Eiskalt

  • Einige Meter unter ihm lag Ben am Rande einer etwas größeren Pfütze, in der Eisbrocken schwammen. Ein Bein und eine Hand lagen halb im Wasser, das allerdings eine dunklere Färbung als normal angenommen hatte, vor allem um seinen Freund herum, denn aus dessen Leiste floss ein stetiger Strom und nun wusste Semir auch, was das Wasser dunkler färbte-es war Ben´s Blut. Er schrie voller Entsetzen: „Ben-was ist los-warte ich komme zu dir!“ denn es war noch kein Auto mit dem Höhlenschlüssel in Sicht, aber der dunkelhaarige Polizist reagierte nicht-war er etwa schon tot? Hektisch prüfte der kleine Türke die Möglichkeiten dort runter zu kommen und es war zwar ein wenig abenteuerlich, aber getrieben von der Sorge um seinen besten Freund, klemmte er sich die Taschenlampe zwischen die Zähne und machte sich an den riskanten Abstieg. Wenn er abrutschte würde er mitten in dem kleinen, flachen See landen und sich sicher schwer verletzen, also durfte das einfach nicht geschehen. Die Dunkelheit, die nur durch den Strahl der Taschenlampe, der aber jetzt ganz woanders hin leuchtete, erhellt wurde, war gespenstisch und Semir tastete sich Stück für Stück durch den zerklüfteten Fels und kletterte flink wie ein Affe nach unten.
    Endlich war er am Boden der Höhle angelangt und auch wenn er von seinem raschen Aufstieg und der Kletterpartie eigentlich erhitzt war, bemerkte er doch, dass die Temperatur in der Höhle eisig war, wie in einem Kühlschrank. Er nahm die Taschenlampe wieder in die Hand und war mit wenigen Schritten bei seinem Freund und ließ sich neben ihm auf die Knie fallen. Das Blut strömte immer noch aus dessen Leiste, also lebte er wohl noch und als Semir jetzt die bleichen Wangen tätschelte und dabei den kalten, klebrigen Schweiß fühlte, der den ganzen Körper seines Freundes bedeckte und der sicherlich nicht davon kam, dass ihm so warm war, schlug er plötzlich unendlich müde die Augen auf, die in tiefen Höhlen lagen und dunkel umrändert waren. „Semir lass mich gehen!“ flüsterte er, aber der hatte schon sein langärmliges Shirt ausgezogen, das er über dem T-Shirt und der Jeans trug und drückte es nun mit Kraft auf die Leistenverletzung. Mit geübtem Polizistenblick hatte er auch erfasst, woher diese stark blutende Verletzung kam-neben Ben´s erschlaffter Hand lag ein blutiger scharfer Stein und die Wunde hatte keine sauberen Schnittränder, sondern sah aus, als hätte da jemand dilettantisch herum gesäbelt-verdammt, das war ein Selbstmordversuch gewesen, aber warum zum Teufel hatte Ben das gemacht? Außerdem musste das ganz schön weh getan haben, wie verzweifelt musste man sein, sich derart zu verletzen? Ben hatte doch wissen müssen, dass er als sein bester Freund alles stehen und liegen lassen und ihn suchen und finden würde. Und so schwer war es jetzt auch nicht gewesen, mit ein wenig Zeit hätten sie ihn vermutlich auch mit der systematischen Suche gefunden.

    Semir musste schon ein wenig Kraft aufwenden, um die Blutung zum Stehen zu bringen, aber es gelang ihm und jetzt musste Ben so schnell wie möglich medizinisch versorgt werden. Der verzog auch keine Miene, dabei drückte Semir ziemlich fest und hatte im Licht der Taschenlampe, die er jetzt so neben sich gelegt hatte, dass sie den Körper seines Freundes beleuchtete, die anderen sichtbaren Verletzungen mit den Augen gescannt. Er hatte unter dem vormals blütenweißen Hemd, das jetzt schmutzig und an manchen Stellen blutig war, eine Verletzung an der Seite-vermutlich eine Schussverletzung, die aber nicht sonderlich schlimm zu sein schien und noch eine weitere am Oberarm. Die war zwar wohl tiefer und vielleicht hatte die Kugel auch den Knochen durchschlagen, aber mit Sicherheit hatte Ben schon wesentlich schwerere Verwundungen gehabt, die alle folgenlos ausgeheilt waren-warum zum Teufel hatte er dann versucht, sich umzubringen? Ben schlug nun erneut die Augen auf und flüsterte unendlich müde: „Semir hör auf-lass mich gehen-ich mag nicht mehr. Sarah soll keinen Krüppel im Haus haben, der ihr nur Arbeit und Sorgen macht!“ und nun traf es Semir wie ein Schlag und er wusste plötzlich warum Ben so überhaupt keine Schmerzen in der Leiste zu empfinden schien, warum seine Beine so schlaff da lagen und konnte jetzt auch verstehen, warum er versucht hatte, sich umzubringen-er hatte sich das Kreuz gebrochen!


    „Ben-bleib bei mir, hörst du? Wir kriegen das. Auch wenn du querschnittgelähmt bist-es gibt heute so tolle Rollstühle, wir helfen dir alle und auch du wirst wieder glücklich sein, ich versprechs dir!“ sagte er und war sich nicht ganz sicher, ob er so wirklich an das glaubte, was er gerade sagte. Das hier war sozusagen der Supergau für einen sportlichen jungen Mann-vorbei der Beruf, die Selbstständigkeit, jede Möglichkeit das Leben alleine zu meistern, alles vorbei, vielleicht nie mehr Sex, aber trotzdem war dieses Leben zu kostbar, um es einfach weg zu werfen. Semir wusste auch sicher, dass Sarah in dieser Situation genau die richtige Frau an Ben´s Seite war-sie liebte ihn und würde ihn klaglos und professionell versorgen, solange sie selber körperlich dazu in der Lage war und außerdem hatte Ben die finanziellen Möglichkeiten die beste Pflege und die modernsten Therapien und Hilfsmittel zu bezahlen, es würde weiter gehen, aber jetzt mussten sie seinen Freund erst einmal aus der Höhle und in ein Krankenhaus bringen, nicht dass sein Vorhaben doch noch gelang.


    Weil er keine Hand frei hatte und immer noch die Blutung stillte, rief er laut durch die geschlossene Tür, damit Josef ihn verstehen konnte. Es war nämlich auch sehr unwahrscheinlich, dass er hier drinnen Handyempfang hatte, aber draußen war das kein Problem. „Josef-verständige bitte die Rettung und die Feuerwehr, mein Freund ist schwer verletzt und blutet stark-die sollen sich beeilen!“ rief er und während sein Helfer den Notruf absetzte, meinte er auch schon, die Geräusche eine herannahenden Autos zu hören. Tatsächlich vernahm er, während er besorgt Ben´s verhärmtes Gesicht betrachtete und beobachtete wie sich der Brustkorb schnell hob und senkte, während der Pulsschlag rasend schnell gegen seine Finger pochte, wie sich jemand an der schweren Metalltür zu schaffen machte und wenig später das Tor aufschwang und die drei Einheimischen herein stürzten. Josef hatte fürsorglich eine Decke aus dem Wagen geholt und schlug vor, als er die beiden so nah am Wasser sah: „Ziehen wir ihn ein bisschen ins Trockene, er muss ja völlig ausgekühlt sein, oder noch besser, wir legen ihn in den Wagen, da ist es warm!“ aber Semir schüttelte den Kopf. „Wir dürfen ihn nicht bewegen-ich fürchte, er hat sich das Kreuz gebrochen!“ sagte er und nun herrschte betretenes Schweigen in der Höhle und die drei älteren Männer sahen mitleidsvoll auf den attraktiven jungen Mann am Boden. Was für eine Katastrophe-gerade hatten sie sich so gefreut, dass die Suche erfolgreich gewesen war. Sie hatten den Vorstand des Museumsvereins aus dem Bett geklingelt und der hatte ihnen verwundert, aber widerspruchslos den Schlüssel für die Eishöhle ausgehändigt. Jetzt aber schlug die Freude über die erfolgreiche Suche binnen Kurzem in großes Mitleid um und der eine oder andere dachte bei sich-vielleicht wäre es doch besser gewesen, sie hätten den jungen Mann nicht so schnell gefunden, denn das ganze Blut wies darauf hin, dass er nicht mehr sehr lange überlebt hätte.


    So aber holte Josef einen Verbandskasten aus dem Wagen, man breitete die Decke über Ben´s Oberkörper und nachdem er fachmännisch, immerhin hatte er erst kürzlich einen frischen Erste-Hilfe-Kurs absolviert, Einmalhandschuhe angezogen hatte, übernahm er nun mit einem sterilen Verbandpäckchen bewaffnet, die Blutstillung, so dass Semir seine bereits taub werdenden Arme auslockern konnte und sich nun ans Kopfende seines Freundes setzte und dem unendlich zärtlich eine verschwitzte, klebrige Haarsträhne aus dem Gesicht strich und mit einem Papiertaschentuch, das er in der Hosentasche gefunden hatte, die Tränenspuren abwischte. Die Retter hatten einen starken LED-Strahler in die Höhle gebracht, die nun hell erleuchtet war und der eine der beiden Rentner machte sich jetzt auf den Weg, um den Notarztwagen einzuweisen.
    Ben der sehr schläfrig war und sich nun in sein Schicksal fügte, denn gegen Semir hatte er sowieso keine Chance, der würde ihn nicht sterben lassen, schlug nun wieder die dunklen Augen auf, er hatte die Berührung der warmen Hand genossen. „Wie geht es Corinna?“ wollte er wissen und Semir, den eine heiße Woge der Liebe und Freundschaft überfuhr-sogar dem Tode nahe machte sich Ben noch Sorgen um andere, sagte freundlich: „Die ist in Sicherheit-Sarah, die Kinder und sie sind seit letzter Nacht in Köln in einer Schutzwohnung, mach dir keine Sorgen!“ beruhigte er ihn und Ben nickte leicht, während man nun schon in der Ferne ein Martinshorn hörte.

  • Fast gleichzeitig trafen der RTW und das alarmierte Feuerwehrfahrzeug ein. Die vier freiwilligen Feuerwehrmänner aus dem benachbarten Kaisheim waren motiviert, obwohl es schon nach zehn war und die ersten schon im Bett gelegen waren. Die meiste Zeit übten sie, die überwiegenden Einsätze waren Verkehrsregelungen, Binden von Ölspuren und solche Sachen. Personenrettung und das Löschen von Bränden kam eher selten vor und da wurde sich fast darum gerissen. So war binnen kurzem, obwohl immer noch dichter Nebel herrschte, der Zugang zur Höhle und das Innere mit der modernen Lichtgiraffe beinahe taghell erleuchtet, während der Rettungsassistent sich den Patienten schon mal ansah. Weil die Einsätze nicht allzu häufig waren, durfte die diensthabende hauptberufliche Notärztin ihren Bereitschaftsdienst von zu Hause aus machen, auch weil sie nur wenige Meter von der Rettungswache entfernt wohnte. Der RTW startete nach einem Notruf sofort Richtung Unfallort und ein PS-starkes Notarztfahrzeug, dessen Kofferraum ebenfalls mit medizinischem Gerät ausgefüllt war, holte die Ärztin ab und der Fahrer brachte sie nach und nahm später den Wagen auch mit zum Krankenhaus.
    So war der Rettungsassistent, ein sehr sympathischer und engagierter junger Mann Mitte dreißig, der erste Profi am Unfallort. Mit routiniertem Blick scannte er die Lage. Am Boden der Eishöhle lag ein dunkelhaariger Mann, etwa in seinem Alter, in den verschmutzten Resten eines Anzugs und eine Blutspur führte zu dem kleinen eisigen Gewässer, dessen Wasser rosa gefärbt war. Auch er erfasste sofort Ben´s blutige Hände, den scharfen Stein, der neben ihm lag und die Leistenverletzung, die von einem Helfer mit einem Verbandpäckchen und Einmalhandschuhen abgedrückt wurde. Am Kopfende des schockigen Opfers, an dessen Arm und Rumpf, als er die Wolldecke zur Untersuchung wegnahm, ebenfalls zwei vormals blutende Verletzungen zu erkennen waren, die allerdings nicht sonderlich schlimm erschienen, saß ein weiterer Mann mit kurz geschorenen Haaren, der ein wenig südländisch wirkte und anscheinend ein Vertrauter des Verletzten war, denn er kümmerte sich fürsorglich um ihn, hielt Körperkontakt und man konnte schon aus der Haltung sehen, dass er sehr besorgt war. Außerdem lag ein blutiges, zusammen geknülltes Kleidungsstück am Boden und der Mann trug nur ein T-Shirt, obwohl es in der Höhle eiskalt war-das war fast sicher der Ersthelfer! Was allerdings im Kopf des Rettungsassistenten alle Alarmglocken schrillen ließ, war die unnatürliche Lage des Opfers-er vermutete sofort, dass der eine schwere Wirbelsäulenverletzung hatte.


    Er stellte seinen Monitor ab, den er herein getragen hatte, während der Fahrer des RTW den Ulmer Einsatzkoffer mit Infusionen und Notfallmedikamenten nach brachte, ging neben dem Opfer in die Hocke und stellte sich erst einmal vor, während er schon mit seinen behandschuhten Händen-Selbstschutz ging immer vor- an der Halsschlagader nach dessen Puls tastete. „Hallo, ich bin Christian Meyer und werde sie versorgen, darf ich ihren Namen erfahren und ihr Geburtsdatum?“ fragte er freundlich und hatte bei dem geübten Griff an die Carotisarterie schon mehrere Informationen über den Zustand seines Patienten erhalten. Der Puls war schwach und fadenförmig, was auf eine Schocksymptomatik hinwies. Das Herz schlug viel zu schnell-er schätzte so um die 130 Schläge pro Minute, was in Anbetracht des ganzen Blutes einen Volumenmangelschock vermuten ließ, worauf auch die eiskalte, von einem kalten Schweißfilm überzogene Haut hinwies. Wenn der Patient noch auf seine Frage antworten konnte, war das gut, ansonsten würde er sofort alles zum Intubieren herrichten, aber Ben öffnete nun unendlich müde die Augen und sagte leise: „Ben Jäger!“ aber dann stockte er und schloss erschöpft wieder die Augen und flüsterte nur noch: „Semir sag du!“ denn nun hatte eine große Schwäche und auch Resignation von ihm Besitz ergriffen. Semir beeilte sich, sich ebenfalls kurz vorzustellen, er nannte Ben´s Geburtsdatum während der Rettungsassistent schon wie selbstverständlich die EKG-Elektroden, das Blutdruckmessgerät und den Sättigungsfühler anbrachte, eine Sauerstoffmaske auf Ben´s Gesicht setzte und die Flasche dazu aufdrehte. „Haben sie Schmerzen?“ fragte er und Ben nickte leicht.
    In diesem Augenblick hörten sie auch schon das Notarztfahrzeug vorfahren und Sekunden später kniete die zierliche Notärztin, die sich ebenfalls freundlich vorstellte, neben ihnen. Inzwischen hatte der Blutdruck gemessen, der nur bei 70/ 40 mm/Hg lag, die Sauerstoffsättigung war nicht messbar, weil Ben´s Extremitäten eiskalt waren und der Körper durch Zentralisation die wichtigsten Organe zu schützen versuchte und die Pulsfrequenz lag bei 130. „Was wissen wir schon?“ fragte die Ärztin ihren vertrauten Mitarbeiter, der nun bereits eine Stauung an Ben´s nicht verletztem Arm anlegte, den Hemdsärmel kurzerhand aufschnitt und versuchte einen Zugang zu legen-der andere Sanitäter hatte derweil nämlich schon die Infusion vorbereitet und übernahm nun das Abdrücken der immer noch nachsickernden Verletzung und Josef übergab mit einem Seufzer der Erleichterung diese Aufgabe. „36jähriger schockiger Patient mit stark blutender Leistenverletzung, zwei Schussverletzungen an Arm und Rumpf und vermuteter Wirbelsäulenverletzung, noch ansprechbar-aber mehr weiss ich noch nicht!“ antwortete Meyer und bei der Erwähnung der Schussverletzung versteifte sich momentan der Körper der Notärztin. Semir der sofort erfasst hatte was vorging und vor allem vermeiden wollte, dass sofort die örtliche Polizei zugezogen wurde, was bei jeder Schussverletzung Standard war, beeilte sich in seine Gesäßtasche zu fassen und seinen Dienstausweis hervor zu ziehen. „Mein Kollege Kriminalhauptkommissar Jäger und ich ermitteln in einer vertraulichen Sache-wir dürfen sie bitten, diese Informationen hier momentan nicht weiter zu leiten!“ bat er und nun entspannten sich die Körper der Helfer. Beim zweiten Versuch war es dem Rettungsassistenten gelungen eine Vene zu punktieren und schnell verklebte er den Zugang und man ließ die Infusion in Ben hinein rauschen, um den Kreislauf zu stabilisieren.


    Routiniert begann nun die Notärztin Ben von Kopf bis Fuß zu untersuchen. Sie leuchtete in seine Augen, bewegte vorsichtig den Kopf, was ihm allerdings keine Schmerzen bereitete, aber als sie sich nun vorsichtig nach unten tastete, die Brust und den Bauch befühlte und abhörte und schließlich zu den schlaff daliegenden Beinen kam, an denen sich keine Reflexe auslösen, aber die Fußpulse fühlen ließen, fragte sie ernst: „Wie ist es zu der Lähmung gekommen?“ und achtete dabei streng darauf, den Patienten momentan überhaupt nicht zu bewegen. „Ich wurde bei einem Fluchtversuch angeschossen und bin von dort oben abgestürzt und noch beinahe ersoffen-seitdem spüre ich meine Beine nicht mehr!“ antwortete Ben leise und nun bahnten sich wieder die Tränen einen Weg aus seinen Augenwinkeln und Semir hätte beinahe mit geheult, so schrecklich war alleine das Erfassen dieser schrecklichen Mitteilung. Er hatte es ja eigentlich schon gewusst, aber die ernsten Blicke der Helfer taten ein Übriges dazu. „Schaufeltrage und Vakuummatratze?“ fragte Meyer und nachdem die Notärztin genickt hatte, schickte der Rettungsassistent den Fahrer des NAW nach draußen, um das Gewünschte zu holen.


    „Meinst du, wir kriegen einen Hubbi?“ fragte die Notärztin, aber der Assistent schüttelte den Kopf. „Keine Chance bei diesem Nebel-also Donauwörth-wir sollten die schon mal alarmieren, dass wir mit einem wirbelsäulenverletzten Traumaopfer kommen, damit die schon mal alles vorbereiten können!“ schlug er vor und die Notärztin nickte. Die Klinik in der nächsten Kreisstadt hatte zwar hervorragende Wirbelsäulen-und Neurochirurgen, war aber eigentlich kein Wirbeltraumazentrum, wohin man solche Fälle normalerweise mit dem Hubschrauber verlegte-von hier aus meist nach Murnau in die Unfallklinik. Dort waren mehr Möglichkeiten gerade der Physiotherapie und der Frühreha gegeben, aber für die Erstversorgung musste die Klinik vor Ort reichen, zumal es dort auch eine gut ausgestattete Intensivstation gab. Allerdings musste man nun die Mitarbeiter, die das CT fahren würden, aus dem Bereitschaftsdienst von zuhause holen, der Neurochirurg hatte auch eine Viertelstunde Anfahrt zum Krankenhaus, etwas, was natürlich in einer großen Spezialklinik nicht vorkam, aber mit ein bisschen Vorlauf, den sie ja sowieso hatten, bis sie das Opfer geborgen hatten, würde das klappen, den jungen Mann möglichst optimal zu versorgen und so ging nun die telefonische Voranmeldung raus und die Maschinerie in der Klinik lief an.


    Die Ärztin hatte Ben derweil ein Schmerzmittel gespritzt und schaute sich nun die Leistenverletzung an. Sie fasste mit einer sterilen Klemme in die Wunde und klemmte die verletzte Vene ab, ohne dass Ben auch nur mit der Wimper zuckte. Er hatte dort anscheinend wirklich keinerlei Schmerzempfinden und allen anwesenden Helfern war klar, was er versucht hatte. „Wenn sie die Arterie erwischt hätten, die ein wenig tiefer liegt, hätte es keine Rettung gegeben!“ bemerkte die Ärztin und Ben flüsterte nun leise und schläfrig, denn das Schmerzmittel machte ihn unendlich müde: „So war mein Plan!“ und nun schwiegen alle Umstehenden betreten und überlegten, dass das zwar ein erschreckendes Geständnis war, aber menschlich völlig nachvollziehbar.
    „Herr Jäger-ich kann und will ihnen ja nichts versprechen, aber geben sie nicht auf“ versuchte ihn die Medizinerin auf zu bauen. „Wir bringen sie jetzt zu hervorragenden Ärzten, vielleicht können die ja noch etwas für sie tun und außerdem sind sie jung und stark, sie werden auch mit einer Lähmung zurecht kommen und trotzdem Lebensfreude empfinden!“ versuchte sie ihn zu trösten und Ben, der sich aktuell durch die Infusion wieder ein wenig besser fühlte zog verächtlich die Mundwinkel nach unten. „Genau-damit meine Frau dann zwei Kinderwägen und nen Rollstuhl schieben kann!“ sagte er völlig mutlos und wandte den Kopf ab.
    Nachdem die Verletzungen verbunden waren und man die feuchte Hose aufgeschnitten und Ben zugedeckt hatte, kam nun noch ein unangenehmer Teil. „Herr Jäger-ihre Blase ist prall voll-wir werden ihnen vor dem Abtransport noch einen Katheter legen, damit die nicht eventuell platzt!“ informierte ihn die Ärztin und der Rettungsassistent hatte das benötigte Set derweil schon vorbereitet. Das war nicht der erste Katheter den Ben bekam, aber das Erschreckende daran war, dass er nichts, aber auch gar nichts davon spürte, wie zwischen seinen Beinen herum manipuliert wurde. „Bei einer Querschnittlähmung kommt es zu einem Harnverhalt, weil die Muskeln, die die Harnentleerung steuern ebenfalls gelähmt sind und sich leider fast immer verkrampfen, anders ist es mit der Mastdarmfunktion, da liegt meistens eine Inkontinenz vor!“ erklärte die Ärztin allen die es noch nicht wussten und nun zuckten Ben´s Schultern und ein Schluchzen entwich seiner Kehle, auch wenn Semir ihn gerade beruhigend streichelte. Na toll-er würde jetzt ins Bett kacken, Windeln brauchen und trotzdem nicht pinkeln können, von den übrigen Dingen zu was man sein Tiefparterre sonst noch benutzte, ganz zu schweigen-nein das würde er Sarah, sich und seinen Kindern nicht antun-er würde die nächste sich bietende Gelegenheit ausnutzen und sich vom Acker machen, aber diesmal endgültig.


    Sehr vorsichtig achtete die Ärztin nun darauf, dass er völlig achsenstabil lag und man schob nun die sogenannte Schaufeltrage unter ihn, eine flache Metalltrage, die man in der Mitte auseinander genommen hatte, so dass man ohne ihn zu drehen von rechts und links die beiden Teile unter ihn schieben konnte, die dann stabil mit einem genormten Verschluss miteinander verband und ihn so anheben konnte. Ben erschauerte, als das kalte Metall seine nackte Haut berührte und stöhnte auch ein wenig, denn trotz Schmerzmittel tat sein Rücken verdammt weh, aber wenig später legte man ihn auf die Vakuummatratze, entfernte sehr vorsichtig die Schaufeltrage wieder und nun war er bereit zum Transport. „Kann ich mitfahren?“ fragte Semir, der die ganze Zeit seinem Freund nicht von der Seite gewichen war und die Ärztin nickte. Der Kollege ihres Patienten würde sie nicht bei der Arbeit stören und für den jungen Mann war es schön in dieser schrecklichen Situation jemand Vertrautes um sich zu haben und deshalb stimmte sie zu und wenig später setzte sich der Rettungswagen sehr vorsichtig in Bewegung. Jede Erschütterung wäre gefährlich und so kroch das schwere Fahrzeug die ersten Meter im Zeitlupentempo dahin, bis sie auf die asphaltierte Straße kamen und jetzt nahm der Wagen endlich Fahrt auf. Semir hatte vor der Abfahrt noch alle anwesenden Helfer gebeten, erst einmal über diese ganze Sache Stillschweigen zu bewahren und auch die Höhle wieder sorgfältig zu verschließen. Auch wenn es eigentlich im Augenblick völlig unwichtig erschien, aber da war auch noch ein Kriminalfall zu lösen-nur ging Ben jetzt erst einmal vor!

  • Die Fahrt in die Klinik dauerte nicht lange, aber trotzdem kam es Semir vor wie eine Ewigkeit. Ben hatte die Augen geschlossen und er hielt zwar seine Hand, aber er merkte, wie der sich innerlich distanzierte. Semir spürte, dass Ben jeden Lebensmut verloren hatte und sein Freund tat ihm einfach unendlich leid. Klar-mit dieser Lähmung war das Leben, so wie er es bisher kannte, vorbei, aber es gab doch sicher noch trotzdem so viel Schönes, immerhin lebte er! Allerdings konnte Semir schon verstehen, dass sein Kollege die Situation als aussichtslos empfunden hatte, aber das würde sich wieder ändern, denn eigentlich war er ein fröhlicher, positiver Mensch und daran hatte sich ja durch den Sturz nichts geändert! Sobald sie im Krankenhaus waren, musste er Hartmut verständigen und vor allem natürlich Sarah-er würde dann gleich Jenni anrufen, allerdings war er fast froh, dass er Sarah die Nachricht von der Querschnittlähmung nicht persönlich überbringen musste. Wie würde die reagieren?

    Man hatte den Patienten warm zugedeckt und trotzdem war die Hand, die Semir warm und beruhigend umfasste, eiskalt. Man hatte Ben´s Temperatur gemessen und die war nur bei 32,9°C. Man musste ihn also sorgfältig überwachen, denn alleine die Hypothermie, wie die Unterkühlung im Fachjargon hieß, konnte zu schweren Herzrhythmusstörungen führen. Die Notärztin und der Rettungsassistent beobachteten den Monitor und natürlich auch den Patienten, dessen Brust sich mühsam hob und senkte, aber die weitere Fahrt verlief ereignislos.
    Als die Tore der Halle vor der Notaufnahme sich öffneten und dann die Türen des RTW aufgemacht wurden, stand schon ein ganzer Pulk an Ärzten und Pflegepersonal bereit. Vorsichtig schob man die Trage heraus und Semir musste die Hand seines Freundes jetzt loslassen. Bis er sich versah, war die ganze Truppe in einem Schockraum verschwunden und man hob Ben mitsamt der röntgendurchlässigen Vakuummatratze auf eine Behandlungsliege. Auf dieser Matratze würde er bis zum Abschluss der Diagnostik liegen bleiben, der RTW würde nach der Übergabe des Patienten in die Wache zurück fahren, dort eine neue Matratze an Bord nehmen und diese hier bei Gelegenheit sauber gereinigt und desinfiziert wieder abholen. Das war der Vorteil der kleinen Häuser-man kannte sich und arbeitete auch an der Schnittstelle Notaufnahme und Rettungsdienst vertrauensvoll zusammen.
    Ben hatte die Augen wieder aufgemacht und musterte die Ärzte und Schwestern, die ihn alle freundlich ansprachen und versuchten, ein Band der Vertrautheit herzustellen. Man wollte Semir erst bitten, draußen zu warten, aber Ben verlangte nun wieder nach seinem Beistand und so durfte er herein kommen und lauschte der Übergabe der Notärztin, während die Notaufnahmeschwester schon flink den Monitor wechselte, die Infusion an einen Ständer hängte und die Fleecedecke des Rettungsdienstes gegen eine angewärmte grüne Krankenhauszudecke austauschte. Noch während die Notärztin sprach, hatte man Ben schon Blut aus dem Arm abgenommen, das sofort ins Labor gebracht wurde. „Ich habe hier Ben Jäger, einen sechsunddreißigjährigen Polizisten, der angeschossen und in einer Eishöhle gefangen gehalten wurde.“ begann sie zu erzählen. Der junge Neurochirurg, der auch noch nicht allzu lange am Haus arbeitete runzelte die Stirn-wo bitteschön gab es hier in der Gegend eine Eishöhle? Da musste er bei Gelegenheit mal nachfragen, aber so lauschte er einfach weiter den Worten der zierlichen Frau. „Die beiden Schussverletzungen am Arm und seitlich am Rumpf sind nicht tief und ich denke, da steckt auch kein Projektil drin, wir haben sie nur trocken verbunden. Wie er uns erzählt hat, hat Herr Jäger versucht zu fliehen und ist in der Höhle nach oben geklettert, wo eine Art natürlicher Kamin einen zweiten Ausgang ergeben hat, ist dabei angeschossen worden und abgestürzt. Die Absturzhöhe dürfte etwa fünf Meter betragen haben und er ist Beine voraus, zwar in dem flachen Eiswasser gelandet, aber das hat seinen Sturz nur unwesentlich abgebremst. Er war momentan vermutlich durch den Schmerz und den Schock bewusstlos und als er wieder zu sich gekommen ist, war er bereits mit dem Kopf unter Wasser und hat wohl aspiriert. Beim Abhören sind Rasselgeräusche zu hören, ich tippe auf eine ausgewachsene Pneumonie. Irgendwie hat er es dann geschafft aus dem Wasser zu kommen, aber seitdem besteht eine Querschnittlähmung ab der Hüfte und auch die Reflexe in der unteren Extremität sind alle erloschen, es bestand ein Harnverhalt und der Patient hatte eingestuhlt.“ erzählte sie, was Ben nun erneut die Schamesröte ins Gesicht trieb. Wie peinlich war das denn und obwohl er sich fürchterlich mies fühlte, wünschte er sich gerade sehnlich ein Mauseloch, um darin zu verschwinden und nur Semir´s Hand, die die seine beruhigend drückte, ließ ihn das irgendwie aushalten.
    „Der Kreislauf hat ebenfalls geschwächelt, er war kaltschweißig und die Temperatur liegt im gefährlich niedrigen Bereich, wir haben aber bisher keine Herzprobleme beobachtet, ihn ein wenig infundiert und ihm eine halbe Ampulle Akrinor zukommen lassen. Leider hat er seine Lage als aussichtslos eingeschätzt und versucht seine Leistenarterie in suizidaler Absicht zu öffnen, hat aber Gott sei Dank nur die Vene erwischt, die ich abgeklemmt habe“ beendete sie die Kurzübergabe und die Anwesenden schauten betroffen. Oh je-ihr neuer Patient hatte so einiges hinter sich und zu gegebener Zeit würde man auch einen Psychiater zuziehen müssen, aber jetzt würde man sich zunächst um den Körper kümmern und versuchen das Beste für ihn raus zu holen. Neben dem Notaufnahmearzt und dem Neurochirurgen waren eine Anästhesistin und ein Orthopäde anwesend und als die Notärztin und das Rettungsteam sich nun von Ben und auch Semir verabschiedet hatten, nahm man die Zudecke beiseite, bat Semir ein paar Schritte weg zu gehen und Ben hatte gerade das Gefühl, als ob sich ein Rudel Wölfe um ihn scharen würde und Tränen stiegen in seine Augen.
    Sein nackter Körper lag unter dem gleißenden Licht der Deckenlampe und er begann unkontrolliert zu zittern. Die Narkoseärztin, die für seinen Kreislauf zuständig war, sprach ihm tröstend zu, während sie seinen Brustkorb abhörte und die Vermutung mit der Pneumonie nur bestätigen konnte. Ben hatte nun eine Sauerstoffbrille auf der Nase und wurde jetzt von Kopf bis Fuß betastet, man nahm die Verbände weg und erstellte einen Neurostatus, der aber die Beobachtungen der Notärztin in vollem Umfang bestätigte. Schnell legte man erneut Verbände an, die abgeklemmte Leistenvene und die Schussverletzungen würde man später im OP versorgen, man deckte Ben wieder zu und Minuten später war er schon auf dem Weg in die Radiologie, wo man ein CT von Thorax und Wirbelsäule anfertigen würde und gleich im Anschluss noch ein MRT.
    Warme Infusionen flossen in ihn und Semir, der der Liege gefolgt war, wurde davon abgehalten, mit in die Radiologie zu spazieren. „Es tut uns leid, aber wegen der Röntgenstrahlen dürfen sie hier nicht mit hinein-warten sie bitte draußen, wir holen sie zu gegebener Zeit!“ teilte man ihm mit und nun nahm ihn der Notaufnahmearzt, der jetzt wieder zurück an seinen Arbeitsplatz ging, zur Seite: „Wir haben es hier mit Schussverletzungen zu tun und ich müsste eigentlich sofort die örtliche Polizei verständigen, jetzt habe ich es aber so aufgefasst, als ob Herr Jäger und sie beide Polizisten sind, stimmt das?“ wollte er wissen und Semir nickte und bat ihn um Stillschweigen. „Wir haben es hier mit einer verdeckten Ermittlung zu tun, je weniger davon momentan nach außen dringt, umso besser!“ sagte er und der Aufnahmearzt ließ sich seinen Dienstausweis zeigen, notierte den Namen und die Nummer und sagte: „Damit bin ich aus dem Schneider!“ und jetzt ging Semir kurz nach draußen, wo er eine gute Handyverbindung hatte und informierte Hartmut und Jenni, die beide die Luft anhielten, als sie von Ben´s Lähmung hörten, obwohl sie natürlich erst einmal froh waren, dass er lebte und gefunden war. „Hoffentlich wissen die in diesem Provinzkrankenhaus, was sie tun!“ hoffte Jenni und dem hatte Semir nichts hinzu zu fügen-aber was hatten sie bei dem immer noch dichten Nebel für Alternativen?


    Ben war schwindlig. Man hatte ihm nochmals ein Schmerzmittel gegeben, das ihn auch ein wenig ruhiger machte. Was um ihn herum gesagt wurde, verschwamm in einer Kakophonie und alles drehte sich um ihn. Zuerst schob man ihn mitsamt seiner Vakuummatratze, die fast jede Bewegung des Rumpfes unmöglich machte, in die CT-Röhre und beobachtete von draußen durch die Glasscheibe, wie die Schnittbilder angefertigt wurden. Dann kam er ins MRT, was länger dauerte und trotz Kopfhörer laut und unangenehm war, aber während die Untersuchung lief, diskutierten der Neurochirurg und der Orthopäde mit Spezialisierung auf die Wirbelsäule schon gemeinsam die CT-Bilder und planten die anstehende große OP, die aber doch eine gewisse Chance bot, dass die Lähmung dadurch zumindest inkomplett wurde, denn so wie es aussah, war das Rückenmark nicht völlig abgeschert-die näheren Befunde würde ihnen in Kürze das MRT liefern, aber klar war, dass man den OP schon mal vorbereiten konnte.

  • Hartmut und Klaus hatten die Nachricht von Ben´s Auffinden erst erleichtert und dann, als sie von den ersten Diagnosen hörten, voller Sorge und Kummer registriert. Semir versprach sie auf dem Laufenden zu halten und so machten sie ihren Job fertig und wenig später waren die Hubschrauberpläne geändert und nur ein absoluter Profi konnte feststellen, was diesen Hubschrauber am Fliegen hindern würde. Hartmut war am Rückweg vom Kongress nicht direkt zum Haus des Brautpaars gefahren, sondern hatte Semir´s Wagen in Josef´s Garage gestellt und der hatte ihn nach der Arbeit vom Haus seiner Eltern mit genommen. Klaus´ Mutter hatte Corinna´s angebliche Erkrankung zum Anlass genommen, einen schmackhaften Eintopf vorzubereiten, damit ihre Schwiegertochter, die sie sehr mochte, wieder zu Kräften kam und so hatten die Männer auch gleich etwas zu essen, während sie über den Plänen brüteten. Die Mutter des Bräutigams machte sich ebenfalls ihre eigenen Gedanken-gerade als man ein Auto mit Kölner Kennzeichen in ihrer Garage unterbrachte und der Rotschopf, der das gefahren hatte, sich in Klaus´ Wagen duckte, als der weiter fuhr, aber sie wusste, ihr Mann und ihr Sohn würden schon das Richtige tun und so fragte sie nicht weiter nach.
    Klaus war auf dem Heimweg von der Arbeit noch schnell an einem Supermarkt vorbei gefahren und hatte dort Katzenfutter eingekauft und der kleine schwarze Kater war anscheinend schon ganz zuhause in seinem neuen Reich, strich ihnen um die Beine und stürzte sich nach der Begrüßung voller Begeisterung auf das schmackhafte Futter. Man konnte von der Doppelgarage ungesehen ins Haus gelangen und Klaus hatte auch die Rollos geschlossen, so dass man von draußen nicht hereinsehen konnte und das war auch gut, denn nach der Arbeit war er wieder unauffällig beschattet worden und der Mann der ihm gefolgt war, übergab jetzt die Nachtwache an seinen zweiten Kumpanen, denn er musste ja morgen wieder fit sein und Klaus nicht aus den Augen lassen.
    Er hatte mit den Scheichs telefoniert, denen mitgeteilt, dass der Konstrukteur ganz normal zur Arbeit gegangen war, Corinna zuhause war und sich draußen vermutlich aus Angst nicht sehen ließ, er aber nicht sagen konnte, ob die Pläne schon abfotografiert waren. „Warte bis Mittwoch-erst da versuchst du an sein Handy zu kommen!“ lautete der Auftrag und so ging der eine der Verbrecher zu Bett während der andere sich im unauffällig abseits geparkten Wagen einen Kaffee aus der Thermoskanne einschenkte und sich auf eine lange Nacht einstellte. „Verdammter Werner-gerade jetzt machst du dich aus dem Staub und ich kriege wieder nicht genügend Schlaf!“ knurrte der Bewacher, ohne zu ahnen, dass sein Knastkollege gerade auf der Intensivstation des Nördlinger Krankenhauses ums Überleben kämpfte.


    Jenni war derweil schweren Herzens zu Sarah gefahren. So eine Nachricht überbrachte man nicht am Telefon. Als sie bei der Schutzwohnung unweit des Kölner Doms ankam, betätigte sie die Türglocke nach einem bestimmten Signal und schon wurde geöffnet. „Gibt es Neuigkeiten?“ fragte Sarah aufgeregt und drückte die quengelnde Mia-Sophie an sich, die hoch rote Bäckchen hatte und sehr misslaunig war. „Ja, aber ich komm erst mal rein!“ sagte Jenni, ging mit den beiden Frauen, die schon im Bett gelegen hatten, aber nicht zur Ruhe gekommen waren, ins Wohnzimmer und nun erwartete Sarah eine schreckliche Nachricht, denn Jenni´s Miene war düster und was würde sie sonst mitten in der Nacht herführen? Tim wenigstens schlief selig und während das Baby jetzt zu weinen begann, erzählte Jenni, dass Semir Ben gefunden hatte, dass der aber schwer verletzt war und jetzt im örtlichen Krankenhaus behandelt wurde. „Jenni-wie schlecht geht es ihm und warum bist du so komisch!“ wollte Sarah nun wissen und schob Mia-Sophie einen Schnuller in den Mund, um sie wenigstens kurzfristig zum Schweigen zu bringen. „Sarah-Ben hat nach einem Sturz eine Querschnittlähmung erlitten und wird wohl noch heute Nacht operiert werden, mehr kann ich dir leider auch noch nicht sagen, aber Semir hält mich auf dem Laufenden!“ sagte Jenni und Sarah sah sie einen Moment völlig entsetzt an und auch Corinna hielt die Luft an. Das war ja schrecklich!
    „Oh Gott-wie wird er wohl damit zurechtkommen, aber Hauptsache er lebt!“ flüsterte Sarah leise und Jenni sah sie erstaunt an. Sie wusste nicht, wie sie auf so eine Nachricht reagiert hätte und Semir hatte ihr auch von Ben´s fehlgeschlagenem Selbstmordversuch berichtet, aber sie war sich gerade nicht so sicher, ob sie das Sarah in diesem Augenblick schon mitteilen sollte. „Ich muss zu ihm!“ sagte Sarah entschlossen, aber Jenni schüttelte den Kopf. „Sarah-das geht nicht. Wir können die Gefahrenlage für euch ganz schlecht einschätzen und Semir hat auch erzählt, dass in Bayern dichter Nebel herrscht, so dass kein Hubschrauber starten konnte. Ich denke aber, dass man Ben nach der Erstversorgung hierher verlegen wird, heute Nacht jedenfalls macht es keinen Sinn, wenn du dich verrückt machst oder dich ins Auto setzt. Semir ist bei ihm und hält uns auf dem Laufenden!“ beschwor sie Sarah und als Mia-Sophie nun lauthals brüllte, stellte Sarah fest, dass die ganz heiß war-oh Gott-in dieser Situation jetzt noch ein krankes Kind, aber sie hoffte jetzt nur, dass Ben das Ganze überstand-alles andere würden sie schon kriegen und so sagte sie das auch Jenni. Die schrieb Semir eine Nachricht, dass er doch bitte baldmöglichst zurück rufen sollte, denn dann wollte Sarah selber mit ihm sprechen, aber der konnte im Augenblick nicht reagieren, denn er saß jetzt wieder neben Ben und hielt dessen Hand, während die Ärzte jetzt auch noch die fertigen MRT-Bilder begutachteten.
    Ben war immer noch eiskalt, auch wenn seine Temperatur inzwischen schon um ein Grad gestiegen war. Man musste ihn aber langsam erwärmen, damit sein Herz nicht verrückt spielte. So wickelte man ihn erneut in warme Tücher, hängte angewärmte Infusionen an und kreuzte derweil einige Blutkonserven, denn die anstehende OP würde blutig werden und lange dauern-so viel wusste zumindest die Anästhesistin, die ihn betreute und jetzt traten auch der Neurochirurg und der Orthopäde zu den beiden Freunden, um den Patienten aufzuklären.

  • „Herr Jäger, wir haben uns ihre anderen Verletzungen angeschaut und auch die Laborwerte. Der Blutverlust, den sie bisher hatten, ist zwar erklecklich, aber nicht lebensbedrohlich, vermutlich auch, weil die Blutung in der Leiste rechtzeitig gestoppt wurde. Der Hb lag bei acht, was uns normalerweise auch nicht so große Sorgen machen würde, ein gesunder junger Körper holt das innerhalb weniger Tage bis Wochen auf. Was aber dramatisch ist, ist die Verletzung an ihrer Wirbelsäule. Sie haben da eine sogenannte verschobene Impressionsfraktur, das heißt, mehrere Wirbel sind gebrochen und haben sich durch den Aufprall mit den Beinen voraus, ineinander verschoben. Dabei wurden die austretenden Nerven alle gequetscht, aber vor allem das Rückenmark selbst. Wir haben aber eine Nachricht für sie, die ein klein wenig Spielraum für Hoffnung lässt. Wie wir auf den MTR-Bildern sehen konnten, ist das Rückenmark nicht durchtrennt, es besteht also die Chance, dass sie zumindest Teilempfindungen in der unteren Körperhälfte zurückgewinnen könnten. Wenn wir sie dann aus der Vakuummatratze haben, werden wir da auch nochmals einen Test machen, aber das wird erst in der Operationsabteilung erfolgen. Ihnen steht jetzt ein großer Eingriff bevor, der auch einen hohen Blutverlust bedeuten kann, deshalb werden gerade Blutkonserven für sie eingekreuzt. Wir werden versuchen die Wirbelkörper, die zum Teil geborsten sind, mittels Osteosynthese, Metallstäben, Schrauben und Klammern so zu stabilisieren, dass der Rückenmarkskanal und die austretenden Nerven wieder Platz haben und dann muss man sehen, ob noch etwas an Nervenimpulsen weitergeleitet werden kann, aber das wird sich erst nach der OP zeigen. Wir werden erst einmal dorsal rangehen, das bedeutet, sie werden intubiert, auf den Bauch gelegt und wir operieren erst einmal von hinten. In Anbetracht ihrer Verletzungen wird das allerdings vermutlich nicht ausreichen und wir werden in einem zweiten Eingriff von ventral, also über den Bauch eingehen. Allerdings bekommen sie und auch wir Operateure dazwischen mindestens einen Tag Verschnaufpause, die sie auf der Intensivstation verbringen werden, wir wissen noch nicht, ob wir sie nachbeatmen müssen, oder ob der Narkosearzt sie wach werden lässt-das hängt ein wenig davon ab, wie es ihnen während und nach dem Eingriff, der wegen seiner Komplexität auf etwa 8 Stunden geplant ist, geht. Wir raten ihnen auf jeden Fall in den Eingriff und auch die Gabe von Blutkonserven einzuwilligen, denn auch wenn sich an der momentan bestehenden Querschnittslähmung vielleicht nichts ändern sollte, wird ihre Pflegefähigkeit erhöht, das heißt, man kann sie frühzeitig in den Rollstuhl setzen und mobilisieren, während sie bei konservativer Therapie jetzt etwa drei Monate flach auf dem Rücken liegen müssten, mit einer großen Gefahr sich wund zu liegen, eine Lungenentzündung oder eine Thrombose zu erleiden bis die Knochenbrüche irgendwie verheilt wären und keine Chance auf irgendeine Erholung des Rückenmarks bestehen würde.“ klärte ihn der Orthopäde auf und Ben sagte mit schwacher Stimme: „Da muss ich nicht lange nachdenken-natürlich willige ich ein!“ und Semir nickte dazu. „Ich möchte sie bitten, mir das hier noch zu unterschreiben und die Narkoseärztin wird sie dann noch für die Narkose, einen arteriellen Zugang und einen zentralen Venenkatheter aufklären-das brauchen wir auch noch dazu und die OP kann auch erst beginnen, wenn ihre Körpertemperatur über 36°C liegt. Wir werden jetzt also zusätzlich ein Warmluftgebläse einsetzen, um sie zu erwärmen, sie sind ja immer noch eiskalt!“ fügte der Neurochirurg nach einem Blick auf den Monitor hinzu.

    Inzwischen hatte man in Ben´s intakter Leiste eine Temperatursonde platziert und weil die Körpertemperatur jetzt immerhin aus dem gefährlichen Bereich für Herzrhythmusstörungen war, konnte man mit der Erwärmung Gas geben und wenig später blies das Thermacair ein Warmluftgebläse warme Luft auf Ben´s ausgekühlten Körper und seine Zähne, die begonnen hatten aufeinander zu schlagen, hörten nach einiger Zeit wieder auf damit und er begann sich ein klein bisschen wohler zu fühlen. „Ach ja-eine gute Neuigkeit habe ich auch noch für sie: Unser Chefarzt der Wirbelsäulenchirurgie-eine absolute Kapazität auf seinem Gebiet mit viel Erfahrung mit derartigen Verletzungen- der zugleich auch in München eine Professur hat und eigentlich dort wegen des Nebels über Nacht bleiben wollte, ist schon auf dem Weg zu uns. Er wird sie gemeinsam mit uns operieren und glauben sie uns-es gibt keinen Besseren!“ pries der Orthopäde an und irgendwie war nun auch Semir wohler-er hatte wegen dem Provinzkrankenhaus nämlich schon die größten Befürchtungen gehabt und die ganze Zeit überlegt, ob es nicht doch sinnvoller wäre, den Nebel abzuwarten und Ben in irgendein Zentrum zu verlegen, Sarah wüsste da sicher, wohin es vernünftig wäre, aber als er das einwarf, sah ihn der Orthopäde direkt an. „Je länger der Druck auf das Rückenmark andauert, desto unwahrscheinlicher ist eine Erholung-wir spielen also gegen die Zeit. Auch wenn der Nebel morgen früh weg sein sollte und man mit dem Hubschrauber irgendwohin verlegen würde, vergehen wichtige Stunden und solche Verletzungen sollen möglichst zeitnah operiert werden. Außerdem birgt ein erneuter Transport mit Erschütterungen ein weiteres Risiko und glauben sie uns-ihr Kollege ist bei uns in besten Händen. Ich kann ihnen auch raten-gehen sie kurz raus-hier drinnen haben sie leider sehr schlechten oder gar keinen Handyempfang. Googeln sie unseren Chefarzt und lesen sie auf verschiedenen Bewertungsportalen Meldungen zu ihm oder fragen sie jemanden der sich auskennt!“ und Semir nickte-genau das würde er jetzt machen und dann vor allem auch versuchen Sarah zu erreichen-Jenni musste da jetzt hinfahren, wenn sie es nicht sowieso schon lange getan hatte! So verließ Semir kurz die Notaufnahme um zu telefonieren, während die Narkoseärztin, die sich die ganze Zeit im Hintergrund gehalten, Ben und seine Vitalparameter aber keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte, ihn aufklärte und dann auch gleich vor Ort die Arterie legte.


    Als Semir sein Handy zückte, kam auch, sobald er die abgeschirmten Räume verlassen hatte, Jenni´s Nachricht herein, dass Sarah dringend um Rückruf bat und so wählte Semir, nachdem er zuvor ganz kurz den Professor gegoogelt hatte, der anscheinend wirklich gut zu sein schien, die Nummer und hatte Sekunden später eine völlig aufgelöste Sarah am Apparat, während im Hintergrund Mia-Sophie lauthals brüllte. Semir erzählte stichpunktartig die neuesten Erkenntnisse und was genau geschehen war und Sarah bat ihn darum, kurz zu warten, sie würde ihn dann erneut anrufen. Auch sie googelte nun den Professor und rief dann zusätzlich noch den diensthabenden Wirbelsäulenchirurgen in der Uniklinik an. Der hörte den Namen und Sarah meinte fast zu vernehmen, wie er vor Ehrfurcht erstarrte. „Sarah-auch wenn das schrecklich ist, was deinem Mann geschehen ist, aber wenn dieser Professor ihn operiert, ist das das Beste, was ihm passieren kann. Dieser Mann ist eine absolute Koryphäe auf seinem Gebiet, der publiziert auch viel und ich habe auch schon verschiedene Vorträge von ihm gehört. Wir haben uns alle gewundert, warum der nicht an ner großen Uni forscht, aber der will einfach operieren und ich denke, er wird das Menschenmögliche für Ben heraus holen. Wenn er sich stabilisiert hat, kann man ihn ja dann zur Reha heimatnah verlegen, aber ab einem solchen Unfall gilt die drei Tage-Regel-man muss innerhalb dieses Zeitrahmens operieren, sonst ist keine Verbesserung mehr zu erwarten!“ klärte er Sarah auf und die rief wenig später Semir zurück. „Semir, ich denke das geht alles so in Ordnung. Die wissen in Donauwörth anscheinend was sie tun! Richte Ben von mir aus, dass ich ihn liebe und dass ich an ihn denke und ganz fest die Daumen drücke, dass es ihm bald besser geht. Ich werde sobald wie möglich zu ihm kommen, aber jetzt ist auch noch Mia-Sophie krank, ich könnte hier gar nicht weg, sogar wenn Jenni mich ließe. Und wenn die Lähmung nicht reversibel ist-gut dann wird es für uns trotzdem weiter gehen, zusammen kriegen wir das, richte ihm das bitte aus!“ bat sie und Semir hörte gerührt zu. Ja das stimmte-sie alle zusammen würden das wuppen, egal wie es ausging, aber eine kleine Hoffnung bestand ja immerhin-zumindest hatte er den Arzt so verstanden- und so würde er Ben ausrichten, dass auch Sarah für die sofortige OP war.

  • Als Semir das Behandlungszimmer wieder betrat, hatte Ben im Unterarm einen arteriellen Zugang stecken, der gerade von der Schwester verklebt wurde, während die Narkoseärztin mit einem sterilen Tischchen, grün angezogen in der Ecke stand und darauf wartete, dass sie nun auch noch den ZVK legen konnte. Ein paar Tränen hingen in seinem Augenwinkel und Semir war mit ein paar Schritten bei seinem Freund. „Wars schlimm?“ fragte er mitleidig, während er nach der Hand des dunkelhaarigen Polizisten griff und als Ben keine Antwort gab, war ihm klar, dass der Eingriff gerade kein Sonntagsspaziergang gewesen war. „Wenn sie bitte draußen warten würden?“ sagte die Schwester, aber nun schüttelte Ben den Kopf und ließ einfach Semir´s Hand nicht mehr los. „Nein er soll dableiben, sonst lasse ich gar nichts mehr machen!“ stieß er hervor und so postierte man den kleinen türkischen Polizisten so, dass er nicht störte, während die Ärztin nun begann, oberhalb des Schlüsselbeins Ben´s Oberkörper abzustreichen. Wieder wurde Ben steril abgedeckt und als sich nun die Nadel für die örtliche Betäubung und danach die dicke Punktionskanüle in ihn bohrte, klammerte er sich an Semir´s Hand fest, gab aber keinen Mucks von sich. Auch die Anlage des zentralen Venenkatheters gestaltete sich schwierig, weil, wie zuvor die Arterie, durch den Blutverlust auch die Vene schlecht gefüllt war und der Blutdruck ebenfalls unter 100 systolisch war, was die Punktion und das anschließende Vorschieben des Katheters auch bei starker Kopftieflage schwierig machte. Doch endlich war auch das geschafft und als es bei der Annaht nochmals kurz piekte, gab Ben zwar einen kleinen Seufzer von sich, aber mit der Unterstützung seines Freundes hatte er die vorbereitenden Eingriffe jetzt hinter sich. Man wischte das Blut weg, machte noch kurz eine Röntgenaufnahme des Thorax, um die Position des mehrlumigen Schläuchleins zu kontrollieren-dazu konnte man die Röntgenplatte direkt in ein Fach unter die Liege schieben, so dass Ben nicht umgelagert werden musste-und als die korrekte Lage des Venenkatheters bestätigt war, wurde der mit ordentlich warmer Vollelektrolytlösung befeuert und auch das Thermacair lief auf Hochtouren, um die Zieltemperatur zu erreichen.


    „Ben-ich habe mit Sarah gesprochen, du sollst dich unbedingt hier operieren lassen, sie hat über diesen Professor Erkundigungen eingezogen, der scheint wirklich ein Spezialist auf seinem Gebiet zu sein. Ihr und Corinna geht es gut, nur Mia-Sophie wird anscheinend gerade krank, ansonsten hätte deine Frau sich vermutlich durch nichts und niemanden davon abhalten lassen, zu dir zu eilen! Sie lässt dir schöne Grüße ausrichten und ich soll dir sagen, dass sie dich liebt und auch wenn die Lähmung nicht reversibel ist, werden wir alle zusammen das wuppen.“ erzählte er und Ben war einen Moment abgelenkt: „Meine arme Kleine-was fehlt ihr denn? Ach verdammter Mist-ich würde so gerne Sarah jetzt unterstützen, kranke Kinder sind sehr anstrengend, aber stattdessen liege ich hier und bin ein Krüppel!“ stieß er voller Kummer hervor und seine Augen wurden schon wieder verdächtig feucht. „Jetzt mach mal halblang-noch besteht ja eine kleine Chance dass das nicht so bleibt und auch wenn, dann machen wir uns später darüber Gedanken, wie wir das organisieren-jetzt hast du erst mal ne große OP vor dir!“ schalt Semir seinen Freund und spürte, wie dessen Nerven blank lagen. Die Schwester nahm nun für einen Augenblick die Papierzudecke des Wärmegeräts weg und rasierte, soweit sie ran kam, die ganze Schambehaarung ab, was Ben erröten ließ, obwohl er wusste, dass die Pflegekraft auch nur ihren Job machte. Aber trotzdem war es peinlich, an Stellen, wo man sonst nur selber hin langte, oder vielleicht noch die Partnerin, von einer fremden Frau angefasst zu werden. Die war sehr freundlich, sprach mit ihm und versuchte ihn abzulenken, aber trotzdem war es unangenehm und als man seinen Unterkörper noch mit einem feuchten Tuch von den letzten Haarresten befreit hatte und die Decke wieder über ihm lag, entwich ihm ein Seufzer der Erleichterung, der gleich von einem quälenden Husten gefolgt wurde, was die Anästhesistin mit besorgter Miene verfolgte. Ach je-da war anscheinend wirklich eine schwere Bronchitis im Anmarsch, auch wenn das Röntgenbild noch keinen Anhalt für eine Pneumonie bot, aber ihr Patient war durch seine Verletzungen und die daraus resultierende Immobilität hochgradig gefährdet-wenn das nicht noch Probleme machte!
    Ben schloss nun die Augen ein wenig und als die Temperaturanzeige nun immer mehr Richtung 36°C wanderte, war niemand froher als er-er wollte jetzt endlich schlafen und nicht mehr denken-das Beste wäre sowieso, wenn er nicht mehr aus der Narkose aufwachen würde!
    Der Professor war inzwischen auch eingetroffen, trotz Nebel hatte er mit seinem Porsche gut Gas gegeben und nachdem er seinen neuen Patienten und auch Semir kurz begrüßt hatte, verschwand er aus dem Raum und sagte: „Herr Jäger-ich schaue mir jetzt am PC noch ihre Bilder an und dann sehen wir uns in Kürze im OP!“ und nun wurden auch schon die ganzen Befunde in einer provisorischen Kurve zusammen gepackt und der Patient in die Operationsabteilung gebracht. Semir lief noch mit, bis zu der grünen Schiebetür, wünschte Ben von Herzen alles Gute und blieb dann ganz verloren vor der Tür stehen, als sich die hinter seinem Freund geschlossen hatte, sein Kopf war wie ausgehöhlt und die Sorge erfüllte ihn.


    Wenig später kam die Notaufnahmeschwester wieder heraus und schob die Liege und darauf die Vakuummatratze mit. „Wollen sie nicht nach Hause oder ins Hotel gehen? Wenn die OP für acht Stunden geplant ist, wird sie vermutlich auch so lange dauern und sie sehen selber ganz schön müde aus!“ sagte sie freundlich, aber Semir schüttelte den Kopf. Auch wenn das vielleicht ein Blödsinn war-er konnte jetzt das Krankenhaus nicht verlassen, da würde er Ben sonst gefühlsmäßig im Stich lassen. Eigentlich war sowas nicht erlaubt aber die Schwester hatte Mitleid mit dem netten türkischen Polizisten, der anscheinend eine sehr enge Bindung zu seinem Kollegen hatte und so gab sie ihm den Schlüssel zu einem Bereitschaftszimmer und sagte: „Legen sie sich hin-da ist alles drin, was man so zum Übernachten braucht. Ich bitte meine Kollegen im OP, sie auf dem Apparat dort anzurufen, wenn Herr Jäger ausgeschleust wird!“ und wenig später streckte sich Semir in T-Shirt und Boxershorts auf dem Bereitschaftsbett aus. Eigentlich hatte er nicht gedacht, dass er schlafen könnte, zu sehr war er aufgewühlt, aber nachdem er Jenni und Hartmut noch eine Whats App geschrieben hatte, fielen ihm doch irgendwann die Augen zu-sein Körper verlangte sein Recht und er wusste nicht, wozu er seine Kräfte noch brauchen würde!

  • Von Ben hatte eine Mischung aus Angst, Aufregung und Resignation Besitz ergriffen, nachdem Semir am Eingang zur OP-Abteilung zurück geblieben war. Die Schwester, die die Liege schob, versuchte ihm gut zuzureden, aber das war vergebene Liebesmüh. „Es wird schon alles gut werden, sie sind beim Professor in besten Händen!“ sagte sie begütigend, aber Ben erwiderte: „Nur Wunder kann der auch keine vollbringen!“ und nun gab die Schwester darauf keine Antwort, sondern rangierte neben das Schleusenband und jetzt wurde Ben erst Recht mulmig, als auf der anderen Seite vier grün vermummte Personen standen, um ihn in Empfang zu nehmen. Zu allem Unglück merkte er auch noch, wie es streng zu riechen begann-oh Gott-war das er gewesen? Schnell entfernte man die Überwachungselektroden, legte die Infusionsflaschen auf ihn, nachdem man die Rollklemmen geschlossen hatte und nahm das Arteriensystem aus der Halterung und stöpselte es auf der sterilen Seite wieder an den neuen Monitor. Die Schwester kippte die Vakuummatratze leicht an, damit das Fließband darunter fahren konnte und um Ben begann vor Aufregung alles vor den Augen zu verschwimmen, als sich das Band langsam in Bewegung setzte. Viele Hände griffen nach ihm, stabilisierten ihn und nun wurde die Vakuummatratze plötzlich ganz weich, als man das Ventil öffnete, Luft hineinströmte und die kleinen Kügelchen, die sich um seinen Körper perfekt an modelliert hatten, plötzlich auseinander gingen. „Wir drehen én bloc, Herr Jäger machen sie sich bitte, soweit es möglich ist, steif!“ kommandierte der Professor und Ben erhaschte einen Blick in das freundlich lächelnde Gesicht seiner Narkoseärztin, die sich ebenfalls schon umgezogen hatte, bevor seine Welt plötzlich kippte und ihm brutal schwindlig wurde. Irgendwie merkte er, dass man an seinem Po herum machte-oh Gott-hatte er jetzt wirklich vor allen Leuten unter sich gelassen? Moment, aber wie konnte er da etwas merken? Er hatte doch ab der Hüfte abwärts gar kein Gefühl? Nun wurde es plötzlich kalt an seinem Anus-eiskalt. „Spüren sie das, Herr Jäger?“ drang die ruhige Stimme des Professors, die verhaltene Autorität und doch Freundlichkeit ausstrahlte, an sein Ohr und er stammelte leise: „Es fühlt sich kalt an!“ „Spüren sie sonst etwas-Schmerz? Druck?“ folgte die nächste Frage, auf die er aber nicht so genau Antwort wusste und jetzt wurde er plötzlich wieder auf den Rücken gedreht, lag jetzt auf dem OP-Tisch und blickte in mehrere freundlich lächelnde Gesichter, soweit man das über den dicht schließenden OP-Masken erkennen konnte. „Sehr gut, Herr Jäger, am After laufen sehr viele Nerven zusammen, diese Tests zeigen uns, dass die Nervenbahnen nicht völlig zerstört sind, was ihre Prognose natürlich verbessert. Ich kann ihnen natürlich nichts versprechen, aber vielleicht können wir zumindest Teilfunktionen und Empfindungen wieder möglich machen!“ bekam er die ruhige Auskunft und jetzt übernahmen die Anästhesieschwester und die zugehörige Ärztin für eine Weile das Kommando, während die Operateure noch kurz in den Aufenthaltsraum gingen und ein paar Schluck Cola tranken, auch ihnen würde körperlich die nächsten Stunden viel abverlangt werden und sie würden den Tisch nur im äußersten Notfall verlassen, um zur Toilette zu gehen, oder etwas zu trinken.


    Ben´s Blutdruck war inzwischen wieder im Normbereich, er war stark in die Höhe geschossen, als man an seinem After herum manipuliert hatte, ihn zuerst sauber gemacht hatte und dann Schmerz, Druck, Berührung und Kälte mit Nadeln, Eisstückchen und dem behandschuhten Finger geprüft hatte. Der Blutdruckanstieg war aber nicht alleine aus Scham und Aufregung resultiert, sondern ein typisches Zeichen des spinalen Schocks bei Rückenmarksverletzungen, wo der Körper Regulationsmechanismen teils überschießend einsetzte, gerade bei Manipulationen an Blase und Mastdarm, aber jetzt würde man den Patienten schlafen lassen, damit er davon nichts mehr mitbekam. Allerdings war wegen der Blutdruckschwankungen eine Narkose bei so ausgedehnten Eingriffen an der Wirbelsäule auch für jeden Narkosearzt eine Herausforderung, obwohl der junge Patient ja eigentlich völlig Herz-Kreislauf-gesund war.


    Alles war für die Intubation vorbereitet, Ben lag mit warmen grünen Tüchern zugedeckt auf dem Rücken, sah an die Decke und dachte an Sarah und die Kinder-und auch an Semir, der sein Fels in der Brandung war, als er noch ein: „Schlafen sie gut!“ hörte, bevor er plötzlich weg war, als man das Narkosemittel in den ZVK spritzte. Die Intubation klappte gut und man verklebte den Tubus sorgfältig, denn er durfte während der Operation in Bauchlage auf gar keinen Fall verrutschen, denn bis man den Patienten notfalls gedreht hätte-eventuell bei eröffnetem Spinalkanal- wäre er alternativ erstickt, oder die ganze OP wäre umsonst gewesen und die Lähmung sogar verschlimmert oder man riskierte eine Infektion des Rückenmarkskanals.
    Man fuhr Ben nun in den Saal, wo einer der Ärzte sich schon steril angezogen hatte und zunächst einmal, assistiert von einem jungen Assistenzarzt, der ansonsten nur zusehen oder ablösen würde, die Wundversorgungen an der Leiste, dem Rumpf und dem Oberarm vornahm. Die Wunden wurden alle gereinigt, teilweise ein wenig ausgeschnitten, um saubere Wundränder zu bekommen, die verletzte Vene wurde abgebunden und die immer noch liegende Klemme entfernt und auch diese Verletzung schichtweise verschlossen. „Wie verzweifelt muss er gewesen sein, um so etwas zu tun!“ sagte der Assistenzarzt nachdenklich und voller Mitleid und alle Anwesenden nickten mit betroffenen Gesichtern, auch wenn Wirbelsäulenverletzungen hier an der Tagesordnung waren-dennoch machte jedes Einzelschicksal betroffen. Nun wurden die Wunden alle verbunden und die beiden Operateure und die instrumentierende Schwester entsorgten die Instrumente und zogen auch die kontaminierten Kittel aus. Die Schwester desinfizierte ihre Hände sofort von Neuem und zog sich wieder steril an, um die Vorbereitungen für den großen materiellen Aufwand für die Wirbelsäulen –OP, die mit vielen Instrumentensieben, Bohrern und anderen technischen Geräten gemacht wurde, zu vervollständigen-im Hintergrund war da schon eine Menge vorbereitet und abgedeckt. Man wollte die Keime, die sich sicher schon in den jetzt zuerst versorgten Wunden befunden hatten, nicht am Rücken haben-das war ein hochsteriler Eingriff und man hatte dort vor Wundinfektionen massiv Angst.
    So fuhr man einen zweiten OP-Tisch daneben, dort waren schon verschiedene Polster und andere Lagerungshilfsmittel bereit und nun traten alle Mitglieder des OP-Teams dazu und unter dem Kommando des Professors drehte man den tief schlafenden Ben behutsam, ohne weitere Verletzungen des Rückenmarks zu riskieren auf den Bauch, wo er die nächsten Stunden in einer Art Hockstellung liegen würde, damit man gut an den Rücken heran kam. Die Anästhesistin hielt dabei den Tubus fest und verwaltete die Kabel-jeder hatte genau seinen Bereich, wofür er zuständig war. Während die Operateure sich nun steril wuschen prüfte der Springer, also die unsterile OP-Schwester die Lagerung, versicherte sich, dass Ben so lag, dass er sich nicht wund lag, polsterte hier noch etwas ab, schob dort noch ein paar Kompressen unter, prüfte, ob der Katheter ablaufen konnte und nirgendwo etwas umgeschlagen war und als das alles passte, war die sterile Waschung des Professors und seiner Mannen beendet und der Eingriff konnte beginnen.

  • Zunächst strich man den Rücken des Patienten dreimal mit gefärbtem Hautdesinfektionsmittel ab und klebte, nachdem das angetrocknet war, eine Inzisionsfolie darüber, damit auf gar keinen Fall irgendwelche Hautkeime, die das Desinfektionsmittel überlebt haben könnten, in die Wunde gelangen konnten und nun wurde zunächst mit einem großen Hautschnitt, das Areal direkt über der Wirbelsäule eröffnet. Am großen Bildschirm, der einen Teil der Wand im OP einnahm waren die CT-Bilder angezeigt, wo man zunächst einmal die Frakturen genau erkennen konnte. Von oben nach unten begann man nun blutig die gebrochenen Wirbelkörper nacheinander frei zu legen, ohne dabei weitere Nerven oder Blutgefäße zu verletzten. Große Hämatome entleerten sich und das geschundene Gewebe war sehr schwer zu unterscheiden, aber dank der großen Erfahrung des Professors konnte man die austretenden Nerven weitgehend schonen und so manchen Nervenkanal wieder frei legen, der zuvor von Knochensplittern, gequetschten Muskeln und anderen Weichteilen verlegt gewesen war. Millimeter für Millimeter arbeitete man sich vor und die Geräusche glichen teilweise denen in einem Heimwerkerkeller. Bohrer, Fräsen und Sauger gaben Geräusche von sich, als man Knochenfragmente wieder zusammensetzte, mit Schrauben, Platten und Stäben stabilisierte und immer wieder Palacos, also Knochenzement benötigte, um all zu zerstörten Knochen wieder aufzubauen und aufzufüllen. „Gott sei Dank ist er jung und sportlich, so hat der Knochen eine ausreichende Dichte und bietet auch dem Osteosynthesematerial Halt!“ bemerkte der Professor, während er eine plötzlich auftretende Blutung routiniert stillte.
    Inzwischen dauerte die Operation schon mehr als drei Stunden, man hatte Ben, der sonst weiter auskühlen würde, obwohl er mit warmen grünen Tüchern zugedeckt war, über die Schulterpartie ein spezielles Wärmegebläse gelegt, das mit 38°C warme Luft ohne Verwirbelungen auf ihn blies und ihm half, seine Temperatur zu halten. Man hatte den Wirbelkanal an mehreren Stellen eröffnet und das darin in Rückenmarksflüssigkeit schwimmende Lumbalmark vorsichtig dekomprimiert und prüfte praktisch Millimeter für Millimeter die freie Beweglichkeit. An einer Stelle, die vermutlich hauptsächlich für die Lähmung verantwortlich war, war ein riesiger Bluterguss nicht nur außen herum, sondern auch innerhalb des Markstrangs. Unendlich vorsichtig präparierte der Neurochirurg, der dazu eine Lupenbrille trug die einzelnen Fasern frei-eine falsche Bewegung und die dauerhafte Querschnittlähmung war sicher und Ben´s Schicksal besiegelt, wenn er sich nicht sogar hier und sofort auf dem OP-Tisch verblutete.

    Die Narkoseärztin hatte inzwischen alle Hände voll zu tun, denn teilweise ohne dass man eine Ursache erkennen konnte, wechselte Ben´s Blutdruck zwischen hohen und niedrigen Werten, er brauchte abwechselnd Katecholamine, dann wieder Volumen und dann musste man den Blutdruck medikamentös herunter spritzen, denn wenn der Druck hochging, begann es immer stark zu bluten. Die körpereigenen Regelmechanismen versuchten auf ihre Weise mit dem spinalen Schock umzugehen. Die zweite Blutkonserve hing und dabei würde es nicht bleiben, denn die auftretenden Blutungen waren nicht unerheblich und das erste Saugerglas war schon ziemlich voll mit Blut und Spülflüssigkeit.
    Nach vier Stunden Operationsdauer begannen sich die Operateure und auch die Anästhesie rotierend abzulösen. Inzwischen war der Morgen angebrochen und durch die doppelten Glasscheiben des Operationstrakts konnte man einen herrlichen Sonnenaufgang beobachten-nur hatte keiner Zeit, diese wunderbare Bild zu betrachten, denn die ganze Konzentration galt dem Patienten auf dem Tisch den man so optimal wie möglich versorgen wollte. Weil das Krankenhaus im Vergleich zu so manchen Großkliniken eher überschaubar war, fast jeder jeden kannte und die Buschtrommeln in der Provinz via WhatsApp Tag und Nacht funktionierten, hatten einige Mitarbeiter der Operationsabteilung das Haus früher als sonst betreten und unterstützten nun die hart arbeitenden Kollegen. Alle außer dem Professor, der den Tisch nur im äußersten Notfall verlassen würde, hatten sich zwischendurch unsteril gemacht, einen Kaffee getrunken und ein paar Kekse gegessen, die Toilette aufgesucht und sich dann von neuem steril gewaschen und frisch angezogen. Der Assistenzarzt, der derweil die Ambulanz versorgt hatte und auch für die gesamten anderen unfallchirurgischen Patienten des Hauses verantwortlich gewesen war, kam als Ablöse nun auch an den Tisch, aber mehr als Haken halten und den Sauger bedienen, durfte er zu seinem größten Bedauern nicht machen.


    Ben´s Kreislauf wurde mit zunehmender Operationsdauer immer instabiler, auch weil sein Körper die Flüssigkeit der Schwerkraft folgend, nach vorne verschob. Mehrfach nahm man Blut ab und kontrollierte die Blutgase, den Hb und die Elektrolyte, wozu das Laborpersonal, das eigentlich nur Rufbereitschaft hatte, extra aufblieb. Man glich fehlende Elektrolyte aus, nahm warme Infusionslösungen und neben weiteren Blutkonserven bekam Ben auch noch aufgetaute Gefrierplasmen und Humanalbumin zugeführt. Endlich, nach mehr als sieben Stunden, waren alle Wirbelfrakturen versorgt, das Rückenmark war innerhalb des wieder hergestellten Spinalkanals frei beweglich und jetzt konnte man nur abwarten ob die Schädigungen der Nerven irreparabel waren, oder doch zumindest Teilempfindungen und motorische Fähigkeiten wiedererlangt werden konnten. Allerdings würde man-wie schon geplant-in einer weiteren Operation noch von ventral, also vom Bauch her, sogenannte Cages einsetzen, das waren eine Art Platzhalter, die als künstliche Bandscheiben dienten und die Abstände der Wirbelkörper aufrecht erhalten sollten, aber dazu musste Ben sich erst einmal stabilisieren und dieser Eingriff würde nicht vor übermorgen erfolgen, dazu brauchte man dann auch einen Viszeralchirurgen. Der Professor war verhalten optimistisch, als er nun endlich auch den Tisch verließ und seine Oberärzte die Hautnähte durchführten.

    In den anderen Sälen war inzwischen das Routineoperationsprogramm angelaufen und als man auf die Uhr sah war es kurz nach acht am Morgen. „Wir verlegen ihn primär erst einmal nachbeatmet auf die Intensivstation. Wenn es möglich ist, ihn nach ein paar Stunden zu extubieren, dann machen wir das, aber erst einmal muss er aufgewärmt werden!“ informierte die Narkoseärztin den Hauptoperateur und der nickte. Die Intensivstation war schon vorab informiert worden und ein Einzelzimmer mit Beatmungsgerät stand für Ben bereit. Als letzten Akt nach der Hautnaht, dem Einlegen mehrerer Saugdrainagen und dem Verband, fassten nun wieder alle mit an, um Ben auf den Rücken zurück zu drehen. Momentan schoss der Blutdruck in die Höhe, um kurz darauf wegen der erneuten Flüssigkeitsverschiebungen abzusacken, aber mit gutem Medikamentenmanagement gelang es, ihn halbwegs stabil zu bekommen und langsam brachte man ihn mit einem Transportbeatmungsgerät zur Schleuse, wo der Intensivarzt und seine betreuende Schwester mit allerlei Equipement schon bereit standen, um ihn zu übernehmen.


    Semir hatte tatsächlich ein paar Stunden geschlafen, aber um sechs erwachte er voller Unruhe. Leise wusch er sich mit den bereit liegenden Utensilien, putzte seine Zähne und zog seine Klamotten wieder an. Wie es Ben wohl ging? Das Telefon hatte noch nicht gebimmelt und er machte sich dann auf den Weg zur Notaufnahme, wo nach seinem Läuten auch die nette Schwester, die ihm das Zimmer zugewiesen hatte, heraus kam. „Moment-ich rufe mal im OP an, wie es aussieht!“ sagte sie freundlich, um ihm wenig später mitzuteilen: „Der Eingriff ist noch in vollem Gange, es verläuft aber alles nach Plan. Vermutlich wird ihr Kollege wie vorgesehen so zwischen acht und neun fertig sein-trinken sie erst mal einen Kaffee und dann können sie gerne vor der Intensivstation im ersten Stock warten, bis er an ihnen vorbei gefahren wird, ich sage, bevor ich jetzt nach Hause gehe, meinen Kollegen dort oben Bescheid!“ teilte sie ihm freundlich mit und zeigte ihm noch, wo ein Kaffeeautomat stand. Semir bedankte sich, trank zwei Tassen Kaffee, der erstaunlich gut schmeckte, schrieb Jenny eine WhatsApp, dass die OP noch im Gange war und planmäßig verlief und setzte sich dann voller Unruhe auf einen der gepolsterten Stühle vor der Intensivstation.

  • Nach einiger Wartezeit wurde ein Bett an ihm vorbei geschoben, darin lag Ben tief schlafend mit einem Tubus im Mund und sah ein wenig merkwürdig aufgedunsen aus, denn durch die lange Bauchlage hatte sich ein Teil der Gewebeflüssigkeit auf der Körpervorderseite angelagert und die Augen des jungen Polizisten waren zu geschwollen, was Semir allerdings keinen Deut scherte. Er sprang auf, war mit zwei Schritten am Bett und griff nach der Hand seines Freundes, die schlaff auf den Kissen lag. „Wie geht es ihm-war die Operation erfolgreich?“ sprudelte er heraus und der begleitende Intensivarzt und die Schwester, die das Bett schoben, verharrten einen Augenblick. Man musste nicht fragen, wer der kleine Mann mit den kurz geschorenen Haaren war-das hatte die Notaufnahmeschwester ihnen schon mitgeteilt- und außerdem lag ein von Ben unterzeichnetes Dokument vor, dass sie einem gewissen Semir Gerkhan gegenüber auskunftsberechtigt waren. „Ich vermute, sie sind der Freund und Kollege unseres Patienten-wir müssten ihn jetzt erst einmal versorgen, wenn sie bitte noch einen Moment hier draußen Platz nehmen. Wir holen sie dann herein und dann bekommen sie die gewünschte Auskunft von mir!“ sagte der Intensivarzt freundlich und Semir wich mit einem Nicken wieder zu seinem Stuhl zurück. Er war erst einmal froh, dass Ben lebte und die OP vorbei war, alles Weitere würde sich fügen, er konnte jetzt sowieso nichts weiter machen als abzuwarten und Sarah Bescheid zu geben. Er hatte vorhin schon heraus gefunden, dass es direkt vor dem Fenster einen Punkt gab, wo er leidlichen Handyempfang hatte und dahin ging er jetzt, nachdem sich die Türen hinter dem Bett geschlossen hatten und rief Jenny an.

    Die hatte nach einiger Überlegung bei Sarah und Corinna in der Schutzwohnung auf dem Sofa übernachtet, sie konnte die beiden Frauen jetzt einfach nicht alleine lassen und musste ja auch als Nachrichtenübermittlerin dienen. Es war eine unruhige Nacht gewesen, denn das Baby hatte viel geweint und Sarah hatte die kleine Mia-Sophie ständig durch die Wohnung getragen, ihr Tee gegeben und sah selber völlig fertig aus. Wobei es eigentlich egal war-sie hätte sowieso nicht ausruhen können, zu groß war die Sorge um ihren geliebten Mann. Wenigstens Tim hatte geschlafen und verlangte nun am Frühstückstisch sitzend, nach Kaba und einem Marmeladenbrot, das ihm auch gleich von Corinna serviert wurde, während die drei Frauen erst einmal einen starken Kaffee tranken. Als Jenny´s Handy läutete, zuckten alle drei zusammen und sahen die junge Polizistin erwartungsvoll an, die noch während sie abnahm flüsterte: „Es ist Semir!“ und dann in ihr Smartphone lauschte. Ihre angespannte Miene glättete sich und dann sagte sie kurzerhand: „Ich gebe mein Handy gleich an Sarah weiter-sprich doch mit ihr persönlich!“ und Semir wiederholte nun die Auskunft, die er gerade erteilt hatte. Die Operation war beendet, Ben war beatmet auf der Intensivstation und er würde später ein Gespräch mit dem Arzt haben und sich dann noch einmal melden. „Gott sei Dank, er lebt!“ flüsterte Sarah und die erste Anspannung fiel von ihr ab. Jetzt konnte man eh nur hoffen und beten, aber so gerne Sarah an der Seite ihres Mannes gewesen wäre, vor allem auch, weil sie die Kollegen, die Ben jetzt versorgten, auch nicht kannte, aber das war einfach unmöglich und gerade hob Mia-Sophie, die auf ihrem Arm erschöpft eingenickt war, zu einer erneuten Schreitirade an, so dass sie das Gespräch schnell beenden musste, um die kleine Madam zu beruhigen, allerdings hatte sie Semir zuvor noch um einen Gefallen gebeten, der den schmunzeln ließ.


    Ben wurde derweil auf der Intensivstation vom Transportbeatmungsgerät an das stationäre Gerät umgehängt, man nahm Blut ab und bettete ihn halbwegs bequem auf den Rücken, wusch ihn oberflächlich ab-die gründliche Körperpflege würde man später machen, wenn er warm und stabil war-tauschte den Blasenkatheter gegen einen mit Temperatursonde aus und machte dann seine Hände mit Fixies fest, denn man würde ihn nur so lange nachbeatmen, bis er warm war und ihn dann wach werden lassen. Sein Zustand ließ das zu und nachdem vermutlich noch etwa zwei bis drei Tage bis zur zweiten Operation vergehen würden, würde man ihn nicht so lange intubiert lassen, sofern sich der Atemwegsinfekt nicht verschlimmerte. Man hatte ihm schon hoch dosiert Antibiose verabreicht und es blieb zu hoffen, dass die auch gegen den pulmonalen Infekt wirksam war. Die Blutgase waren nicht allzu schlecht, das Noradrenalin war zwar nötig, um seinen Blutdruck zu stabilisieren, aber es lief in einer eher niedrigen Dosierung und nachdem der Intensivarzt ihn noch kurz durch untersucht hatte, legte man ein Thermacair Wärmegebläse über ihn, das ihn mit 38°C warmer Luft umfächelte, wechselte die ersten Drainageflaschen, die ordentlich Blut förderten, was nach so einer großen OP aber normal war und eben beobachtet werden musste und holte dann Semir herein.


    Die Schwester, die das erledigte, begann Semir freundlich auf den Anblick vorzubereiten, der ihn erwartete, aber der Deutschtürke winkte mit einer Handbewegung ab. „Lieb von ihnen, dass sie mir das alles erklären wollen, aber ich kenne das schon-es ist nicht das erste Mal, dass mein Freund beatmet und schwer krank auf der Intensivstation liegt!“ sagte er und nun nickte die Schwester und geleitete Semir zu der Einzelbox. Dort musterte er den dunkelhaarigen jungen Polizisten mit der verstrubbelten dunklen Mähne, griff erneut nach seiner schlaffen und immer noch kalten Hand und lauschte dann aufmerksam den Worten des Intensivarztes während er die Hand seines Freundes ganz fest hielt und versuchte ihm Kraft und Wärme zu übertragen. Minuten später kam dann noch der Professor persönlich zur Tür herein und nun bat Semir, dass man doch vom Festnetzmobilteil aus eine Verbindung zu Jenny´s Handy herstellte, die ihm zugesichert hatte, momentan noch in der Schutzwohnung zu verweilen. So erfuhr nun Sarah aus dem Munde des leitenden Operateurs, wie die OP verlaufen war und dass man jetzt einfach abwarten musste, ob irgendwelche Funktionen zurück kamen. „Sie sind ja vom Fach, wie ich gehört habe!“ redete der Arzt ins Telefon. „Der Sphinktertonus war teilweise erhalten, was ein gutes Zeichen ist, jetzt sind wir gespannt, was Herr Jäger angibt, wenn er wach wird. Angesichts der Schwere der Operation ist der Zweiteingriff nicht vor Donnerstag geplant, wenn ich die Cages einsetze wird mir der leitende Viszeralchirurg zur Seite stehen, das ist hier im Haus so üblich!“ erklärte er und Sarah bedankte sich zunächst einmal.

    Als der Professor und auch der Intensivarzt den Raum verlassen hatten, blieb die betreuende Schwester mit Ben und Semir im Zimmer und musterte ihre Geräte, ob alles in Ordnung war, bevor sie sich ihrer weiteren Arbeit beim nächsten Patienten widmen würde. Das Telefon lag auf einem Tischchen und Semir richtete nun Sarah´s Bitte aus. Vorhin hatte er den Professor nicht vor den Kopf stoßen wollen, aber jetzt war er mit der Pflegekraft alleine und bat sie, doch persönlich mit Sarah zu sprechen. „Weisst du Semir-so von Intensivschwester zu Intensivschwester fließen andere Informationen, als wenn man mit den Ärzten kommuniziert!“ hatte sie ihm vorher erklärt und ihn so zum Schmunzeln gebracht und tatsächlich-kaum waren die beiden Fachkräfte telefonisch verbunden, bekam Sarah Informationen über die Beatmungseinstellung, wie hoch das Nor lief, für welchen Zeitraum das Weaning geplant war und weitere Daten, mit denen nur Fachpersonal etwas anstellen konnte. „Glaub mir-dein Mann ist bei uns, auch wenn wir nur ein Provinzkrankenhaus sind, in den besten Händen!“ versicherte die Schwester, denn so von Pflege zu Pflege war man sofort per Du. „Wir haben kein so großes Spektrum an Krankheitsbildern, wie ihr an der Uniklinik, aber was wir machen, machen wir gut!“ versicherte ihr Gegenüber und fast ein wenig erleichtert beendete nun Sarah das Gespräch. Sie hatte sich mit der Fachkraft gleich verstanden und ihr ebenfalls einige nützliche Informationen über Ben gegeben, immerhin hatte sie ihn schon mehrfach als Intensivpatienten betreut, wusste, wie er auf manche Medikamente ansprach und wie rasch er wach wurde, wenn man die Sedierung ausschaltete. Außerdem war ihr versichert worden, dass man sie sofort verständigen würde, wenn es irgendwelche Komplikationen gab und Semir würde auf ihren Mann aufpassen, das wusste sie ebenfalls sicher.


    Der bekam nun einen bequemen Stuhl neben das Bett seines Freundes gestellt und man erlaubte ihm, bei ihm zu bleiben, sofern er den Raum für pflegerische oder ärztliche Tätigkeiten verließ. Sarah hatte extra darum gebeten und das große Vertrauensverhältnis zwischen den beiden Kollegen erwähnt. „Dann lasse ich sie beide jetzt zunächst einmal alleine und wir warten, bis Herr Jäger komplett aufgewärmt ist!“ bekam er noch als Information von der Schwester und Semir lehnte sich bequem zurück, ohne Ben´s Hand los zu lassen. Er war sehr froh, dass er bei ihm bleiben durfte und später würde er noch Hartmut informieren, aber das hatte noch Zeit. Sein Blick streifte den Monitor-34,8°C zeigte der an, das würde noch ein Weilchen dauern bis Ben nicht mehr so eiskalt war und so bewachte Semir den Schlaf seines Freundes und war nur froh, dass sie ihn in der Höhle gefunden hatten.

  • Es dauerte bis zur Mittagszeit bis Ben seine normale Körpertemperatur wieder erreicht hatte. Er war zwischendurch einmal abgesaugt und ein wenig anders hingelegt worden, allerdings blieb er die ganze Zeit flach auf dem Rücken, man stopfte nur einen dünnen Keil unter die Weichlagerungsmatratze, um den Schwerpunkt zu verändern, aber für die nächsten Tage war es wichtig, dass der junge Polizist auf dem Rücken liegen blieb. Der dicke Verband wirkte noch wie eine Kompression, weil ihn das Körpergewicht gegen die Matratze presste und das war auch dringend nötig, denn die Wunde blutete nach und auch die Drainagen füllten sich wieder und wieder mit Blut, so dass man beim nächsten Wechsel der Redonflaschen mit einer sterilen Entlüftungskanüle den Sog wegnahm. Man kontrollierte die Blutgase und die anderen wichtigsten Laborwerte und entschied sich, Ben noch zwei weitere Blutkonserven zukommen zu lassen.
    Semir wurde immer nach draußen geschickt, wenn an seinem Freund etwas gemacht wurde-es war hier nicht wie in der Uniklinik Köln, wo er sozusagen zum laufenden Betrieb gehört hatte, man kannte ihn nicht und wusste ja auch nicht, dass er durchaus nicht umfallen würde, wenn er Zeuge von medizinischen oder pflegerischen Maßnahmen an seinem Freund wurde, aber Semir war froh, dass man ihn überhaupt dableiben ließ, denn ein Schild draußen vor der Tür hatte eigentlich streng auf die eingeschränkten Besuchszeiten hingewiesen und er war redlich froh, dass man sich in seinem Fall nicht daran hielt. Von dem Platz mit dem Handyempfang in der Besuchsecke informierte er bei so einer Gelegenheit Hartmut und der erzählte ihm seinerseits, dass es ihnen gelungen war die Pläne zu verändern und Klaus wieder wie gewohnt mit den gefakten Daten im Handy zur Arbeit gegangen war, während er sich heute im Haus die Zeit vertrieb, unter anderem mit dem Findelkater und nicht mehr nach Augsburg zu dem Kongress gefahren war. „Weisst du-meinen vorbereiteten Vortrag habe ich gestern gehalten und es war eine lange Nacht für uns alle. Außerdem hatte ich nicht den Eindruck als könne ich da noch viel lernen, die anderen Themen, die am Dienstag auf dem Programm standen, waren für mich eher langweilig, ich habe mich mal für heute dort krank gemeldet!“ berichtete er. Was Hartmut nicht wusste war, dass der Bewacher draußen ein paarmal eine Bewegung hinter den Fensterscheiben wahrgenommen hatte und jetzt zufrieden an seinen Partner weiter gab: „Corinna ist im Haus, Klaus hält sich an unsere Abmachungen!“ und so war die Anwesenheit des rothaarigen Technikers sogar von Vorteil.


    Als Semir nach einer Weile langweilig wurde, begann er Ben von seinem Gespräch mit Sarah zu erzählen. „Weißt du Ben-ich bin mir ganz sicher, dass niemand außer deiner kranken Tochter fähig war, deine Frau davon abzuhalten, zu dir zu kommen, aber sie hat sich dafür gleich telefonisch mit dem Pflegepersonal hier verbündet, um Auskunft zu erhalten. Aber ich bin ja schon froh, dass ich bei dir bleiben darf, denn ich hätte keine ruhige Minute, wenn ich nicht an deinem Bett sitzen dürfte. Und mach dir keine Sorgen wegen der Lähmung-der Professor hat einen sehr kompetenten Eindruck auf mich gemacht, der konnte hoffentlich was für dich tun und wenn nicht, dann kriegen wir das trotzdem-du bist doch fit und sportlich und ich habe mal bei einem Rollstuhlbasketballspiel zugesehen-du meine Güte, da gings vielleicht zur Sache!“ sprach er mit seinem Freund, so als wenn der nicht schlafen würde. Die betreuende Schwester hatte mit einem Schmunzeln von draußen gehört, wie der türkische Polizist mit seinem beatmeten Freund redete-ja der machte das nicht zum ersten Mal- und sie beschloss, ihn nun nicht mehr unbedingt nach draußen zu befördern, wenn sie etwas an ihrem jungen Patienten machte. Allerdings schickte sie ihn mittags noch in die Cafeteria und trug ihm auf, etwas zu essen, Kaffee und Wasser hatte sie ihm bereits gebracht, aber jetzt würde es an die Extubation gehen und da würde er sich in der ersten Zeit danach vermutlich nicht mehr wegbewegen, so wie sie ihn einschätzte, den kleinen Mann mit dem großen Herzen, wie sie ihn bei sich nannte.

    Die Blutkonserven waren eingelaufen, die Körpertemperatur im Normbereich und sogar Ben´s Gesicht war weitgehend abgeschwollen, so dass er wieder ziemlich normal aussah. Man hatte die letzte Stunde schon allmählich die Sedierung reduziert, den Beatmungsmodus auf CPAP umgestellt und somit alles gut vorbereitet. „So-wir schalten jetzt die Sedierung aus und warten ab, was passiert. Machen sie gerne weiter wie bisher, sprechen sie mit ihrem Freund-dem wird die vertraute Stimme gut tun und wenn er komplett selber atmet und auch nicht panisch wird, dann versuchen wir den Tubus heraus zu ziehen!“ erklärte die Schwester den Plan und Semir nickte-jetzt war er gefragt, das hatte er schon mehrfach mit erlebt und Ben dabei immer nach bestem Wissen unterstützt. Auch er selber war ja schon auf der Intensivstation gelegen, ebenfalls kritisch krank und beatmet und wusste, wie froh man war, wenn einem da jemand beistand, den man kannte, denn auch wenn alle zu einem sehr nett und freundlich waren, man war dieser Gerätemedizin irgendwie hilflos ausgeliefert und jedes bekannte Gesicht, jede vertraute Stimme war ein Trost in dieser schwierigen Situation, zumal es bei Ben jetzt auch noch um ganz andere Dinge ging und der anscheinend überhaupt nicht mit einer Querschnittlähmung umgehen konnte, wie der Selbstmordversuch in der Eishöhle zeigte.
    „Schwester-wie sind denn ihre Erfahrungen-müsste er jetzt gleich seine Beine wieder spüren, wenn er wach wird und die Operation geglückt ist?“ fragte Semir deshalb noch nach, aber die erfahrene Pflegerin schüttelte den Kopf. „Das wäre eher unwahrscheinlich, den Enderfolg wird erst die Zeit zeigen aber warten wirs ab, vielleicht spürt er ja mehr als wir denken, aber das ist erst der zweite Schritt-jetzt müssen wir ihn zuerst von der Beatmungsmaschine trennen!“ erklärte sie und kontrollierte nach dem Ausschalten der Perfusoren, ob die Handfixierungen stramm saßen.


    Wie geplant schlug Ben nach einer Weile die Augen auf und blickte erst ein wenig panisch um sich. Er hatte zwar schon eine ganze Weile Geräusche um sich herum wahr genommen, vor allem auch Semir´s vertraute Stimme, aber es war ihm durch die Schlafmittel egal gewesen. Jetzt tauchte er wie ein Schwimmer in einem See an die Wasseroberfläche und konnte sich auf einmal wieder erinnern. Gleichzeitig begann ihn der Tubus in seinem Hals zu stören und er kannte sich momentan nicht aus. Moment er war doch operiert worden, aber warum war dann Semir da? Und was war noch gleich der Grund für die OP gewesen? Oh Gott-seine Beine, er konnte seine Beine nicht spüren-oder vielleicht doch? Allerdings war jetzt seine Wahrnehmung durch den kratzenden Tubus eingeschränkt, er wollte etwas sagen, er bewegte die Lippen, aber das ging nicht und jetzt wollte er nach oben fassen und sich den Fremdkörper einfach heraus reißen. Semir´s Gesicht erschien über ihm und der sagte: „Ben, bleib ganz ruhig-gleich kommt der Arzt und dann bist du den Schlauch los!“ und zugleich drückte er tröstlich seine angebundene Hand. Ein fremdes Männergesicht erschien jetzt über ihm und eine Stimme fragte: „Herr Jäger-können sie mich verstehen?“ und Ben kämpfte die aufsteigende Panik nieder und nickte. „Machen sie bitte den Mund auf-ich sauge den Speichel ab, wie beim Zahnarzt!“ sagte dann der Mann, den Ben nun als Arzt identifizierte und er folgte dessen Aufforderung. Als die Mundhöhle sauber war, wurde er noch ein letztes Mal endotracheal abgesaugt, was bei vollem Bewusstsein sehr unangenehm war, aber dann machte man an seinem Gesicht herum, löste die Tubusfixierungen, entblockte den Schlauch und schon war der draußen, was Ben mit einigen kräftigen Hustenstößen, die schmerzhaft in seinen Rücken fuhren, quittierte. „Schon gut Herr Jäger-jetzt haben sie es geschafft!“ sagte nun eine weibliche Stimme, während sie erst sein Gesicht mit einem kühlen feuchten Lappen abwischte und dann eine Sauerstoffmaske locker darauf befestigte, um ihm das Atmen zu erleichtern, denn der bronchopulmonale Infekt war ja noch nicht besser geworden, allerdings eben auch nicht so schlimm, dass man ihn deswegen beatmen musste. Normalerweise hätte man jetzt das Bettkopfteil höher gestellt und den Beatmungsschlauch vielleicht auch ein wenig früher heraus gezogen, bevor der Patient ihn als dermaßen unangenehm wahr nahm, aber bei Wirbelsäulenpatienten war das leider nicht möglich, denn die mussten flach auf dem Rücken bleiben. Ben sog gierig die Luft ein und für einen Moment war seine Aufmerksamkeit jetzt von anderen Dingen als seinem Unterkörper in Anspruch genommen und er schloss nach dieser Tortur kurz die Augen, aber dann öffnete er sie wieder, fixierte Semir und sagte tonlos: „Ich spüre meine Beine immer noch nicht, aber mein Rücken tut höllisch weh!“ und dann brach er in Tränen aus.

  • Sarah war in Köln nach dem Telefongespräch mit ihrer Kollegin einen Augenblick reglos stehen geblieben, bis Mia-Sophie wieder mit hochroten Bäckchen lauthals zu brüllen begann und sich von Corinna, die sie gerade auf dem Arm hatte, auch nicht mehr beruhigen ließ. „Ben scheint aktuell außer Lebensgefahr und außerdem in guten Händen zu sein-ich muss mich jetzt um unser Kind kümmern-Jenni-ich denke ich muss unbedingt mit der Kleinen zum Kinderarzt, sie hat Fieber, das Näschen läuft, aber wenn sie nur zahnt, was ich erst gedacht habe, ist sie für gewöhnlich nicht so schlecht drauf. Ich möchte, dass der Arzt sie näher untersucht, nicht dass wir was übersehen!“ bat sie und Jenni nickte. Bonrath hatte vorhin schon angerufen und erstaunt gefragt, wo sie denn bliebe, aber sie hatte ihm kurz Auskunft gegeben und war dann weiter bei den beiden Frauen geblieben. Sie musste denen ein anderes Handy besorgen und dann Semir die Nummer geben, denn Sarah würde keine ruhige Minute haben, wenn sie in dieser Situation nicht erreichbar war.

    Zunächst aber rief nun Sarah bei ihrem Kinderarzt an und die Arzthelferin, die sie gut kannte-kein Wunder, wenn man zwei Kleinkinder hatte- versprach sie terminlich dazwischen zu schieben, sie solle gleich kommen. „Tim-magst du mit zum Doktor gehen, oder lieber bei Corinna bleiben und mit der was spielen?“ fragte Sarah, aber Tim stand sofort auf und holte seine Jacke. Beim Doktor gab es ein Wartezimmer voller Spielsachen und außerdem hatte der Gummibärchen im Glas, wenn nicht gerade eine Impfung anstand ging Tim also sehr gerne zum Doktor! Jenni sagte: „Sarah-ich hole meinen Privatwagen, der steht hier unter der Domplatte in der Tiefgarage, ich fahre bis um die Ecke, wo ihr auch ausgestiegen seid und keine Fußgängerzone mehr ist und hole euch dann raus!“ informierte sie sie und verließ auch schon die Wohnung. Sie hatte vom Fenster aus schon eine ganze Weile die Umgebung beobachtet, aber keine verdächtigen Dinge bemerkt, es war ziemlich unwahrscheinlich, dass jemand wusste, wo sich die Frauen und Kinder befanden und dass sie überhaupt verfolgt worden waren. So schlüpfte Sarah wenig später gemeinsam mit den Kindern in den Wagen, Jenni hatte zuvor noch die Kindersitze aus Sarah´s Fahrzeug umgebaut, das ebenfalls in der Tiefgarage stand und wenig später waren sie gemeinsam beim Kinderarzt, wo sie noch eine Weile warten mussten, eine Tatsache, die Tim gar nicht ungelegen kam, der sich sofort mit einem etwas gleichaltrigen Jungen anfreundete und mit dem heftig zu spielen begann, während das Baby erschöpft auf Sarah´s Arm eingeschlafen war. Als sie etwa eine Stunde später dran kamen, stellte der Doktor zusätzlich zu einer schweren Erkältung noch eine Mittelohrentzündung bei Mia-Sophie fest, kein Wunder dass die Fieber und Schmerzen hatte. Sie bekam Schleimlöser, Nasentropfen, Fieberzäpfchen und ein Antibiotikum verordnet und nach dem Besuch in der nächsten Apotheke brachte Jenni die kleine Familie zurück in die Schutzwohnung.

    Dort war Corinna derweil sinnend vor ihrem Rollkoffer gestanden. Sie hatte-wie auch Sarah- ihr ziemlich neues Handy an Jenni und Dieter übergeben, nicht dass die Verbrecher die Möglichkeit hatten, sie irgendwie zu orten, aber was sie niemandem gesagt hatte-sie hatte ihr altes Handy ebenfalls dabei, das sie zwar schon länger nicht mehr in Betrieb hatte, weil sie mit Klaus einen günstigen Partnervertrag abgeschlossen hatte, die Mitarbeiter seiner Firma bekamen bei einem Mobilfunkanbieter Sonderkonditionen, aber ihr alter Vertrag lief noch zwei Monate und so steckte sie das Teil jetzt mal vorsichtshalber ans Ladekabel an, es war furchtbar für sie, so von der Welt abgeschnitten zu sein und so gar keine Verbindung zu Klaus zu haben-so hatte sie sich ihre Flitterwochen nicht vorgestellt! Momentan würde sie es nicht benutzen, aber es war einfach gut, erreichbar zu sein!
    Dieter hatte inzwischen auf der Dienststelle ein altes Prepaidhandy geholt, das für solche Zwecke dort aufgeladen im Safe lag und zur Kinderarztpraxis gebracht. Es war kein Smartphone, aber telefonieren und SMS-schreiben konnte man und das sollte für den Augenblick genügen. Semir bekam die Nummer mitgeteilt und als Sarah wenig später wieder in der Wohnung zurück war, bekam sie eine kurze Mitteilung von Semir, dass Ben erfolgreich extubiert war und er Grüße ausrichten würde. Sarah stiegen die Tränen der Erleichterung in die Augen und nach einem kleinen Mittagessen, bestehend aus Spaghetti mit einer fertigen Tomatensauce-zur Not musste sowas auch mal gehen und Corinna hatte das während ihrer Abwesenheit vorbereitet-legten sich alle gemeinsam zum Mittagsschlaf hin, denn Mia-Sophie war nach dem Schmerzmittel selig eingeschlummert und bis auf Tim, der sich aber auch brav hinlegte, hatten alle Nachholbedarf. Nur Jenni musste sich nach ihrer Rückkehr zur PASt in ihre Uniform werfen und noch ein paar Stunden mit Dieter auf Streife gehen, aber das würde sie schaffen, sie war schließlich jung und fit und eine einzelne fast schlaflose Nacht warf sie nicht aus den Socken.


    Die beiden Scheichs saßen wieder bei Pfefferminztee und einem Schachspiel im Leitheimer Hotel. „Ich denke das läuft mit den Plänen, morgen soll unser Komplize das Handy an sich nehmen und spätestens Donnerstag sind wir auf dem Weg zurück in die Heimat!“ sagte der eine und der andere zog gedankenverloren das Handy heraus und betrachtete die Fotos von Corinna im Brautkleid, die ihm die Entführer in der Nacht geschickt hatten. In seinen Lenden begann es zu ziehen-er musste diese Frau besitzen. Eine Blonde fehlte noch in seinem Harem und er stellte sich vor, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie erst in seinem Besitz war. Kein Mensch hatte gesagt, dass er sich an Abmachungen hielt und die Nachricht, dass die junge Frau sich anscheinend im Haus versteckt hielt, ließ ihn triumphierend lächeln. Wenn sie die Pläne hatten, würde er sich holen, was er begehrte und eine Burka und gefälschte Papiere für die Ausreise waren mit in ihrem Gepäck.


    Ben bekam derweil eine ganze Menge an Schmerzmitteln, lag aber immer noch völlig verkrampft im Bett. Semir betrachtete ihn besorgt, denn nun stand vor Schmerz und Stress der Schweiß auf der Stirn seines Freundes, den er nur immer wieder mit einem kühlen Waschlappen abwischen konnte. „Oh Gott-warum tut das nur so weh?“ ächzte Ben und die Schwester gab ihm einen erneuten Bolus Piritramid, was ihn zwar immer für einen kurzen Augenblick orientierungslos werden ließ, den Schmerz aber in der Graduierung nur von völlig unerträglich zu gerade noch aushaltbar reduzierte. Er hatte bereits die Höchstdosen an Metamizol und Paracetamol erhalten, dazu eine Menge Opiat, fast ein Wunder, dass er noch so gut selber atmete, aber er war dennoch sehr schmerzgeplagt und der Professor war bereits verständigt, allerdings stand der nach einem kurzen Schläfchen auf seiner Couch im Chefarztbüro schon wieder im OP und versuchte einem anderen Patienten zu helfen, würde sich die Sache aber in Kürze anschauen. Die Vitalparameter waren ansonsten in Ordnung, eine nähere neurologische Untersuchung hatte wegen der Schmerzproblematik noch nicht stattfinden können und so hoffte man, dass dem Professor etwas einfiel, der Intensivarzt wusste nämlich nicht mehr weiter. „Ben-die kriegen das schon hin, versuch dich zu entspannen, damit die Schmerzmittel wirken können!“ sagte Semir mit wenig Überzeugung in der Stimme, aber sein Freund sah ihn nur an wie ein waidwundes Tier und flüsterte: „Wenn ich nur tot wäre!“ und Semir lief ein kalter Schauer über den Rücken.

  • Endlich öffnete sich die Tür zum Intensivzimmer und der Professor kam herein. Semir registrierte, dass auch der ziemlich fertig aussah-kein Wunder nach so einer Nacht und jetzt arbeitete er ja schon wieder weiter, aber dann war ihm das egal, denn hier ging es um Ben und er hoffte und betete, dass dem erfahrenen Arzt etwas einfiel, um ihm die Schmerzen zu erleichtern. Das war nämlich furchtbar mit anzuschauen und mehr als einmal hatte Semir regelrecht darum gefleht, seinem Freund wenigstens ein bisschen davon abnehmen zu können, aber das war natürlich Blödsinn-so funktionierte das nicht.
    „Herr Jäger-wie geht es ihnen?“ fragte der große schlanke Mann und beugte sich über den jungen Polizisten. „Beschissen-ich habe Schmerzen wie ein Vieh!“ sagte Ben mit einem gleichen Anteil an Erschöpfung, aber auch Aggressivität in der Stimme. „Ich wollte sterben, warum habt ihr mich nicht gelassen, dann müsste ich das hier nicht aushalten!“ schrie er dann fast, seine Nerven lagen genauso blank wie die von Semir, aber der Arzt legte nun seine Hand auf Ben´s Unterarm.


    „Jetzt mal einen Schritt nach dem anderen, Herr Jäger. Die Operation an sich ist gut verlaufen, wir müssen nur in ein paar Tagen noch von vorne die Platzhalter an Ort und Stelle bringen, aber ich und meine Kollegen konnten heute Nacht die knöcherne Struktur ihrer Wirbelsäule ganz gut wiederherstellen. Das Rückenmark ist-wie wir nach den ersten Untersuchungen ja schon vermutet haben-nicht komplett durchtrennt, so dass durchaus eine reelle Chance auf die Rückkehr von zumindest Teilfunktionen besteht. Jetzt möchte ich mir ein genaues Bild von der genauen Art ihrer Schmerzen machen, sie müssen jetzt mitmachen und in sich hinein horchen. Ich mache ein paar Tests und danach drehen wir sie, ich kontrolliere das Wundgebiet und die Drainagen und dann entscheide ich, welche Schmerztherapie sinnvoll ist, aber glauben sie mir-der Eingriff war nicht umsonst!“ erklärte er und Ben, der immer noch mühsam atmete, unterdrückte jetzt seine Tränen, nickte und sagte ein wenig kleinlaut: „Entschuldigen sie, dass mir die Nerven durchgegangen sind, aber ich spüre eben meine Beine immer noch nicht und dabei hatte ich so gehofft, aus der Narkose auf zu wachen und alles ist wie früher. Stattdessen weiss ich vor Schmerzen nicht mehr aus und ein und werde wohl den Rest meines Lebens im Rollstuhl verbringen, nur tut es jetzt auch noch zusätzlich furchtbar weh, was vorher nicht der Fall war.“ versuchte er seinen Ausbruch zu erklären und erntete ein wissendes Lächeln. „Sie müssen sich nicht entschuldigen-ich weiss auch nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich so einen Unfall mit weitreichenden Folgen gehabt hätte!“ antwortete der Professor freundlich und mit entwaffnender Ehrlichkeit und nahm damit Ben den Wind aus den Segeln, der aber gerade wieder voller Schmerzen aufstöhnte.

    Der Intensivarzt und die Schwester waren ebenfalls mit bei der Visite dabei, man hatte Eisstückchen geholt und einen kurzen Moment daran gedacht, Semir aus dem Zimmer zu schicken, aber als man sah, mit welcher Kraft sich Ben an dessen Hand festhielt, die ein regelrechter Anker in seinem Meer aus Schmerzen war, verzichtet man darauf. Der Professor nahm nun zunächst die Decke weg und scannte mit seinen Augen erst einmal Ben´s Körper. Er prüfte dessen Lagerung, aber da war nichts zu beanstanden. Er lag achsengerecht und flach, außer den Verbänden an Flanke, Oberarm und Leiste war von vorne nichts zu erkennen. Der Arzt betastete nun Ben´s Bauch und Hüfte und versuchte mit Fragen den genauen Ort zu lokalisieren, ab dem die Gefühllosigkeit vorne begann. Jeder Rückenmarksnerv hatte bestimmte Areale, die er versorgte, der Arzt wusste um deren Schädigung und konnte so nachvollziehen, wo genau das Problem lag. Der Arzt zog nun Handschuhe an, strich über Ben´s Beine, drückte hier, berührte da und hatte seinen Patienten zuvor gebeten die Augen zu schließen und sich nur darauf zu konzentrieren, was er wahrnehmen konnte. An den Beinen war tatsächlich keinerlei Reaktion zu spüren, aber als er Ben´s Genitalien und die Oberschenkelinnenseiten anfasste, zog der die Stirne kraus. Hatte er da soeben den Hauch einer Berührung wahrgenommen? Allen Umstehenden war die Veränderung von Ben´s Gesichtsausdruck aufgefallen und nun testete man systematisch mit Fingern und Eiswürfeln wieder Berührung, Druck, Kälte und Schmerz-den allerdings nur mit Kneifen und Ben sagte mit dünner Stimme, aber dennoch ein wenig Hoffnung darin: „Ich glaube ich spüre da ein bisschen was, aber vielleicht bilde ich mir das nur ein, weil ich es mir so wünsche, aber doch-es ist kalt, sogar eiskalt!“ und nun lächelte der Professor und sagte begütigend. „Sie dürfen die Augen wieder aufmachen, wir drehen sie jetzt und dann kommt das gleiche Prozedere nochmals an ihrer Körperrückseite, aber seien sie versichert-das ist gut, sogar sehr gut!“ denn das zeigte tatsächlich, dass da noch was war und der Nervenstrang im Inneren der Wirbelsäule durchaus zumindest teilweise noch elektrische Impulse weiterleitete.

    Sehr vorsichtig drehten nun erfahrene Hände Ben um, der Professor prüfte den Verband von außen, er war ein wenig durchgeschlagen, aber das meiste Blut und Wundsekret wurden durch die Drainagen abgeleitet, die auch alle noch korrekt lagen. Also war ein Hämatom als Ursache für die schlimmen Schmerzen auszuschließen. Wieder betastete und befühlte man Ben, kniff ihn, fuhr mit Eisstückchen über seinen Po und seine Beine, Waden und Füße und konnte auch da wieder minimale Empfindungen hervorrufen. Semir hatte gespannt zugesehen, nur als der Arzt nun einen zweiten Handschuh anzog, den Zeigefinger mit Vaseline bestrich und Ben rektal untersuchte, um den Sphinktertonus zu ertasten, wandte er den Kopf beiseite und sah auf Ben´s Gesicht, der mit Schmerzfalten auf der Stirn, aber trotzdem konzentriert in sich hinein horchte. Auch da war ein Restempfinden vorhanden und als nun der Arzt , nachdem er die Untersuchung beendet hatte, nochmals genau nach der Art des Schmerzes fragte, der dumpf und bohrend, manchmal stechend war, drehte man Ben wieder zurück und der Professor sagte, während er seine Hände nach dem Ausziehen der Handschuhe desinfizierte: „Herr Jäger, ich denke für ihre schlimmen Schmerzen sind geschwollene Nerven verantwortlich. Sie bekommen jetzt für drei Tage hochdosiert ein spezielles Cortison, das die Abschwellung fördern soll. Ich hätte zwar gerne darauf verzichtet, weil Cortison leider als Nebeneffekt die Immunabwehr schwächt und alles was wir nicht brauchen können, jetzt eine Wundinfektion ist, aber für drei Tage ist das zu verantworten und außerdem werden sie sich dann auch besser fühlen, vielleicht ein bisschen was essen können und so leichter mit ihrer Situation zurecht kommen!“ erklärte er, denn wie man wusste, wirkte Cortison in hohen Dosen auch euphorisierend und appetitanregend und das war der Heilung ebenfalls förderlich, wenn Ben Vitamine und Mineralstoffe zu sich nahm.
    So bekam die Schwester die Anordnung, der Professor verabschiedete sich und wenig später hatte sie 2g Ultralan aus dem Kühlschrank genommen und aufgelöst und nach ein paar Minuten tropfte das hochpotente Mittel langsam als Kurzinfusion via ZVK in Ben.
    Der lag nun wieder, mit den Händen zu Fäusten geballt, auf dem Rücken und immer wieder bahnte sich eine vereinzelte Träne den Weg zwischen den zusammen gepressten Lidern. Es tat Semir so leid, seinen Freund so daliegen zu sehen, aber mehr als einfach nur da zu sein, konnte er persönlich nicht machen.
    Inzwischen war es bereits später Nachmittag und Sarah wartete sicher schon sehnsüchtig auf eine Nachricht von ihm. Außerdem musste Semir langsam mal zur Toilette, aber er verkniff es sich, denn er wollte seinen besten Freund einfach jetzt nicht alleine lassen. Irgendwann bemerkte er, dass die Miene des jungen Polizisten nicht mehr so verkniffen war, der Druck seiner Hand löste sich minimal und wenig später verrieten ruhige Atemzüge, dass Ben eingeschlafen war. In der Pflege hatte schon vor geraumer Zeit ein Schichtwechsel stattgefunden, aber die neue Schwester war ebenfalls nett und besorgt und strahlte eine große wohltuende Kompetenz aus. Auch sie hatte Semir zwischendurch einen Kaffee und Wasser gebracht, aber keine Anstalten gemacht, ihn hinaus zu schicken. Als Semir sich nun leise erhob, erhaschte er ihren Blick und sie legte den Finger auf die Lippen und winkte ihn nach draußen. „Er schläft, das ist gut, es zeigt uns, dass das Cortison wirkt!“ sagte sie und Semir fragte sie, ob sie bereit wäre, nachher mit Sarah am Telefon zu sprechen. „Ich werde sie jetzt kurz informieren, aber ich denke, sie können die detailliertere Auskunft geben!“ sagte er und mit einem Lächeln stimmte die Pflegekraft zu, die bei der Übergabe natürlich über alle Einzelheiten informiert worden war. So verließ Semir kurz die Intensiv, ging erst zur Toilette und stellte fest, dass sogar er jetzt Kreuzschmerzen vom verspannten Sitzen hatte, aber das war vermutlich ein Klacks, gegen das, was Ben auszuhalten hatte.

    Wenig später war Sarah am Apparat und Semir war froh darüber, dass er jetzt nicht ständig Jenni belästigen musste, wenn er mit Ben´s Frau Kontakt halten wollte. Sarah und alle anderen waren erst kurz zuvor aufgewacht-die vorige schlaflose Nacht hatte ihren Tribut gefordert. Das würde zwar mit Tim später lustig werden, denn der war dann vermutlich nicht mehr müde, aber das war jetzt egal, dann machten sie eben die Nacht zum Tage und wechselten sich ab, Hauptsache Mia-Sophie ging es besser und die futterte gerade mit Appetit einen Brei, nachdem der erste Schmerz weg und das Fieber gesunken war. „Semir-wie geht es ihm?“ fragte Sarah voller Besorgnis und Semir erzählte in kurzen Worten, ohne etwas zu beschönigen, von seinem und Ben´s Nachmittag. Sarah würde es sowieso erfahren, es war sinnlos ihr zur Schonung etwas verheimlichen zu wollen. „Mein armer Ben!“ sagte sie voller Kummer, aber als Semir beteuerte, dass Ben jetzt friedlich schlief, war sie doch etwas beruhigt. Als er wieder auf die Station zurück ging, rief die Schwester höchstpersönlich Sarah auf dem Handy an und von Fachfrau zu Fachfrau wurden erneut wieder Detailinformationen ausgetauscht, die Laien gar nicht verstehen konnten. Ben schlief weiter und nun setzte sich Semir endlich einmal bequem hin und man hatte ihm inzwischen auch einen anderen, gepolsterten Stuhl neben das Bett seines Freundes gefahren, auf dem er sich jetzt zurück lehnte und bis er sich versah, ebenfalls ein wenig eingenickt war.


    Klaus war inzwischen ins Haus zurück gekehrt, hatte mit Hartmut eine Fertigpizza in den Ofen geworfen und erzählt, dass sein Tag heute ereignislos verlaufen war. Im Gegenzug bekam er die Information, dass es seiner Frau gut ging, denn Hartmut hatte natürlich mit Jenni gesprochen. „Mein Handy ist immer noch da, dabei habe ich es extra so in die Jackentasche gesteckt, dass man es sehen konnte, aber die Verbrecher wissen ja nicht, dass ich die Pläne schon habe-mal sehen was morgen so abgeht!“ sagte er und nun überkam ihn eine große Müdigkeit. Er hatte seit drei Nächten nur stundenweise geschlafen und lag so wenig später in seinem Bett und war eingenickt, nicht ohne allerdings vorher sehnsüchtig über Corinna´s leere Bettseite gestrichen zu haben. „Ich vermisse dich mein Schatz, aber unsere Flitterwochen holen wir nach, versprochen!“ flüsterte er, aber dann war die Erschöpfung stärker als alles andere und sein Körper holte sich den Schlaf, den er brauchte.

  • Semir erwachte nach einer Weile, weil er spürte, dass ihn jemand ansah. Er schreckte hoch und brauchte eine Weile, um zu begreifen, wo er war. Er fühlte sich wie gerädert, denn er war völlig schief in dem Stuhl gehangen, aber als sein besorgter Blick dann auf Ben fiel, hatte der den Kopf zur Seite gedreht und grinste ihn an: „Du schnarchst sogar im Sitzen!“ bemerkte er dann respektlos und nun musste auch Semir lachen. Er war wie befreit. Ben hatte anscheinend keine, oder wenig Schmerzen und er konnte sogar schon wieder spotten. Sein Blick fiel auf die große Uhr, die an der Wand des Intensivzimmers hing. Es war neunzehn Uhr. „Wie geht´s dir?“ fragte er und Ben zuckte mit den Schultern. „Ich weiss nicht so genau, auf jeden Fall sind die Schmerzen nicht mehr so schlimm und vielleicht gibt’s ja doch noch Hoffnung-und außerdem habe ich Hunger und Durst!“ antwortete er und wie als ob sie das geahnt hätte, kam die Schwester in diesem Moment mit einem Tablett zur Tür herein, auf dem mehrere Schüsseln und Becher standen.
    „Ich habs gehört, Herr Jäger-da muss ich ihnen beiden ja gleich was bringen, nicht dass sie hinterher in Köln erzählen, in bayerischen Krankenhäusern muss man verhungern!“ sagte sie freundlich und holte dann ein Handtuch, das sie Ben über die Brust legte, um das Bett zu schützen. „So-ich würde erst einmal probieren, ob sie Wasser vertragen und wenn das klappt, habe ich hier eine Tomatensuppe mit einer Semmel-ach so-bei ihnen heißt das ja Brötchen!“ erklärte sie, während sie Ben auch schon vorsichtig einen Schluck aus einem Schnabelbecher, in den sie ein Trinkröhrchen gesteckt hatte, anbot. Ben nahm ein paar große Züge, ohne sich zu verschlucken und als er auf die Frage, ob ihm schlecht würde nur den Kopf schüttelte, nahm sie den zweiten Becher, in den sie Suppe gefüllt hatte und bot ihn ihrem Patienten an. „Das Brötchen können sie selber in die Hand nehmen und abbeißen!“ sagte sie und Ben, dem die Suppe ausgesprochen gut schmeckte, nickte und griff danach. „Lassen sie-ich mach das schon!“ mischte sich nun Semir ein, der aufmerksam beobachtet hatte, wie er seinem Freund beim Essen helfen konnte. „Dankeschön!“ erwiderte die Pflegerin in ihrer brombeerfarbenen Intensivkleidung mit den antibakteriellen Silberfäden darin und trat zur Seite. „Herr Gerkhan-wie sie sehen, steht auf diesem Tablett viel zu viel Suppe für eine Person und Semmeln-äh Brötchen- haben wir auch genug, greifen sie ebenfalls zu-da ist auch ein Löffel, ich komme später wieder und räume das Tablett ab!“ sagte sie freundlich und Semir bedankte sich. So schmausten Ben und er gemeinsam und Semir musste auch feststellen, dass die Suppe ausgesprochen schmackhaft war.
    „Als du geschlafen hast, habe ich mit Sarah telefoniert, Mia-Sophie geht es schon ein wenig besser, sie hat eine Ohrenentzündung und kriegt jetzt Medikamente, vielleicht kannst du nachher selber noch mit deiner Frau sprechen, falls die Schwester uns ein Telefon zur Verfügung stellt!“ erzählte er und Ben, dem die Welt nun schon nicht mehr so trüb und aussichtslos erschien, nickte. Als sie ihre Mahlzeit beendet hatten, stellte Semir fest, dass das Handtuch keine so schlechte Idee gewesen war, denn Ben sah aus wie ein Vampir mit roten Spuren von der Suppe im Gesicht und schmunzelnd versuchte er, ihn mit einem feuchten Papiertaschentuch zu reinigen, wovon etwa die Hälfte dann in Ben´s Dreitagebart hängenblieb. „Na um Himmels Willen-wie sehen sie denn aus!“ lachte dann auch die Schwester, die nun das Tablett holen wollte und mit einem normalen Waschlappen beseitigte sie das Malheur. „Wollen sie vor der Nacht noch ihre Zähne putzen?“ fragte sie Ben und der nickte erfreut-das war eine super Idee-wie lange war es her, seit er zum letzten Mal eine Zahnbürste in der Hand gehabt hatte? Auch das war im Liegen zwar eine Herausforderung, aber mit Unterstützung klappte es und danach wurde Ben dann noch von seiner betreuenden Schwester und einem netten Pfleger frisch gebettet und wieder ein Keil unter die Matratze geschoben, damit er sich nicht wund lag.

    Semir brachte sein Anliegen vor und wenig später konnte Ben sich tatsächlich zum ersten Mal seit seiner Entführung mit Sarah unterhalten, die heilfroh war, als sie seine Stimme hörte. „Schatz-wir kriegen das gemeinsam hin, du bist von dem Professor gut versorgt und meine Kollegen dort in Donauwörth sind auch total nett und entgegenkommend, ich merke, dass du da in guten Händen bist.“ munterte sie ihn weiter auf und die Welt erschien nun Ben auch nicht mehr so grau und hoffnungslos. Aber das Highlight war dann noch, als zu späterer Stunde niemand Semir hinaus warf, sondern die Nachtschwester ihn bei der Schichtübergabe fragte, ob er über Nacht dableiben wolle, woraufhin Semir und Ben eifrig nickten. Ben hätte durchaus auch alleine bleiben können, aber so war es trotzdem besser und das Intensivpflegepersonal war von Sarah darum gebeten worden, mit dem diskreten Hinweis, dass das an der Kölner Uniklinik überhaupt kein Problem sei und da wollte man in Nordschwaben dann natürlich nicht nachstehen. So bekam Semir einen bequemen Mobilisationsstuhl herein gerollt, dazu eine Decke und ein Kissen und nachdem er draußen noch kurz mit Hartmut telefoniert hatte, der aber auch nichts Neues wusste und sich dann ebenfalls im Waschraum ein wenig frisch gemacht hatte, legte er sich nun neben seinen Freund und nachdem beim letzten Durchgang noch die Infusionen ausgetauscht worden waren, die Blutgase kontrolliert und Ben ein letztes Mal gelagert war, wurde das Licht gelöscht und langsam senkte sich Ruhe über die Abteilung. Die Geräusche dort waren auch nicht anders als auf jeder Intensivstation der Welt und wenig später waren Ben und Semir eingeschlafen.


    Der Scheich hatte kurz mit seinem Gehilfen telefoniert, der gerade beim Überwacher im Wagen mit den getönten Scheiben saß und dem etwas zu essen und zu trinken gebracht hatte. „Unser Zielobjekt ist jetzt zuhause und befindet sich mit seiner Frau im Gebäude, ich denke nicht, dass er vor hat abzuhauen, sonst hätte er das wohl schon lange gemacht!“ teilte Klaus` Schatten ihm mit. „Mein Freund im Wagen, der die Überwachung durchführt, ist todmüde und würde gerne selber ins Bett gehen!“ fügte er noch hinzu, aber der Araber keifte nur scharf ins Telefon: „Das kümmert mich nicht, ob ein anderer müde ist oder Blähungen hat-er soll die Überwachung fortsetzen und du nimmst morgen das Handy an dich und übergibst es an uns, da bekommst du auch schon einen Teil der Bezahlung. Am Donnerstag steckst du es zurück und dann werde ich dir sagen, ob wir deine Hilfe noch brauchen, oder nicht mehr. Erst wenn die Pläne in meiner Hand sind und wir uns auf dem Weg zum Flughafen befinden, bekommst du die ganze Kohle, keine Sekunde früher und dein Komplize soll sich nicht so anstellen!“ sagte er drohend und nun schwieg sein Gegenüber still. Es war eine Menge Geld um das es hier ging und so kamen sie, nachdem er aufgelegt hatte, überein, dass er die erste Nachthälfte übernehmen würde, sein Kumpan derweil nach Hause fahren und sich frisch machen würde und ab zwei würde der wieder die Bewachung fortsetzen und ihm noch ein paar Stunden Ruhe gönnen. Wenig später waren auch alle Lichter im Haus erloschen und die Stille senkte sich über die Siedlung, nur ein Käuzchen rief ab und zu.


    Am nächsten Morgen frühstückten Klaus und Hartmut miteinander, der Techniker würde heute wieder zum Kongress fahren, ansonsten würde es vielleicht Ärger mit der Obrigkeit in Köln geben, denn die Teilnahme kostete natürlich so einiges und so machten sie es wieder wie beim letzten Mal-Hartmut verbarg sich in Klaus´ Geländewagen, stieg bei Josef und seiner Frau aus und fuhr dann mit Semir´s BMW weiter nach Augsburg.
    Klaus ging wie gewohnt zur Arbeit, hatte das Handy relativ offensichtlich in der Jackentasche und versuchte die ganze Zeit heraus zu finden, welcher seiner Kollegen wohl der Maulwurf war. Als er am späten Vormittag einmal wieder kontrollierend in seine Tasche griff, war das Handy weg und er hatte überhaupt nicht gemerkt, wie das geschehen war. Der Verbrecher und ehemalige Schulkamerad von Klaus, der gerade mit einem Servicewagen die Handtücher und Toilettenpapierrollen in den Waschräumen aufgefüllt hatte, strich sich zufrieden über die Latzhose wo das kostbare Teil nun versteckt war. Seine Karriere als Taschendieb, womit er seine kriminelle Laufbahn begonnen hatte, hatte sich nicht zum ersten Mal bezahlt gemacht. An einem stillen Ort kontrollierte er das Handy, das auch nicht mit einem Code gesperrt war und tatsächlich-die Pläne für den Hubschrauber befanden sich darauf, was er dem Scheich sofort mitteilte. „Du kommst jetzt gleich an den Platz, den wir ausgemacht haben und übergibst uns das Handy- die Überwachung des Hauses wird weiter aufrecht erhalten!“ befahl er kalt, denn sobald er die Pläne hatte, würde er sich die blonde Frau schnappen und dann würden sie via Frankfurt direkt in die Heimat fliegen. Dass sie weder vor hatten, ihre Komplizen auszuzahlen, noch das Handy zurück zu geben, musste ja niemand wissen. Sobald er das Handy hatte, würde er den Dieb erledigen und den Zweiten, wenn sie die Frau aus dem Haus holten.


    So meldete sich der Servicemitarbeiter wegen akuter Übelkeit krank und verließ wenig später-freundlich gegrüßt vom Sicherheitsdienst-mit dem kostbaren Handy in der Tasche die riesige Firma. Er fuhr direkt zu dem Wasserspeicher am Waldrand, nahe Leitheim, den sie als Übergabeort vereinbart hatten. Dort war ein Wanderparkplatz, wo hin und wieder Spaziergänger parkten, aber ansonsten war hier normalerweise keine Menschenseele. Der Mietwagen der Scheichs stand schon dort und der junge Mann ging schnurstracks zu der Holzhütte mit den Sitzbänken, die mit einem Grillplatz davor, auch bei schlechtem Wetter zum Verweilen einlud. Erwartungsvoll übergab er das Handy und der eine der beiden Araber kontrollierte, ob die gewünschten Pläne sich darauf befanden, was aber stimmte. „So-nun sollst du deinen verdienten Lohn bekommen!“ sagte dann der andere und griff in die Brusttasche seiner Anzugjacke. Voller Vorfreude erwartete der Taschendieb den ersten Umschlag, der ihm und seinen Freunden die nächsten Jahre ein sorgenfreies Leben ermöglichen sollte, aber stattdessen holte der Scheich eine Waffe hervor, Sekunden später ertönte ein Knall und der Dieb brach mit einem verständnislosen Gesichtsausdruck tot zusammen. Die beiden Männer schleiften die Leiche in das dichte Gebüsch hinter der Hütte, setzten sich dann in ihren Wagen und brausten davon, um sich nun als Nächstes Corinna zu holen, als plötzlich auf dem Handy eine WhatApp-Nachricht einging.

  • Zwei Reiterinnen waren mit ihren Pferden und einem Hund durch die Wälder in der Nähe des Wasserspeichers unterwegs, als sie plötzlich einen Schuss hörten. „Verdammt-jetzt jagen die schon mitten am Vormittag!“ sagte die eine der beiden und rief ihren Golden Retriever bei Fuß, der daraufhin brav direkt neben dem Pferd her trottete. Die Pferde hatten sich durch den Knall nicht beirren lassen, die beiden Frauen hörten ein Auto abfahren, aber vor einem Gebüsch in der Nähe der Wanderhütte begannen die Tiere aufgeregt zu schnauben und zu tänzeln, der Goldie steckte seine Nase in den Wind, witterte gründlich und wartete bloß auf die Erlaubnis auf Spur gehen zu dürfen, was ihm aber versagt wurde, denn in diesem Augenblick hatten die beiden Frauen den Umriss eines menschlichen Körpers entdeckt. Die eine sprang behände vom Pferd, drückte die Zügel der anderen Reiterin in die Hand, legte den Hund ab und wenige Sekunden später kehrte sie mit blassem Gesichtsausdruck vom Gebüsch auf den Weg zurück und zückte ihr Handy. „Da drin liegt ein Toter!“ sagte sie tonlos und schon war die 110 gewählt und die Polizeiroutine lief an.


    Corinna hatte erst einmal die halbe Nacht damit verbracht, Tim zu beschäftigen, der nach dem ausgedehnten Mittagsschlaf jetzt zu Höchstform auflief. Er war wild und tobte mit ihr durch die Schutzwohnung, während Sarah sich mehr um die immer noch kränkelnde und weinerliche Mia-Sophie kümmerte und sehr froh über die Unterstützung ihrer Cousine war. Zuhause hätte Ben jetzt seinen Sohn übernommen und wilde Jungenspiele mit ihm gespielt. Ob das wohl noch ging, wenn Ben in Zukunft auf den Rollstuhl angewiesen war? Sie würden ihr Leben vermutlich komplett umstellen müssen, wenn er aus der Klinik kam, aber sie alle würden lernen, damit zurecht zu kommen, da war sich Sarah ganz sicher und gerade Kinder gingen mit sowas ja sehr unkompliziert und pragmatisch um. Und eine kleine Resthoffnung blieb ja doch, dass Alles nicht so schlimm war, aber die verbot sich Sarah gerade. Wenn man jetzt vom Schlimmsten ausging, konnte man nur positiv überrascht werden. Der erste Schritt war geschafft, Ben war operiert, er lebte und das war das Wichtigste. Sie hatte mit ihm sprechen können, Semir war bei ihm, das war schon mal was, auch wenn sie eine furchtbare Sehnsucht nach ihrem geliebten Mann hatte!
    In der Nacht bekam das Baby dann auch noch starken Durchfall, vermutlich aufs Antibiotikum und Sarah kam vor lauter Wickeln kaum mehr nach-oh je, da würden sie am nächsten Tag nochmals zum Kinderarzt müssen und sich weitere Medikamente holen. Irgendwann so gegen zwei fielen dann alle in einen Erschöpfungsschlaf und erwachten erst so gegen neun. Auf dem alten Handy war eine Nachricht von Semir, dass Ben die Nacht gut verbracht hatte und so bemühte sich Sarah, noch während sie frühstückten, um einen erneuten Termin beim Kinderarzt, verständigte dann Jenni und die versprach, pünktlich um 10.30 Uhr bei ihnen zu sein und wieder die Fahrt zu übernehmen.

    So war kurz nach zehn Corinna alleine in der Wohnung und jetzt hielt sie es einfach nicht mehr aus. Wenn sie Klaus eine kurze Mitteilung, nein besser ein Video, auf sein Handy schickte, würde es schon nicht so schlimm sein, sie verging einfach vor Sehnsucht nach ihm und wenn sie auch nur eine kurze Antwort bekam, dass es ihm gut ging, wäre sie schon zufrieden. Um diese Zeit machte er meistens eine Kaffeepause und da mailten sie öfter mal miteinander oder schickten sich liebevolle Grüße und Bilder über WhatsApp und er konnte das ja danach sofort löschen. So nahm sie das Handy, schaute, ob das Licht passte und drehte dann ein kurzes Selfie von sich. „Mein lieber Schatz, ich vermisse dich und hoffe, dir geht es gut! Unsere Flitterwochen habe ich mir anders vorgestellt, aber vielleicht können wir uns schon bald wieder in die Arme schließen!“ sagte sie in die Kamera, formte zum Abschied einen Kussmund und drückte dann ohne lange nachzudenken auf „Senden“.


    Der Scheich nahm neugierig das Handy zur Hand, gerade war eine Whats App-Nachricht eingegangen, die er, ohne sich zu genieren, öffnete. Ihn scherte die Privatsphäre anderer Menschen einen Dreck, sein einziges Lebensziel war die Befriedigung seiner eigenen Bedürfnisse und die Vermehrung von Macht und Einfluss, so war er schon von klein auf erzogen worden. Als er das Video angesehen hatte, pfiff er durch die Zähne. Als Absender stand „Corinna alt“ darunter, denn Klaus hatte die vorige Nummer seiner Frau nicht gelöscht, sondern nur die neue hinzu gefügt und jetzt wusste der Scheich, dass die Frau, wenn das Video nicht gefaked war, wohl nicht in dem Haus in Mündling anzutreffen war. Dennoch fuhren sie in aller Ruhe erst zum Hotel, ließen sich ihre Koffer, die sie schnell gepackt hatten-etwas was sie zuhause vom Personal würden erledigen lassen-zum Wagen bringen, checkten aus und machten sich erst dann auf den Weg. Sie hatten das Handy aufgemacht und nachgesehen, ob da irgendeine Wanze darin versteckt war, aber zu ihrer Befriedigung war es sauber und in Windeseile hatten sie zuvor im Hotelzimmer die Pläne erst auf einen Laptop gezogen und dann auf zwei USB-Sticks gesichert, von denen jeder der beiden jetzt einen am Mann trug. Auf dem Handy hatten sie sie dann gelöscht. Via Satellitenbild hatten sie dank Google Maps noch eine weitere Information erhalten und als sie jetzt vom Hotelparkplatz fuhren und nach links auf die Donautalstraße abbogen, kamen ihnen eine ganze Menge an Polizeifahrzeugen mit Blaulicht entgegen-so wie es aussah, war die Leiche schon gefunden worden. Allerdings behelligte sie niemand und so waren sie kurze Zeit später auf dem Weg Richtung Köln, denn wenn ein Scheich etwas haben wollte, dann bekam er es-so war er aufgewachsen! Das Handy wurde kurze Zeit später an einem Rastplatz im Mülleimer entsorgt, nicht dass da doch noch jemand auf die Idee kam es zu orten und das Versprechen eines Scheichs einem Ungläubigen gegenüber galt sowieso nicht!


    Ben hatte gut geschlafen, aber die betreuende Pflegekraft war am Morgen mit den Blutgasen nicht sonderlich zufrieden. Allerdings wurde Ben jetzt erst einmal von der Frühschicht, in der ihn ein älterer Pfleger übernahm, gründlich gewaschen und aß danach auch sein Frühstück, wobei ihm sein Freund half, der selber aber erst einmal nur einen Kaffee trank. Semir war so schlau gewesen, Hartmut zu bitten, ihm doch frische Klamotten und Toilettenartikel an der Pforte zu hinterlegen, wenn er nach Augsburg fuhr, das war nämlich kein Umweg und Semir hatte das Gefühl, allmählich zum Himmel zu stinken. So holte er sich danach die kleine Tasche, die dort für ihn bereit stand, ging in aller Ruhe Duschen, Umziehen und in ein Cafe in der Nähe der Klinik Frühstücken und kehrte erst dann zu Ben zurück. Der war ja schließlich kein Baby mehr, kam auch mal eine Weile ohne ihn zurecht und war außerdem immer noch erstaunlich guter Dinge. Auch telefonierte der kleine Polizist mit Andrea, schrieb Sarah eine Nachricht und sprach auch mit der Chefin und informierte sie persönlich über die neuesten Entwicklungen. Mit einem Packen lieber Grüße von Allen kehrte er ganz optimistisch dann zu Ben zurück und erschrak fürchterlich, als er das Intensivzimmer nun betrat.

  • Ben lag mit furchtsamem Gesichtsausdruck da, das Zimmer war leicht verdunkelt und zwei Ärzte, sein betreuender Pfleger und eine weitere Schwester, die gerade ein Ultraschallgerät einsteckte, wuselten um ihn herum. Die Decke war ans Fußende zurück geschlagen, Ben war entblößt und auf den zweiten Blick sah Semir nun auch, was das medizinische Personal wohl so in Aufregung versetzte. Ben´s Bein, das den Verband in der Leiste trug, war auf das Doppelte seines üblichen Umfangs angeschwollen. Das war vor zwei Stunden, als er gewaschen worden war, mit Sicherheit noch nicht so gewesen, das konnte Semir bestätigen. Die Schwester warf einen Blick zur Tür: „Wenn sie bitte draußen warten würden!“ bat sie streng, aber nun kam Leben in Ben, der jetzt seinen Freund ebenfalls erspäht hatte. „Nein-Semir komm zu mir-ich brauch dich jetzt!“ rief er mit dünner angstvoller Stimme, denn die Hektik um ihn herum machte ihm Angst und Semir ließ sich auch nicht fortschicken, sondern war mit ein paar Schritten bei seinem Freund und griff nach dessen eiskalter Hand. „Ben ich bin da und gehe auch nicht weg!“ sagte er mit fester Stimme und straffte seinen Rücken, aber jetzt wollte ihn auch niemand mehr weghaben, wenn der Patient seine Anwesenheit wünschte, dann war das ok.


    Der eine der Ärzte-er wirkte sehr souverän und war so um die fünfzig-hatte derweil Ultraschallgel auf Ben´s Bein und weiter oben aufgetragen. Freundlich begann er zu erklären, was er machte, während sich der Schallkopf systematisch zunächst über Ben´s Unter-und Oberschenkel und dann die Leiste zum Bauch nach oben bewegte. „Ich suche jetzt nach Thromben, denn die Ursache für so eine plötzliche Schwellung könnte durchaus in einer Thrombose liegen und das wäre aktuell eine Komplikation, die wir nicht so gerne hätten, weil wir ihnen keine Blutverdünnung geben können!“ sagte er und hatte an seinem Gerät nun durch einige Knopfdrücke einen Ton hervorgerufen, der die Strömungsverhältnisse in den Gefäßen akustisch anzeigte. Er kontrollierte die Arterien und die Venen, löste dann vorsichtig den Verband in der Leiste und zog einen sterilen Überzug über den Schallkopf, damit er die Wunde nicht kontaminierte. „Als er damit auf die Leiste drückte, stöhnte Ben auf und der Untersucher sah jetzt überrascht auf seinen Patienten: „Tut das weh?“ fragte er und als Ben nickte, fuhr ein Lächeln über das Gesicht des Arztes. „Normalerweise gefällt es mir ja nicht, wenn ich bei einem Patienten durch meine Untersuchung Schmerzen verursache, aber in ihrem speziellen Fall freue ich mich darüber!“ bemerkte er und widmete sich nun konzentriert den Leistengefäßen, aber auch da war kein Gerinnsel nachweisbar, genauso wenig wie weiter oben im kleinen Becken. Er schallte hinauf bis zur unteren Hohlvene, verschaffte sich noch einen Überblick über die Bauchorgane, wischte dann das Ultraschallgel ab und gab Entwarnung. „Also Herr Jäger-falscher Alarm, aber lieber einmal zu viel, als etwas übersehen. Wenn ich einen Thrombus gefunden hätte, hätten wir sie verlegen müssen, aber dem ist Gott sei Dank nicht so. Die Schwellung ist sicher ein Symptom des venösen Rückstaus, das Abflusssystem ist vermutlich durch die Unterbindung einer Leistenvene ziemlich gestört und wir werden deshalb ihr Bein jetzt wickeln, um eine Kompression von außen zu bewirken, denn ich kann sie jetzt leider nicht auffordern viel herum zu gehen.“ erklärte er.
    Was er verschwieg war die Tatsache, dass man das bei Querschnittgelähmten nicht gerne machte, weil sie ja nicht merkten, wenn der Verband drückte, aber man musste den eben dann regelmäßig abnehmen und den Patienten auf Druckstellen und Durchblutungsstörungen untersuchen. „Immerhin ist die Sensibilität nicht komplett weg und es macht Hoffnung, dass sie überhaupt bemerkt haben, wie ich ihre Leiste untersucht habe!“ fügte er noch hinzu und der Pfleger hatte derweil erst das Licht angemacht und dann einen neuen Sterilverband auf die Leistenwunde geklebt. Gemeinsam mit der Schwester wickelte er nun einen gepolsterten Kompressionsverband ums komplette Bein von unten nach oben, um den venösen Rückfluss zu unterstützen und Semir und Ben hatten beide erleichtert aufgeatmet.


    „Ach ja-und die Dickdarmschlingen sehen ziemlich gefüllt und aufgegast aus, ich würde ihn konsequent abführen, bevor man die Cages von ventral einsetzt, das geht jetzt sicher einfacher als hinterher!“ fügte der internistische Oberarzt, als der er sich bei Ben vorgestellt hatte, an die Pflegekräfte gewandt, noch hinzu und jetzt wurde Ben wieder blass-oh nein-nicht das auch noch! Allerdings hatte er keine Chance, denn sobald die Pflegekräfte den Verband fertig hatten, gaben sie ihm erst oral ein paar Abführtropfen, die er auch brav schluckte und dann drehten sie ihn noch zur Seite, legten eine Einmalunterlage unter ihn und machten ihm ein Klistier. „Und wie soll das jetzt gehen?“ fragte Ben kleinlaut. Erstens merkte er nicht so richtig, ob und wann er aufs Klo musste und zweitens konnte er ja nicht raus. „Herr Jäger-das ist bei allen Patienten, die eine derartige Verletzung haben so-sie lassen den Stuhlgang-ob sie es merken oder nicht- einfach auf die Einmalunterlage und wir machen sie dann sauber!“ antwortete der Pfleger auf seine Frage, während er die Decke wieder über ihn breitete. „Na klasse!“ weinte Ben nun fast, während die Pflegekräfte den Raum wieder verließen, das Deckenlicht löschten und die Verdunklungsvorhänge öffneten. „Das war jetzt sozusagen die Aufforderung ins Bett zu kacken-Semir ich will hier weg, warum hast du mich nicht sterben lassen, ich hätte es jetzt schon hinter mir und diese Peinlichkeit wäre mir erspart geblieben, wenn du mich nicht gefunden hättest!“ schluchzte er und wollte Semir nun ebenfalls raus schicken, denn es war ihm alles nur noch peinlich und zu viel und außerdem roch es seiner Meinung nach schon unangenehm im Zimmer-oh Gott.
    Semir schüttelte den Kopf: „Ben, jetzt werd nicht panisch-sieh mal auch dieser andere Arzt hat das als gutes Zeichen gesehen, dass du da unten schon manchmal Schmerzen hast. Alles andere sind normale Körperfunktionen und du findest es ja auch nicht schlimm, wenn du die Windeln deiner Kinder wechselst-ich habe das bei meinen Töchtern ja früher auch gemacht, das hier ist doch nichts anderes!“ versuchte er ihn zu beruhigen, aber es dauerte lange, bis Ben zu schluchzen aufhörte. Nach einer Weile kamen die beiden Pflegepersonen wieder, um ihren Patienten frisch zu machen, schickten Semir allerdings jetzt raus und nun ging er auch kurz vor die Tür, denn erstens wusste er, dass es für Ben dann weniger schlimm war und außerdem musste er auch einmal sein Handy kontrollieren.


    Klaus hatte-wie ihm aufgetragen war- sofort von seinem Firmenfestnetztelefon in der PASt direkt bei Susanne angerufen, so war es ausgemacht. Die schickte gleich Semir und Hartmut eine Nachricht aufs Handy und als Semir so gegen 10.00 Uhr nach draußen ging, erfuhr er, dass das Spiel begonnen hatte. Allerdings konnte er jetzt auch nichts tun und sie waren im Vorfeld überein gekommen, das Handy momentan nicht zu orten zu versuchen. Man wusste nicht, über welche technischen Möglichkeiten die Verbrecher verfügten und man wollte Klaus nicht in Gefahr bringen. Allerdings war Semir betrübt, dass Klaus nicht hatte herausfinden können, wer ihm das Handy entwendet hatte-das war seine große Hoffnung gewesen. Ben hatte in der Nacht die Übeltäter zwar verfolgt und auch aus der Nähe gesehen, aber, vermutlich durch den Schlag auf den Kopf, konnte er sich an deren Gesichter nur noch schemenhaft erinnern, wie Semir bereits erfragt hatte. Allerdings hatte sich Susanne bereits daran gemacht, alles über den Verbrecher heraus zu finden, der immer noch in Nördlingen auf der Intensiv um sein Leben kämpfte und hatte schon einige interessante Details entdeckt, denen Semir nachgehen könnte, wenn er denn Zeit dazu fand. Allerdings hatte jeder Verständnis dafür, dass Ben jetzt vor ging.


    Semir ging zurück auf die Intensiv, als er allerdings das nächste Mal nach draußen musste, weil Ben erneut abgeführt hatte-es war jetzt 10.45 Uhr, war gerade die Nachricht über den Leichenfund nahe Donauwörth als Meldung auf Susanne´s Bildschirm gelandet. Obwohl sie noch nichts Näheres darüber wusste, schickte sie gleich nochmals zwei Nachrichten und jetzt hielt Hartmut nichts mehr auf dem Seminar in Augsburg-das waren der Zufälle zu viel, in der beschaulichen Provinz gabs normalerweise kaum Kapitalverbrechen und so schrieb er Semir: „Ich komme sofort vom Seminar zurück und zu euch ins Krankenhaus, da überlegen wir, was wir weiter übernehmen!“ und als Semir das las, musste er Hartmut zustimmen-Ben musste jetzt vermutlich ein wenig ohne ihn auskommen, er war aktuell stabil und sie hatten einen Fall zu lösen. Als er wieder zu seinem Freund zurück kam, überlegte er erst, ob er ihm die Nachrichten vorenthalten sollte und eine Ausrede erfinden, aber dann erzählte er ihm doch davon und jetzt kannte auch Ben kein Halten mehr: „Semir-mir geht es gerade ganz gut, außerdem ist es mir sowieso lieber, ich bin alleine, wenn ich ständig aufs Klo muss. Du schnappst dir jetzt an meiner statt die Schweine, die für das Ganze hier verantwortlich sind, ich will die im Knast sehen!“ sagte er entschlossen und mit blitzenden Augen. Ach wie gerne wäre er jetzt mit Semir los gezogen, statt dessen lag er hier als Krüppel in diesem verdammten Bett, aber es war gerade nicht zu ändern.
    So zog Semir wenig später seine Jacke an und als Hartmut kurz vor Mittag mit dem silbernen BMW vor dem Krankenhaus hielt, setzte er sich sogar auf den Beifahrersitz. Hartmut allerdings stieg sofort aus und sagte: „Rutsch rüber-ich will nicht mit deiner Karre fahren, wenn du daneben sitzt, das macht mich nervös!“ und so legte sich wenig später Semir´s Hand fast liebevoll über den Schalthebel und er trat das Gaspedal durch-der Terrier hatte Witterung aufgenommen, er würde den Fall lösen, das war er Ben schuldig!

  • Hartmut ließ sich von Susanne den genauen Ort des Leichenfundes durchgeben und schaltete dann nach kurzem Überlegen das Blaulicht zu. Es dauerte höchstens zehn Minuten, bis sie Richtung Wasserspeicher abbogen. Bereits unten am Zufahrtsweg stand ein Polizeiwagen und wollte ihnen zunächst die Zufahrt versperren, aber als die beiden Beamten, die noch auf das Eintreffen von Spurensicherung und Kriminalpolizei warteten, das Polizeifahrzeug erkannten, winkten sie Semir und seinen rothaarigen Begleiter durch, ohne die Dienstausweise zu kontrollieren. „Hast du ne Ahnung, warum die bei der Kripo jetzt so auswärtige Kennzeichen haben?“ fragte der jüngere Beamte seinen älteren Kollegen, aber der zuckte nur mit den Schultern. „Keine Ahnung, aber das sind vielleicht verdeckte Ermittler!“ vermutete er und sein jüngerer Kollege nickte zustimmend. Ein Tötungsdelikt kam hier ausgesprochen selten vor, klar gab es manchmal Schlägereien, davon auch manchmal mit Todesfolge oder Unglücksfälle, aber das hier sah nach einem eiskalten Mord aus und sowas hatten sie höchstens bei ihrem Großstadteinsatz in Nürnberg oder München, den jeder bayerische Polizist nach seiner Ausbildung absolvieren musste, bevor er sich heimatnah versetzen lassen konnte, zu sehen bekommen. Donauwörth hatte auch selber keinen Kriminaldauerdienst, sondern holte untertags die Dillinger Kollegen dazu, die aber dreißig Kilometer Anfahrt hatten, aktuell aber wesentlich mehr, da die B16 eine sowieso durch den Schwerverkehr sehr belastete Straße, seit Wochen gesperrt war und sich der Ausweichverkehr nun inclusive LKW durch kleine Dörfchen quälte und die schmalen Straßen hoffnungslos verstopfte. Obwohl schon vor Längerem verständigt, waren die Fachleute noch nicht vor Ort –sie waren hinter einem Schwerlastfahrzeug, das eine Havarie hatte, eingekeilt-und die uniformierten Polizisten hatten nur den Leichenfundort abgesperrt und nachgesehen, ob der Mann im Gebüsch auch wirklich tot war, oder man vielleicht doch einen Notarzt brauchte, aber der Schuss in den Kopf hatte seitlich nur ein kleines Einschussloch hinterlassen, aber auf der darüber liegenden Seite fehlte das halbe Schädeldach und Hirnmasse war ausgetreten, hier kam jede Hilfe zu spät.
    Die beiden Reiterinnen, die die Leiche gefunden hatten, waren geschockt abgestiegen und ließen ihre Pferde grasen und der Golden Retriever begrüßte erfreut jeden Neuankömmling-das war eine wundervolle Party hier im Wald mit vielen Streichlern, das gefiel ihm!


    Semir und Hartmut stiegen aus und ein älterer Polizist trat sofort auf ihn zu. „Wir kennen uns noch nicht, aber ich bin sehr froh, dass sie kommen!“ sagte er voller Erleichterung und stellte sich mit Namen und Dienstgrad vor, ohne die Dienstausweise sehen zu wollen. Semir ließ seine Erklärung zu ihrer Anwesenheit stecken und sagte nur: „Kriminalhauptkommissar Gerkhan und mein Kollege Freund, was ist passiert?“ und bekam nun einen langatmigen Bericht, während Hartmut schon seinen Spurensicherungskoffer aus dem Wagen holte und in den Spusianzug schlüpfte. Semir musste innerlich grinsen-wer hätte gedacht, dass Hartmut das ganze Zeug ständig brauchen würde? Seine paar Toilettensachen und die Wechselwäsche hatte er bei Klaus gelassen, so war das momentan nicht sehr auffällig, dass das eigentlich ein Privatkoffer war, aber der Inhalt war ok, da gab es nichts zu meckern!
    Hartmut streckte Semir ein Paar Einmalhandschuhe entgegen, die der auch, nachdem er dem freundlichen Hund den Kopf gestreichelt hatte, sofort anzog und fragte: „Können wir jetzt die Leiche sehen?“ und dann zum Gebüsch geführt wurde. Hartmut zog sein Diensttablet heraus und begann sofort Fotos zu machen und auch Semir betrachtete routiniert den Leichenfundort. Allerdings war der Weg dorthin ziemlich zertrampelt, nicht nur die Schleifspuren, waren in den Himbeeranken zu sehen, sondern die Abdrücke vieler Schuhe und Hartmut seufzte auf-na klasse, da hatten diese Laien ganze Arbeit geleistet. Semir wählte einen neuen Zugangsweg, um keine weiteren Spuren, die Hartmut derweil akribisch zu sichern begann, zu verwischen und war gerade bei dem Toten angekommen, als nun ein weiteres ziviles Einsatzfahrzeug auf den Wanderparkplatz fuhr. Drei Männer stiegen aus und kamen rasch näher. „Wer zum Teufel sind sie?“ fragte der eine der drei, anscheinend der Dienstälteste, teilweise verunsichert und auch fast ein wenig aggressiv, während der Goldie auf ihn zustürmte, um ihn zu begrüßen. Mit einem unwilligen: „ Und was soll der Köter hier?“ scheuchte er den Hund beiseite und hatte schon beinahe ausgeholt, um ihm einen Tritt zu verpassen, als die Besitzerin, die von dieser ganzen schrecklichen Sache ziemlich geschockt war, ihn zu sich rief.

    Semir hatte gerade eine günstige Position gefunden, um den Toten zu betrachten und auch Hartmut hatte gleich ein paar Fotos von dessen Gesicht gemacht, die er Susanne zum Abgleichen schicken würde. Auch das Kennzeichen des einzigen Privatfahrzeugs auf dem Parkplatz hatte er zuvor bereits mit dem Polizeitablet fotografiert und an Susanne geschickt. Noch während Semir seinen Namen und Dienstgrad nannte, kam von Susanne die Identifizierung des Toten auf den Bildern, der zugleich der Halter des Fahrzeugs war. Hartmut hob die Hand und gab die Information weiter und sein Kollege aus Dillingen, der sich ebenfalls gerade in einen weißen Schutzanzug gequetscht hatte, sah überrascht auf. Diese Kollegen aus NRW legten aber ein Tempo vor! Man merkte, dass die mit solchen Situationen vertrauter waren als sie hier, aber nachdem Semir nun in groben Zügen erklärt hatte, was sie hier zu suchen hatten-natürlich ohne ins Detail zu gehen und zu viel zu verraten- versuchte der Einsatzleiter heraus zu finden, was er jetzt tun sollte, denn die Situation überforderte ihn maßlos. Semir bemerkte das und sagte versöhnlich: „Kollege-ich möchte ihnen hier nicht in die Quere kommen, aber es ist anzunehmen, dass dieser Tote vielleicht Teil eines größeren, vielleicht sogar internationalen Falles ist-lassen sie uns vertrauensvoll zusammen arbeiten und ein Beispiel für länderübergreifende Zusammenarbeit geben!“ und das war jetzt ein Zug, auf den der andere Mann, der ebenfalls Kriminalhauptkommissar war, ohne Gesichtsverlust aufspringen konnte und so nickte er.

    Semir hatte nämlich sogleich etwas entdeckt, was ihm eine Verbindung zu Klaus wahrscheinlicher machte. Der Mann trug eine Latzhose und ein dunkelblaues Poloshirt mit einem Firmenemblem und das war dieselbe Firma, bei der auch Klaus arbeitete-vielleicht hatten sie hier schon ihren Maulwurf gefunden? Allerdings hatte es ihm nicht viel gebracht und entweder hatten ihn seine Komplizen umgebracht, oder er war Teil eines viel größeren Plans-wovon eigentlich auszugehen war. „Wir müssen nachsehen, ob der Mann im Besitz eines bestimmten Handys ist!“ erklärte Semir nun und nachdem Hartmut gemeinsam mit seinem bayerischen Kollegen, der ihm ohne jede Feindseligkeit entgegen kam, die Spuren soweit im Kasten hatte, zogen sie die Leiche aus dem Gebüsch und legten den toten Körper auf einer großen Plastikfolie ab, damit auch kein Krümel verloren ging. Semir filzte ihn vorsichtig, aber außer Autoschlüsseln und dem Firmenausweis, der nochmals seine Identität bestätigte, war nichts zu finden, auch nicht Klaus´ Handy, aber das hatte er ja fast erwartet. Allerdings war nun davon auszugehen, dass tatsächlich der oder die Mörder im Besitz des Mobiltelefons waren, jetzt ging es nicht mehr nur um Entführung, Erpressung und Industriespionage und kurz entschlossen bat er Susanne, nun doch dessen Standort zu orten, was sie auch sofort versuchte.


    Inzwischen war auch ein ortsansässiger Bestattungsunternehmer mit seinem Fahrzeug eingetroffen und nachdem die Spurensicherung mit der Leiche fertig war, wurde er erst in einen Leichensack und dann in den Metallsarg gelegt. Seine letzte Fahrt würde nach München in die Rechtsmedizin gehen, dort würde die Obduktion stattfinden, aber es würde sicher Abend werden, bis die Ergebnisse vorlagen, denn alleine die Fahrt dorthin dauerte fast zwei Stunden. Der für den Fall zuständige Staatsanwalt war inzwischen auch persönlich eingetroffen, so langsam wurde der Wanderparkplatz voll, aber Hartmut regte noch an, den Wagen des Mordopfers, das ja vermutlich nicht so unschuldig war, in eine KTU zu bringen und näher zu untersuchen-er bot sich auch gleich an, seinen Kollegen dabei zu unterstützen- und der stimmte voller Begeisterung zu, so dass Hartmut wenig später mit dem mit einem Tieflader auf dem Weg zur KTU war, während Semir nun die Handyortungsdaten in der Hand hatte.
    Der Einsatzleiter hatte derweil die beiden Frauen befragt und wollte sie dann sofort mit auf die Dienststelle nehmen. „Jetzt hören sie mal-und was wird derweil aus dem Hund und den Pferden-und wie sollen wir danach wieder nach Hause kommen?“ fragte die eine der Frauen, die sich inzwischen wieder gefangen hatte, erbost und Semir regte nun an, dass die beiden nach Hause reiten, die Tiere versorgen und danach in aller Ruhe auf die Dienststelle kommen sollten-die waren mit Sicherheit nicht an dem Mord beteiligt, das konnte er unterschreiben, das waren unbeteiligte Zeuginnen und er konnte dann auch seinen Kollegen davon überzeugen.


    Inzwischen hatte Susanne weiter recherchiert und gab nun ihre neuesten Erkenntnisse an Semir weiter. „Euer Mordopfer, Peter Wirsung, war ebenfalls schon einmal inhaftiert, er hat wegen Taschendiebstahls, Körperverletzung und auch früher einigen Drogendelikten ein paar Jahre in Kaisheim in einer Dreierzelle gesessen und weisst du wer einer seiner Mithäftlinge war? Werner Kraus, der Typ, der in Nördlingen im Krankenhaus um sein Leben ringt!“ gab sie durch und schickte Semir auch gleich noch ein Bild und den Namen des dritten Häftlings, inclusive der Adresse und des Wagens, der auf ihn zugelassen war. Kollege-darf ich sie um ihre Mithilfe bitten? Erst einmal müssen wir dringend die Personalien und die Adresse des dritten Häftlings überprüfen, der ist vielleicht entweder der Mörder oder weiss zumindest was und dann würde ich gerne einen gewissen Klaus Meister vorerst in Sicherheit bringen lassen, bis wir näheren Einblick haben!“ bat Semir und so geschah es, dass kurz nach der Mittagspause Klaus von einem Polizeifahrzeug an seiner Arbeitsstelle abgeholt und momentan aufs Donauwörther Revier gebracht wurde. Auch vor der Intensivstation wurden zwei uniformierte Beamte postiert, die Ben beschützen sollten, falls die Entführer zu irgendwelchen Racheakten griffen.

    Semir zermarterte sich derweil den Kopf, aber jetzt war vermutlich der Zeitpunkt gekommen, wo man Farbe bekennen und das BKA einschalten sollte. Alle Beteiligten befanden sich in Sicherheit und jetzt musste man sich daran machen, die aktuellen Besitzer der Hubschrauberpläne zu finden und fest zu nehmen und so an die Mörder und damit auch Corinna´s und Ben´s Entführer, die für dessen schwere Verletzung und diesen ganzen Schlamassel verantwortlich waren, zu überführen. Es war ziemlich unwahrscheinlich, dass ein kleiner Ex-Knacki das ganz alleine bewerkstelligt hatte-da waren Käufer für die Pläne, vermutlich aus dem Nahen Osten, wofür ja auch die Drohung mit dem Harem sprach, da ging es um viel Geld und das musste man aufdecken und jetzt blieb dem grauhaarigen Dillinger Beamten fast der Mund offen stehen, als Semir ihm die ganze Sache zu erzählen begann. „Warum haben wir denn da nicht früher davon erfahren?“ wollte er dann wissen, aber als Semir ihm ehrlich sagte, dass er befürchtet hatte, dass dann sein Freund das mit dem Leben bezahlen würde-und so wäre es vermutlich ja auch geschehen- konnte er es wenigstens menschlich verstehen. Und dass man auf die Vermisstenanzeige am Sonntag nicht reagiert hatte, rieb er ihm auch gleich noch unter die Nase, was den Kollegen verstummen ließ.


    Zunächst fuhren nun Semir und sein bayerischer Kollege mit dem BMW zur Wohnung des dritten Zellengenossen, aber der war nicht da und Nachbarn bestätigten, dass der nur am gestrigen Abend mal für ein paar Stunden zuhause gewesen war. Man gab eine Fahndung nach dessen Wagen heraus und nun entschuldigte sich der grauhaarige Beamte nach einem Blick auf die Uhr, denn es ging nun schon auf sechzehn Uhr. „Ich muss jetzt auf meine Dienststelle und noch ein paar Berichte schreiben, mich mit dem Staatsanwalt absprechen und dann die Herren vom BKA in Empfang nehmen, wollen sie nicht mitkommen-das Handy können doch auch ein paar Streifenpolizisten suchen und herbringen?“ sagte er, aber Semir schüttelte den Kopf. Er hatte schon gesehen, wie wenig Ahnung diese Beamten hier hatten-er würde jetzt das Handy holen, das laut Susanne´s Ortung an einem Rastplatz an der A7, so etwa eine Fahrstunde entfernt war und sich seit Stunden nicht bewegt hatte, vielleicht konnte Hartmut dem irgendwelche Hinweise entlocken und wenn sie Glück hatten, waren vielleicht Fingerabdrücke darauf. Einige Uniformierte befragten noch die Leitheimer und Graisbacher Bauern, ob irgendwer verdächtige Beobachtungen in der Nähe des Wanderparkplatzes gemacht hatte, aber bisher gab es da noch keine Aussagen und dann wollte Semir zusehen, dass er so bald wie möglich zurück zu seinem Freund kam. Wenn die BKA-Beamten ihn sprechen wollten, sollten sie zum Krankenhaus kommen, da machte er keine Kompromisse und sein Kollege akzeptierte seine Entscheidung und stieg an der Donauwörther Dienststelle aus, um sich von dort mit einem Polizeifahrzeug zurück nach Dillingen bringen zu lassen. Klaus hatte dort schon die dritte Tasse Kaffee intus und wanderte unruhig in dem historischen Gebäude, in dem die Donauwörther Polizei unter gebracht war, auf und ab, aber ihm gab erst einmal niemand Auskunft und so konnte er nur eines tun-warten und voller Liebe an Corinna, seine kleine Frau, die er so vermisste, denken.


    Semir überlegte kurz, aber bevor er auf die A7 fuhr, wollte er noch kurz nach Ben sehen-die Klinik war ja gerade mal fünf Minuten von der Polizei entfernt und dem dann versichern, dass er bis zum Abend wieder bei ihm wäre. Ben hatte inzwischen ausreichend abgeführt, die Schmerzen waren erträglich, aber jetzt machte ihm sein pulmonaler Infekt zu schaffen und er hatte bereits ein CPAP-Gerät auf der Nase und fröstelte hin und wieder. „Semir-was hast du heraus gefunden und stimmt es, dass ich bewacht werde?“ fragte er ein wenig atemlos und Semir nickte und gab ihm einen Kurzabriss der letzten Stunden, dem Ben gespannt lauschte. Plötzlich kam eine Schwester zur Tür herein, das mobile Stationstelefon in der Hand. „Herr Gerkhan-ein wichtiges Gespräch für sie!“ sagte sie und als Semir nun in den Hörer lauschte, wurde er plötzlich leichenblass. Ben hatte ihn angstvoll gemustert und Semir sprang jetzt auf und sagte geschockt zu Ben-jetzt war es unmöglich ihn zu schonen, denn der würde sich nicht belügen lassen, dazu kannte er ihn zu gut: „Ben-ich fahre sofort nach Köln-Jenny war dran-Sarah und Corinna sind aus der Schutzwohnung entführt worden, deinen Kindern gehts gut, aber das ist schon das einzig Positive!“ sagte er tonlos und nun wich auch aus Ben´s Gesicht alle Farbe.

  • Sarah und Jenni hatten beim Kinderarzt eine ganze Weile warten müssen. Danach nahmen sie auf dem Heimweg schnell eine Pizza mit. Mia-Sophie bekam erst einmal nur Heilnahrung, geriebenen Apfel und Tee, was sie neben anderen Medikamenten und Wund- und Heilsalbe fürs kranke Baby schnell in der Apotheke mitnahmen, die im Erdgeschoß des Ärztehauses war, aber alle anderen hatten einen Bärenhunger! „Jenni-ich würde auch noch Windeln brauchen-und Äpfel, Zwieback und eine Glasreibe, sollen wir die gleich jetzt irgendwo mitnehmen?“ fragte Sarah, aber Jenni schüttelte den Kopf. „Ich mache heute rechtzeitig Feierabend und gehe danach gleich noch einkaufen, ich brauche für mich privat auch noch was. Schreib mir einen Zettel, ich besorg dir alles und bringe euch das dann vorbei. Jetzt schauen wir, dass wir zurück in die Schutzwohnung kommen!“ sagte sie und da hatte Sarah gar nichts dagegen. So aßen sie dann gemeinsam von der Familienpizza und Tim verdrehte die Augen und sagte: „Lecker!“ während er heftig zuschlug. Sarah sah direkt seinen Vater vor sich, der wäre mit diesem Mittagsmenü auch einverstanden gewesen-Ben liebte Pizza, genau wie sein Sohn. Sogar Mia-Sophie durfte, nachdem sie ihre Heilnahrung verspeist hatte, auf einem Stück trockenem Rand herum beißen, die wenigen Zähnchen die sie hatte, wollten benutzt werden und Sarah hatte entschieden, dass das nicht gegen die Diätvorschriften verstieß. Jenni war dann weiter gefahren und hatte die Kindersitze in ihrem Wagen gelassen-man wusste ja nicht, wann man die wieder brauchte! Die junge Polizistin ging dann mit Dieter weiter auf Streife und auch Frau Krüger wollte wissen, wie es Ben´s kleiner Familie denn so ging und wurde von Jenni auf dem Laufenden gehalten.
    Mittags machten die Kinder nur ein kleines Nickerchen und erwachten, weil es draußen auf der Domplatte laut wurde, da fand ein Event statt, aber das war schon in Ordnung, vielleicht hätten sie dann eine ruhige Nacht! Gegen 15.30 Uhr allerdings waren Tim und das Baby dann so knatschig, dass Sarah entschied, dass es keinen Sinn machte, die jetzt noch ein paar Stunden rum zu ziehen. „Die sollen jetzt noch ein kleines Schläfchen machen, um spätestens fünf werden sie geweckt und dann werden wir die beiden heute Abend dann in Gottes Namen schon zum Einschlafen bringen!“ teilte sie Corinna mit und die nickte.

    Sie hatte schon mehrfach verstohlen auf ihr Handy geschaut, das sie auf lautlos gestellt, eng an ihrem Körper trug. Klaus hatte am Vormittag ihre Nachricht bekommen und gelesen, wie sie an den grünen Häkchen erkennen konnte, sich aber bis jetzt nicht gemeldet und das war merkwürdig. Hoffentlich ging es ihm gut! Allerdings hatte ja Sarah das alte Handy, mit dem sie immer mit Semir kommunizierte-der hätte es ihr ja wohl mitgeteilt, wenn es irgendetwas Neues gab, so beruhigte sie sich selber.


    Die beiden Scheichs fuhren auf direktem Weg auf der Autobahn. Zuerst auf die A7 und dann auf die A3. Es war zwar relativ hohes Verkehrsaufkommen und ab und zu mal ein Stau, aber so gegen 15.30 Uhr kamen sie in Köln an und machten sich auf den Weg in die Innenstadt. In der Tiefgarage unter der Domplatte fanden sie auch sofort einen Parkplatz, holten eine Spritze mit Midazolam und die mitgebrachte Burka aus ihren Koffern und gingen dann nach oben. Kurz ließen sie ihre Blicke schweifen, verglichen einen Ausschnitt auf dem Video mit den realen Verhältnissen und dann zog ein verschlagenes Lächeln über das Gesicht des einen Scheichs, der vor lauter Vorfreude schon ganz aufgeregt war-bald würde er diese Klassefrau in seinem Harem haben! Der andere war zwar ein wenig angefressen deswegen, aber sein Geschäftspartner kam aus einer höher gestellten Familie und hatte den Vorrang. Auch in seinem Harem hätte sich Corinna gut gemacht, er wollte auch zu gerne eine Blonde, aber die würde er sich dann eben zu einem späteren Zeitpunkt irgendwo kaufen-es gab genauso einen Markt für Frauen, wie für alle anderen Dinge, die man zum Leben benötigte. Allerdings war das Prickelnde an der Sache, dass die junge Ehefrau wohl nicht freiwillig mitgehen würde und genau das war es, was den drahtigen muskulösen Scheich noch mehr in Wallung brachte. Er würde diese hübsche junge Frau schon gefügig bekommen, wenn er sie erst einmal in seinem Palast hatte, aber jetzt würde zuerst einmal das Midazolam seine Schuldigkeit tun und aus ihr eine willenlose Puppe machen.


    Auf dem Video war ein Fensterausschnitt zu sehen mit direktem Blick auf den Kölner Dom. Davor war ein Teil einer Werbetafel zu sehen, die ebenfalls für ein klassisches Kölner Produkt warb, so hatten die beiden schon im beschaulichen Nordschwaben genau das Fenster ausmachen können, von wo aus das Video gedreht worden war. Köln gehörte zum Sightseeing-Pflichtprogramm bei den Saudis, genauso wie München und so war es den beiden ohne jegliches technische Gerät möglich gewesen, den Aufenthaltsort von Corinna festzustellen. Jetzt mussten sie nur noch herausfinden, ob die in der Wohnung bewacht wurde, aber sie hatten beide eine geladene Waffe bei sich, da würden sie rücksichtslos davon Gebrauch machen, auf einen Mord mehr oder weniger kam es jetzt nicht an!
    Sie traten von unten in den besagten Hauseingang und stellten anhand der Klingelschilder fest, um welche Wohnung es sich handeln musste. Der Zufall kam ihnen zu Hilfe, denn ein Paketbote gab gerade in einer weiter oben gelegenen Wohnung ein Päckchen ab und so konnten sie unbemerkt mit ins Haus gelangen. Sie warteten, bis der Bote wieder verschwunden war und schlichen dann die Treppe zum ersten Stock hinauf. „Müller“ stand an der Wohnungstür-ja das war die richtige Wohnung! Der Scheich überlegte. Sollten sie die Tür gleich aufbrechen? Aber dann entschied er sich dagegen, vielleicht ging es ja ohne Lärm und Aufsehen. Meistens vereinbarte man ja ein bestimmtes Klingelzeichen in so einem Fall und so drückte er einfach zweimal kurz und zweimal lang auf die Türklingel. Es war zwar nicht exakt das vereinbarte Signal, aber Sarah hastete schon zur Tür, bediente den Summer unten und entriegelte sie-das war sicher Jenni mit den Einkäufen und sie wollte nicht, dass die Kinder, die ja gerade erst eingeschlafen waren, jetzt gleich aufwachten, sonst war das Gebrüll schon vorprogrammiert! Kaum hatte sie die Klinke heruntergedrückt und erwartete jetzt erst Jenni´s leichte Schritte im Treppenhaus zu hören, da wurde die Tür brutal aufgedrückt und bis sie sich versah, hatte sie eine Waffe am Kopf und ein dunkelhäutiger Mann im eleganten Anzug hielt sie eisern fest und drückte die Hand auf ihren Mund, so dass sie nicht einmal Corinna warnen konnte, die gerade zur Toilette gegangen war, während der andere in aller Ruhe eine Spritze aus der Tasche zog. Sarah´s Augen weiteten sich, sie wehrte sich mit aller Kraft, hatte gegen die skrupellosen Männer aber keine Chance und wenig später verdrehte sie die Augen und sank zunächst einmal bewusstlos zusammen. Das Ganze hatte keine Minute gedauert und Corinna, die inzwischen die Spülung betätigt und sich ihre Hände gewaschen hatte, war noch nicht ganz aus der Badezimmertür, da wurde auch sie brutal gepackt und sank Sekunden später ebenfalls betäubt zu Boden. „Gut dass ich genügend aufgezogen hatte-das reicht auch für zwei!“ grinste der Scheich, den nun ein Hochgefühl überkam-jetzt hatte er auch einen blonden Zuwachs für seinen Harem und die beiden Frauen sahen sich sogar ziemlich ähnlich und entsprachen dem selben gefragten Typ mit blonden Haaren und blauen Augen.
    Sonst war es still in der Wohnung, von nirgends stürmten irgendwelche Bewacher hervor und so zogen die beiden Scheichs jetzt erst Sarah die Burka über und stellten sie auf ihre Füße. Sie war völlig willenlos und hatte wacklige Knie, konnte auch nicht richtig denken und so setzte sie-gestützt von beiden Seiten- mechanisch einen Fuß vor den anderen, wie man es ihr befahl. Die Treppe hinunter wurde sie getragen, aber unten fiel es bei dem bunten multikulturellen Gewimmel in Köln nicht groß auf, dass da zwei Saudis mit einer ihrer Frauen am Rande der Domplatte entlang liefen und in einem der Tiefgaragenabgänge verschwanden. Der Wagen war geräumig und hatte getönte Scheiben und so entledigte man Sarah wieder der Burka, band sie auf dem Rücksitz fest und holte dann in der gleichen Manier noch Corinna. Die Tür wurde ins Schloss gezogen und wenig später startete der Wagen, nachdem die horrende Parkgebühr entrichtet war, zunächst einmal in ein Kölner Viertel, wo man Burkas kaufen konnte und kurz darauf waren die beiden Frauen gekleidet, wie es sich in den Augen der Araber in der Öffentlichkeit gehörte. Auch braun getönte Kontaktlinsen kauften sie und dunkelbraune Sprühfarbe für die Haare und veränderten die Frauen damit. Via Handy buchte der eine der Scheichs einen Flug in die Heimat für vier Personen, der noch am Abend vom Frankfurter Flughafen aus gehen würde. Sie hatten eine ganze Auswahl an gefälschten Reisepässen dabei, wenn man nicht so genau hinsah, fiel es nicht auf, dass die Einreisestempel nicht echt waren und die arabischen Schriftzeichen waren eh nicht zu entziffern. Langsam begannen die beiden Frauen wieder ein wenig zu sich zu kommen, aber sie bekamen gleich die nächste Dosis injiziert, diesmal in den Oberschenkel, dann würde die Wirkung länger anhalten und so dämmerten sie vor sich hin, während das Auto sich schon wieder auf den Weg Richtung A3 machte, damit sie rechtzeitig zum Check-In am Flughafen waren.


    Jenni hatte sich in der PASt gleich ihrer Uniform entledigt und war nach Dienstschluss einkaufen gegangen. Schwer bepackt läutete sie dann unten an der Haustür der Schutzwohnung mit dem vereinbarten Signal und runzelte die Stirn, als ihr niemand aufmachte. Sofort beschlich sie ein ungutes Gefühl, sie öffnete die Tür mit dem Schlüssel, den sie bei sich trug, stellte die Einkäufe unten im Hausflur ab und schlich mit gezückter Waffe die Treppe hinauf. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sollte sie Verstärkung anfordern? Allerdings waren Sarah und Corinna vielleicht ja auch nur unvorsichtig geworden und mit den Kindern ein wenig nach draußen gegangen? Leise steckte sie den Schlüssel ins Türschloss und drehte ihn ganz langsam herum. Als die Tür nicht mehr versperrt war, trat sie sie mit dem Fuß auf und ging sofort wieder in Deckung, aber nichts passierte. Leise schlich sie in die Wohnung und sicherte, wie sie es in der Polizeischule gelernt hatte, Zimmer für Zimmer, aber die Wohnung war leer, bis auf die beiden Kinder, die selig in ihren Betten schlummerten. Nun griff Jenni zum Telefon und verständigte sofort die Zentrale und die Chefin. Wenig später wimmelte die Wohnung von Uniformierten, ein Spurensicherer versuchte etwas heraus zu finden und Jenni und die Chefin bemühten sich die Kinder, die inzwischen aufgewacht waren, zu beruhigen. Der schwierigste Schritt für Jenni war allerdings nun die Nachricht, die sie Semir und damit auch Ben überbringen musste und nachdem er am Handy nicht ran ging, wählte sie schweren Herzens die Nummer der Intensivstation.

  • Semir hatte die Intensivstation in Windeseile verlassen und gleich noch Hartmut angerufen: „Einstein-du musst sofort mit mir kommen-lass das Auto Auto sein-ich brauch dich in Köln, Sarah und Corinna sind entführt worden-vielleicht finden wir einen Hinweis darauf, wohin und von wem!“ rief er ins Telefon, während er schon zum Parkplatz spurtete. „Wo ist diese verdammte KTU?“ rief er dann noch und bekam von Hartmut die Adresse gesagt, die er schnell in sein Navi eingab. Mit quietschenden Reifen fuhr er in die Richtung und Hartmut schlüpfte derweil aus dem Spusianzug, packte die mitgebrachten Sachen in den Koffer und verabschiedete sich von seinem jungen Kollegen, der in den paar Stunden Zusammenarbeit schon mehr gelernt hatte, als in mehreren Monaten an seiner Ausbildungsstelle. Sie hatten auch schon Blutspuren, die man zu beseitigen versucht hatte, im Kofferraum nachweisen können und die warteten jetzt auf Watteträgern auf eine Genanalyse, der Schmutz in den Reifen und im Fußraum des Wagens konnte auch geborgen werden und Hartmut packte sich von allem ein Pröbchen ein, der Rest würde ins Kriminallabor nach München gehen. Kaum hatte er den riesigen Rollkoffer geschlossen, bog auch schon ein silberner BMW mit quietschenden Reifen um die Ecke und Hartmut warf den Koffer in den Fond und saß wenig später auf dem Beifahrersitz. Er hatte die Tür noch nicht ganz geschlossen, da fuhr Semir schon los und Hartmut fingerte eilig nach dem Sicherheitsgurt. Semir beschleunigte durch den abendlichen Berufsverkehr, benutzte ohne mit der Wimper zu zucken das Blaulicht-wenn jetzt keine Gefahr im Verzug war, wann dann-und raste Richtung Autobahn.


    Ben war fassungslos und geschockt im Patientenzimmer zurück geblieben. Seine Gedanken fuhren Karussell-was war mit seiner Sarah und mit Corinna geschehen? Wie er es mitbekommen hatte, waren die beiden Frauen aus der Schutzwohnung verschwunden, aber die Kinder dort zurück geblieben-ach Gott seine armen Mäuse, die wurden jetzt von fremden Leuten betreut und weder Mama noch Papa waren bei ihnen. Verzweifelt versuchte er das Gefühl in seine Beine zurück zu bekommen-vielleicht ging das mit purer Willensanstrengung-seine Kinder brauchten ihn doch und die Sorge um seine geliebte Sarah brachte ihn fast um den Verstand! Der Schweiß brach ihm aus beim vergeblichen Bemühen, dann versuchte er auch noch das Bettkopfteil hoch zu stellen, aber sofort wurde ihm schwindlig, sein Blutdruck spielte verrückt und als die betreuende Schwester ins Zimmer hastete, hing er bereits leichenblass und von kaltem Schweiß bedeckt in den Seilen. Sofort stellte sie das Kopfteil wieder flach. „Herr Jäger-das ist noch zu früh! Erstens sollten sie warten, bis die Cages eingesetzt sind und außerdem reagiert der Körper nach einem spinalen Schock sehr überschießend auf Lageveränderungen!“ sagte sie und sperrte jetzt vorsichtshalber diese Bettfunktion und schob unauffällig die Bettgitter nach oben-nicht dass ihrem Patienten noch weiterer Blödsinn einfiel. Der war auch seit dem Telefongespräch seines Freundes, der danach völlig überhastet die Intensivstation verlassen hatte, völlig aus dem Häuschen!


    „Was haben sie denn für eine aufregende Nachricht bekommen, die sie so mitnimmt?“ fragte sie nun mitfühlend und holte einen kalten Waschlappen, mit dem sie ihm das immer noch bleiche Gesicht abwusch. „Meine Frau ist entführt worden-und ihre Cousine dazu. Die Täter waren vermutlich dieselben, die auch für diesen ganzen Shit hier verantwortlich sind. Meine Kinder sind jetzt mutterseelenalleine und fremd betreut, dabei hat meine kleine Tochter, die ist gerade mal 10 Monate alt, eine Mittelohrentzündung und würde jetzt ihre Eltern brauchen!“ schluchzte er fast und nun blieb die Schwester bei ihm stehen. „Oh je, das ist ja schrecklich!“ sagte sie betroffen. „Ich habe auch Kinder und weiss wie schlimm das ist wenn die krank sind. Ich kann sie sehr gut verstehen, dass sie deswegen und auch wegen ihrer Frau ganz fertig sind, aber sie können leider gerade gar nichts machen-außer sich zu bemühen, baldmöglichst wieder fit zu werden und das klappt am Besten, wenn sie sich an die Anordnungen der Ärzte halten. Gibt es denn niemanden-Oma, Opa oder so- die sie gerade vertreten könnten?“ fragte sie und als Ben nun tief durchatmete, seine Panik abschüttelte und nachdachte, sagte er: „Meinen Vater kann man da vergessen, der hat wenig Beziehung zu seinen Enkeln und Sarah´s Eltern wohnen erstens ne Ecke weg und zweitens gehen die auch arbeiten und die Kinder kennen sie zwar, aber eben nicht so besonders gut. Aber wir haben ne Kinderfrau, die betreut gerade auch unseren Hund-ich weiss auch überhaupt nicht, ob der schon jemand Bescheid gesagt hat, denn eigentlich wollten wir Lucky am Montag schon wieder abholen!“ überlegte er und nun brachte ihm die Schwester mit einem Lächeln das Telefon. „Wissen sie die Nummer?“ fragte sie und als Ben den Kopf schüttelte, ging sie wortlos an den PC und googelte die Festnetznummer von Hildegard Brauner in Köln. Wenig später rief Ben sie an und sie war völlig entsetzt, als sie hörte, was geschehen war. „Ich war schon die ganzen Tage voller Sorge, was denn passiert sein könnte. Weder du Ben, noch Sarah, wart auf dem Handy erreichbar, niemand hat mir Bescheid gesagt und ich wusste gar nicht, was ich tun sollte. Lucky geht es gut und ich werde mich jetzt sofort mit der PASt in Verbindung setzen, die werden mir schon sagen können, wo die Kinder gerade sind. Die kommen natürlich zu mir und bleiben auch da, bis Sarah zurück und du gesund bist!“ sagte sie mit fester Stimme und legte dann auf, während Ben das Telefon einen Augenblick fest hielt, wie ein Ertrinkender.


    „Sie müssen jetzt ein wenig runter kommen!“ sagte die Schwester freundlich und spritzte das Medikament, das der Arzt soeben angeordnet hatte, in den ZVK. Es war eine schreckliche Situation für ihren Patienten, aber der konnte momentan nichts weiter tun. Er hatte die Betreuung seiner Kinder organisiert und jetzt sollte er ein wenig schlafen! Ben wollte noch etwas sagen, etwas tun, aber schon ergriff eine bleierne Müdigkeit von ihm Besitz, der Hörer rutschte ihm aus der Hand und die Schwester nahm ihn sanft an sich, deckte ihren jungen, gut aussehenden und vor allem netten Patienten noch ein wenig zu und verließ dann leise das Patientenzimmer. „Wollt ihr einen Kaffee?“ fragte sie die bewachenden beiden Polizisten und die nahmen den gerne an. Die lokale Polizei und die Pflegekräfte kannten sich, da war Donauwörth diesbezüglich ein Dorf.

  • Als die Kinderfrau der Jägers sich bei Susanne in der PASt meldete, waren alle erleichtert. Die patente Mittsechzigerin, die die Kinder liebte, wie ihre eigenen Enkel, setzte sich sofort ins Auto und war wenig später in der Schutzwohnung angekommen, wo ein heilloses Durcheinander herrschte. Tim und Mia brüllten nach der Mama und Jenni und Frau Krüger versuchten sie erfolglos zu beruhigen. Als die Frau, die schon sehr lange Bezugsperson für die Kleinen war, nun das Baby auf den Arm nahm, barg Mia-Sophie schluchzend ihr Köpfchen am Hals der Zweitoma. Tim klammerte sich an ihrem Hosenfuß fest und als sie freundlich sagte: „Na Tim-fahren wir jetzt zu Lucky und Frederik?“ nickte er stumm und ließ sich sofort an der Hand nehmen. Jenni war mehr als erleichtert, dass ihr jemand die Verantwortung für die Zwerge abnahm, sie mochte zwar Kinder, hatte aber noch keine eigenen und war von der Situation mehr als überfordert gewesen. Rasch packte sie die Sachen der Kinder in den Koffer, wobei Hildegard immer eine Notfallausrüstung in ihrem Haus aufbewahrte, erklärte kurz, was dem Baby fehlte und welche Medikamente es brauchte und dann brachte sie die Kinder mit zum Wagen, in dem sich auch bereits geeignete Kindersitze befanden, so verzichteten sie momentan aufs Umbauen. „Ben hat mich angerufen-ich bin entsetzt und schockiert von dem was geschehen ist, aber die Kinder sind bei mir versorgt und in besten Händen, machen sie sich keine Sorgen. Ich habe mir auch die Telefonnummer des Krankenhauses aufgeschrieben, von wo aus Ben mich angerufen hat, ich werde ihm Bescheid geben, wenn wir bei mir zuhause sind und die Kinder sich beruhigt haben!“ erklärte sie und als sie den Motor anließ fragte sie Tim schon: „Sollen wir uns nachher noch einen Schokoladenpudding kochen?“ und der nickte eifrig-für ihn war im Moment seine kleine Welt wieder so halbwegs in Ordnung. Die Mama oder der Papa hatten ihn immer bei Hildegard abgeholt, er war es gewöhnt dort zu sein und auch mal zu übernachten und so erzählte er in der Dreijährigensprache Hildegard, was ihn beschäftigte, aber das hatte nichts mit Mama und Papa zu tun.


    Semir war inzwischen auf der A7 angekommen und trat das Gaspedal weiter durch. Kurz überlegte er, aber dann entschied er, dass es vielleicht doch Sinn machen würde, wenn er schon dran vorbei fuhr, sich kurz am Rastplatz nach dem Handy um zu sehen. Der von Susanne geortete Platz war keine Autobahnraststätte, nicht einmal eine Toilette befand sich dort und als sie sich kurz umgesehen hatten, dauerte es nicht lange und Hartmut zog-nachdem er Einmalhandschuhe angezogen hatte- das Handy aus einem Mülleimer. „Na sieh mal an!“ pfiff er durch die Zähne und als sie Sekunden später schon wieder auf der Überholspur waren und Semir dem Wagen Zunder gab, konnte er seinem Freund und Kollegen auch schon mitteilen, wie die Entführer den Aufenthaltsort von Corinna ausfindig gemacht hatten. Das Handy war jetzt ein Beweisstück und er hatte keine Skrupel- ebenfalls mit den Handschuhen immer noch am Mann- die WhatsApp-Nachricht Corinna´s zu öffnen. „Ich dachte, sie hat ihr Handy abgegeben!“ sagte Semir nur betroffen und fast erschlagen von so viel Dummheit, aber Hartmut kombinierte richtig, dass das wohl das alte Ersatzhandy war-darauf ließ auch die Markierung von Klaus schließen. „Sie hats ja nicht mit Absicht gemacht, aber die Folgen sind trotzdem fatal!“ bemerkte Semir unglücklich, während Hartmut versuchte während der Fahrt eventuelle Fingerabdrücke auf Klaus´ Handy sichtbar zu machen, aber leider waren die Entführer nicht so dumm gewesen-sie hatten Handschuhe getragen und der Taschendieb hatte die seinigen zuvor sorgfältig abgewischt. „Vielleicht hat Corinna ihr Handy noch bei sich, einen Versuch wäre es wert!“ sagte Semir und Hartmut veranlasste sofort eine Funkortung des Geräts. „Das Signal ist nicht zu empfangen, aber das letzte Mal als es sich eingeloggt hat, war das südlich von Köln an der A3 an der Raststätte!“ sagte Susanne, die natürlich jetzt wie alle anderen Überstunden machte-man musste die Entführungsopfer finden, denn mit jeder Stunde sank deren statistische Chance mit dem Leben davon zu kommen.


    „Hartmut hilf mir mal-wer hat wohl die beiden Frauen entführt und warum?“ fragte nun Semir nach, während er routiniert ein- und ausscherte und so Kilometer machte und Hartmut musste nicht lange nachdenken. „Wir vermuten ja, dass die Hubschrauberpläne in den Nahen Osten gehen sollen. Immerhin hat der Typ, der am Hochzeitsabend mit Klaus telefoniert hat, ihm gedroht, er würde Corinna in seinen Harem aufnehmen. Ich hatte zwar eigentlich gedacht, dass es heutzutage so etwas wie einen Harem gar nicht mehr gibt, aber anscheinend liege ich da falsch und jetzt ist es nur nahe liegend, dass diese Typen sich nicht an Abmachungen halten, sondern beides wollen-die Pläne und die Frau, bzw. zwei Frauen, denn ich gehe davon aus, dass das mindestens zwei Männer sind aber Sarah und Corinna schauen in den Augen von Arabern wohl beide sehr exotisch aus!“ überlegte er und Semir konnte ihm nur zustimmen. „Wenn wir davon ausgehen, dass sie sie besitzen und nicht töten wollen, werden sie versuchen die beiden so schnell wie möglich außer Landes zu bringen, ob sie wohl irgendwo einen Privatflieger haben?“ dachte Hartmut weiter nach und bat Susanne darum, das am Flughafen Köln-Bonn zu checken, was allerdings einige Zeit in Anspruch nahm und ergebnislos verlief. „Vielleicht haben sie die Maschine in München stehen-wäre ja nahe liegend, wenn sie in Nordschwaben agieren!“ wurde weiter kombiniert. Sie kamen dann auch noch auf die Idee, dass ein kleinerer Flughafen wie Augsburg, Memmingen oder Nürnberg ebenfalls möglich wäre, da dort leichter Privatmaschinen landen durften, als an den großen Flughäfen und Susanne war jetzt in ihrem Auftrag sehr beschäftigt damit, ihren PC zu bedienen und nebenbei zu telefonieren.


    Inzwischen hatte man in der Wohnung unter einem Schränkchen im Flur die Schutzhülle einer Spritzenkanüle gefunden und die sofort ins Labor gebracht, um eventuelle Anhaftungen zu untersuchen. Hartmut´s rechte Hand gab wenig später das erste Ergebnis durch: „Der Schnelltest ist positiv auf Benzodiazepine, also wurden die Opfer wohl betäubt!“ teilte er mit und Semir und Hartmut war klar, dass das wohl die einzige Möglichkeit gewesen war, Sarah von ihren Kindern weg zu kriegen. „Das ist jetzt bewiesen und erklärlich, aber irgendwo müssen die jetzt stecken und wenn sie mal im Nahen Osten sind, haben wir vermutlich keine Chance mehr an sie ran zu kommen, die sind dann einfach weg!“ befürchtete Hartmut und nun warf ihm Semir einen Blick zu: „Du weisst, dass Ben und ich niemals aufgeben würden, wir holen sie zurück, egal wo auch immer sie sein mögen!“ sagte er, aber im selben Augenblick wurde ihm bewusst, dass er da im Augenblick alleine agieren musste, ob sein bester Freund jemals wieder so fit werden würde, wie es für so eine Aktion nötig war, stand in den Sternen.
    Inzwischen waren sie in der Nähe der Raststätte an der A3 angelangt, wo man Corinna´s letztes Handysignal empfangen hatte. In weniger als drei Stunden hatte Semir die Strecke inclusive Stopp bewältigt und so fuhr er von der Autobahn ab, um dann in der Gegenrichtung wieder aufzufahren und sich in der Raststätte nach dem Handy um zu sehen, denn davon, dass sie die Wohnung auch noch durchsuchten, würden sie die Entführungsopfer nicht finden.


    In der Zwischenzeit hatten Jenny, die Chefin und einige Uniformierte die Nachbarn nach Beobachtungen befragt, aber niemand hatte zunächst etwas gesehen. Nur in dem Laden daneben, dessen Werbeschild man auf Corinna´s Video hatte entdecken können, sagte eine Verkäuferin nachdenklich zu Jenni: „Ich konnte irgendwann am Spätnachmittag zwei dunkelhäutige Männer mit einer Frau in einer Burka sehen, der Frau schien es nicht gut zu gehen, sie musste nämlich gestützt werden!“ erzählte sie, aber wo die drei hingegangen waren, konnte sie nicht sagen, sie hatte sich dann ihrer Kundschaft gewidmet und das für den Augenblick vergessen und dem Vorfall auch keine Bedeutung beigemessen. Jenni gab die Beobachtung aufgeregt an Semir und Hartmut durch, auch die Farbe der Burka und eine grobe Beschreibung der Männer-schwarzhaarig, leicht dunkler Teint und elegante dunkle Anzüge-hatte die Verkäuferin zu Protokoll gegeben und jetzt fragten sich Semir und Hartmut in der Raststätte nach einer Gruppe durch, auf die die Beschreibung passte. Eine Burka war natürlich praktisch-darunter konnte man fast alles verbergen und sie dachten schon, dass sie nichts herausfinden würden, denn die Angestellten hatten inzwischen Schichtwechsel gehabt, aber ein Servicemitarbeiter, der auch für die Sauberkeit der Toiletten zuständig war und eine Extraschicht machte, erzählte dann, dass er in der Herrentoilette vor etwa zwei Stunden die Trümmer eines Handys im Abfall gesehen hatte, der Müllsack aber schon in einem großen Container verschwunden war. Auch eine arabische Reisegruppe-zwei Scheichs in sandfarbenem Kaftan und zwei verhüllte Frauen- hatte er gesehen, die aber einzeln auf der Toilette gewesen waren. „Das waren sie-wir haben jetzt nicht die Zeit den Abfall zu durchsuchen, aber ich wette, wir finden Corinna´s Handy in dem Müll!“ sagte Semir aufgeregt und erklärte den Container für versiegelt: „Der wird später durchsucht werden, aber wir wissen jetzt-sie haben nur zwei Stunden Vorsprung, das ist nicht viel-nur verdammt, wohin sind sie unterwegs!“ dachte er nach. Hartmut überlegte laut: „Wir haben uns bisher nur nach einer Privatmaschine umgesehen, aber was wäre, wenn die einfach mit Linie fliegen. Von hier aus ist Frankfurt gerade mal eine gute Fahrstunde entfernt!“ und nun baten sie Susanne, das doch zu überprüfen und Semir ärgerte sich-sie waren auf dem Hinweg eben am Flughafen vorbei gefahren. Wenig später rief die aufgeregt zurück: „Semir, Hartmut, in einer Stunde startet eine Linienmaschine in den Nahen Osten, ich versuche gerade eine Passagierliste zu bekommen, bisher sind die Betreiber der Airline noch ein wenig zurückhaltend, aber ich bin dran!“ rief sie und nun sahen sich Semir und Hartmut an und spurteten los. Diesmal schaffte Hartmut es gerade noch, seinen Fuß in den Fahrgastraum zu ziehen, denn der Motor heulte bereits auf und die Reifen des BMW drehten durch, als er noch gar nicht ganz drin war. Semir blinkte, schaltete das Blaulicht und die Sirene ein und raste mit Bleifuß Richtung Frankfurt. „Susanne-versuch die Starterlaubnis für die Maschine zu stoppen, die darf nicht abheben, bevor wir sie nicht durchsucht haben!“ rief er aufgeregt und Susanne, die bereits am Telefon hing, versprach ihr Möglichstes zu tun.


    In der Donauwörther Klinik betrachtete die betreuende Schwester derweil besorgt ihren jungen Patienten. Er war zwar vom Tavor, das sie ihm gespritzt hatte, noch ziemlich benommen, aber er war trotzdem unruhig, warf sich im Bett herum und bekam gerade Schüttelfrost. Verdammt-für die Lunge und das produktive Abhusten war die Sedierung Gift, für den Rücken und den Operationserfolg wäre es besser, er würde ruhig liegen, aber wenn aus dem pulmonalen Infekt nun eine Pneumonie wurde hatten sie alle miteinander ein Problem. „Herr Jäger-sie müssen ein wenig Atemgymnastik machen, ich mache die CPAP-Maske auf ihrem Gesicht fest, die ist zwar eng, aber sie hilft ihnen beim Atmen!“ versuchte sie ihm zu erklären, aber er riss sie immer wieder herunter, murmelte laut und verzweifelt: „Sarah!“ und warf sich wieder herum, zog sich aber dabei die Decke bis zur Nase. Sie hatte leider auch gar keine Zeit sich daneben zu stellen und ihn persönlich zu betreuen, denn es ging auf der Station wahnsinnig zu und ein Notfall jagte den anderen. Vorhin hatte auch eine ältere Frau angerufen und hatte Herrn Jäger sprechen wollen, aber das war nicht möglich gewesen. Hoffentlich würde das hier alles gut gehen!

  • Ben war weggedämmert. Die geschäftigen Geräusche der Intensivstation, das Piepen und die ganzen Alarmtöne verhinderten zwar einen erholsamen Schlaf, aber trotzdem war er plötzlich wieder in der Höhle und um ihn herum war alles finster. Ihm war so kalt-eiskalt, aber nichts konnte ihn wärmen. Die Verzweiflung und das Gefühl des absoluten Verlassenseins nahmen wieder überhand, diesmal aber war er noch von einer furchtbaren Sorge um Sarah und seine Kinder durchzogen. Er kämpfte wie ein Löwe um sie, aber irgendjemand wollte sie ihm wegnehmen. Er lag am Boden der Höhle, seine Beine gehorchten ihm nicht und seine Familie wurde immer weiter von ihm weg gezogen. Er konnte nicht erkennen wer das war, aber es waren böse Menschen und er war einfach nur hilflos, versuchte seine Lieben zu erreichen, streckte die Arme nach ihnen aus und rief ihre Namen, aber es war vergeblich, er kam nicht von der Stelle, sondern seine unnützen Beine lagen einfach nur so auf dem Boden und gehorchten ihm nicht. Immer weiter entfernten sie sich, die Kinder schrien und weinten, Sarah sah ihn die ganze Zeit mit panischem Gesichtsausdruck an und streckte hilfesuchend die Hand nach ihm aus, aber das Böse hinter ihr zog sie unverwandt weiter weg und dann verschwanden sie alle in einem Strudel und ließen in ihm eine absolute Leere und eine Kälte zurück, die kälter als alles war, was er bisher gespürt hatte.


    Jemand schüttelte ihn und rief seinen Namen und als Ben innerlich völlig ausgehöhlt und zähneklappernd, verwundert die Augen öffnete, wusste er momentan überhaupt nicht, wo er war und dennoch kam ihm die Stimme bekannt vor. Der Professor stand mit besorgtem Gesichtsausdruck über ihn gebeugt da und sagte: „Herr Jäger-ich denke sie hatten einen Alptraum, aber es ist nicht gut, wenn sie sich so herum werfen. Ich habe schon von den familiären Sorgen gehört, die sie gerade haben, aber wenn die Drainagen sich verschieben und im Operationsgebiet zu viel Bewegung ist, wird der Erfolg des Eingriffs in Frage gestellt. Sie müssen auch unbedingt die Atemmaske drauf lassen, wenn die Schwestern das sagen-es ist nur zu ihrem Besten!“ sprach er eindringlich zu ihm, aber Ben verstand nur einen Teil davon, was er ihm mitteilen wollte. Die Reste des Tavors fluteten immer noch durch seine Adern und machten ihn verwirrt und orientierungslos und dazu kam diese unbeschreibliche Kälte, die in ihm hoch kroch und seine Zähne immer noch laut klappernd aufeinander schlagen ließ. Der prüfende Blick des Arztes ging zum Monitor-aktuell war die Temperatur bei 38,7°C, aber wie man sah, war sie im Steigen begriffen. Er seufzte auf-oh je, das hier war ein schwieriger Fall! „Schwester-er bekommt bitte nichts mehr zum Sedieren, es ist in der momentanen Situation kontraproduktiv, versuchen sie irgendwie zu verhindern, dass er aus dem Bett steigt, notfalls indem sie ihn fixieren, bis er wieder klar ist. Geben sie ihm eine zweite Decke, wir können es ja sowieso nichts daran ändern, dass das Fieber steigt, verabreichen sie ihm allerdings Novalgin und Paracetamol als Kurzinfusion dazu und die letzte Cortisondosis morgen lassen wir auch weg-er braucht gerade alle Abwehrkräfte, die er noch hat!“ ordnete er an, aber die Schwester nickte zwar, wusste aber, dass das nichts bringen würde. Er hatte die beiden Medikamente sowieso als Basisschmerztherapie regelmäßig und das Fieber sprach darauf nicht an. Momentan war das ja noch nicht besorgniserregend hoch, allerdings stieg es kontinuierlich und der Schüttelfrost, der ihren bedauernswerten Patienten umher warf, würde nicht aufzuhalten sein. Das Cortison war gestern und heute schon in ihn gerauscht und hatte anscheinend seine Immunabwehr unterdrückt, ob das Weglassen der morgigen Dosis noch so effektiv war, stand in den Sternen.
    So brachte sie, als der Professor gegangen war, zwar eine zweite Decke und zog die Kurzinfusionen ein wenig vor, aber Ben schaffte es trotz guten Zuredens nicht, einigermaßen ruhig liegen zu bleiben und so fixierte sie schweren Herzens seine Hände, obwohl es ihr zutiefst widerstrebte. Sie konnte ihm jetzt auch keine Atemmaske aufs Gesicht schnallen, denn das war rechtlich sehr fragwürdig, einen Patienten ohne Sicherung der Atemwege zu fixieren und zu beatmen. Wenn er erbrach konnte er sich die Maske nicht vom Gesicht reißen und er würde vielleicht auf der Stelle ersticken, oder eine Aspirationspneumonie erleiden und das war fahrlässige Körperverletzung, diesen Schuh zog sie sich nicht an! So musste man die eigentlich dringend notwendige Atemtherapie momentan aufschieben, bis er wieder klar und kooperativ war, aber das konnte noch eine Weile dauern, er reagierte anscheinend ziemlich stark auf das Tavor. Verdammt-warum war gerade jetzt sein netter Freund und Kollege nicht bei ihm, der könnte ihn beruhigen und seine Hände festhalten, damit er die Maske tolerierte, aber das Personal hatte für so etwas keine Zeit-eine Menge anderer schwerst kranker Patienten musste ebenfalls versorgt werden.
    Ben wusste nicht wie ihm geschah-man sprach zu ihm, versuchte ihm anscheinend etwas zu erklären, aber er musste doch zu Sarah und seinen Kindern und versuchte deshalb hier weg zu kommen. Die sollten ihn gehen lassen, aber anstatt ihm zu helfen, banden sie seine Hände fest und so lag er wenig später völlig verzweifelt, schüttelnd und mit Tränen in den Augen auf dem Rücken, fror wie ein Hund und flüsterte immer wieder: „Sarah-du darfst mich nicht verlassen!“ und die verzweifelten Schreie seiner Kinder gellten in seinen Ohren.



    Susanne stieß bei der Fluggesellschaft zunächst einmal auf taube Ohren. Es war eine große Saudische Kette und die schützten primär die Daten ihrer Passagiere. Da könnte ja jeder kommen und versuchen, da Einzelheiten heraus zu finden, aber es gab so etwas wie Datenschutz und ein Vertrauensverhältnis. Gerade die Reisenden in der ersten Klasse waren besonders schützenswert und so hüllten sich die Personen am Schalter, mit denen sie telefonierte, in vornehmes Schweigen. Susanne versuchte dann deren PC zu hacken, aber dazu hätte sie jetzt Hartmut gebraucht, sie schaffte das auf die Schnelle nicht, aber der Rothaarige war damit beschäftigt, sich auf dem Beifahrersitz des BMW fest zu klammern und Stoßgebete zum Himmel zu senden, obwohl er eigentlich gar nicht so sonderlich gläubig war. „Susanne-hast du was?“ rief Semir ungeduldig in die Freisprechanlage, während er mit quietschenden Reifen die Ausfahrt nahm und dabei einen Kleintransporter schnitt, der daraufhin ins Schleudern kam, mit einem weiteren Fahrzeug kollidierte und die Autobahn auf zwei Spuren blockierte, was sofort zu einem mega Stau führte. „ Se-Semir-hast du gesehen, wir sollten uns jetzt eigentlich um den Verkehr kümmern!“ stammelte Hartmut, dem der Schweiß auf der Stirn stand, aber er erntete nur einen ungeduldigen Blick des Fahrers. „Was geht jetzt vor-Sarah und Corinna, oder die Autobahn?“ fragte er, während er schon um die nächste Kurve schoss. Immerhin hatte Susanne das Flugfeld durchgegeben und auch die Flugnummer, so wusste Semir, der schon oft am Frankfurter Flughafen gewesen war, wo er hin musste. Eines war klar, er würde es nicht schaffen mit seinem Fahrzeug auf die Rollbahn zu gelangen, die Sicherung durch Gitter und Zäune verhinderte das, aber sie mussten dennoch versuchen, den Start der Maschine zu verzögern-koste es, was es wolle! So hielt Semir mit quietschenden Reifen im absoluten Halteverbot vor der Abflughalle und hatte auch schon seinen Gurt gelöst und war heraus gesprungen. „Komm Einstein, keine Müdigkeit vorschützen-ich habe es im Gefühl, dass Sarah und Corinna in der Maschine sind!“ rief er, während Hartmut, der eigentlich beinahe kotzen musste, mit schweißnassen Fingern sein Gurtschloss entriegelte, mit Wackelknien ausstieg und dann Semir nach rannte, der schon mehrere Meter Vorsprung hatte.

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