort und verzog sich dann wieder. So verlief der Rest der Nacht schweigend und Corinna befürchtete, dass sie nun nicht nur ihre Cousine, sondern auch eine sehr gute Freundin verloren hatte. Ein wenig dösten die beiden vor sich hin, aber als am nächsten Morgen der behandelnde Arzt ihrer Entlassung zustimmte, schwang Sarah die Beine aus dem Bett und griff entschlossen nach der Kaffeetasse, denn inzwischen war das Frühstück serviert worden. „Ok-du hast einen Blödsinn gemacht, aber du hattest ja keine Ahnung, was das für Folgen für uns beide und unsere Familien haben würde. Ich habe mich jetzt wieder beruhigt und du wirst jetzt Klaus anrufen und ihn bitten, dich abzuholen, uns Klamotten mitzubringen, denn in so eine Burka schlüpfe ich nie mehr wieder-nicht einmal im Karneval- und falls Hildegard mit den Kindern zurecht kommt und es Mia-Sophie nicht schlechter geht, werde ich mit euch kommen, denn ich muss jetzt einfach zu Ben-der braucht mich, das fühle ich!“ verkündete sie und nun fiel Corinna ein riesiger Stein vom Herzen.
    Die beiden baten um ein Telefon, Klaus wurde mit Kleidung für beide herbestellt und wenig später hörte Sarah voller Erleichterung von Hildegard, dass es ihrer Tochter besser ging, die kein Fieber und keinen Durchfall mehr hatte, die ganze Nacht durch geschlafen hatte und guter Dinge war. Tim spielte bereits im Garten mit den beiden Hunden und hatte gut gefrühstückt. Keiner hatte nach der Mama geweint und so versicherte sich Sarah, dass es Hildegard auch Recht war, wenn sie zu ihrem Mann fuhr, aber die erklärte ihr: „Na klar Sarah-ich war gestern der glücklichste Mensch als mich die Sekretärin der PASt informiert hat, dass ihr beide gefunden und befreit seid und es euch gut geht. Die Kinder können unbegrenzt lange bei mir bleiben, du weisst ich liebe sie wie meine eigenen Enkel und sie sind hier auch zuhause. Kümmere du dich um Ben und richte ihm bitte auch von mir liebe Grüße und Genesungswünsche aus!“ beendete sie das Telefon und so saßen knappe drei Stunden später die beiden Frauen bei Klaus im Wagen und düsten Richtung Nordschwaben.


    Ben hatte fast die ganze Nacht die CPAP-Maske auf seinem Gesicht toleriert. Als die Nachtschwester in den frühen Morgenstunden im Halbdunkel ein Blutgas machte, dann die Maske herunter nahm und ihn vorsichtig ein wenig lagerte, schlief Semir, der einfach völlig erschöpft war, daneben friedlich weiter. Erst am Morgen, als die Sonne voller Kraft zum Fenster herein schien, erwachte er und musste sich zunächst einmal orientieren, wo er überhaupt war, bevor er sich erschrocken seinem Freund zu wandte. Der lag leicht seitlich gelagert neben ihm, sah ein wenig besser aus als am Vortag, schaute ihn an und sagte als Allererstes: „Du hast geschnarcht!“ und nun brachen beide in gackerndes Gelächter aus, so dass die Frühdienstschwester sie erstaunt ansah. Dann musste Ben allerdings wieder nach Luft ringen und das Gesicht verziehen und während Semir nun aufstand, um zur Toilette zu gehen und sich ein wenig zu waschen, holte sie die Waschschüssel und sagte zu ihrem Patienten: „Herr Jäger, ich würde sie jetzt gerne frisch machen!“ und er nickte, denn irgendwie hatte er das Gefühl, er klebte schon wieder im Bett fest-oh Mann-ein Königreich für eine kühle Dusche, aber das würde wohl noch eine Weile dauern, bis das möglich war!

  • Ben wurde gewaschen und als Semir wieder zurück war, konnte er gleich dabei helfen und seinen Freund festhalten, das Bett mit frisch beziehen und dann kam auch schon die Visite. Der Professor persönlich löste den Verband am Rücken und nun konnte Semir zum ersten Mal auch einen Blick auf die Wunde werfen. Das sah eigentlich ganz unspektakulär aus-entlang der Wirbelsäule verlief ein etwa 20cm langer, sauber vernähter Längsschnitt und jeweils ober- und unterhalb kam ein Drainageschlauch heraus. „Wir ziehen gleich die Redons!“ kommandierte der Arzt, desinfizierte seine Hände, schlüpfte in Einmalhandschuhe und löste mit zwei kleinen Schnitten mit der angereichten Schere die beiden Hautfäden, mit denen die angenäht waren. „Das könnte jetzt kurz ein wenig weh tun!“ kündigte er an, während er zuerst den Sog wegnahm und dann vorsichtig nacheinander die im Wirbelkanal liegenden Schläuche zog. Semir hatte wie zufällig nach den Händen seines Freundes gegriffen und merkte, wie sich der erst verspannte und dann laut aufstöhnte-verdammt tat das weh! Ben umklammerte Semir´s Finger, dass der meinte die würden abbrechen und der Schweiß brach ihm schon wieder aus allen Poren. Beim zweiten Schlauch hielt Ben die Luft an, denn der hatte sich erst noch an einem Knochenvorsprung verhakt und der Professor musste mit Geschick, aber schon kräftig ziehen, um ihn überhaupt heraus zu bekommen, was Ben dann einen lauten Schrei entlockte und beinahe hätte Semir mit gejodelt, denn Ben packte noch ein bisschen fester zu, aber dann war es vorbei und entlockte dem Patienten einen Seufzer der Erleichterung. Schnell wurde noch ein steriler Klebeverband auf dem Rücken befestigt und dann drehte man Ben wieder zurück. „Herr Jäger-das Einsetzen der Cages haben wir jetzt für morgen geplant, da hat auch mein Kollege, der Chefarzt der Viszeralchirugie, Zeit. Sie dürfen heute noch eine Kleinigkeit essen und trinken, aber ab 22.00 Uhr sollten sie dann nüchtern bleiben.“ wurde ihm noch mitgeteilt und mit einem Gruß verabschiedete sich der Professor mit dem ganzen Schwarm an Weißkitteln, die ihm gefolgt waren.

    Als die Schwester kurz darauf mit Kaffee und Toastbrot kam, schüttelte Ben den Kopf. „Mir ist gerade der Appetit vergangen und das tut auch immer noch ganz schön weh am Rücken!“ flüsterte er und Semir schaffte es gerade, ihn dann zu einem Kaffee mit Milch und Zucker zu überreden. Wenn Ben das Essen nicht schmeckte war schon so einiges im Argen, das war sonnenklar. Er bekam nochmals einen Schmerzmittelbolus, trank auch ein paar Schlucke mit dem Strohhalm, aber dann lag er erschöpft und teilnahmslos in den Kissen und schloss die Augen. Soeben war ihm wieder die Hoffnungslosigkeit seiner Situation bewusst geworden und so sehr er sich auch bemühte und in sich hinein horchte-er konnte seine Beine nicht spüren und war sich fast sicher, dass das auch so bleiben würde.
    Und dann kamen die Schmerzen zurück. Wie am Operationstag lag Ben nun jammernd im Bett und obwohl er Unmengen an Piritramid, Metamizol und Paracetamol bekam, wurde es immer schlimmer anstatt besser. Ben traute sich gar nicht mehr richtig zu atmen, verweigerte auch die Maske und übel war ihm ebenfalls. Er erbrach den Kaffee wieder und die betreuende Schwester und der Stationsarzt standen ein wenig hilflos und voller Sorgen an seinem Bett. „Verdammt-jetzt ist die Wirkung des Cortisons, das er gestern noch bekommen hat, anscheinend ganz weg, das Gewebe schwillt wieder an und verursacht die Schmerzen!“ überlegte der Intensivarzt laut, aber angesichts des pulmonalen Infekts und auch der bevorstehenden Bauchoperation musste man auf eine weitere Cortisongabe verzichten und so saß Semir sorgenvoll am Bett seines Freundes, hielt seine Hand und formulierte Durchhalteparolen, während er dessen schweißnasse Stirn immer wieder abwischte.


    Sarah in Frankfurt hatte sich von einer Schwester deren privates Handy ausgeliehen-von Pflegekraft zu Pflegekraft funktionierte sowas- und an Semir geschrieben: „Den Kindern geht es gut, Corinna und mir ebenfalls, ich komme zu euch und werde um die Mittagszeit in Donauwörth sein. Sag Ben nichts davon, es soll eine Überraschung werden!“ und Semir hatte das am Vormittag bei einer kurzen Frühstückspause in der Cafeteria zur Kenntnis genommen. Irgendwie dacht er bei sich: „Gott sei Dank kommt Sarah, ich bin mit der momentanen Situation ein wenig überfordert und kann ganz schlecht mit den Schmerzen meines Freundes umgehen, vielleicht hat die als Profi noch irgendeine Idee!“ und setzte sich kurz darauf wieder an Ben´s Bett, der mit vor Schmerz gefurchter Stirn und zusammen gepressten Lidern da lag, sich nicht zu rühren wagte und sich im Augenblick nur den Tod wünschte, nichts anderes. Eine tiefe Depression hatte von ihm Besitz ergriffen, er war der festen Überzeugung, dass das doch nichts mehr werden würde mit ihm, er war und blieb ein Krüppel, eine Last für Freunde und Familie, er hatte Angst vor der bevorstehenden Operation und vielleicht weiteren Schmerzen, wo er jetzt doch schon nicht mehr aus- und ein wusste. Wie durch Watte nahm er zwar wahr, wie man ihn ansprach, körperlich versorgte und Semir ihm die Stirn abwischte, aber alles war nicht wichtig sondern er verschwand mehr und mehr in einem Strudel aus Hoffnungslosigkeit, Schmerz und Verzweiflung.

  • Durch die ganzen Schmerzen atmete Ben flach. Weil er erst erbrochen hatte, war die Beatmungsmaske kritisch, denn wenn er darunter aspirierte, würde das vielleicht sein Todesurteil sein und deshalb nahm man momentan vor deren Einsatz Abstand. Semir saß hilflos daneben und sah voller Sorge zu, wie Ben immer mehr verschleimte, die Sättigung schlechter wurde und er vor sich hin litt. Man versuchte wieder die ganze Latte an Schmerzmitteln, aber sie nahmen nur den Schmerz an der Oberfläche weg, dieser tiefe bohrende Nervenschmerz war durch nichts zu beeinflussen und nahm Ben´s komplettes Denken ein. „Semir-ich halte das nicht mehr aus!“ keuchte er, um nach diesen für ihn so anstrengenden Worten, wieder verzweifelt nach Luft zu ringen, aber sein Freund wusste doch auch nicht, was er tun sollte.
    Man holte erneut den Professor, der Ben mit ernster Miene untersuchte, aber angesichts der schweren Bronchitis nochmals bekräftigte: „Kein Cortison mehr! Das hilft zwar gegen die Schmerzsymptomatik, aber zugleich öffnet es alle Eingangspforten für eine schwere Infektion. So leid es mir tut-da müssen sie jetzt durch. Ich werde versuchen morgen im OP die Ursache für den Nervenschmerz herauszufinden und zu beheben.“ versprach er, aber das Problem an der Sache war, dass durch die allgemeine Gewebeschwellung die genaue Ursache für die Schmerzen aktuell nicht exakt zu lokalisieren war. Diese Schwellung war ja traumatisch bedingt, sowohl durch den Unfall, als durch die Operation, vielleicht würde sie ganz von alleine vergehen-und damit der Schmerz auch, aber das konnte niemand vorhersagen. Auf jeden Fall war es sinnvoll, die stabilisierende OP so bald wie möglich durchzuführen, damit man mit der Mobilisation beginnen konnte. Intensive Krankengymnastik wurde erst frühestens vier Wochen postoperativ verordnet, zuvor musste sich das Gewebe erholen, leichte Lockerungsübungen waren erlaubt, Atemgymnastik, die Kräftigung der Oberarmmuskulatur und schmerzlindernde Behandlungen und Griffe. Man würde versuchen den Patienten aus dem Bett und in eine aufrechte Position zu bringen. Das war gut für die Lunge, das Gleichgewicht und nicht zuletzt auch für die Psyche. „Herr Jäger-auch wenn sie das im Augenblick nicht für möglich halten, aber das wird schon! Freilich kann ich im Bezug auf die Querschnittlähmung keine genaue Prognose abgeben, da müssen wir einfach abwarten, wie viel da noch kommt, aber sie haben doch so oder so noch viele gute Jahre vor sich-geben sie jetzt nicht auf!“ versuchte er ihn zu trösten, aber seine Worte prallten an Ben einfach ab. Stunde um Stunde verging, während Semir voller Besorgnis auf seinen Partner blickte, der sich stöhnend im Bett herum warf, soweit das mit dem tauben Unterkörper überhaupt möglich war.


    Hartmut war nach einer wieder einmal kurzen Nacht, erneut nach Augsburg auf den Kongress gefahren. Heute-Donnerstag- waren interessante Themen dran und tatsächlich konnte er noch die eine oder andere Kleinigkeit dazu lernen, aber viel war das nicht, denn er hatte online sowieso alle Publikationen, die sein Fachgebiet betrafen, im Blick. Allerdings ertappte er sich mehrfach, wie er hemmungslos gähnte, es war bisher auch für ihn eine harte Woche mit wenig Schlaf gewesen-irgendwie hatte er sich die vorher ein wenig anders vorgestellt. Jetzt hatten sie so ganz nebenbei noch einen Fall von höchster Priorität gelöst, die Täter waren verhaftet und würden sicher verurteilt werden, soweit sie überlebt hatten, allerdings war damit für die Obrigkeit das Wichtigste geschehen, die psychischen Folgen und vor allem die Verletzungen, die die Beteiligten-allen voran Ben- davon getragen hatten, interessierten heute niemanden mehr. Wegen der Scheichs machte sich Hartmut keine Illusionen-die würden sicher nicht allzu lange in deutschen Gefängnissen schmoren, sondern nach dem Prozess in ihre Heimat abgeschoben werden, wo sie vermutlich in Kürze wieder auf freiem Fuß sein würden, die hatten im Nahen und Mittleren Osten Macht und Einfluss, aber sie würden nie mehr nach Deutschland einreisen dürfen, so viel stand fest. Hartmut gähnte erneut und warf einen Blick auf die Uhr. Hoffentlich war es bald Abend und er konnte endlich auch einmal kurz Ben besuchen, bisher hatte er dazu keine Zeit gefunden.


    Sarah schaute auf die Uhr. Der Verkehr auf der Autobahn floss zäh dahin, immer wieder Baustellen, aber endlich hatten sie es geschafft und Klaus bog auf die Bundesstraße ab-in weniger als einer Stunde würde sie bei Ben sein. Sie machten eine kurze Pause bei McDonalds, kauften sich eine Kleinigkeit, besuchten die Toiletten und fuhren dann zügig weiter. Sarah sah an sich herunter-gut dass Corinna und sie die selbe Kleidergröße hatten, so trug sie eine einfache Jeans und ein T-Shirt von ihr, aber sie wäre notfalls sogar in Lumpen, nur nicht der Burka gefahren, wenn sie nur bald zu ihrem geliebten Mann kam. Sie hatten auch ihre Handys noch nicht zurück, die lagen in der PASt im Tresor, aber sie hatten Semir ja von Klaus´ Handy aus Bescheid sagen können. Ob Ben sich freute, dass sie kam?
    Sie hatte ihn zuletzt am Samstagabend gesehen. So viel war seither passiert, was ihr gesamtes Leben vielleicht total umkrempeln würde, aber das wichtigste für sie war-er lebte und egal was die Zukunft auch brachte, sie würden das gemeinsam durchstehen!
    Endlich hielt Klaus vor dem Haupteingang des hellen, relativ neu gebauten Krankenhauses mit viel Glas und Metall in der Fassade. Sarah erfragte beim Pförtner wo die Intensivstation lag und flog dann regelrecht die Treppen zum ersten Stock hoch. Corinna und Klaus hatte sie nach Hause geschickt. „Wenn ich etwas brauche, rufe ich euch von Semir´s Handy aus an!“ hatte sie ihnen mitgeteilt und nun waren die beiden schon auf dem Weg nach Mündling und Corinna, die sehr froh war, dass Sarah nicht nachtragend war, wartete gespannt darauf, welche Überraschung Klaus dort für sie bereit hielt.

  • Sarah läutete ungeduldig und als man sie auf die Besuchszeit verwies, die erst in einer halben Stunde beginnen würde, fiel sie dem Kollegen am anderen Ende der Rufanlage ins Wort: „Leute-ich bin selber Intensivschwester, meinem Mann geht es, soweit ich erfahren habe, sehr schlecht, ich lasse mich jetzt nicht vertrösten!“ sagte sie und tatsächlich durfte sie dann eintreten. Das Personal hatte gerade Übergabe und klar wusste Sarah, dass das die Abläufe störte, wenn ständig Besucher kamen und gingen, aber hier ging es schließlich um Ben und wenn sie nicht herein gelassen worden wäre, hätte sie die Station eben ohne Erlaubnis betreten, das wäre ihr völlig egal gewesen! Der Pfleger wies mit der Hand auf ein Zimmer und während sie das Desinfektionsmittel, das sie wie selbstverständlich, in der Schleuse benutzt hatte, noch auf ihren Händen und Unterarmen verrieb, eilte Sarah hinein und blieb fast ein wenig entsetzt stehen, als sie sah, wie schlecht es tatsächlich um Ben stand.
    Der lag blass und eingefallen auf dem Rücken im Bett und wühlte in seinen Lagerungshilfsmitteln herum, allerdings nur mit dem Oberkörper, die nur leicht zugedeckten Beine lagen da, als wenn sie nicht zu ihm gehörten. Er stöhnte leise vor sich hin, aber man hörte, dass er trotz Sauerstoff sehr schlecht Luft bekam und die Werte auf dem Monitor zeigten ihr ebenfalls den Ernst der Situation. Semir saß hilflos und mit besorgtem Gesichtsausdruck auf einem Stuhl neben dem Bett und hielt Ben´s Hand. Als er der Anwesenheit einer weiteren Person gewahr wurde, zog ein flüchtiges Lächeln über sein Gesicht. „Gut dass du da bist-schau mal Ben, deine Sarah ist gekommen!“ sprach er seinen Freund dann laut an, der nun die müden Augen aufriss und zunächst orientierungslos im Zimmer umher blickte. Nun hielt aber Sarah nichts mehr. Mit zwei Schritten war sie bei ihrem geliebten Mann und Semir erhob sich, ließ dessen Hand los und trat zurück. Sarah hatte sich über Ben geworfen, ihn in die Arme genommen und flüsterte nur: „Ben ich bin jetzt da, halte dich ganz fest und lass dich nie wieder los!“, während sie seine Stirn und die aufgesprungenen Lippen mit kleinen Küssen bedeckte. Dass es so massiv schlecht um ihn stand, hätte sie nach dem letzten Telefongespräch nicht erwartet, aber Ben rang jetzt zwar mühsam nach Luft, aber dennoch überzog ein glückliches Lächeln sein abgekämpftes Gesicht, bevor er wieder scharf einatmete und dabei vor Schmerz aufstöhnte.
    „Wie geht’s dir, bist du ok-und was machen die Kinder vor allem mein armer kleiner kranker Schatz Mia-Sophie?“ krächzte er, bevor er vor Erschöpfung die Augen wieder schloss und heftig nach Atem rang. „Uns geht es allen gut-Corinna und mir ist körperlich gar nichts passiert, außer dass wir ein Schlafmittel bekommen haben, das uns zu willenlosen Marionetten gemacht hat, aber Semir hat uns ja befreit. Die Kinder sind bei Hildegard-unsere kleine Maus hat zwar eine heftige Erkältung mit einer Mittelohrentzündung, aber das Antibiotikum, das sie bekommt, hat gegriffen, sie hat kein Fieber mehr, isst mit Appetit und hat die ganze Nacht durch geschlafen. Tim ist munter wie eh und je und spielt mit Lucky und Frederik, also bist der Einzige, um den wir uns Sorgen machen müssen, jetzt du!“ antwortete sie liebevoll und musterte schon mit professionellem Blick die ganzen Geräte und Perfusoren, die ihren Mann umgaben.

    In diesem Augenblick stand auch schon der Stationsarzt, der vom Pfleger, der sie herein gelassen hatte, verständigt worden war, in der Zimmertür und sagte freundlich: „Frau Jäger-schön dass sie da sind! Ich habe gehört, dass sie vom Fach sind-wenn sie wollen, können wir uns im Arztzimmer kurz unterhalten!“ bot er an und wies ihr einladend den Weg. Nach einem kurzen Seitenblick auf Ben nickte Sarah. „Schatz-ich komme gleich wieder!“ flüsterte sie liebevoll und folgte dann dem Doktor zum Gespräch. Ja vielleicht war es gut, wenn man Ben nicht störte, denn der sah aus, als könne er nicht mehr viel aushalten-er war einfach fix und fertig!
    „Frau Jäger, nehmen sie doch Platz. Ich dachte wir unterhalten uns nicht direkt vor ihrem Mann, damit wir ihn nicht beunruhigen!“ sagte er ruhig und souverän, Sarah fasste gleich Vertrauen zu ihm und er sprach auch nicht von oben herab mit ihr, sondern sozusagen auf Augenhöhe, erklärte keine Dinge, die eine Intensivschwester sowieso wusste, sondern holte Laborwerte und CT-Bilder auf den Bildschirm. „Wir haben leider gerade zwei Hauptbaustellen-die eine ist die massive Schmerzsymptomatik in Kombination mit der weiter bestehenden Lähmung-und die andere, die pulmonale Situation. Direkt postoperativ hatte ihr Mann ebenfalls stärkste Schmerzen, die sich aber durch hochdosierte Cortisongabe sofort besserten. Zudem war er da auch-vermutlich als Nebenwirkung des Cortisons-psychisch ziemlich gut drauf und hat uns geglaubt, dass sich die Lähmung wohl noch bessern würde-wovon wir übrigens alle überzeugt sind. Natürlich wäre eine Komplettremission schon eine Art Wunder, aber zumindest Teilempfindungen, vielleicht Mastdarmkontrolle und eine gute Ausgangsposition für ein aktives Leben im Rollstuhl oder vielleicht sogar Gehfähigkeit, sind auf jeden Fall möglich.
    Leider hat sich der pulmonale Infekt, den er schon mitgebracht hat-sicher erstens durch die Immobilität, aber eben auch durchs Cortison- massiv verschlechtert, so dass wir das nach zweimaliger Gabe absetzen mussten.“ bedauerte er und zeigte Sarah dazu auch gleich auf dem Bildschirm noch das digitalisierte Röntgenbild der frühen Morgenstunden. „In der vergangenen Nacht hat mein Kollege einen Pleuraerguss von fast einem Liter punktiert, ihr Mann wurde endotracheal abgesaugt und hat die NIV-Beatmung, auch dank die Anwesenheit seines Freundes, dann toleriert, die Gase waren also morgens gar nicht so besorgniserregend. Leider hat sich sein Zustand im Laufe des Vormittags massiv verschlechtert und da er noch über Übelkeit klagt und auch erbrochen hat, wäre die CPAP-Maske natürlich-wie sie sicher nachvollziehen können-wegen einer möglichen Aspiration viel zu gefährlich. Wir sind jetzt gerade ein wenig unschlüssig, was wir machen sollen, zudem er morgen ja wieder in den OP soll. Gleich intubieren, oder doch noch abwarten, aber aktuell tendieren wir eher zur Intubation.

    Allerdings kommt später noch der Neurologe, der ist leider nur konsiliarisch hier im Haus und wird in etwa drei Stunden eintreffen. Der hat von unserem Professor den Auftrag erhalten zu untersuchen, wo genau seiner Meinung nach die massiven Schmerzen herkommen. Wenn es nicht die allgemeine Schwellung ist, sondern eventuell eine bestimmte Nervenwurzel, die diese Probleme macht, dann könnte man bei der morgigen OP, wenn die Cages eingesetzt werden, gezielt an der Stelle suchen, aber da ihr Mann leider bisher nur sehr wenig Empfindungen von der Hüfte abwärts hat-allerdings schon im Analbereich und an den Oberschenkelinnenseiten, was ein gutes Zeichen ist-soll der Nervenfacharzt mittels direkter Ableitung aus dem Muskel und elektrischer Stimulierung der entsprechenden Nerven, den Ort für die Schmerzentstehung eingrenzen. Wenn ihr Mann jetzt allerdings sediert ist, ist diese Untersuchung nicht möglich und das ist unser eigentliches Dilemma!“ erklärte der Intensivarzt und Sarah nickte mit dem Kopf. Sie war froh, dass man sie komplett einweihte und dann straffte sie den Rücken. „Ich habe eine Idee, wie wir die Intubation zumindest noch hinauszögern können!“ sagte sie mit blitzenden Augen, denn jetzt war sie in ihrem Element und als der Anästhesist sie fragend ansah, erklärte sie ihm ihren Plan und der Mediziner nickte zustimmend mit dem Kopf und begann ebenfalls zu lächeln.

  • Sarah und der Intensivarzt eilten zurück ans Patientenbett. Ben sah schon sehnsüchtig zur Tür. Bei all den Schmerzen und auch leider fast wirkungslosen Schmerzmitteln, die aber dennoch ihre Nebenwirkungen entfalteten, hatte er gerade gar nicht verstanden, warum seine Frau schon wieder raus gegangen war. Ein gequältes Lächeln zog über seine Züge, als er sie wieder erblickte. Ihre Worte, dass Corinna ebenfalls gerettet war und es seinen Kindern gut ging, hatten eine große Erleichterung in ihm ausgelöst. Und es war ein Unterschied, ob man am Telefon mit einem geliebten Menschen sprach, oder der wirklich und wahrhaftig vor einem stand, einen berührte, anlächelte und seine Zuneigung mit allen Mitteln ausdrückte. Außerdem fühlte sich Ben in dem ganzen Medizindschungel ziemlich unsicher-sein Platz war die Autobahn, er jagte gemeinsam mit Semir Verbrecher, löste Fälle, verfolgte flüchtige Verbrecher mit dem Wagen und zu Fuß-falls das jemals wieder möglich war-aber im Krankenhaus und mit Medizindingen kannte seine Frau sich aus. Er musste gestehen-seitdem er mit Sarah zusammen war, hatte er die Verantwortung für diese Dinge sozusagen an sie delegiert, die wusste um seine Vorerkrankungen, bzw. Unfälle, kannte seinen Körper fast besser als er selber und sie waren so vertraut miteinander, dass Scham auch keine Rolle spielte-immerhin hatten sie zwei Kinder miteinander und er hatte seine Tochter sogar höchstpersönlich in einem Kellerverließ auf die Welt geholt.

    So überließ er sich jetzt ihrer Führung und während Semir ein paar Schritte zurück trat und aufmerksam beobachtete, was seine Freundin und der Arzt vor hatten, checkte Sarah die Carina, ein Beatmungsgerät, das sowohl für invasive, als auch nichtinvasive Beatmungen, also mit-und ohne Tubus- geeignet war. „Ich habe eine Einweisung nach MPG darauf!“ sagte sie, als der Arzt sie zweifelnd musterte, denn das war ein ganz großes haftungsrechtliches Problem. Niemand durfte ohne Einweisung mit Medizingeräten arbeiten, das war im Medizinproduktegesetz verankert, aber so war das unproblematisch und er glaubte Sarah auch, dass sie ihn nicht anlog, als sie routiniert die verborgene “Aus-Ein-Taste“ an der Geräterückseite bediente, dann die Maske zur Hand nahm und die voreingestellten Beatmungsparameter musterte, die aber genau so justiert waren, wie sie das auch gemacht hätte.
    „Schatz-du hast ja heute Nacht-wie mir der Arzt berichtet hat-schon mit diesem Teil hier Atemgymnastik gemacht. Ich werde die Maske jetzt mit der Hand auf dein Gesicht drücken, das heißt, sie wird nicht fest geschnallt und wenn dir übel wird, nehme ich sie sofort weg, dann kann nichts passieren!“ erklärte sie ihm freundlich und ruhig und Ben nickte. Sarah tat also wie sie gesagt hatte und tatsächlich stieg binnen weniger Minuten die Sauerstoffsättigung wieder in Bereiche, die man tolerieren konnte und nach einer Weile wurde Ben´s Atmung ruhiger, nicht mehr so hektisch und krampfhaft, mit dem Einsatz aller Atemhilfsmuskulatur, wie vorher. Zwischendurch musste er heftig husten, was zwar weh tat und die Schmerzen im Rücken und irgendwie diffus überall, waren ja auch immer noch da, aber die Anwesenheit seiner Frau, die zudem noch große Sicherheit und Kompetenz ausstrahlte, machte ihn zumindest ruhiger und wenn es notwendig war, nahm sie die Maske für kurze Zeit von seinem Gesicht, wischte seine Stirn ab und ließ ihn ausspucken. Als wenig später die beiden Pflegepersonen der Früh- und der Spätschicht zur Übergabe am Bett ins Zimmer traten- der Arzt war schon lange gegangen und hatte die Pflege informiert- lächelten sie und die übernehmende Schwester fragte sogar scherzhaft: „Oh-muss ich ihnen jetzt von meinem Gehalt etwas abgeben, wenn sie hier meine Arbeit machen?“ aber Sarah schüttelte lächelnd den Kopf, dass die blonden Locken nur so flogen: „Ich nehme gerne eine Tasse Kaffee als Bezahlung!“ sagte sie offen und freundlich, lächelte ihre bayerischen Kollegen an und damit war das Eis gebrochen. „Leider wäre uns diese Lösung der Problematik aus Personalgründen nicht möglich. Ich habe noch andere Patienten zu versorgen, wir sind brechend voll und es ginge einfach aus Zeitgründen nicht, was sie hier machen, aber es ist die einzige Lösung, um die Intubation noch ein wenig hinaus zu zögern!“ erläuterte die betreuende Intensivschwester und nahm ein Blutgas ab. Sarah nickte und sagte offen: „Das wäre bei uns in Köln genauso wenig im normalen Dienstbetrieb möglich, wir hätten auch schon lange intubiert, aber mein Mann soll wenigstens einen Vorteil davon haben, dass ich vom Fach bin, wenn ich ihm bei der Schmerzbewältigung schon nicht helfen kann!“ sagte sie und strich Ben, der gerade wieder unter der Maske aufstöhnte, weil sein Rücken unerträglich schmerzte, eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht.


    Semir hatte Sarah seinen Stuhl hin geschoben und die Sache eine ganze Weile aus dem Hintergrund beobachtet. Irgendwie war er gerade nicht nötig, denn Sarah und Ben bildeten eine Einheit und so sagte er: „Ich gehe dann mal in die Cafeteria, kaufe mir eine Kleinigkeit zu essen und rufe Andrea und in der PASt an. Ich komme nachher wieder und wenn ihr mich vorher braucht, wisst ihr, wo ich zu finden bin!“ und Sarah nickte. So erledigte Semir die geplanten Anrufe, sprach auch mit Frau Krüger, die ihm offerierte, dass das BKA dringend seine Version des gestrigen Vorfalls zu Protokoll nehmen würde und ihn und Hartmut zur Sache befragen wolle und bestellte sich dann ein Paar Weißwürste mit süßem Senf und Breze-wenn er schon in Bayern war, musste er das ausnutzen!
    Danach kehrte er auf die Intensivstation zurück und da war gerade der Neurologe eingetroffen. Er schob eben ein technisches Messgerät, einen Myelographen neben Ben und Sarah hatte die Atemmaske weg genommen und durch eine Sauerstoffbrille ersetzt. Auch der Neurologe las erst den Operationsbericht, sah sich die CT-und MRT-Bilder an und untersuchte dann Ben mit geübten Fingern. Er testete die Reflexe, die nun nicht mehr alle erloschen waren und befragte dann seinen neuen Patienten, der nach jedem Wort mühsam nach Luft rang, was er wo spüre. Ben war unsicher und wäre beinahe in Tränen ausgebrochen, denn viele Fragen konnte er einfach nicht beantworten. Er war so wirr und durcheinander durch die ganzen Medikamente, aber er gab sich Mühe, auch weil seine Frau und dann auch Semir ihn aufmunternd anlächelten. „Spüren sie das, Herr Jäger?“ fragte der Neurologe, während er Ben in die Wade kniff. Ben horchte in sich hinein, sagte dann: „Ja-äh-nein-ach ich weiss nicht!“ und rang wieder mühsam nach Luft. Nun holte der Neurologe in aller Ruhe sterile Nadeln hervor, die ein gutes Leitungspotential hatten und setzte sie auf die Stromkabel seines Messgeräts auf. Stoisch stach er sie nacheinander nach Desinfektion in Ben´s Muskeln an Ober- und Unterschenkel, suchte den Nerv auf und stimulierte den mit elektrischem Strom. Manchmal zuckte etwas, manchmal stöhnte Ben kurz auf und konnte bestätigen, dass er etwas spürte und manchmal geschah gar nichts. Als die Untersuchung auf beiden Seiten fertig war, klebte der Arzt noch kleine Pflaster über die Einstichstellen und sagte zu Ben, Sarah und Semir, die gespannt sein Tun beobachtet hatten: „Auf jeden Fall ist da noch elektrisches Erregungspotential vorhanden, ich schätze die Situation gar nicht so schlecht ein und habe auch einen Verdacht, wo der Hauptschmerz sitzen könnte!“ und dann ließ er einen Ausdruck aus seinem Gerät und schickte sich an, den Befund zu schreiben.

    Ben, den gerade wieder eine schreckliche Schmerzwelle überfuhr, denn die letzte Opiatgabe hatte man bewusst hinaus gezögert, damit er mitarbeiten konnte, stöhnte laut auf. „Ganz ruhig mein Schatz!“ sagte Sarah voller Liebe und legte ihre kühle Hand beruhigend auf seine Brust. „Gleich darfst du schlafen und wenn du wieder aufwachst, sind hoffentlich die schlimmsten Schmerzen Geschichte!“ und Ben wollte ihr nur zu gerne glauben.

  • Während der kurzen Zeit, als der Neurologe Ben untersucht hatte, war dessen Sauerstoffsättigung stark gesunken, er rang wieder mühsam nach Luft und Sarah beeilte sich, die Maske wieder auf sein Gesicht zu drücken. Was ebenfalls verhinderte, dass jemand anderes als Fachpersonal einen Patienten so bei der Atemgymnastik unterstützte, war der Alarmmodus des kleinen Beatmungsgeräts. Das gab sofort einen durchdringenden Alarmton von sich, wenn die Maske nicht dicht saß und schaltete auch nach kurzer Zeit, wenn der Alarm nicht persönlich abgearbeitet wurde, in einen kontrollierten Beatmungsmodus um, was für einen wachen Patienten fast nicht zu ertragen war. Sarah war die ganze Zeit damit beschäftigt, durch Druck auf Tasten und Bedienung eines Drehknopfs, das Gerät zur Ruhe zu bringen. Sonst wurden nicht nur alle Anwesenden im Zimmer schier wahnsinnig, sondern die ganze Station litt sozusagen mit und es waren ja nicht alle anderen Patienten sediert, vom Personal ganz zu schweigen, das sowieso einen Teil der Arbeitszeit damit verbrachte, Alarme abzuarbeiten und heraus zu filtern, welche echt waren, denn ein Großteil der akustischen Alarmtöne einer Intensiv waren Fehlalarme, aber das war überall so. Deshalb lief in den meisten Haushalten von Intensivpersonal nicht ständig das Radio, der Fernseher oder auch nur eine CD, denn man lernte Stille als wertvolles Gut zu schätzen.


    Als der Neurologe den Raum mit seinem fahrbaren Gerät verlassen hatte, trat kurz darauf die Intensivschwester mit zwei Tassen Kaffee für Sarah und Semir ein, während der Facharzt sich noch mit dem Intensivarzt besprach. „Herr Jäger, wie geht es ihnen denn?“ fragte sie mitleidig und als als Antwort ein lautes Stöhnen unter der Maske hervor drang, beeilte sie sich, ihm einen erneuten Opiatbolus zu geben. Die Schwester musterte ihren Patienten besorgt und wandte sich dann an Sarah: „Was meinen sie, Frau Jäger?“ fragte sie, aber zunächst einmal bestand Sarah darauf, dass sie sich duzten-das wäre ja noch schöner-man gehörte als Krankenschwester sozusagen überall einer verschworenen Gemeinschaft an, da war das Sie einfach fehl am Platz. Also wiederholte die Schwester, nachdem sie ebenfalls ihren Vornamen genannt hatte, ihre Frage und Sarah sagte: „Ich habe ihm schon versprochen, dass er jetzt dann schlafen darf und keine Schmerzen mehr spüren wird!“ und die Schwester nickte zustimmend. „Machen wir ihn zuvor noch ein bisschen frisch und dann bereite ich alles zur Intubation vor !“ schlug sie vor und Sarah nickte. Auch Semir, der auf einem zweiten Stuhl neben Ben Platz genommen hatte und sich dabei ertappte, wie er wieder und wieder gähnen musste, wurde eingespannt. Man wusch Ben, der von klebrigem Schweiß bedeckt war, vorsichtig mit kühlem Wasser herunter, erneuerte die durchgeschwitzte Bettwäsche und Sarah hielt die ganze Zeit die Maske fest, denn ohne die, bekam Ben jetzt kaum noch Luft.

    Ihm war gerade alles egal, er hatte zwar Angst davor, in Kürze komplett die Kontrolle zu verlieren und wieder einen Schlauch in den Hals geschoben zu kriegen, aber andererseits würde ihn die Luftnot dann nicht mehr plagen und er würde die unerträglichen Schmerzen nicht mehr spüren. Wie aus weiter Entfernung beobachtete er, wie der Notfallwagen ins Zimmer geschoben wurde, die Schwester verschiedene Medikamente aufzog und auf der ausklappbaren Arbeitsfläche des Notfallwagens der Tubus, das Laryngoskop, der Führungsstab, eine Magillzange und eine Blockungsspritze vorbereitet wurden. Man testete, ob der aufblasbare Cuff des blauen weichen Tubus, der auch für Langzeitbeatmungen geeignet war, dicht hielt, bestrich das Ganze mit Endosgel und als alles vorbereitet war, holte die Schwester den Intensivarzt. Die Intubation war zuvor ja schon besprochen worden und wegen Ben´s immer noch bestehender Übelkeit würde man wegen der Aspirationsgefahr von Erbrochenem eine sogenannte Ileuseinleitung mit erhöhtem Oberkörper machen. Allerdings durfte Ben sich ja wegen der Rückenop nicht aufrichten und so stellte man kurzerhand das ganze Bett schräg, was bei Ben allerdings sofort zu massiven Schwindelattacken führte. Er klammerte sich krampfhaft irgendwo fest, fixierte Sarah mit panischem Gesichtsausdruck, die ihn beruhigend anlächelte und ihre Hand auf seinem Körper ruhen ließ und nun ging alles ganz schnell. Man spritzte Ben nacheinander mehrere Medikamente und nach kurzer Zeit verdrehte er die Augen und war weg. Der Arzt schob in Windeseile, sobald die Muskulatur vom verabreichten Succhinylcholin erschlaffte, den Laryngoskopspatel in Ben´s Mund und den Tubus sofort hinterher, der dann gleich geblockt wurde-gerade noch rechtzeitig, denn schon kam ein Schwall Mageninhalt, aber dank der routinierten Schnelligkeit des erfahrenen Anästhesisten aspirierte Ben nichts davon, sondern man konnte mit dem bereitliegenden Sauger einen Teil davon absaugen und der Rest lief dann eben auf die Einmalunterlage. Ben´s Blutdruck brach für einen Moment komplett ein, aber als man das Bett nun wieder flach stellte und das Noradrenalin erhöhte, waren die Werte bald wieder in einem erträglichen Bereich. Sarah half nun Ben´s Hände zu fixieren und zuvor auf kleinen Kissen zu lagern, der Arzt hatte den Thorax abgehört, um die korrekte Tubuslage zu kontrollieren, aber beide Seiten waren gleichmäßig belüftet und so wusch man nochmals Ben´s Gesicht ab und verklebte dann den Tubus mit speziellen Tubusfixierungen in dieser Position. Mit einem sogenannten Cuffprüfer testete die Schwester den Druck in dem kleinen Ballon-dem Cuff- am Ende des Tubus, der jetzt unter der Stimmritze lag und den fest in der Luftröhre fixierte. Dieser Druck durfte nicht zu hoch sein, sonst konnte es zu Schleimhautläsionen in der Luftröhre kommen, aber er durfte auch nicht zu niedrig sein, damit das System auch dicht war und eben keine Flüssigkeit in die Lunge laufen konnte.

    Nach kurzer Überlegung entschied der Arzt für den Moment eine dicke Magensonde zu legen-dauerhaft tendierte man bei beatmeten Patienten zu ziemlich dünnen Ernährungssonden aus Silikon- aber durch die war der Ablauf nicht so gewährleistet und wegen der bevorstehenden Operation wollte man den Magen gerne leer haben und so schob der Doktor noch unter Sichtkontrolle mit dem Laryngoskop auch diesen Schlauch in Ben, mittels Einblasen von Luft und dem verräterischen Gluckern über dem Magen wurde auch dessen korrekte Lage geprüft, man verklebte die Sonde und hängte einen Ablaufbeutel daran, der sich auch bald mit Magensaft, vermischt mit Speiseresten füllte. „Anscheinend hat schon seit gestern die Peristaltik nicht mehr richtig funktioniert, deshalb auch die Übelkeit!“ bemerkte der Arzt und Sarah, die gerade noch eine dünne Decke über ihren Mann breitete, der nun mit entspanntem Gesichtsausdruck schlief und die Narkosemittel und hoch dosierten Opiate jetzt über einen Perfusor erhielt, nickte. „Ich bin todfroh, dass er jetzt intubiert ist-jetzt ist mir wohler!!“ vertraute sie ihren Fachkollegen an und Semir, der die ganze Sache aus der Entfernung beobachtet hatte, verzog zweifelnd das Gesicht. So konnte auch nur eine Intensivschwester denken-er hatte Ben lieber wach und konnte mit ihm kommunizieren. Aber angesichts der ganzen Komplikationen, die seinen Freund schon wieder heimgesucht hatten und der massiven Schmerzsymptomatik musste auch er zugeben, dass es Ben-wo auch immer sich sein Bewusstsein gerade aufhielt-jetzt sicher besser ging als vorher, ohne Schmerz, ohne Angst, Sorgen und Atemnot und so nickte er und trat leise zu seinem Freund, denn er musste ihn jetzt einfach anfassen und sich vergewissern, dass er noch lebte.


    Gerade hatte die Schwester das Zimmer aufgeräumt, den Notfallwagen hinaus gefahren und alles dokumentiert, da steckte eine Kollegin den Kopf zur Schiebetür herein: „Draußen ist ein Herr Freund, der möchte Herrn Jäger besuchen, ist allerdings kein naher Verwandter, wie siehts aus?“ wollte sie wissen, aber Sarah nickte mit dem Kopf: „Er darf gerne herein kommen, auch wenn Ben jetzt leider nichts mehr von seinem Besuch mit bekommt, aber Semir-ich habe dich gähnen sehen-du hast auch eine harte Zeit hinter dir, ich würde vorschlagen, du fährst nachher mit Hartmut zu Corinna und Klaus und versuchst, heute Nacht mal eine Mütze voll Schlaf zu bekommen. Ich werde auf jeden Fall hier bleiben und lasse dir natürlich sofort Bescheid geben, wenn sich irgendetwas verändert!“ bestimmte sie und so stand wenig später Hartmut mit seinem roten Schopf im Zimmer und musterte voller Mitleid seinen Freund und Kollegen. „Oh Mann Ben, da hat es dich mal wieder ordentlich erwischt, aber du schaffst das!“ sagte er und wandte sich dann gemeinsam mit Semir, der gegen Sarah´s Vorschlag nicht protestiert hatte, zum Gehen.

  • Corinna hatte, nachdem Sarah ausgestiegen war, auf der kurzen Strecke nach Hause, Klaus ihre Version der Vorfälle erzählt. „Mann-wenn ich gewusst hätte, was das für Folgen hat und dass die Scheichs uns nur anhand meines Videos finden konnten, dann hätte ich das doch nie gemacht-jetzt weiss ich selber, wie blöd ich war!“ beichtete sie und Klaus nickte mit dem Kopf. „Wenn du es nur einsiehst!“ bemerkte er. „Aber ich bin trotzdem über Sarah erstaunt, dass die überhaupt noch mit dir spricht, denn du hast sie und die Kinder ja ebenfalls in Gefahr gebracht, nur gut, dass das alles gut raus gegangen ist!“ schalt er sie schonungslos und Corinna senkte betreten den Kopf. „Ich bin auch froh darüber und werde ihr irgendwas ganz Persönliches schenken, denn sie ist nicht nur meine Cousine, sondern auch eine wahnsinnig gute Freundin und ich könnte es nicht ertragen, wenn sie den Kontakt abbrechen würde!“ erklärte sie und Klaus nickte-immerhin kannte er seine Frau und ihre Familie jetzt auch schon eine ganze Weile.
    „Aber jetzt lassen wir es gut sein-ich bin froh, dass dir nichts passiert ist und wir jetzt hoffentlich unser gewohntes Leben fortsetzen können, ob das bei Ben allerdings jemals wieder so sein wird wie früher, wage ich zu bezweifeln und das ist eigentlich das, was mir gerade am meisten zu schaffen macht!“ sinnierte er, aber als er in die Hofeinfahrt einbog, lächelte er trotzdem.

    „Jetzt ist uns bei unserer Suchaktion auch ein gewisser jemand über den Weg gelaufen, der seit ein paar Tagen mit uns hier wohnt-ich hoffe du magst ihn!“ sagte er und stieg auch schon aus. Corinna öffnete die Beifahrertür und verließ ebenfalls das Fahrzeug. Wie jetzt-was für einen neuen Mitbewohner hatten sie? Aber gerade als sie weitere Fragen stellen wollte, zog sie Klaus durch die Nebeneingangstür ins Haus und sofort stürzte sich voller Begeisterung das kleine schwarze Katerchen auf sie und strich maunzend und schnurrend um ihre Beine. „Ja hallo, wer bist du denn?“ fragte Corinna begeistert und hob es vorsichtig hoch, worauf sich das Kätzchen an sie schmiegte. Klaus erzählte ihr die Umstände, wie sie es gefunden hatten und Corinna konnte vor Abscheu nur den Kopf schütteln. „Mein Gott-was sind das für Menschen, die unschuldige Tiere opfern, aber das müssen wir auch nicht verstehen, aber der ist ja voll süß, hat er schon einen Namen?“ fragte sie, aber Klaus schüttelte den Kopf. „Den soll dann Sarah aussuchen, das ist nur gerecht!“ überlegte Corinna dann, setzte sich im Wohnzimmer aufs Sofa und konnte der Kuschelattacke des kleinen Stubentigers kaum entgehen. Klaus setzt sich neben sie auf die Lehne, legte den Arm um sie und küsste sie sanft auf den blonden Scheitel, wo noch Reste des braunen Haarfärbemittels zu erkennen waren. „Pass nur auf, dass ich nicht eifersüchtig werde!“ sagte er lächelnd, aber dann versanken er und Corinna in einen innigen Kuss und das schwarze Katerchen beobachtete sie ratlos-komisch was die Menschen alles so trieben!


    Ben lag derweil tief sediert und mit entspanntem Gesichtsausdruck auf dem Rücken und bekam nichts mehr mit. Sarah setzte sich mit einem Seufzer der Erleichterung in den bequemen Stuhl neben ihn und trank erst mal den Kaffee, den ihr die nordschwäbischen Kollegen gebracht hatten. Nachdem man bei mehrmaligem Absaugen große Mengen an zähem Schleim hatte gewinnen können, stiegen auch die Werte im Blutgas-Ben profitierte auf jeden Fall von der Beatmung und jetzt konnte man sowieso nur abwarten und hoffen, dass die große OP am nächsten Tag gut verlaufen würde. Sarah wagte es sogar ein wenig in die Cafeteria zu gehen und sich etwas zu essen zu kaufen und als sie dann zu Ben zurück kehrte, half sie ihrer Kollegin ihn ein wenig anders zu lagern, damit er sich nicht auflag. „Ich möchte gerne heute über Nacht bleiben!“ sagte Sarah bittend und die Kollegin nickte. „Das haben wir uns schon gedacht, das ist kein Problem-wir stellen dir einen Mobilisationsstuhl mit Kopfkissen und Zudecke rein, auf dem hat letzte Nacht auch schon der Freund deines Mannes gut geschlafen!“ erklärte sie und Sarah nickte: „So handhaben wir das in Köln auch immer!“ sagte sie „Dankeschön!“ und so streckte sich Sarah, als es draußen begann dunkel zu werden, neben ihrem Mann aus, legte ihre Hand auf seine Brust, wie sie das auch zuhause immer machte und fühlte beruhigt, wie sich sein Brustkorb regelmäßig hob und senkte und er sich im Narkoseschlaf erholen konnte. Es dauerte nicht lang und sie war eingeschlafen, für sie waren die Geräusche einer Intensivstation sehr vertraut und sie ließ sich davon nicht stören.


    Am nächsten Morgen bekam sie von den Kollegen Waschzeug zur Verfügung gestellt und als sie sich selber frisch gemacht hatte, half sie Ben gründlich zu waschen und frisch zu lagern. „Er ist gleich der Erste auf dem OP-Plan, ich bereite alles für den Transport vor und dann soll er um 7.30 Uhr im OP sein.“ erklärte die Frühdienstschwester und begann geschäftig Perfusoren aufzuziehen und die fahrbare Intensivtransporteinheit am Bett zu befestigen. Wenig später war alles umgehängt, der Intensivarzt stellte das Transportbeatmungsgerät ein und kurz darauf war Ben auf dem Weg in den OP-Trakt, der nur durch zwei Glastüren und einen kurzen Flur von der Intensivstation entfernt war. „Machs gut mein Schatz!“ hatte Sarah noch geflüstert und jetzt war ihr Herz schwer vor Sorge-hoffentlich ging bei der OP alles gut! Einen Moment war sie unschlüssig, was sie jetzt tun sollte, aber da stand plötzlich Semir vor ihr: „Hartmut ist gerade zum letzten Tag des Kongresses nach Augsburg gefahren und hat mich hier raus geschmissen. Ich habe vorhin angerufen und die Auskunft bekommen, dass Ben sich stabilisiert hat und um acht operiert wird. Komm, lass uns in die Cafeteria gehen und frühstücken, wenn wir gemeinsam warten, vergeht die Zeit schneller!“ sagte er. Sarah nickte und folgte ihrem und Ben´s Freund.

    Kurz rief sie von seinem Handy aus noch bei Hildegard an, die ihr versicherte, dass es den Kindern weiterhin gut ging. „Tim ist zwar heute Nacht mal aufgewacht und hat nach dem Papa gefragt, aber er hat nicht geweint und sich schnell wieder beruhigen lassen-ich wünsche Ben von Herzen das Allerbeste-richte ihm das doch bitte aus, wenn er wieder ansprechbar ist!“ trug ihr Hildegard noch auf und Sarah versprach, das zu erledigen. Sie hatte keine Ahnung ob man Ben extubieren oder weiter beatmen würde, aber das lag nicht in ihrer Hand, das würden die behandelnden Ärzte gemeinsam nach Abschluss der OP entscheiden. Sie konnte nur hoffen, dass das Ärzteteam jetzt alles gut machte und Ben danach wenigstens die schlimmsten Nervenschmerzen los war. Und so begann ein banges Warten, wo sich die Minuten zu Stunden zogen.

  • In der OP-Schleuse angekommen, löste man zunächst einmal die Handfixierungen bei Ben. Der Intensivarzt nahm seinen Platz am Kopfende ein, man gab ihm vorsichtshalber noch einen kleinen Schlafmittelbolus, damit er beim Umlagern nicht dagegen spannte, denn auch wenn das Bewusstsein weitgehend ausgeschaltet war, bei Manipulationen reagierten doch viele Patienten-so auch Ben- mit Muskelkontraktionen. Man entfernte sämtliche Lagerungshilfsmittel und Decken, legte den Katheterbeutel auf seine Beine, der Narkosearzt hielt den Tubus fest und achtete darauf, dass der ZVK nicht heraus gezogen wurde und dann schob sich das Schleusenband unter seinen Körper und transferierte ihn schonend auf den OP-Tisch. In der Mitte übernahm die Ärztin, die die Narkose machen würde den Tubus, denn eine Schleuse war streng in zwei Bereiche geteilt, ab einer Linie, die neben dem Schleusenband auf den Boden gemalt war, begann der aseptische Bereich, den man nur mit spezieller OP-Kleidung betreten durfte. Man nahm das Hemd noch von Ben´s Körper, deckte ihn mit zwei grünen warmen Tüchern zu und schnallte seine Beine mit einem gepolsterten Klettgurt fest. Weil er ja schon in Narkose lag, fuhr man mitsamt der Intensiveinheit, den ganzen Infusionen, Perfusoren, dem Monitor und dem Transportbeatmungsgerät direkt in den Saal und lagerte ihn dort noch vorschriftsgemäß, legte seinen Arm mit der Arterie auf ein Armbänkchen, den anderen in einen Handhalter nah am Körper, verband ihn mit dem Narkosegerät, erdete ihn mit einer Klebeelektrode am Oberschenkel und schaltete die Transportbeatmung aus, bis die eigentliche Operation beendet war.

    Jeder Mitarbeiter wusste was zu tun war, die instrumentierende Schwester hatte sich bereits die notwendigen Instrumentensiebe und Einmalmaterialien anreichen lassen und der Springer schlug nun das Tuch, das Ben´s Beine bedeckte bis kurz unter den Schambereich zurück. Man löste auch den Leistenverband und den am Rippenbogen, denn die ganze Fläche würde von den Brustwarzen bis zur Mitte der Oberschenkel abgestrichen werden, was der OP-Pfleger nun auch mit farbigem Desinfektionsmittel dreimal erledigte.
    Der Professor, der Chefarzt der Viszeralchirurgen und ein Assistenzarzt hatten sich bereits steril gewaschen und erhielten nun ihre sterilen Mäntel und Handschuhe. Sie steckten die sterilen Handgriffe an die beiden OP-Lampen, klebten Incisionsfolie auf den gesamten Bauch, deckten gemeinsam Ben mit mehreren Tüchern so ab, dass nur noch ein Teil des muskulösen Bauchs zu sehen war, hängte die oberen Tücher so, dass man auch da den Sterilbereich und das Arbeitsgebiet der Anästhesie trennte und nun griff der Viszeralchirurg zum Skalpell-vielmehr reichte ihm das natürlich die instrumentierende Schwester an.

    „Schnitt um 8.02 Uhr!“ sagte der Chirurg nach einem Blick auf die Uhr und das wurde mehrfach genauso dokumentiert, wie alles andere, was während der OP gemacht wurde. Die Narkoseärztin hatte Ben Narkosegas dazu gegeben. Die Perfusoren liefen weiter mit hoch dosierten Opiaten und Propofol, so dass Ben wirklich weit weg war und überhaupt nichts mitbekam. Man musste allerdings die kreislaufstützenden Medikamente erhöhen und war momentan mit massiver Flüssigkeitsgabe auch noch vorsichtig-wenn ein Patient Lungenprobleme hatte, vertrug er oft nicht so viel Wasser im Gefäßsystem.
    Erst wurde mit einem großen Längsschnitt die Oberhaut mitsamt der aufgeklebten Folie gespalten, der Professor und der zweite Assistent griffen routiniert mit Pinzetten zu und der Assistent verschweißte mit einer elektrischen Pinzette sofort die blutenden Hautgefäße, so dass kaum Blut floss. Nacheinander durchtrennte man die weisslich schimmernde dünne Fettschicht, die bei Ben kaum ausgeprägt war, dann die Faszie, den Muskel und zuletzt das Bauchfell. Man machte dazu nur vorsichtig mit dem Skalpell ein kleines Löchlein ins Peritoneum und eröffnete das dann mit einer kräftigen Schere, damit man den darunter liegenden Darm nicht versehentlich verletzte. Die Narkoseärztin hatte auf diesen Moment gewartet und gab Ben jetzt ein länger wirkendes Muskelrelaxans, das die komplette Muskulatur erschlaffen ließ. So würde man Narkosemittel sparen und der Patient konnte nicht dagegen pressen, was gerade bei Operationen im Bauchbereich sonst reflektorisch vorkam, sobald die Narkose ein wenig abflachte. Das war die Kunst des Anästhesisten, eine Narkose so flach wie möglich und so tief wie nötig zu fahren, dass der Patient einerseits nichts mitbekam, sein Kreislauf und seine Leber nicht zu sehr belastet wurden und zugleich die Operateure arbeiten konnten.


    Um Muskelkraft zu sparen, ersetzte man nun die bisher verwendeten Wundhaken durch andere, die an einem sogenannten Rahmen befestigt waren, einem quadratischen Metallgatter, das nun selbstständig den Bauch weit offen hielt. Unverzüglich begann nun der Viszeralchirurg den Darm, soweit er nicht angewachsen war, was nur bei manchen Teilen der Fall war, aus Ben heraus zu holen und seitlich neben den Rahmen zu legen, etwa drei bis vier drei Meter des insgesamt ungefähr sieben Meter langen Darms. Man hüllte feuchte Bauchtücher darum, damit der rosige Darm mit dem anhängenden Mesenterium also seiner Versorgungsleiste, der sich manchmal auch matt bewegte, nicht austrocknete und dann schob man die restlichen Bauchorgane vorsichtig mit breiten gepolsterten Spateln beiseite, bis der Blick auf die von Muskeln, Blutgefäßen und Sehnen ummantelte Wirbelsäule frei wurde.


    „Bitteschön Herr Kollege-ihr Part!“ sagte nun der Viszeralchirurg lächelnd. Früher hatte ein Chirurg sozusagen alles operiert, aber heutzutage war die Spezialisierung so weit fortgeschritten, dass jeder sein Teilgebiet hatte und das war auch gut so, denn alles ein bisschen zu können, aber nichts richtig war in der heutigen Zeit nicht mehr angebracht. Der Professor hatte schon mit geschultem Blick die Höhe der versorgten Wirbelfrakturen von vorne abgecheckt. Man sah auch teilweise das Osteosynthesematerial durchschimmern, überall waren kleine Blutergüsse zu entdecken, wo die verschobenen Frakturen nach dem Sturz Blutgefäße verletzt hatten und er begann nun in die Zwischenwirbelräume nacheinander sogenannte Cages einzubringen. Das waren Titanimplantate, die wie kleine Käfige aussahen, die den Abstand der Wirbelkörper stabil halten sollten, so dass die austretenden Nervenwurzeln auch genügend Platz hatten. Diese Cages würden in Ben verbleiben, während das Osteosynthesematerial nach der völligen knöchernen Heilung der Frakturen wieder vom Rücken her entfernt werden würde. Die massiven Schmerzen, die Ben postoperativ hatte aushalten müssen, zeigten an, dass mindestens eine dieser Nervenwurzeln zwar gequetscht war, aber eben noch sozusagen um Hilfe rufen konnte. Wenn keine Nervenverbindung nach oben mehr bestand, also beim kompletten Querschnitt, traten auch keine Schmerzen auf, aber dieses Geschehen zeigte auf, dass eben durchaus noch Hoffnung bestand. So schlimm das Schmerzgeschehen also für den Patienten und seine Angehörigen war, aber es zeigte, dass noch Leben im betroffenen Bereich war und das war ein gutes Zeichen.

    Anhand der Angaben des Neurologen suchte nun der Operateur die vermutlich betroffene Nervenwurzel auf. „Oh ja, das sieht so aus, als wäre hier der Nervenaustrittskanal massiv eingeengt, ich werde da nochmals Material entfernen!“ beschloss der Wirbelsäulenspezialist und ließ sich eine kleine Fräse anreichen, mit der er das Neuroforamen erweiterte. Danach prüfte er mit einem kleinen stumpfen Durahäkchen, ob der Spinalsack frei beweglich war und nickte dann seinen beiden Assistenten zu, denn automatisch war sozusagen in diesem Stadium der Operation der Viszeralchirurg zum Assistenten geworden. Die beiden hatten die Wunde gespült und offen gehalten, den Sauger bedient, mit dem schlürfend das Blut und die Ringerlösung entfernt wurden und nachdem die Operation an der Wirbelsäule nun beendet war, übernahm der Viszeralchirurg wieder die Leitung.
    Geschickt räumte er anatomisch korrekt den ausgelagerten Darm in den Bauchraum, untersuchte dabei den Dünndarm Meter für Meter auch noch auf Ausstülpungen, sogenannte Meckel´sche Divertikel und begann dann schichtweise die Wunde wieder zu verschließen. In der umgedrehten Reihenfolge wie man aufgemacht hatte, machte man teilweise mit fortlaufenden Nähten und auch mit Einzelknopfnähten mit resorbierbarem Kunststofffaden wieder zu, legte dabei auch mehrere Drainagen ein, zwei in den Bauchraum und zwei Saugdrainagen in die Muskelschicht und endlich wurde die Bauchnaht noch kosmetisch vorteilhaft intracutan verschlossen. „Wenn er Glück hat, bleibt von diesem Schnitt nur ein hauchfeiner weisser Strich übrig-wir wollen so einen schönen trainierten Bauch doch nicht mehr als unbedingt notwendig verunstalten!“ sagte der Operateur und unwillkürlich zogen alle Männer im Saal, die eben nicht so einen perfekten Körper hatten, ihren eigenen Bauch ein. Allerdings war das größere Problem ihres Patienten ja eigentlich der drohende Rollstuhl, aber man musste auch auf Kleinigkeiten Wert legen, um die Psyche eines solchen Patienten nicht mehr als unbedingt nötig zu belasten!


    „Wie siehts aus-wollen sie ihn weiter beatmen, oder wach werden lassen?“ erkundigte sich nun der Wirbelsäulenchirurg nach einem Blick über das trennende Tuch zur Anästhesistin. „Er hat sich ganz gut gehalten, die Sauerstoffsättigung war trotz niedrig dosiertem Sauerstoff ok, der Blutverlust hat sich in Grenzen gehalten, er ist nicht ausgekühlt, ich würde sagen, ich versuche ihn zu extubieren, ich habe auch schon lange das Gas ausgemacht und die Narkose zurück gefahren und das Muskelrelaxans ist ebenfalls abgebaut, wie unser Relaxometer zeigt!“ informierte die Ärztin, die das alleine und verantwortlich entscheiden durfte, ihre Kollegen. Sie hatte wegen des Atemwegsinfekts noch eine Weile überlegt, aber es war kaum mehr etwas abzusaugen, bei liegender Magensonde konnte man postoperativ auch maschinelle Atemgymnastik machen und eine Beatmung sollte immer nur so kurz wie unbedingt nötig durchgeführt werden und so wurde gerade noch der Wundverband angelegt, als Ben sich bereits wieder zu regen begann.

  • Ben war sehr erleichtert gewesen als Sarah gekommen war. Sie mit eigenen Augen zu sehen, aus ihrem Mund zu hören, dass es seinen Kindern gut ging und einfach ihre Anwesenheit zu spüren, war eine große Erleichterung, trotz aller Schmerzen. Außerdem waren jetzt die beiden wichtigsten Menschen- außer seinen Kindern natürlich- in seinem Leben bei ihm, eigentlich wäre er zufrieden gewesen, wenn nicht diese schrecklichen Schmerzen gewesen wären, die ihm jeden vernünftigen Gedanken raubten. Die Atemnot tat ein übriges dazu, auch wenn die ein bisschen besser wurde, als Sarah nach dem Gespräch mit dem Arzt die Atemmaske auf seinem Gesicht fest hielt, ihm immer wieder die verschwitzten Strähnen beiseite strich und auch sonst alle Zuwendung zuteil werden ließ. Sein alles beherrschender Gedanke war: „Aua-warum tut das so wahnsinnig weh?“

    Als der Neurologe kam und verschiedene Untersuchungen mit ihm anstellte, war es ihm beinahe unmöglich, auf dessen Fragen eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Der fasste ihn an und piekte ihn, stellte viele Fragen-manchmal konnte er etwas fühlen, dann wieder nicht, aber es überforderte ihn maßlos, genau zu sagen, was er spürte und vor allem wo. Als der Strom durch die Nadeln geleitet wurde, fühlte er sich an verschiedene Kontakte mit solchen elektrischen Viehzäunen erinnert, die ihm immer wieder Stromschläge verpasst hatten, ohne ihm wirklich zu schaden, ganz anders als die Elektroschocker mit denen er schon gequält worden war, irgendwie musste er gerade an Wolf Mahler denken, der ihn danach lebendig begraben hatte-ohne Semir´s und vor allem Hartmut´s Hilfe hätte man ihn nicht rechtzeitig gefunden, dann gäbe es jetzt keinen Tim und keine Mia-Sophie, denn das war lange vor der Zeit gewesen, bevor er Sarah kennen gelernt hatte.
    Irgendwann war der Arzt fertig und die Geräusche und die Gespräche um ihn herum verschwammen zu einem einzigen wirren Wirbel, denn nichts interessierte ihn, außer sein alles beherrschender fürchterlicher Schmerz. Er hätte am liebsten laut los gebrüllt, aber erstens fehlte ihm die Luft dazu und dann wollte er doch Sarah und Semir nicht beunruhigen. Gerade Semir hatte steile Sorgenfalten auf seiner Stirn und musterte ihn immer mitleidig, wenn er die Augen aufschlug. Ach wenn er doch tot wäre-dann wäre ihnen allen miteinander viel erspart geblieben, aber Ben konnte auch keinen Hass auf seinen besten Freund empfinden, der ihn ja sozusagen gegen seinen Willen gerettet hatte, aber er hätte umgekehrt dasselbe getan! Nun drang Sarah´s helle Stimme in sein Bewusstsein, die irgendetwas von schlafen erzählte-ja nichts lieber als das! Nichts mehr wissen, nichts mehr fühlen, keine Schmerzen mehr aushalten müssen.


    Trotzdem dauerte es noch eine ganze Weile. Er wurde von Sarah und der Schwester frisch gemacht, sah dann, wie man den Beatmungsschlauch und alles Mögliche herrichtete und nun erfasste ihn trotz alledem eine unbestimmte Aufregung. Wer wollte schon völlig ausgeschaltet werden, einen Tubus in den Hals geschoben kriegen, anderen Menschen die komplette Verantwortung für einen überlassen, aber andererseits hatte er ja vielleicht die Chance, jetzt einfach zu sterben, dann wäre das Elend für ihn selber, seine Familie und seine Freunde auf einen Schlag vorbei. Ein schlimmer Moment kam noch, als man das Bett im Ganzen so kippte, so dass er fast das Gefühl hatte heraus zu fallen. Krampfhaft klammerte er sich irgendwo fest, ihm wurde fürchterlich schwindlig und schlecht, aber dann wusste er plötzlich nichts mehr.


    Langsam kämpfte er sich ins Bewusstsein zurück. Das erste was er hörte, war das Klappern und Klirren von Metall, das sich laut in sein Bewusstsein drängte. Er konnte gedämpfte Stimmen im Hintergrund hören, die sich aber beiläufig zu unterhalten schienen, ihn ging das nichts an. Dann sprach ihn eine fremde weibliche Stimme ganz aus der Nähe an: „Herr Jäger machen sie die Augen auf, tief durchatmen!“ und mit größter Anstrengung versuchte er der Aufforderung nach zu kommen. Erst langsam formierten sich die Gedanken in ihm, sein Körper war schwer wie Blei, aber endlich schaffte er es, den Kampf gegen die schwere Last, die auf seinen Lidern ruhte, zu gewinnen. Ein helles Licht leuchtete in seinen Augen und er kniff sie sofort wieder zu, aber trotzdem hatte er in dem kurzen Moment gesehen, dass rund um ihn herum alles grün war. Die grünen Fliesen an den Wänden, mehrere grün vermummte Gestalten, die geschäftig herum wuselten und ganz nah über ihm das Gesicht einer ihm völlig fremden Frau, die gerade eine Maske auf sein Gesicht drückte. Er wollte nach oben fassen und sie weg schieben, aber voller Panik bemerkte er, dass seine Hände fest gebunden waren-er war eindeutig in einem OP-Saal, aber er war wach, merkten die das nicht, sondern wollten ihn bei vollem Bewusstsein operieren? Er musste sich bemerkbar machen, aber nun kniff ihn die Frau in die Wange und er riss erneut die Augen weit auf und versuchte etwas zu sagen. Der nächste Satz, den sie allerdings an ihn richtete, löste große Erleichterung in ihm aus: „Die Operation ist vorbei, wir bringen sie jetzt in ihr Bett und auf die Intensivstation zurück!“ sagte die Stimme und nun schloss Ben die Augen beruhigt wieder. Sein Hals kratzte und als er husten musste, tat es in seinem Bauch weh, aber der fürchterliche, alles beherrschende Schmerz mit dem er eingeschlafen war, war weg. Er wusste nicht welchen Tag man schrieb und wie lange er geschlafen hatte, aber jetzt war ihm klar, die geplante Operation hatte stattgefunden und so ließ er wie eine willenlose Puppe alles mit sich machen, denn eine große Müdigkeit steckte noch in seinen Knochen.


    Es rumpelte, als man den OP-Tisch auf die Lafette hob, mit der er rangiert werden konnte, was ihm ein Stöhnen entlockte und nun sprach ihn eine Stimme an, die ihm bekannt vorkam-na klar, das war der Professor! „Herr Jäger-guten Morgen, die Operation ist gut verlaufen, was machen die Schmerzen?“ fragte er und Ben krächzte nach kurzer Überlegung: „Geht schon!“ und als er die Augen wieder aufmachte, lächelte ihn der große schlanke Mann mit der modischen Metallbrille über dem Mundschutz an, was man eigentlich nur an den Lachfältchen rund um die Augen erkennen konnte, aber trotzdem war das wohltuend, wenigstens ein bekanntes Gesicht zu sehen. Man hatte inzwischen seine Arme losgemacht und fuhr nun direkt zur Schleuse. Der Professor sagte: „Ich habe jetzt noch eine Operation und dann komme ich zu ihnen auf die Intensiv, jetzt schlafen sie erst einmal ihre Narkose aus, ich erkläre ihnen später gemeinsam mit ihrer Frau, was genau wir gemacht haben!“ denn die Erfahrung lehrte, dass Erklärungen zum Operationsverlauf so kurz nach dem Eingriff meistens nicht im Gedächtnis haften blieben. Die Patienten antworteten zwar adäquat, hatten aber später keinerlei Erinnerung an das Gespräch, das konnte man sich also sparen!
    So schob man den OP-Tisch in die Schleuse, nahm die Intensiveinheit zwar mit, aber außer dem Monitor, der Infusion und dem Perfusor mit dem Noradrenalin, hätte man sie eigentlich gar nicht mehr gebraucht.


    Sarah und Semir waren eine Weile in der Cafeteria gesessen. Sarah zwang sich einen Happen zu essen, obwohl ihr beileibe nicht danach war, aber sie wusste nicht, wie viel Kraft sie heute noch brauchen würde. Sie hatte ihre Kollegin gefragt, wie lange erfahrungsgemäß das Einsetzen solcher Cages dauerte und die hatte gemeint: „Minimum zwei Stunden, eher länger!“ und dann noch hinzu gefügt: „Das ist aber reine Operationszeit, die Ein-und Ausleitung und das ganze Drumherum muss man auch berücksichtigen.“ und so hatte sich Sarah schon auf eine längere Wartezeit eingestellt.
    Draußen war wieder Kaiserwetter, die Sonne schien über einem strahlend blauen Himmel, die Natur befand sich im Vollfrühling, die Kirschbäume blühten und die schön angelegte Außenanlage der Klinik lud mit viel Grün und überall Ruhebänken zum Verweilen ein. Auf einer Seite fiel das Gelände zu einem kleinen Fluss hin ab, überall sangen die Vögel und in der Ferne konnte man sogar zwei Störche auf der Suche nach Futter für ihre Jungen durch die Uferwiesen stolzieren sehen. Semir und sie liefen einmal ums Krankenhaus, damit die Zeit verging, aber danach nahm ihre Unruhe immer mehr zu und sie strebten wieder auf die Intensivstation. „Na klar könnt ihr auch im Zimmer warten!“ sagte die Intensivschwester, die Ben betreute, freundlich und so liefen Sarah und Semir abwechselnd wie die Tiger im Käfig in der geräumigen Intensivbox umher, die ohne Bett in der Mitte so leer und trostlos wirkte und zählten am Zeiger der Uhr an der Wand die Minuten, die zäh und langsam vergingen-ganz anders als im Alltag. „Semir-hoffentlich geht es ihm einigermaßen gut nach der OP, ich mache mir große Sorgen um seine Psyche, falls sich die Lähmung nicht bessert!“ vertraute sie ihrem Freund an, aber der konnte sie auch nicht trösten, denn die gleichen Gedanken beschäftigten auch ihn-ob Ben an einem Leben im Rollstuhl Freude empfinden könnte, falls er das Ganze überhaupt überlebte?

    Endlich-der Zeiger der Uhr zeigte bereits kurz nach elf-steckte die Schwester den Kopf zur Tür herein: „Wir holen ihn jetzt ab und ich habe gleich noch eine erfreuliche Mitteilung für euch: Er ist extubiert!“ teilte sie Sarah und dem kleinen Türken mit und nun fiel Sarah sozusagen ein Stein vom Herzen. Das war eine gute Nachricht und sie würden jetzt alle gemeinsam mit Ben um seine Genesung kämpfen, ihre eigene Kraft war nach dem kurzen Durchhänger zurück, sie hatte genug davon, um ihrem geliebten Mann davon etwas abzutreten und so warteten sie gespannt, bis endlich das Bett ins Zimmer rangiert wurde.

  • Ben hatte den Transfer ins Bett zwar mitgekriegt, aber ihm war durch die Nachwirkungen der Narkosemittel gerade alles egal, er konnte nicht klar denken und so nahm er zwar wahr, wie sich das Bett in Bewegung setzte, aber er schloss einfach die Augen wieder und hielt sie noch geschlossen, als seine Liegestatt zum Stillstand kam und die Bremsen arretiert wurden. Erst als ihn eine federleichte warme Hand tröstend berührte, kam er wieder zu sich und als er diesmal die Augen aufschlug, sah er etwas viel Erfreulicheres als vorher, nämlich seine Sarah, die ihn liebevoll anlächelte und gleich dahinter Semir, dessen Miene auch Hoffnung ausdrückte und er wollte eigentlich etwas sagen, aber dann war er so müde, dass er wieder einschlief.
    Man nahm ihm seine Zudecke für einen Augenblick weg, routinierte Hände fassten ihn an, sortierten die Schläuche, Kabel und Beutel, nummerierten die Drainagebehälter und prüften, ob er nicht irgendwo drauf lag, aber das war soweit in Ordnung. So deckte man ihn wieder zu und ließ ihn in Ruhe und als er das nächste Mal erwachte, war er schon nicht mehr ganz so müde. Allerdings tat sein ganzer Bauch jetzt weh und er stöhnte ein wenig, woraufhin Sarah sofort aufsprang und ihre Kollegin holte. „Er hat Schmerzen!“ sagte sie und gleich bekam Ben einen Opiatbolus, der ihn wieder in wohlige Teilnahmslosigkeit verfallen und weiterschlafen ließ. Das nächste Mal erwachte Ben, weil er das Geklapper von Tassen hörte. Die Schwester hatte nämlich Sarah und Semir jeweils eine Tasse Kaffee gebracht und als ihm jetzt der verheißungsvolle Duft in die Nase stieg fragte er: „Kann ich auch eine haben?“ woraufhin ihn die drei Personen neben seinem Bett erst erstaunt ansahen und dann in befreites Gelächter ausbrachen. „Wenn du schon wieder nach Kaffee verlangst, kann es so schlimm nicht sein!“ sagte Semir vergnügt und die Schwester antwortete ihm: „Ein bisschen müssen sie sich noch gedulden, bis sie wieder was zu essen kriegen, immerhin hatten sie vor ein paar Stunden erst eine große OP, aber wir machen jetzt einfach mal den Mund frisch, cremen die Lippen ein und legen sie ein bisschen anders hin, das muss dann fürs Erste genügen!“ und so wurde es gemacht. Sarah half ihn vorsichtig zu drehen, die Unterlage zu erneuern und das zwackte jetzt ganz ordentlich im Bauch und mit einem Schlag war ihm die Lust auf Kaffee vergangen. Dann musste er auch noch husten und das tat nochmals extra weh, so dass er ein wenig jammern musste, außerdem störte ihn die dicke Magensonde in seiner Nase, deren Verlauf den Rachen hinunter er deutlich spüren konnte-Mann war das widerlich. Auch hatte er erst jetzt wieder wahr genommen, dass er immer noch nicht merkte, wenn er an seinen Beinen angefasst wurde-nach wie vor lagen die wie nutzlose Anhängsel, die nicht zu ihm zu gehören schienen, im Bett und langsam wurde ihm bewusst, dass sich bezüglich seiner Querschnittlähmung leider überhaupt nichts geändert hatte und das ließ ihn wieder traurig werden.


    Er bekam ein Schmerzmittel, das ihn nicht so müde machte und als der Professor und der Viszeralchirurg irgendwann ins Zimmer trat, schreckte er hoch. Semir und Sarah waren auf beiden Seiten des Betts gesessen und hatten jeder eine seiner Hände gehalten, Sarah hatte ihn auch gestreichelt und er hatte sich den Berührungen seiner liebsten Menschen einfach überlassen und versucht, nicht zu denken.
    „So Herr Jäger-wie geht es ihnen denn?“ fragten die Operateure und nach kurzer Überlegung erwiderte er: „Einigermaßen, allerdings habe ich jetzt Bauchweh!“ und die beiden groß gewachsenen Ärzte nickten. „Das ist ja auch normal nach einer derartigen Operation, aber das Einsetzen der Cages hat sehr gut funktioniert, weil sie schlank sind, sind wir auch gut ran gekommen, aber trotzdem haben wir ganz ordentlich herum manipuliert, das darf weh tun und deshalb bekommen sie auch Schmerzmittel. Ich gehe jetzt aber davon aus, wenn sie hauptsächlich Bauchschmerzen angeben, dass diese schlimmen ausstrahlenden Nervenschmerzen weg sind?“ wollte der Professor wissen und Ben nickte. Dieser alles beherrschende Schmerz war verschwunden, aber dennoch erschien ihm sein weiteres Leben plötzlich wieder grau und trostlos. Er hatte irgendwie gehofft, dass er aufwachen würde und alles würde sein wie vorher, bevor er abgestürzt war, auch wenn sein Verstand ihm natürlich sagte, dass das Blödsinn war-aber die Hoffnung war einfach da gewesen. „Ich fühle meine Beine aber immer noch nicht!“ sagte er deshalb leise und traurig und der Professor, der ja auch nicht wusste, ob und wie sich die Situation seines Patienten noch verbessern würde sagte tröstend: „Sie müssen ihrem Körper einfach Zeit geben-die Wunden brauchen Zeit zum Heilen und die Nerven noch viel länger, aber das wird schon, wobei ich ihnen natürlich auch keine genaue Prognose geben kann, wie viele ihrer Funktionen wieder zurück kommen werden!“ und damit ließ er seinem Kollegen den Vortritt, der nun die Zudecke zurück schlug, den Bauch oberflächlich abtastete, den Inhalt der Drainagen betrachtete und Ben dann wieder zudeckte. „Von meiner Seite als Viszeralchirurg her ist alles soweit in Ordnung, ich wünsche ihnen weiterhin eine gute Besserung, am Wochenende kümmert sich einer meiner Oberärzte um sie und am Montag sehen wir uns dann wieder!“ erklärte er und verabschiedete sich so in sein freies Wochenende.

    Der Professor, der den Stimmungsumschwung seines jungen Patienten genau mitbekommen hatte, griff jetzt nach dessen Hand, denn Sarah und Semir waren natürlich sofort zur Seite getreten als die beiden Weißkittel das Zimmer betreten hatten. „Herr Jäger-geben sie nicht auf-das Leben hat noch so viel Schönes für sie zu bieten und sie werden das auch wieder genießen können, egal ob auf eigenen Beinen, oder eben im Rollstuhl, aber ich könnte ihnen dutzendfach Patienten von mir zeigen, die auch mit einer Restbehinderung glücklich sind, sie müssen sich einfach erst einmal an die Situation gewöhnen!“ versuchte er ihn zu trösten, aber Ben drehte den Kopf weg und eine vereinzelte Träne kullerte aus seinem Augenwinkel. „Ich will mich aber nicht an ein Leben im Rollstuhl gewöhnen!“ sagte er dann leise und zog sich jetzt einfach die Decke über den Kopf, damit der fremde Arzt, aber auch seine engsten Vertrauten nicht mit bekamen, wie er hemmungslos zu schluchzen begann. Hilflos und betroffen sahen die drei Anwesenden auf die bebende Decke und nach kurzer Überlegung ordnete der Professor ein leichtes Beruhigungsmittel an, Herr Jäger sollte sich jetzt erholen und sich nicht selber fertig machen. Die Schwester injizierte das in den ZVK und langsam erstarben die Schluchzer unter der Decke. Als Sarah sie jetzt betrübt und voller Sorge nach unten zog, hatte Ben die Augen wieder geschlossen und schien zu schlafen, aber an seiner angespannten Hand merkte sie, dass er sich nur irgendwie zusammen riss. Lange Zeit saßen sie und Semir nun neben seinem Bett, berührten ihn tröstend und hielten ihn einfach fest, bis er langsam auch von innen heraus ruhiger wurde und die verspannten Handmuskeln erschlafften.


    Inzwischen war es früher Abend geworden und als die Schwester nun ankündigte, dass erneut, wie am Vortag, ein Herr Freund draußen wäre, wurde Hartmut herein gebeten. „Sarah, ich würde vorschlagen, heute Nacht bleibe ich bei Ben und du fährst mit Hartmut zu deiner Cousine und schläfst dich richtig aus!“ schlug Semir vor, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein-ich kann Ben in so einem Zustand nicht alleine lassen!“ flüsterte sie und so ging dann doch Semir schweren Herzens mit dem Rotschopf, dem Ben sogar ein flüchtiges gequältes Lächeln geschenkt hatte, ohne allerdings auch nur ein Wort zu sagen, nicht dass er gleich wieder losheulte wie ein kleines Kind. „Ben-ich komme gleich morgen früh wieder zu dir!“ offerierte Semir seinem Freund und der nickte, aber in seinen dunklen Augen schienen alle Gefühle erloschen zu sein und nur eine unendliche Trauer hatte von ihm Besitz ergriffen. Hartmut kündigte dann noch an: „Ben, ich sage dir gleich auf Wiedersehen-ich fahre noch heute mit dem Zug zurück nach Köln, wir können nicht alle unsere Dienststelle im Stich lassen, die Chefin hat meine Rückkehr angeordnet, wir sehen uns dann, wenn du wieder zurück bist!“ und Ben hatte leicht genickt, zum Zeichen, dass er verstanden hatte, aber er war sich ganz sicher-er würde nicht zurück kehren!

  • Als Hartmut und Semir zum Wagen gingen, sagte der Kriminaltechniker nachdenklich: „Irgendwie wirkt Ben furchtbar depressiv!“ und der kleine Türke nickte. „Das hast du völlig richtig erkannt. Er will sich mit einem Leben im Rollstuhl auf gar keinen Fall arrangieren, deshalb werde ich auch nicht auf die Dienststelle zurück kehren, bevor sich das mit meinem besten Freund nicht gebessert hat-ich meine psychisch! Wenn er im Rollstuhl bleiben sollte, gut, dann ist es eben so, das ist vermutlich etwas, was wir nicht in der Hand haben, aber seine Einstellung dazu, die muss sich ändern und ich denke schon die ganze Zeit darüber nach, was wir da deswegen machen können!“ sinnierte er, aber jetzt zog ein Grinsen über Hartmut´s Gesicht. „Da fällt mir gerade etwas, oder vielmehr jemand ein, den muss ich mit Ben bekannt machen-der wird sich wundern-und du auch, so nen Typen hast du noch nicht gesehen! Das ist ein Kumpel von mir, wir zocken im Internet immer mal gegeneinander, der sitzt nach nem Motorradunfall seit Jahren im Rollstuhl-aber hallo-der macht mehr aus seinem Leben als so mancher, der gesunde Beine hat!“ erklärte er und Semir nickte eifrig. „Gute Idee, aber das wird erst etwas werden, wenn er von der Intensivstation runter ist und dein Kumpel wird ja vermutlich im Raum Köln wohnen, da ist Nordschwaben nicht der nächste Weg. Ich denke aber, Ben wird sobald es möglich ist, heimatnah verlegt werden, dann bringen wir die beiden zusammen!“ beschloss er und nun bogen sie auch schon in die Hofeinfahrt von Corinna und Klaus ein.


    Die Haustür öffnete sich und Corinna, auf deren Schultern ganz frech das kleine Katerchen thronte, machte den beiden auf. Sie begrüßten sich und waren alle froh, dass auch Corinna die Entführung, die sie ja mehr oder weniger selber verschuldet hatte, folgenlos überstanden hatte. „Kommt rein-meine Schwiegermutter hat uns ne Riesenmenge Gulasch gekocht, ich hoffe ihr habt nen ordentlichen Hunger mitgebracht!“ sagte sie, um dann ein wenig leiser hinzu zu fügen: „Und wie geht es Ben? Wollte Sarah nicht mitkommen?“ aber da schüttelte Semir den Kopf. „Ben hat die OP zwar gut überstanden, aber wir wollen ihn die nächsten Tage auf gar keinen Fall alleine lassen, ihm geht es nämlich psychisch sehr schlecht. Heute Nacht möchte Sarah unbedingt bei ihm bleiben und ich übernehme dann morgen früh wieder!“ teilte er Corinna mit und Hartmut sagte dann: „In zwei Stunden geht mein Zug nach Köln, ich esse sehr gerne noch mit euch, aber dann werde ich meine Sachen packen und hoffe, irgendeiner von euch hat Lust, mich dann zum Bahnhof zu fahren!“ fragte er und Klaus bot sich sofort an.
    So nahmen sie ein gemeinsames Mahl ein, das aber- obwohl es köstlich schmeckte und Corinna selbst gezogenen Salat aus dem neuen Hochbeet dazu gemacht hatte- ziemlich schweigend verlief. Ben´s ungewisse Zukunft machte ihnen allen zu schaffen und der Einzige, der für gewisse Erheiterung sorgte, war der putzige kleine Kater, der mit einem Garnknäuel als Spielzeug durch den Essbereich kugelte. „Ach ich habe mir schon lange eine Katze gewünscht und dieser kleine Kerl ist sooo süß!“ sagte Corinna, „Aber die Umstände, wie wir zu ihm gekommen sind, werden uns immer an diese schrecklichen Tage erinnern!“ und da konnten alle anderen ihr nur zustimmen.
    Kurz darauf wuchtete Hartmut seinen Koffer in Klaus´ Wagen und saß wenig später im ICE, der ihn ohne Umsteigen nach Köln befördern würde und Semir telefonierte erst einmal lange mit Andrea und den Kindern, die schon bettfertig waren, aber trotzdem noch ein paar Worte mit dem Papa wechselten. „Andrea, ich weiss nicht, wie lange ich noch hier bleibe, aber Ben braucht mich auf jeden Fall!“ erklärte Semir seiner Frau und die protestierte nicht dagegen. Semir als Freund zu haben war eine wunderbare Sache-mit ihm verheiratet zu sein, erforderte dennoch auch eine gewisse Gelassenheit, aber er würde immer alles für seine Freunde und seine Familie geben, soviel war sicher und so verabschiedeten sie sich mit ein paar Liebesbeteuerungen und als Klaus wenig später vom Bahnhof zurück kam, bot er Semir ein Bier an. Der nahm das dankend an und setzte sich noch ein wenig mit seinen Gastgebern auf die Terrasse und versuchte den wundervollen Frühlingsabend und das wohlschmeckende kühle einheimische Bier zu genießen, aber so richtig funktionierte das nicht. „Ach wenn nur Ben bei uns sitzen könnte, dem würde das auch schmecken!“ sinnierte Semir und die anderen nickten betroffen und nachdenklich. Hoffentlich würde Ben wieder Freude am Leben empfinden können, das wünschte ihm jeder, der ihn kannte.


    In der Klinik hatte derweil die Abendroutine eingesetzt. Es war Freitagabend, da ging es meistens noch ziemlich zu auf der Intensiv und man war auch froh, zwei freie Betten zu haben, denn erfahrungsgemäß kam immer die eine oder andere Schnapsleiche nachts am Wochenende, wenn überall Partys und Feste stiegen. Sarah half zum wiederholten Male Ben frisch zu machen, ihn so zu lagern, dass er nicht wund wurde und seinen Mund auszuwischen. Man kontrollierte die Blutgase, schnallte ihm auch für ein Stündchen die Beatmungsmaske aufs Gesicht, was aber wegen der liegenden Magensonde auf Ablauf kein Problem darstellte und so wurde es langsam Nacht und Sarah streckte sich neben ihm auf dem bequemen Bettstuhl aus, auf dem sie schon die vorige Nacht verbracht hatte. Nachdem eine neue Nachtschwester Ben übernommen hatte, wurde endlich das Licht gelöscht, Sarah legte wieder ihre Hand auf den Brustkorb ihres geliebten Mannes und wenig später verrieten ruhige Atemzüge, dass sie eingeschlafen war. Ben allerdings lag zwar ruhig da, aber die Angst vor der ungewissen Zukunft ließ ihn keinen Schlaf finden, außerdem hatte er ja den ganzen Tag irgendwie verpennt und war jetzt einfach nicht mehr müde. Wie würde es wohl werden, wenn er nie wieder laufen konnte? Er wollte auch nicht ein Leben lang wie Bruder und Schwester neben Sarah im Bett liegen, sie liebten eigentlich den Sex miteinander, er konnte sich nicht vorstellen, darauf zu verzichten, aber zwischen seinen Beinen war da irgendwie ein unnützes Anhängsel, das überhaupt kein Leben mehr in sich hatte und dessen Existenz er zwar sehen, aber nicht mehr fühlen konnte. Sarah war eine hübsche Frau, die sicher wieder einen neuen Partner finden würde, der sie auf der ganzen Linie befriedigen konnte-sie sollte nicht nur aus Pflichtbewusstsein und sozialem Gewissen bei ihm bleiben, so ein Leben hatte sie nicht verdient. Er hatte aus den Worten des Professors gemeint heraus zu hören, dass sich seine Situation nur noch minimal bessern würde, er würde auf jeden Fall ein Krüppel bleiben und das wollte er nicht und so begann Ben nun Pläne zu schmieden, wie er seinem unwürdigen Leben, als Last für seine Familie und Freunde, ein Ende setzen konnte-er musste nur die passende Gelegenheit abwarten!

  • In der Nacht wurde es nochmals laut auf der Intensiv, als die erwarteten Zugänge kamen. Einer begann zu randalieren und weil die Schwestern und der Intensivarzt mit dem besoffenen Russen nicht mehr zurande kamen und der alle auf Russisch und Deutsch aufs Übelste beschimpfte, um sich biss und trat, wurde die Polizei verständigt, die-nach erfolglosem verbalen Schlichtungsversuch-mit Polizeigriff, Schlagstöcken und einfacher körperlicher Überlegenheit den Typen so fixierte, dass man ihm einen neuen Zugang legen konnte, ihn niederspritzte und so fixierte, dass er niemandem mehr gefährlich werden konnte, bis er seinen Rausch ausgeschlafen hatte.
    Ben und Sarah, die inzwischen wieder erwacht war, hörten aus dem Nebenzimmer die Geräusche, sahen die Uniformierten an der geöffneten Schiebetür vorbeistürmen und Ben sagte unglücklich: „Das wäre jetzt mein Job gewesen, die Kollegen zu unterstützen, bzw. schon eher einzugreifen und den Mann daran zu hindern, dass er den Schwestern und Ärzten gefährlich wird!“ aber Sarah schüttelte den Kopf. „Blödsinn-das geht dich nichts an, du bist gerade selber Patient und nun wirklich nicht in der Lage, einen Zweikampf zu bestehen und warum auch? Ich bin selber froh, dass ich nicht im Dienst bin, solche Besoffenen sind einfach zum Kotzen, das ist die Kehrseite der Arbeit auf der Intensiv, dass man sich auch mit den ganzen Typen rumärgern muss, die anders nicht zu führen sind, aber da ist dein Job genauso wenig ein Traumjob dagegen, du hältst da auch deinen Kopf für die Gesellschaft hin, riskierst deine Gesundheit und für was-dass der sich am nächsten Wochenende wieder zu dröhnt und Ärger macht!“ machte sie ihrer Empörung Luft und Ben schwieg nun still, denn er hatte genau die Worte raus gehört, die ihn am meisten trafen: „Du bist nicht in der Lage einen Zweikampf zu bestehen!“ und damit hatte sie mehr als Recht und vermutlich würde das nie wieder der Fall sein, also war der Polizeidienst für ihn gelaufen. Nein-noch viel schlimmer-er würde im Rollstuhl in der PASt herum fahren, die Berichte für alle anderen schreiben und Susanne unterstützen, während draußen das Leben brauste und Semir mit einem neuen Partner über die Autobahn düste, Verbrecher jagte, Autos schrottete und Spaß hatte!


    Als wenig später, nachdem es wieder ruhig geworden war, die Nachtschwester herein kam, um ihn erneut anders hin zu legen, ihm ein Schmerzmittel zu geben und die Drainagen zu kontrollieren, entschuldigte sie sich für den Lärm und rieb sich nebenbei den Arm, wo der Typ sie erwischt hatte und sich bereits ein riesiger blauer Fleck abzuzeichnen begann. „Aber da können doch sie nichts dafür-es wäre meine Aufgabe als Polizist gewesen, sie und das Team zu beschützen und derweil liege ich hier herum und bin zur Untätigkeit verdammt!“ stieß Ben heftig hervor und die Schwester musterte ihn ein wenig ungläubig. „Na jetzt hören sie aber auf-sie sind hier selber Patient und wir haben die Lage mit Unterstützung ihrer Kollegen vor Ort schon in den Griff gekriegt. Konzentrieren sie sich einfach auf ihre eigene Genesung, das ist jetzt wichtiger als alles andere!“ gab sie ihm gut gemeinte Ratschläge, aber auch hier hörte Ben wieder nur das eine heraus: Er wurde nicht mehr gebraucht, war unfähig und untätig und als wenig später Sarah wieder eingeschlafen war, starrte er mit offenen Augen an die Decke und haderte mit seinem Schicksal.

    Er musste jetzt allerdings klug taktieren und Sarah und Semir in Sicherheit wiegen, damit die ihn auch einmal alleine ließen. Außerdem war eines ziemlich klar-auf der Intensivstation hatte er keine Möglichkeit sich umzubringen, da war die Überwachung zu engmaschig, er musste also versuchen, schnellstmöglich auf Normalstation zu kommen und dann zu sehen, welche Gelegenheit sich ergab. Leider hatte er keine Waffe zur Hand, auch aus dem Fenster zu springen war keine Option-dazu müsste er nämlich erst einmal dorthin gelangen-Medikamente, gut da musste man schauen, was sich ergab, aber er würde jetzt ein zweites Mal versuchen diesem unwürdigen Leben ein Ende zu bereiten, die Chance würde sich irgendwann bieten und dann würde er sie beim Schopfe ergreifen! Gegen vier dämmerte er doch noch ein wenig ein, war aber am Morgen wie gerädert.
    Allerdings waren die Blutgase deutlich besser, man hatte über Nacht die kreislaufstützenden Medikamente ausschleichen können und als nach dem Waschen der Oberarzt der Viszeralchirurgen zur Visite kam, ordnete er an, die Magensonde zu entfernen. Er hatte Ben´s Bauch abgetastet und auch mit dem Stethoskop nach Darmgeräuschen gehört und durchaus eine Peristaltik wahrnehmen können. „Mir fange amol mit Wasser an und wenn sie des guat vertrage, dürfe sie mittags scho a Süpple habe!“ teilte ihm der in tiefstem Schwäbisch mit und Sarah und Ben hatten Mühe zu verstehen, was der Arzt gesagt hatte. Als allerdings Minuten später die Schwester mit behandschuhten Händen die Klebefixierung der Sonde von seiner Nase löste und das dicke Teil einfach heraus zog, was ihn zuerst würgen ließ, aber dann eine riesige Erleichterung bedeutete, war die Sache klar und der erste Schluck Wasser danach, den ihm Sarah mit einer Schnabeltasse eingab, schmeckte gut, aber das gestand Ben sich gar nicht ein, machte aber auf der ganzen Linie mit. Er bemühte sich auch bei der Atemgymnastik ohne Gerät, nur mit einem kleinen mechanischen Atemtrainer und als der Professor gegen elf, fast gleichzeitig mit Semir, zur Visite eintraf, war er sehr zufrieden und sagte: „Wenn die Lage so entspannt bleibt, werden wir sie morgen auf die normale Station übernehmen und sobald alle Drainagen draußen sind, können wir sie heimatnah verlegen!“ und Ben jubilierte innerlich, obwohl der Grund ja eigentlich gar nicht zum Jubeln war, aber sein Entschluss stand fest. Er würde das auch noch hier durchziehen, denn wenn er sich erst in der Kölner Uniklinik umbrachte, hätte Sarah da vielleicht damit Probleme und das wollte er nicht. Es würde einen sauberen Schnitt geben, er würde Nordschwaben nicht mehr lebend verlassen, wie er es ja schon in der Höhle geplant hatte.


    Sarah und auch Semir waren beide erstaunt. So traurig, teilnahmslos und depressiv Ben gestern noch gewirkt hatte, jetzt schien er von einer neuen Kraft beseelt zu sein und als er auch das mittägliche Süppchen gegessen und vertragen hatte, ließ Sarah sich doch von Semir überreden, wenigstens ein paar Stündchen zu Corinna und Klaus zu fahren, außerdem musste sie ja auch dringend mit Hildegard telefonieren, wie es den Kindern ging. „Corinna hat frischen einheimischen Spargel mit Schinken und Kartöffelchen gekocht, ich habe schon ein wundervolles vorgezogenes Mittagessen gekriegt und für dich steht noch eine Riesenportion bereit!“ vertraute Semir seiner Freundin an und gab ihr den Schlüssel für den BMW. Das war vielleicht jetzt nicht legal, wenn er Sarah mit dem Dienstwagen fahren ließ, aber das brauchte Frau Krüger gar nicht zu erfahren. So machte sich Sarah nach einer innigen Verabschiedung auf den Weg nach Mündling und auch ihr bot sich dort dasselbe Bild, wie gestern Hartmut und Semir-als Corinna die Tür öffnete, thronte der kleine schwarze Kater, der ihr auf Schritt und Tritt folgte, auf ihrer Schulter und nun begann Sarah wie verrückt zu lachen. Gerade löste sich die Anspannung ein wenig und als Corinna sie verständnislos ansah, gluckste Sarah: „Jetzt fehlt nur noch der Besen und die Warze auf der Nase!“ und als Corinna kapiert hatte, was Sarah meinte, stimmte sie befreit in das Lachen mit ein-Gott sei Dank war ihre Cousine ihr nicht mehr böse!


    Sarah telefonierte erst mit Hildegard, aber in Köln war alles gut, verspeiste mit Appetit ihre Portion und als sie danach bei einer Tasse Kaffee zusammen saßen, wollten Corinna und Klaus natürlich wissen, wie der Stand der Dinge bei Ben war. „Er erholt sich schnell, darf schon wieder Kostaufbau haben und soll vielleicht morgen bereits auf die Normalstation verlegt werden, ich denke, dann werden wir auch bald zurück nach Köln können, so Dienstag oder Mittwoch schätze ich. Bezüglich der Lähmung muss man einfach abwarten-Nerven brauchen lange um zu heilen und man wird erst in einigen Wochen sehen, welche Funktionen noch zurück kommen, aber das ist egal, wir werden uns unser Leben, so wie es eben ist, schon einrichten und glücklicherweise ist unser Haus ja geräumig. Außer einer Rollstuhlrampe für die drei Treppen vor der Eingangstüre brauchen wir keine weiteren Umbauten vornehmen. Wir verlegen unser Schlafzimmer einfach nach unten ins jetzige Gästezimmer, die Dusche im Parterre ist geräumig und groß genug und soweit ich weiss, kann man gleich in der Reha eine spezielle Fahrprüfung machen für ein Auto ohne Fußpedale, dann ist Ben auch alleine mobil. Gestern war er noch ziemlich depressiv, aber heute erstaunt er uns alle mit der Kraft, die er schon wieder für seine Genesung aufbringt, ich denke er hat sich mit der Situation arrangiert und versucht das Beste daraus zu machen!“ erzählte Sarah und nun waren auch ihre Verwandten beruhigt.

    Das kleine schwarze Katerchen hatte neugierig mit Sarah erst gespielt und sich dann auf Corinna´s Schoß zu einem Schläfchen zusammen gerollt. „Sarah-ich möchte, dass du den Namen für diesen süßen kleinen Pelzball aussuchst!“ bat nun Corinna und Sarah überlegte eine Weile. „Na eigentlich sollten wir ihn ja Luzifer oder so nennen, immerhin war er ja schon mal beinahe die Hauptperson bei einer schwarzen Messe!“ überlegte sie erst, aber nun hob der kleine Kater den Kopf und sah sie anklagend an, so als wolle er sagen, was ihr für ein Blödsinn einfiele und nun lachte Sarah: „Aber jetzt weiss ich es-ich finde, er soll Anton heißen-ich kannte mal einen netten schwarzen Kater, der hieß so!“ sagte sie dann und damit waren Corinna und Klaus einverstanden. „Na Toni, bist du mit deinem Namen zufrieden?“ fragte Klaus und kraulte den Kopf der kleinen Katze, die sofort zufrieden zu schnurren begann und nun lachten die drei befreit auf, irgendwie wirkte die Zukunft gerade nicht mehr ganz so düster, auch wenn natürlich vor Ben und Sarah noch ein harter, steiniger Weg lag, aber gemeinsam würden sie das schaffen!

  • Semir hatte sich zu seinem Freund gesetzt und ihn erstaunt gemustert. Dieser Stimmungsumschwung kam gerade wieder genauso überraschend für ihn, wie der nach der Cortisongabe. Da hatte Ben auch von einer Stunde auf die andere plötzlich die Welt durch eine rosarote Brille gesehen und so fragte der Türke vorsichtshalber die betreuende Schwester draußen vor der Schiebetür, als Ben gerade ein kleines Mittagsschläfchen machte, was ihm nach den ganzen Strapazen ja auch durchaus zu stand: „Hat er wieder Cortison gekriegt?“ aber die verneinte. „Ich meine ja nur, weil er gar so gut drauf ist, “ ergänzte Semir kopfschüttelnd, aber dann ließ er es auf sich beruhen. Ihm konnte man es auch nicht Recht machen-versank sein Freund in tiefster Depression war er unzufrieden und voller Mitleid und jetzt, wo er anscheinend das Schlimmste auch psychisch überstanden hatte und sich mit seiner Situation arrangierte, war er immer noch nicht glücklich. Das musste sich schleunigst ändern und so erwartete Ben, als er eine halbe Stunde später anscheinend erwachte, ein ebenfalls fröhlicher Semir, der Späßchen machte, ihn mit Schwänken aus seiner Jugend unterhielt und auch die Schwestern und den Intensivarzt mit einbezog. Ben war erleichtert-anscheinend hatte er es geschafft zumindest seinen Freund schon zu täuschen und wenn das geklappt hatte, würde er es mit Sarah auch fertig bringen. Auch wenn es ihn wahnsinnig anstrengte, stieg er auf die Leichtigkeit der Gespräche ein und wenn es ihm zu viel wurde, schloss er einfach die Augen und stellte sich schlafend, denn der gnädige Schlaf, den er sich brennend gewünscht hätte, um mal für ein paar Stunden zu vergessen, wollte überhaupt nicht zu ihm kommen, aber das war jetzt auch schon egal-bald würde er für immer schlafen und bis dahin würde er sich verstellen, er hatte immer schon ganz gute schauspielerische Qualitäten gehabt!


    So verging der Nachmittag. Zum Abendessen bekam Ben schon Suppe, die ihm Semir aus einem Schnabelbecher anbot-diesmal sah er nicht so aus wie nach der Tomatensuppe vor der OP, Semir hatte gelernt, wie man das machte und wenig später kam Sarah wieder. Obwohl Ben lächelte, hatte sie irgendwie ein merkwürdiges Gefühl, aber genau wie Semir schalt auch sie sich, dass man sie wohl nie zufrieden stellen konnte. „Sarah, ich würde sehr gerne über Nacht bleiben-fahr du doch später zurück zu Corinna und Klaus“, bot Semir an, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Ich weiss nicht, wann ich wieder zu unseren Kindern zurück muss, ich will jede Stunde ausnutzen, die ich da sein kann. Ich habe gut gegessen, wir haben das kleine Katerchen Anton getauft und gleich noch mit alkoholfreiem Sekt angestoßen, dann war ich mit Corinna ein wenig laufen, habe geduscht und dann hat es mich wie auf Schienen wieder hierher zu dir mein Schatz gezogen!“ erklärte sie und gab Ben einen liebevollen Kuss auf die Stirn und er verzog das Gesicht zu einer Grimasse, die ein Lächeln darstellen sollte. Gerade fiel es ihm äußerst schwer, sich zu verstellen, denn es sprach so viel Liebe aus den Worten seiner Frau-konnte er ihr das antun? Aber dann bejahte er sein Vorhaben wieder. Gerade weil er sie und seine Kinder ebenfalls liebte, musste er sie von der Last eines behinderten Ehemanns und Vaters befreien und so lauschte er danach noch eine Weile den Worten von Semir, der ihm und Sarah nun von der Rettung des kleinen Katers und der gespenstischen Stimmung im Wald erzählte.


    Ein wenig später verabschiedete sich Semir und fragte sich die ganze Fahrt nach Mündling, warum er sich nicht über Ben´s zügige psychische Stabilisierung freuen konnte. Klaus hatte derweil den Rasen gemäht und Semir dachte schuldbewusst daran, dass er das zuhause auch hätte machen müssen, aber vermutlich hatte Andrea inzwischen selber zum Rasenmäher gegriffen. Er rief sie länger an, sie besprachen viele familiäre Dinge und er kündigte seine Rückkehr noch diese Woche an. „Ben wird bald auf die Normalstation verlegt und sobald die Drainagen draußen sind, kann er zurück nach Köln transportiert werden, hat der Professor gesagt!“ hielt er seine Frau auf dem Laufenden und dann versicherten sie sich noch ihrer Liebe, bevor er versonnen auflegte. Den Abend verbrachten sie wieder mit einem Bier auf der Terrasse und als Semir am nächsten Morgen nach dem Frühstück in die Klinik fuhr, begrüßte ihn eine strahlende Sarah, man hatte bei Ben bereits die Arterie gezogen und er würde in Kürze von der Normalstation abgeholt werden. Als Semir allerdings seinen Freund betrachtete, fiel ihm auf, dass dessen Lächeln aufgesetzt und leer wirkte, er sah müde aus, als habe er seit Tagen nicht geschlafen, aber seine Worte klangen zuversichtlich und gelassen und so ließ der Türke es auf sich beruhen. Er hörte anscheinend das Gras wachsen und so schob er wenig später das Bett mit auf die Normalstation, wo Ben ein Privatzimmer mit Zustellbett gebucht hatte, so dass Sarah nun ein ganz normales Bett für die Nacht zur Verfügung hatte. Ein großer Flachbildschirm hing an der Wand, es gab einen Internetzugang an jedem Bettplatz, ein Kühlschrank und eine großzügige Nasszelle, in der man sich auch mit Rollstuhl gut bewegen konnte, vervollständigten die Einrichtung. „Gleich morgen kaufe ich dir irgendwo in Donauwörth Privatklamotten, heute muss es noch mit dem Krankenhaushemd gehen!“ kündigte Sarah an, die ja in Corinna´s Kleidung herum lief, wie sie das schon zu Teeniezeiten gehandhabt hatten, aber Semir hatte eine Idee: „Ben hat doch in etwas dieselbe Größe wie Klaus, vielleicht kann der ihm fürs Erste etwas leihen?“ schlug er vor, aber Ben winkte ab. „Das ist doch vollkommen belanglos!“ sagte er fast ärgerlich-Mann ihm war es sowas von egal in was für Klamotten er starb. Wenn er auf dem Tisch des Gerichtsmediziners lag, wie das nach einem Selbstmord üblich war, würde er sowieso nichts mehr anhaben und das war irgendwie eine merkwürdige Vorstellung, aber dann hatte er es hinter sich und endlich seinen Frieden!


    So fuhr Sarah wieder untertags ein wenig zu ihrer Cousine, sie verbrachten den Sonntag mit guten Gesprächen, machten einen ausgiebigen Waldspaziergang und Semir hielt derweil die Stellung in der Klinik, wo auf Ben´s Wunsch hin, den ganzen Nachmittag der Fernseher lief, in den sein Freund hinein sah. Ben wirkte abwesend und gab einsilbige Antworten, bemühte sich aber freundlich zu sein und möglichst zu lächeln, so schwer es ihm auch fiel. Semir hatte die ganze Zeit den Eindruck, dass irgendetwas nicht stimmte, aber es gab außer seinem Bauchgefühl keinen Hinweis. Ben aß wieder etwas-zwar ohne Appetit, aber immerhin nahm er etwas zu sich. Die Schwestern kamen regelmäßig vorbei, drehten ihn und lagerten ihn, gaben ihm Schmerzmittel in die Infusion, erinnerten ihn an seine Atemgymnastik und als gegen sechs dann Sarah mit Klaus und Corinna im Schlepptau erschien, die Ben auch gerne besuchen wollten, unterhielt er sich kurz mit ihnen und die hatten ebenfalls einen guten Eindruck. Nur Semir kam das Ganze sehr merkwürdig vor und er hatte einen regelrechten Kloß im Hals, als sich Ben dann für die Nacht von ihm verabschiedete. „Machs gut und danke für Alles, du bist ein wahrer Freund!“ sagte er und eine Spur ihrer alten Vertrautheit schwang im Raum. Fast widerstrebend verließ Semir die Klinik, aber es war ein Blödsinn-zu dritt mussten sie sich nicht vor Ben´s Bett postieren, der war außer Lebensgefahr, jetzt mussten sie einfach Geduld haben und abwarten, was die Zeit so bringen würde.


    Ben hatte nach seiner Verlegung das Privatzimmer abgecheckt. Er hatte sogar Semir gemustert, ob der nicht seine Waffe im Holster trug und er ihm die heimlich entwenden konnte, aber die lag im Tresor der PASt, die hatte erst das BKA konfisziert und dann hatte Frau Krüger sie mit nach Köln genommen. Die Dinge in seiner Reichweite waren rar und er erwägte erst einen tödlichen Stromschlag zu provozieren, aber vermutlich würde ihm das nicht gelingen, auch nur das Gehäuse eines Elektrogeräts zu öffnen, ganz zu schweigen von der Sicherung, die dann wahrscheinlich fliegen würde. Die Messer, die man vom Krankenhaus bekam waren weder scharf noch spitz, also ebenfalls nicht geeignet, sich die in die Brust zu rammen und die andere Variation hatte er ja schon einmal vergeblich versucht. So blieb sein Blick an dem Kabel der Patientenglocke hängen. Wie alle Querschnittgelähmten hatte man ihm einen Patientenaufrichter, umgangssprachlich Bettgalgen, ans Klinikbett gebaut, daran hing der Schwesternruf und das war ein stabiles Kabel. Wenn es ihm gelang, das oben so zu befestigen, dass es nicht nachgab, sollte es ihm gelingen, sich damit zu strangulieren. Das würde zwar länger dauern als ein sauberer Genickbruch, wenn man sich erhängte, aber das Ergebnis würde das Gleiche sein und Ben hatte in seiner Laufbahn als Polizist schon viele derartige Selbstmorde und auch Morde bearbeitet. Er wollte zwar lieber nicht an den Gesichtsausdruck der Toten denken, der meistens voller Pein gewesen war, aber er war fest entschlossen die Welt und vor allem seine Familie und seine Freunde von sich zu erlösen, einem unnützen Krüppel, der allen nur Umstände bereitete. So wartete er auf eine günstige Gelegenheit und es gab ihm einen Stich ins Herz, als er sich von seinem besten Freund verabschiedete und der mit Klaus und Corinna von dannen zog. Es war das letzte Mal, dass sie sich gesehen hatten, denn heute Nacht würde er es durchziehen, irgendwie würde er es schaffen, Sarah für eine Weile aus dem Zimmer zu locken und dann galt es!

  • Sarah machte Ben für die Nacht fertig. Sie ließ ihm im Liegen Zähne putzen, legte ihn bequem hin und nach kurzer Überlegung machte sie die Bettgitter an beiden Seiten der flach gestellten und auf gleicher Höhe justierten Krankenhausbetten nach unten, so dass eine einzige große Liegefläche entstand. Sie schlüpfte in Leggins und Shirt, putzte noch ihre eigenen Zähne und als die Nachtschwester beim ersten Durchgang ins Zimmer kam, die von ihren Kolleginnen schon darauf vorbereitet worden war, aber ihren neuen Patienten und Sarah noch nicht kennen gelernt hatte, musste die lächeln, denn die große Liegefläche wirkte wie ein Ehebett und Sarah hatte sich ganz eng an ihren Mann gekuschelt und hatte ihre Hand wieder auf seinem Körper abgelegt und streichelte ihn. Beide blickten sie ein wenig verschlafen an und sie versprach, nachdem sie Ben seine Kurzinfusion mit Antibiotikum angehängt und ein erneutes Schmerzmittel in die Infusion getan hatte, heute Nacht nur kurz herein zu sehen, die beiden aber, wenn sie nicht läuteten, schlafen zu lassen. Ben´s Hautzustand war völlig in Ordnung, die Verbände trocken, in den Drainagen war nicht übermäßig Wundflüssigkeit und so konnte man es verantworten, den erholsamen Schlaf vor die Lagerung zu stellen-und außerdem würde Sarah ihn sicher ein wenig anders drehen, wenn sie wach wurde. So wurde die Tür geschlossen und Sarah streichelte weiter und sagte: „Ich liebe dich!“ woraufhin Ben mit kloßiger Stimme erwiderte: „Ich dich auch!“ und genau deshalb musste er sich umbringen, damit er seiner geliebten Frau das Leben nicht völlig versaute.


    Sarah war ziemlich sofort eingeschlafen und obwohl Ben eigentlich hundemüde und völlig fertig war, wollte der Schlaf nicht zu ihm kommen. Er hatte schließlich eine Mission-die letzte seines Lebens-zu erfüllen und es tat ihm fast leid, dass er keinen Abschiedsbrief schreiben konnte, der seine Beweggründe erklärte. Er wollte sich nicht feige vom Acker machen, sondern im Gegenteil, er hatte hehre Gründe für seinen Abschied für immer. Jetzt stellte sich nur die Frage, wie er Sarah aus dem Zimmer bekommen konnte. Aber das Schicksal war auf seiner Seite.
    Die Uhr an der Wand zeigte 1.30 Uhr, als man plötzlich im Flur draußen einen Tumult hörte. „Herr Maier, gehen sie bitte wieder in ihr Zimmer!“ klang die Stimme der Nachtschwester bestimmend, aber freundlich unmittelbar vor ihrer Tür. Eine quengelige Männerstimme erwiderte: „Nein, ich will aber nicht, ich muss meine Frau suchen!“ „Ihre Frau ist zuhause in ihrem Bett, die schläft sicher tief und fest-sie sind doch im Krankenhaus, Herr Maier!“ kam es begütigend von der Schwester zurück, da kreischte plötzlich der alte Mann-soweit man das an der Stimmlage erkennen konnte- los: „Geh weg, du Mistvieh, ich werde dir zeigen mit wem du es zu tun hast!“ und nun stöhnte die Nachtschwester verhalten auf, anscheinend hatte der verwirrte Patient sie angegriffen und direkt vor der Zimmertür war ein regelrechter Tumult zu hören. Sarah war schon mit einem Satz aus dem Bett gesprungen, Ben konnte nur hilflos sagen: „Pass auf dich auf!“ da war Sarah schon draußen, um ihrer Kollegin zu helfen und die Tür fiel hinter ihr ins Schloss.

    Ben tat es in der Seele weh. Erstens wäre es seine Aufgabe als Mann und Polizist gewesen, den Patienten zur Ordnung zu rufen und der Nachtschwester zu Hilfe zu eilen, aber er lag ja hilflos da, wie ins Bett betoniert und so würde das weitergehen-das war wirklich ein Leben, das er sich nicht vorstellen konnte. Er wusste nicht, ob sich so eine Gelegenheit nochmals bieten würde und darum würde er jetzt seinen vorgefassten Plan durchziehen. Hoffentlich begab sich Sarah nicht noch in große Gefahr, aber während er mit zitternden Fingern nach dem Kabel der Patientenglocke fingerte, hörte er von draußen ihre resolute, aber freundliche Stimme, die mit dem Verwirrten sprach, ihn besänftigte und anscheinend ließ sich der tatsächlich von Sarah runterbringen und als sie dann sagte: „Na kommen sie, Herr Maier-ich gehe jetzt mit ihnen auf ihr Zimmer, dann legen sie sich noch ein wenig hin und gleich morgen in der Früh rufen wir ihre Frau an“, stimmte der weinerlich, aber nicht mehr aggressiv zu, dann entfernten sich Schritte und die Geräusche wurden leiser.


    Ben hatte derweil das Kabel der Glocke so um den Bettgalgen, der heute seinem Namen alle Ehre machen würde, geworfen, dass er unten damit eine Schlinge machen konnte. Die Schlinge würde sich von alleine zuziehen. Er befestigte sie also ziemlich stramm um seinen Hals und mit wahnsinnig viel Mühe und unter Schwindelattacken richtete er sich auf und machte einen Knoten in das andere Ende des recht langen Kabels, so dass das nicht mehr nachgeben konnte und fest am Patientenaufrichter befestigt war. Unbewusst atmete er noch ein letztes Mal tief durch und dann ließ er sich einfach durch die Schwerkraft zurück fallen und im selben Augenblick zog sich das Kabel zu und strangulierte ihn, wie er es geplant hatte.
    Fast augenblicklich ergriff eine furchtbare Angst und Panik von ihm Besitz. Hilflos ruderte er mit den Armen-er hatte sich vorgestellt, dass er gefasst und ruhig seine Tat vollbringen würde, aber jetzt war plötzlich alles ganz anders. Er rang verzweifelt nach Luft, die Adern an seinen Schläfen schwollen an und er riss den Mund auf, in dem schrecklichen Verlangen nach Sauerstoff. Nein-jetzt wollte er auf einmal doch leben und schlug mit den Armen in einem verzweifelten und doch vergeblichen Versuch, die Schlinge um seinen Hals wieder zu lockern und den Selbstmordversuch abzubrechen, aber gerade jetzt schien sein Körper mehrere Tonnen zu wiegen und es gelang ihm nicht, auch nur einen Finger zwischen das Kabel und seinen Hals zu bringen. Auch sich aufzurichten schaffte er nicht mehr und so drehten sich die Gedanken in seinem Kopf, wie in einer Achterbahn und der berühmte Lebensfilm, bei dem es sich aber mehr um eine Aneinanderreihung von Flashbacks in denen Sarah, seine Kinder und vor allem auch Semir vorkamen, handelte, lief in seinem Kopf ab, während sein Körper langsam erschlaffte und die dick angeschwollene blaue Zunge aus seinem Mund hing.


    Semir schreckte aus dem Schlaf hoch. Der Blick auf sein Handy verriet ihm, dass es gerade mal 1.35 Uhr war. Das Haus lag in völliger Ruhe da, außer dem gelegentlichen Ruf eines Käuzchens im nahen Wald war es totenstill. Warum war er aufgewacht? Irgendetwas stimmte mit jemandem nicht, der ihm nahe stand und plötzlich wusste er mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, dass es sich um Ben handelte, dem es schlecht ging und der ihn irgendwie gerufen hatte und schon war er aus dem Bett und in seinen Klamotten-er würde jetzt ins Krankenhaus fahren und dort nach dem Rechten sehen, sonst fand er sowieso keine Ruhe mehr!

  • Sarah und die Schwester hatten den alten Mann beruhigt und ins Bett gebracht. „Vielen Dank für deine Hilfe-magst du noch ne Tasse Kaffee?“ bot die Pflegekraft ihrer Retterin an, aber Sarah schüttelte den Kopf. „Nein danke, sonst kann ich nicht mehr schlafen“, lehnte sie das freundliche Angebot ab und machte sich wieder auf den Weg zurück in ihr Zimmer. Als sie ahnungslos die Tür öffnete, sah sie, dass im Raum Licht brannte, Ben hatte anscheinend auf sie gewartet. „Schatz-alles in Ord…“wollte sie ihm gerade berichten, da fiel ihr Blick auf die grausigste Szene, die sie sich nur vorstellen konnte. Ihr geliebter Mann hing leblos, blau angelaufen und mit heraus hängender Zunge am Bettgalgen-er hatte sich erhängt!

    Sarah begann laut um Hilfe zu schreien, sie war völlig entsetzt und geschockt, aber dennoch kam auch in dieser Situation die Krankenschwester in ihr durch. Es waren nur wenige Minuten vergangen, seitdem sie den Raum verlassen hatte, vielleicht war es noch nicht zu spät! Die Nachtschwester hörte die lauten Hilferufe und rannte sofort zu Sarah, um heraus zu finden, was überhaupt los war. Die blonde junge Frau war aufs Bett gesprungen und hatte versucht, das Kabel zu lösen, aber weil das unter Spannung war und Ben da mit einem Teil seines Körpergewichts daran hing, hatte sie alleine keine Chance und so mobilisierte sie schier unmenschliche Kräfte und stemmte ihn irgendwie hoch, damit der Zug aufhörte. Die Nachtschwester würde ihr sofort helfen, aber zuvor riss sie das Telefon aus ihrer Kitteltasche, das sie immer bei sich tragen musste und wählte die krankenhausinterne Notfallnummer: „Wir haben eine Rea auf Zimmer 807, Suizidversuch durch Erhängen!“ gab sie durch, damit das Reanimationsteam wusste, was es erwartete und wohin es kommen musste und erst dann stürzte sie zu Sarah und löste den Knoten im Kabel, der Ben´s Körper in halb aufrechter Position gehalten hatte, was jetzt ging, weil durch Sarah´s Hilfe kein Gewicht mehr auf dem Kabel war. Als Ben frei war, ließ Sarah ihn aufs Bett zurück sinken und gemeinsam gelang es den beiden Frauen jetzt auch die Schlinge von seinem Hals zu lösen, die ein dickes Strangulationsmal hinterlassen hatte. Während die Nachtschwester noch nach dem Puls tastete, versuchte Sarah, die seitlich auf dem Pseudodoppelbett kniete, bereits unter Tränen über die Nase Luft in ihren geliebten Mann zu blasen, aber das funktionierte nicht, weil der Mund geöffnet war, die Zunge immer noch heraus hing und die Beatmung so nicht durchkam. Die Nachtschwester hatte derweil begonnen, den Brustkorb rhythmisch zu komprimieren, allerdings war das ein mühsames Unterfangen, da das Bett doch eine gewisse Weichheit aufwies, aber nun stand auch schon das Reateam mit seiner kompletten Ausrüstung im Zimmer und einer der Männer riss blitzschnell das Bettbrett am Kopfende aus seiner Halterung, man hob den Patienten an und legte die harte Unterlage unter Ben´s Oberkörper, fuhr das zweite Bett beiseite und während die eine Schwester die beiden Paddels mit Gelkissen darunter auf seinen Brustkorb drückte, um eine EKG-Ableitung zu bekommen, hatte der Pfleger bereits mit dem nun wesentlich effizienteren Drücken begonnen. Als der Notfallmonitor bereit war, hörte der Pfleger auf Kommando kurz mit der Herzdruckmassage auf und man konnte sehen, dass Ben´s Herz zwar ganz langsam, aber doch noch schlug, also hatten sie eine Chance! Er war zwar inzwischen fast überall blau und die Haut an den Beinen war marmoriert, aber wenn es gelang, ihn schnell zu intubieren, konnte er vielleicht gerettet werden.

    Die Schwester hatte aus dem Notfallrucksack in Windeseile einen dünnen Tubus und das Laryngoskop heraus geholt und der ältere Arzt, der große Erfahrung hatte, war schnell ans Kopfende des Bettes getreten, hatte Sarah zur Seite geschoben, die mit vor Angst geweiteten Pupillen das Tun der Kollegen beobachtete, aber selber keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte und den Kopf des Patienten überstreckt. Als er die aufgequollene Zunge mit dem Laryngoskopspatel beiseite geschoben und einen Blick in Ben´s Hals geworfen hatte, legte er das Werkzeug wieder weg. „Im Rachen ist alles zu geschwollen-keine Intubation möglich, ich mache eine Notfallkoniotomie-Skalpell bitte!“ sagte er und mit fliegenden Fingern reichte die Schwester ihm das Gewünschte und noch einen Stapel Kompressen dazu. Mit kundigen Fingern tastete der Arzt sich an Ben´s hervor springendem Adamsapfel herunter, lokalisierte die Membran unterhalb des Kehlkopfs, wo ein Eingehen möglich war und hatte auch schon mit einem raschen Längsschnitt die Haut durchtrennt. Dunkelrotes, gestautes Blut spritzte und floss in Strömen aus der kleinen Wunde, die der Arzt nun schon mit dem behandschuhten Finger erweiterte. Die Schwester hatte einen langen dicken, aber biegsamen Bougiestab aus dem Notfallrucksack geholt und als der Arzt nun mit einem weiteren minimalen Schnitt durch die Membran die Luftröhre eröffnete, blubberte Luft durch den kleinen Blutsee, den die Schwester dann aber abwischte. Der Arzt erweiterte mit einem metallenen Spreizer quer die Wunde, schob rasch den Bougie hinein und fädelte darüber den 6,5 er Tubus. Erst quer und dann längs schob er ihn fast gewaltsam in das kleine Loch. Der Pfleger, der derweil mit der Herzdruckmassage pausiert hatte, blockte den Tubus, sobald der Ballon-genannt Cuff-im Patienten verschwunden war und sofort zog der Arzt den Bougiestab heraus, setzte den bereit liegenden Ambubeutel, an welchen die Nachtschwester derweil einen Sauerstoffschlauch aus dem Zimmer angeschlossen hatte, an den Tubusansatz auf und begann seinen Patienten mit 15 Litern O2, der möglichen Maximaldosis aus dem Wandanschluss, gefühlvoll zu beatmen.


    Die andere Intensivschwester hatte derweil den Monitor mit drei EKG-Klebeelektroden angeschlossen-sobald Luft in Ben strömte und sein Körper wieder mit Sauerstoff versorgt wurde, hatte sich der Herzschlag von selbst beschleunigt, Ben´s Herz schlug kräftig und regelmäßig und nach einer kurzen Weile begann er sich sogar ein wenig zu regen. Der Arzt leuchtete mit einer kleinen Lampe in die Pupillen seines Patienten, die aber weit waren und nur träge reagierten und sagte voller Gemütsruhe. „Immer langsam junger Mann-jetzt wird erst einmal kalt geschlafen und morgen sehen wir weiter“, woraufhin die Schwester, die derweil schon Etomidate, ein Narkosemittel, das den Blutdruck nicht so stark senkte, aufgezogen hatte, ihm das in den liegenden ZVK spritzte.


    „Holst du bitte die Transporteinheit und sagst drüben Bescheid, dass wir mit einem beatmeten Zugang kommen? Ich weiss, wir sind eigentlich voll, aber dann muss eben der Patient aus der Einzelbox schon heute Nacht auf Station, anstatt morgen!“ überlegte der Intensivarzt und der Pfleger nickte und verschwand Richtung Intensivstation, um alles für Ben´s Transport und die Notfallverlegung vor zu bereiten.
    Sarah hatte derweil zu zittern begonnen und beinahe gaben ihre Beine unter ihr nach, so sehr stand sie unter Schock, als plötzlich wie aus dem Nichts Semir vor ihr stand und sie, nach einem entsetzten Blick auf seinen Freund, einfach in die Arme nahm, worauf sie den Kopf an seiner Brust barg und haltlos zu weinen begann.

  • „Was ist passiert, Sarah?“ wollte Semir nach einer Weile wissen. Er hatte die Strangulationsmarke bei seinem Freund entdeckt, das daneben liegende Kabel und konnte partout nicht glauben, was ihm sein kriminalistischer Instinkt gerade einflüsterte, aber seine Freundin belehrte ihn eines Besseren. „Ich war nur ein paar Minuten aus dem Zimmer und dann hat er versucht sich mit dem Elektrokabel aufzuhängen!“ presste sie unter Schluchzen hervor. „Oh mein Gott-und er hat es sicher schon die ganze Zeit geplant, ich hatte gestern ständig so ein ungutes Gefühl, weil er so gut drauf schien. Da hat er uns alle getäuscht!“ erklärte Semir erschüttert und wollte dann vom Arzt wissen, der weiterhin gefühlvoll den Ambubeutel zusammendrückte und Ben beatmete, wie es denn aussah. „Primär hat er seinen Suizidversuch überlebt, wir werden ihn jetzt auf der Intensiv noch umintubieren und nochmals verkabeln, dann 24 Stunden tief sedieren und kühlen, wie es nach jeder Reanimation Standard ist und erst wenn wir ihn dann aufwachen lassen, wird man sehen, ob das Gehirn irreparable Schäden davongetragen hat, immerhin war er bereits tot und es war eine ganze Weile nicht möglich-wie lange genau wissen wir nicht- ihm Sauerstoff zuzuführen, da durch die Strangulation die Atemwege verlegt waren. Ich kann ihnen beim aktuellen Stand keine Prognose abgeben, man muss abwarten!“ erklärte der schnodderige Arzt, der dem Dialekt nach Berliner war und Semir fühlte sich jetzt ebenfalls, als ob man ihm den Boden unter den Füßen wegziehen würde.
    Er hatte gedacht, dass jetzt alles wieder gut war-Ben lebte, der Monitor zeigte eine regelmäßige Herzaktion, die Sauerstoffsättigung lag bei 97% und der Blutdruck, den die Schwester inzwischen manuell gemessen hatte, war bei 120/80 mm/Hg, wie sie vermeldet hatte, aber jetzt lag es im Bereich des Möglichen, dass sein Freund zusätzlich zu seiner Querschnittlähmung noch einen Hirnschaden davongetragen hatte-das war ja schrecklich!

    Die Intensivschwester hatte inzwischen den Notfallkoffer, dessen Inhalt irgendwie im ganzen Zimmer verstreut gelegen hatte, notdürftig zusammen gepackt-der würde auf Station sofort wieder aufgerüstet werden-und nun kam auch schon ihr Kollege mit dem Transportbeatmungsgerät. Der Anästhesist stellte das ein und konnektierte es an den Endotrachealtubus, der weit aus Ben´s Hals ragte. Man befestigte den Monitor an der Intensiveinheit, hängte die Infusion um und warf nachlässig einen dünnen Deckenbezug über den Patienten, der nach wie vor im Oberkörperbereich in einem Blutsee vom Notfallluftröhrenschnitt schwamm. Das Hemd hatte ihm bereits die Nachtschwester, als sie zu drücken begonnen hatte, ausgezogen, damit sie besser an ihn ran kam. Der Arzt, der ebenfalls kleine Blutspritzer im Gesicht, auf den Armen und auf dem blauen Kittel hatte, hielt den Tubus fest-erst auf der Station würde er ihn gegen eine dicke Trachealkanüle austauschen, die gehörte nicht zur Standardausrüstung eines Notfallkoffers, weil man sich da gewichtsmäßig auf das Nötigste beschränken musste und zur Erstversorgung genügte eben diese Variation, aber ansonsten konnte diesen sowieso schon schweren Rucksack keiner mehr schleppen und was half es, wenn das Reateam schon körperlich fix und fertig und zu langsam an dem Ort ankam, wo seine Hilfe benötigt wurde? So dauerte es durchschnittlich in diesem Haus unter einer Minute und das war eine gute Zeit.


    „Auch wenn sie Polizist sind, muss ich nachher auch die zuständige Kripo von diesem Selbstmordversuch unterrichten. Das ist Standard, um Fremdverschulden auszuschließen, falls…!“ sagte der Arzt noch zu Semir und verstummte dann nach einem Seitenblick auf Sarah. Den Rest des Satzes konnte man sich denken-falls Ben an den Folgen seines Tuns verstarb- sollte das heißen und Semir nickte voller Grauen. Na klar-das war Vorschrift, da konnte man keine Ausnahmen machen, wobei die Indizienlage und Sarah´s Aussage ja klar bewiesen, dass da niemand anderes als sein Freund selber daran beteiligt war. Aber nur der Gedanke daran war so unfassbar, dass er ihn gar nicht zu Ende denken wollte. Wie schlecht musste es Ben psychisch gegangen sein, wenn er sich zu so einem Schritt entschloss! In der Höhle war das ja noch nachvollziehbar gewesen, er hatte einen schnellen Tod einem langsamen vorgezogen, aber jetzt, wenn sogar noch Hoffnung bestand, dass wenigstens Teilfunktionen in seinem Unterkörper wieder zurück kamen, gerade jetzt hatte er diese schreckliche Tat begangen!


    Inzwischen war alles zum Transport vorbereitet und Semir und Sarah wollten sich auf den Weg machen und dem Bett folgen, aber nun schüttelte der Intensivarzt entschlossen den Kopf. „Frau Jäger-sie sind nach diesem Erlebnis fix und fertig, sie bleiben bitte hier im Zimmer, glauben sie uns, wir versorgen ihren Mann ganz professionell, aber ich glaube, das haben sie während der letzten Tage bei uns schon gesehen, dass wir das nicht zum ersten Mal machen. Mein Kollege kommt gleich zu ihnen und gibt ihnen ein Beruhigungsmittel und wir verständigen das Kriseninterventionsteam, dem auch unsere Krankenhausseelsorgerin angehört, die kümmert sich dann um sie. Außerdem wird in nicht allzu langer Zeit die zuständige Kripo hier eintreffen und sie befragen wollen, da sollten sie sich zur Verfügung halten!“ sagte er freundlich und Sarah, die weiß wie die Wand irgendwie an Semir hing und der immer noch die Tränen aus den Augen liefen, widersprach nicht und da wusste Semir, wie schlecht es ihr tatsächlich ging und dass er sie jetzt nicht alleine lassen konnte. Freilich hatte auch sie einen Schock erlitten und so ließ sie sich widerstandslos von dem kleinen türkischen Polizisten zu ihrem Bett führen und rollte sich darin wie ein Igel zusammen, während die kleine Karawane mit Ben sich auf zur, nur ein kurzes Stück entfernten, Intensivstation machte.

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