Vertrauen

  • Semir sah die Hauswand nach oben. Hinter einigen Fenstern war Licht zu erkennen. Sein Instinkt hatte Recht gehabt und Mikael war tatsächlich hierher gekommen. Eilig verschaffte er sich mit einem Ersatzschlüssel Zutritt zum Wohnungskomplex. Die Wohnungstür von Ben war nur leicht angelehnt und er schob sie langsam auf und trat herein. Es dauerte nicht lange und er vernahm ein leises Schluchzen aus dem Wohnzimmer. „Mikael?“, rief er, doch er erhielt keine Antwort. Als er das Zimmer betrat, stockte ihm der Atem. Mikael saß vor dem Regal. Sein Kopf hing herunter und er betrachtete ein Foto in einem Bilderrahmen, welches er mit der linken Hand fest umklammerte. Bei näherem Hinsehen sah Semir, dass die Hand voller Blut war. Der Bilderrahmen war kaputt und eine der Glasscherben bohrte sich in Mikaels Hand. Auch um Mikael herum waren zahlreiche Fotos verteilt. Seine andere Hand umklammerte krampfhaft eine Wodkaflasche, die zu einem Drittel geleert war. Semir machte weitere Schritte auf den jungen Mann zu und fasste ihn an die Schulter. „Mikael?“, sagte er behutsam. Der Angesprochene sah nicht auf und betrachtete weiterhin das Foto. „Ees ist alles meine Sschuld“, lallte er und drückte die Hand enger um das Foto. Blut tropfte von Mikaels Hand auf die Jeans des Finnen, die aber ohnehin schon an einigen Stellen mit Dreck und Wodka besudelt war. Semir kniete sich vor Mikael und griff nach dem Hals der Wodkaflasche, doch dieser umgriff sie sofort fester. Seine Augen starrten ihn an. „Das ist mmeins!“ „Mikael, du hattest genug. Bitte gib mir die Flasche“, sprach er ihm gut zu, doch der Finne schüttelte energisch den Kopf und drückte dabei die Flasche an sich, wie ein kleines Kind, was er beschützen musste. „Mikael, komm, dass bist du nicht. Gib mir bitte die Flasche. Du hast genug gehabt“, versuchte er es abermals, griff wieder nach der Flasche und zog sanft daran, doch er hatte keine Chance. Mikael zog die Flasche sofort wieder zurück. Seine blauen Augen funkelten ihn wütend an. „LLLASS MICH IN RUHE!“ „Du bist betrunken Mikael“, gab ihm Semir zu verstehen und gab sich Mühe seine Stimme so ruhig wie möglich klingen zu lassen, um Mikael nicht noch mehr in Rage zu bringen. Der Finne starrte ihn lange an, schien nicht zu begreifen worauf er hinauswollte. „Und?“, murmelte er schließlich. „Ich mache mir Sorgen, komm schon … gib mir die Flasche. Mach es nicht noch schlimmer.“


    Mikael warf das Foto an die Wand, wo das Glas des Rahmens nun endgültig in kleine Einzelteile zersprang. „Lass mich!“, schrie er wütend. Semir wollte ihn an den Schultern packen, doch der Betrunkene entwickelte ungeahnte Kräfte und stieß ihn von sich. Er stolperte einige Schritte zurück und trat auf etwas, das am Boden lag. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er erkannte was es war. Eine Waffe lag in der unmittelbaren Nähe des verzweifelten Polizisten. „Mikael, was macht das hier?“, wollte er wissen und griff danach, ehe der Finne durch seinen vernebelten Verstand ihm zuvorkommen konnte und steckte sie in seinen Hosenbund. Mikael lachte und nahm einen großen Schluck aus der Flasche in seiner Hand. „Was denkst d-du? Ich … ich hätte nie zurückkommen … Ben …“, schluchzte er. „Sag so etwas nicht. Das stimmt nicht“, redete ihm Semir gut zu, doch er stieß auf taube Ohren. Mikael wollte ihm nicht zuhören. „Nnatürlich stimmt es!“, wütete Mikael. „Bitte gib mir die Flasche“, ermahnte er ihn abermals. Der Schwarzhaarige zog die Flasche enger an sich und lachte. „Nnein, dass ist meine … ich habe sie von meinem Geld b-bezahlt!“ „Mikael, du hattest genug!“, gab ihm Semir nun ungeduldig zu verstehen. Der Finne sah ihn verständnislos an. „Wer entscheidet das? DU?! DU BIST NICHT MEIN VATER, DER IST TOT!“ Er verfiel in ein Lachen. „Er ist tot, genau wie meine Mutter oder Joshua …“, das Lachen ebbte ab und veränderte sich in ein bitterliches Schluchzen. „Joshua ist tot“, murmelte er kaum hörbar, „tot.“ Mikael wollte die Wodkaflasche abermals an seine Lippen setzen, doch diesmal wusste er es zu verhindern. Er griff danach und nahm die Flasche trotz massiver Gegenwehr an sich. „Wirklich Mikael. Es reicht jetzt! Du hattest schon viel zu viel von dem Mistzeug“, sagte er mit bestimmter Stimme. Der Deutschtürke stand auf und begab sich in Richtung Küche und schüttete dort den verbliebenen Inhalt der Flasche demonstrativ in den Abfluss. Er hörte, wie Mikael hinter ihm herstolperte, jedoch nach wenigen Metern das Gleichgewicht verlor und zu Boden fiel und nun aufgebracht auf Finnisch fluchte, ehe er begann bitterlich zu weinen. Semir drehte sich um und fand Mikael auf allen Vieren auf dem Eichenparkett wieder. „Nnein, ich bbrauche sie doch!“, schrie er aufgebracht und schlug mit der Faust wütend auf den Fußboden. Immer und immer wieder traf die Faust auf das massive Holz. Tränen liefen über seine Wangen und tropften von seinem Kinn auf den Boden. „Bben …“, schluchzte der Schwarzhaarige leise hervor. Langsam ging er auf den Finnen zu und hob ihn ein Stückchen hoch, bis er vor ihm hockte und zog ihn an sich. „Alles wird gut Mikael. Es wird wieder in Ordnung kommen“, redete er ihm gut zu. Mikael wehrte sich, kämpfte gegen ihn an und drückte ihn von sich. „LASS MICH!“, schrie er wütend und hievte sich auf die Beine, fiel jedoch nach einigen wackeligen Schritten wieder auf die Erde, um erneut in einen Weinkrampf zu verfallen. „Bitte, du musst dich beruhigen.“ All sein Zureden fand keinen Adressaten mehr. Der Finne schien vollkommen weggetreten zu sein. Alle seine Sinne waren vom Alkohol vernebelt.


    Urplötzlich hielt Mikael inne, blieb lange ruhig. Seine rotunterlaufenen, glasigen Augen blickten ihn an. „M...mir ist schlecht“, würgte er leise hervor. Sofort schrillten alle Alarmglocken bei Semir. Doch er reagierte nicht schnell genug. Noch ehe er Mikael hochziehen und in Richtung Bad ziehen konnte, krampfte sich der Körper des Schwarzhaarigen zusammen und er erbrach sich auf den Boden. Kalter Schweiß trat ihm auf die Stirn und die Arme, mit denen sich der Finne am Fußboden abstützte, zitterten. Semir wartete, bis der erste Schwall vorüber war und half ihm dann sich aufzurichten. Mikael klammerte sich unbeholfen an ihm fest. „Der Boden … be-bewegt sich … m-mir ist übel …“ „Ich bring dich ins Bad“, erzählte Semir ihm mit ruhiger Stimme und zog Mikael, der nur schwerfällig einen Fuß vor den anderen setzte, mit sich. Mikael konnte sich kaum auf den Beinen halten und übergab sich immer wieder auf den Fußboden. Als sie endlich im Bad angekommen waren, ließ Semir ihn vor der Kloschüssel nieder. Mikael kniete davor und erbrach sich stöhnend, während die Hände die Toilette zitternd umklammerten. Alarmiert beobachtete Semir, wie sich die Augen des finnischen Kommissars immer wieder für einen Moment schlossen, bis er erneut brechen musste. Er musste darauf achten, dass er nicht einschlief oder womöglich sogar das Bewusstsein verlor. Das wäre in diesem Zustand fatal. Es dauerte einige Minuten, bis Mikael seinen Kopf erschöpft auf den Rand des Klos legte ohne darauf zu achten, ob er geradewegs in Erbrochenem landen würde. „Hey, nicht einschlafen hörst du!“ Semir zog Mikael hoch und tätschelte ihm sanft die Wangen. Die Lider des Schwarzhaarigen flatterten kurz, ehe sie sich erneut schlossen. „Nein, nein du bleibst wach. Du wirst jetzt nicht einschlafen!“ Er rüttelte ihn sanft. Mikael sah ihn erschöpft an, beugte sich dann abermals über die Kloschüssel und erbrach sich erneut. Schweiß tropfte von der Stirn und alle Farbe war aus dem Gesicht des jungen Mannes gewichen. Schließlich schien es vorüber zu sein. Semir wartete noch einige Minuten ab, ehe er nach einem Handtuch griff und es über den Waschbecken mit warmem Wasser befeuchtete. Er kniete sich vor Mikael hin, der weiterhin nur noch mit großer Mühe seine Augen offen behielt und wischte mit dem nassen Handtuch das Erbrochene aus seinem Gesicht und von der Jacke. Sein Blick fiel auf die Kloschüssel. Auch dort fanden sich einige stinkende Reste, sowie verschmiertes Blut von Mikaels Hand. Er sah kurz auf Mikael und entschied sich dafür sich erst einmal um ihn zu kümmern. Die hinterlassene Sauerei konnte erst einmal warten. Er hob ihn vorsichtig an und bugsierte ihn in Richtung des Sofas im Wohnzimmer, wo er ihn hinsetzte. Danach verschwand er kurz und durchwühlte Bens Medizinschrank nach etwas Verbandszeug. „Komm, zeig mal deine Hand“, gab er Mikael mit fester Stimme zu verstehen. Die glasigen Augen starrten ihn an, ohne dass er seinem Wunsch nachkam. Schließlich griff Semir selbst nach der Hand. Er warf einen genauen Blick auf die Wunde. Sie war ziemlich tief. Vorsichtig wickelte er die Hand ein. Mikaels Kopf war inzwischen nach vorne gefallen, lehnte an seiner Schulter, was es nicht wirklich einfacher machte, sich um die verletzte Hand zu kümmern. Als er fertig war, löste er den schlaffen Körper langsam von sich und hob die Beine des Finnen auf das Sofa und legte ihn vorsichtig hin, ohne dass er aufwachte. Der Deutschtürke suchte einige Decken zusammen, die er über Mikael legte. Danach griff er schnell nach seinem Handy und benachrichtigte Andrea, was passiert war, wenn er auch das ein oder andere Detail ausließ. Als er das Gespräch beendet hatte, legte er das Handy auf den Tisch und betrachte Mikael. Er wusste, dass er ihn die nächsten Stunden besser nicht aus den Augen lassen sollte. Wenn er sich in diesem Zustand erbrach, konnte er daran ersticken. Die Flasche war fast leer gewesen, vielleicht war er sogar an der Schwelle zu einer schweren Alkoholvergiftung. In den letzten Minuten hatte Semir mehrmals überlegt, ob es nicht besser war einen Krankenwagen zu rufen, aber er wollte ihm einfach diese peinliche Situation ersparen und jetzt schien es, als wäre alles in einem Rahmen, wo es nicht gefährlich war. Er beobachte einige Minuten, wie die Brust des Finnen sich regelmäßig hob und senkte, ehe er das Zimmer scannte. Mikael hatte ein komplettes Chaos hinterlassen. Fotos lagen überall zerstreut. Der kleine Glastisch war in seine Einzelteile zersprungen, ebenso der Bilderrahmen. Sein Blick blieb auf der Pfütze von Erbrochenem hängen. Es seufzte und erhob sich, um den Fußboden zu reinigen. Der säuerliche Gestank sorgte dafür, dass Semir für einen kurzen Moment davor war sich ebenfalls zu erbrechen, doch es gelang ihm seinen Körper wieder unter Kontrolle zu bringen. Immer wieder warf er einen prüfenden Blick auf Mikael. Ihm durfte keine Änderung am Zustand des Betrunkenen entgehen. Als er den Wischer wieder weggestellt hatte, fielen seine Augen abermals auf das Durcheinander, was Mikael angerichtet hatte. Kurzerhand entschloss er sich dazu, zumindest die Fotos wieder zusammenzuräumen. Er lächelte, als er einige Bilder sah, wo Mikael und Ben als Jugendliche abgebildet waren. Die beiden Jungs grinsten breit in die Kamera, als gäbe es auf dieser Welt keine Sorgen. Er atmete schwer auf und packte die Bilder schnell in die Schachtel, die er schließlich wieder ins Regal stellte. Danach setzte er sich wieder auf den Sessel und beobachtete Mikael. Er fühlte sich, als hätte er einmal mehr versagt. Er hatte nicht mitbekommen, dass Mikael so nahe am Abgrund gestanden hatte. Er hatte geglaubt, dass er nur unter Schock stand, in ein paar Tagen wieder in Ordnung kommen würde. So war es immer gewesen. Mikael hatte all diese Dinge so schnell weggesteckt. Zu schnell, wie sich jetzt herausstellte. Er erinnerte sich an Mikaels Worte auf dem Hof. Ich habe Angst mich zu verlieren. Ihm wurde immer klarer, dass das keine leeren Worte waren. Mikael war dabei sich zu verlieren und die Sache mit Ben hatte diesen Prozess um ein vielfaches beschleunigt.


    Auf dem Tisch vibrierte sein Smartphone. Er wollte es ignorieren, doch dann erschien Anttis Name auf dem Display. Er hatte vollkommen vergessen, ihn zu benachrichtigen. „Ja“, meldete er sich. „Hast du ihn gefunden? Geht es ihm gut? … Er ist doch in Ordnung?“, wollte sein Gegenüber wissen und Semir kam nicht umher zu bemerken, wie die Stimme des Anrufers bebte. „Ja, er war in Bens Wohnung“, er machte eine Pause. „Er war betrunken Antti und nicht er selbst. Ich mache mir Sorgen … im Moment schläft er.“ Er vernahm ein Seufzen von der anderen Seite der Leitung. „Ich bin auf dem Weg zum Flughafen und werde den nächstbesten Flieger nehmen. Hast du ihn solange im Auge?“ „Ja. Ich werde ihn im Blick behalten.“ Antti bedankte sich und legte dann auf. Semir war wieder alleine mit seinen Gedanken.

  • Es war sechs Uhr in der Früh, als Antti an der Wohnungstür geklingelt hatte. Nun saßen die beiden Männer in der Küche und tranken Tee. „Du wusstest, dass er sich in diesem Zustand befinden würde“, begann Semir nach einiger Zeit das Gespräch. Diese Gelassenheit die Antti aufbrachte, als er ihm alles berichtete, was in den letzten Tagen passiert war, hatte den Kollegen verraten. Antti lächelte schwach. „Mikael ist kompliziert. Er hat diesen Schutzwall um sich und du denkst, dass nichts auf der Welt ihn zerstören kann, dabei ist es so leicht. Es braucht nur ein kleines Steinchen und der ganze Wall fällt in sich zusammen.“ „Du hast ihn schon öfter so erlebt?“, fragte Semir nun nach. Er konnte sich an Situationen erinnern, wo Mikael angespannt und verzweifelt war, aber niemals hatte er ihn in einem solchen Zustand gesehen oder erlebt. Antti nickte. „Ja, schon einige Male“, sagte er, führte es aber nicht weiter aus. Es schien also etwas sehr Persönliches zu sein, wenn er bis heute nie über diesen Tatbestand geredet hatte. „Mikael fürchtet sich vor dieser Seite von sich. Er will sie verstecken und genau das macht es so gefährlich. Er verliert die Kontrolle und …“, Antti schluckte, „… er rutscht irgendwann ab ... mal mehr, mal weniger heftig.“ Der Finne seufzte. „Ich denke diese Sache mit Ben, die hat ihn zu sehr an Joshuas Tod erinnert. Dieses Erlebnis hat ihn damals vollkommen aus den Fugen … “ „Moment“, unterbrach Semir ihn, „wir waren da nach Joshuas Ermordung. Es schien ihm gut zu gehen. Er war in Ordnung.“ Antti lächelte schwach. „Ich habe keine Ahnung, wie er die Fassade überhaupt solange aufrecht gehalten hat … er ist total zusammengebrochen. Hat niemanden an sich herangelassen, ist abgestürzt.“ Semir nickte. „Er hatte eine Waffe bei sich, als ich ihn gefunden habe“, äußerte der Deutschtürke nun. Antti schien nicht überrascht. „Er will sich nicht wirklich etwas antun, hat er mir mal gesagt … aber er denkt darüber nach, dass alles nicht passiert wäre, wenn es ihn nicht gäbe. Das macht es so gefährlich. Wenn er diesen Gedanken nur einmal weiterdenkt. Wir wissen beide, was das bedeutet.“ „Weiß Ben davon?“, wollte Semir nun wissen. Antti schüttelte den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Du kennst Mikael, Schwäche zeigen ist nicht gerade seine Stärke. Es hat lange gedauert, bis er so viel Vertrauen in mich hatte, damit er mich anruft, wenn er spürt, dass es nicht mehr geht. Vielleicht ist es, weil Ben … Ben kennt nur den Mikael, der immer glücklich war, der Ungerechtigkeit gehasst hat.“ Semir sah gedankenverloren auf seine Teetasse. Irgendwie fühlte er sich schlecht, dass er in all den Jahren nie wirklich gemerkt hatte, wie zerbrechlich Mikael tatsächlich war. Für ihn war der junge Kollege immer unerschütterbar gewesen, hatte sogar eine Spur von Egoismus in sich getragen. Antti schien seine Sorge zu erkennen. „Du kannst nichts dafür. Er ist gut darin die Fassade aufrecht zu erhalten. Vielleicht war es der Zufall … hätte ich ihn damals nicht in der Wohnung gefunden – in diesem Zustand. Ich denke, er hätte sich mir nie anvertraut.“


    „Mikael hatte eine komplizierte Kindheit und Jugend. Ich denke es liegt daran“, äußerte Antti nun. Semir sah wieder auf. „Auf den Fotos mit Ben sah er eigentlich ganz glücklich aus.“ „Er hat mir mal erzählt, dass er solange glücklich war, bis er herausfand, was die Geschäfte seiner Familie wirklich waren. Von da an gab es immer Streit und als er dann nach Finnland zog … er sagte mal, dass er sich geschlagen gegeben hat.“ Antti ließ die Tasse von einer Hand in die andere gleiten. „Er ist abgerutscht in die Kriminalität. Er hat es mir nie genau erzählt, was er gemacht hat, aber es waren keine Bagatellen … irgendwann scheint etwas passiert zu sein. Ich weiß nicht was und ich denke, dass der Einzige der es wusste Joshua war, aber danach hat er gekämpft diese Welt zu verlassen und Joshua hat ihm geholfen. Als er starb …“ der Blonde schluckte. „… da ist Mikaels Halt auch gestorben. Eva hat ihn auffangen können, aber sie kann Joshua nicht ersetzen. Das Gleiche gilt für Ben.“


    Semir brauchte einen Moment, bis die Informationen zu ihm durchgesickert waren. Er hatte immer gewusst, dass Joshua wichtig für Mikael war, aber nicht, dass er so wichtig war. „Er braucht Hilfe, Antti“, presste er leise heraus. „Das weiß ich. Ich habe ihn zu einem Psychologen geschickt, aber er war nur einmal dort. Er konnte zu dem Mann kein Vertrauen fassen, hatte Angst das alles rauskommt und er schließlich den Job verliert … das war als nach seinem Unfall alles wieder hochgekommen ist. Danach ging es ihm aber auch besser, bis vor einem Jahr. Da habe ich gemerkt, wie die Fassade langsam bröckelte. Er wurde angespannter, aggressiver und seine Kopfschmerzen wurden heftiger.“


    Semir und Antti verstummten, als sie leise Schritte hörten. Sie sahen auf und erblickten Mikael, der in Boxershorts und T-Shirt im Raum stand und sie mit rotunterlaufenen Augen anstarrte. „Antti“, ertönte es leise, „Wie kommst du hier her?“. Der stämmige Finne lächelte. „Erinnerst du dich daran, dass du mich angerufen hattest?“ Er bekam ein schwaches Nicken als Antwort. „Dann weißt du es. Ich habe dir doch gesagt, dass ich immer für dich da sein werde. Erinnerst du dich, was hier in Bens Wohnung passiert ist?“ Mikael nickte wieder, sagte aber auch jetzt Nichts. Der junge Finne blickte verlegen zu Boden. Antti schob eine Tasse hin und schüttete etwas Tee hinein. „Setz dich“, sagte er mit bestimmter Stimme und Mikael folgte seiner Anweisung. „Du siehst schlecht aus, Junge.“ Mikael blieb stumm und umklammerte mit seinen bleichen und zitternden Fingern die Tasse.


    „Ben … Antti, ich … er …“, Mikaels Stimme versagt, ehe er die Worte aussprechen konnte. „Er wird wieder in Ordnung kommen, Mikael. Er ist doch ein Kämpfer“, sagte Antti mit starker Stimme und griff nach seiner Hand, die er mit einem festen Druck umschloss. „Und du auch. Du solltest jetzt in die Dusche und dann rufst du Eva an und sagst ihr dass du okay bist. Wirst du das schaffen?“ Der junge Finne nickte sanft und erhob sich.


    Semir sah ihm hinterher, wie er langsam das Esszimmer verließ. Antti lehnte sich zurück. „Vielleicht sollten wir zu Ben ins Krankenhaus fahren, vielleicht hilft ihm das … wenn sein Zustand wirklich stabil ist, dann kann Mikael das auf den Monitoren sehen und …“ „… Bens Vater will ihn nicht in der Nähe seines Sohnes haben. Mikael steht nicht auf der Liste der zugelassenen Besucher“, unterbrach Semir ihn mit schwerer Stimme. „Er will was?!“ Antti entglitten alle Gesichtszüge. „Das kann er nicht machen. Mikael muss wissen, dass er auch jetzt für Ben da sein kann. Er muss etwas tun können für ihn und wenn es nur reden ist!“, ließ der Blonde seiner Wut freien Lauf. „Ich kann versuchen noch einmal mit ihm zu sprechen“, versprach Semir und Antti nickte. „Erzähl ihm, dass es wichtig ist. Wirklich wichtig!“



    *


    Nur kurz nach dem Frühstück war Semir zur PAST aufgebrochen. Seine Chefin hatte einen kurzen Bericht von ihm verlangt, jedoch schnell erkannt, dass er nicht wirklich bei der Sache war und ihn so schließlich für die nächsten Tage freigestellt. Der Mord von „Olaf Fischer“ wurde an einen Beamten der Mordkommission übergeben. In einer anderen Situation hätte diese Maßnahme Semir maßlos geärgert, doch im Augenblick war er darüber nicht ganz unglücklich. Die letzten Stunden hatten gezeigt, dass er derzeit wirklich andere Sorgen hatte, als den Mörder eines Drogenschmugglers zu finden. Nun wollte er nur noch eins, so schnell wie möglich sehen, wie es Ben ging und so war sein nächstes Ziel das Universitätsklinikum von Köln.


    Es war zehn Uhr und die Besuchszeit war erst am Nachmittag, aber man hatte eine Ausnahme gemacht und Semir konnte auch schon am Vormittag für einige Minuten seinen Freund besuchen. Auf dem Flur der Intensivstation stellte sich heraus, dass er nicht der Einzige war, dem man dieses Recht heute gewährt hatte. Kurz vor Bens Zimmer kam ihm Konrad Jäger entgegen und gab ihm zum Gruß die Hand. „Wie geht es Ben?“, fragte Semir fast in einem Flüsterton. Zu groß war die Sorge vor neuen Hiobsbotschaften. „Unverändert. Sein Zustand ist weiterhin kritisch“, gab ihm Konrad Jäger Antwort. Semir nickte. Er hatte gehofft, dass sie endlich positive Nachrichten bekommen würden, denn so würde sein Anliegen noch einmal schwerer werden. „Ich wollte mit Ihnen über Mikael reden“, presste er schließlich heraus und verfolge, wie sich die Miene seines Gegenübers verfinsterte. „Was wollen Sie?“ Der Unterton in der Stimme von Bens Vater war hart. „Ich wollte Sie bitten, ihn nur für ein paar Minuten zu Ben zu lassen.“ Konrad Jäger sah ihn einige Zeit an, ohne auf die Bitte zu antworten. Die Antwort des Schwarzhaarigen, die dann folgte, war umso härter. „Ich werde meine Meinung nicht ändern. Solange ich es verhindern kann, wird er nicht in der Nähe von Ben auftauchen!“ „Herr Jäger, ich verstehe ja Ihre Vorbehalte gegen Mikael, aber der Junge muss Ben sehen. Hören Sie, er ist gestern vollkommen zusammengebrochen. Er gibt sich die Schuld und…“ „…Er ist Schuld!“, fuhr sein Gegenüber dazwischen. „Es tut mir leid, er wird Ben nicht sehen dürfen.“ Ohne auf eine Antwort von Semir zu warten, lief Jäger Senior an ihm vorbei und ließ ihn erstaunt und sprachlos zurück. „Das ist ja fabelhaft gelaufen“, murmelt er leise und begab sich in Richtung der Tür von Bens Zimmer.


    Semir holte sich einen Stuhl an das Bett und betrachtete für einige Minuten seinen Kollegen, ohne dass er ein Wort herausbrachte. Er fragte sich, ob Ben in diesem Zustand bemerken würde, dass Mikael fehlt. Dass sein Freund nicht einmal nach ihm sah. „Mikael darf nicht kommen“, sagte er schließlich behutsam und klärte ihn über die Geschehnisse in den letzten Tagen auf. „Dein Vater hat es verboten. Aber Ben, er denkt jede Minute an dich. Du bist immer in seinen Gedanken. Er macht sich große Sorgen.“ Er begann damit Ben von dem bisherigen Verlauf des Tages zu erzählen. Berichtete ihm, dass der Fall nun bei der Mordkommission lag und er nicht ganz unfroh darüber war. Er hatte für einen Augenblick darüber nachgedacht auch den gestrigen Abend vor dem Bett seines Partners Revue passieren zu lassen, es dann aber ohne triftigen Grund gelassen. Nein, das war nicht der Ort für solche Dinge. Semir griff nach Bens Hand und drückte sie sanft. „Langsam wird es Zeit für eine Besserung, Ben … kämpfe! Gib nicht auf.“


    Der deutsche Kommissar blieb noch einige Zeit an Bens Bett sitzen, merkte jedoch, dass ihm die Themen ausgegangen waren, um einen Monolog zu führen, also blieb er stumm und beobachte stattdessen, wie sich Bens Brust in regelmäßigen Abständen hob und wieder senkte. Immer wieder schweiften seine Gedanken ab und er dachte daran, wie er Mikael gestern vorgefunden hatte. Konnte ein solch kleines Erlebnis einen Menschen wirklich so in die Verzweiflung treiben? Er selbst wusste aus Erfahrung, wie es war geliebte Leute in seinem Umfeld zu verlieren. Nach dem Tod von Chris oder Tom war er am Boden zerstört, hatte sich aber irgendwann wieder gefangen. Semir hoffte, dass auch Mikael nach dem Zusammenbruch am gestrigen Abend bald wieder der Alte war. Die Tatsache, dass Antti in Helsinki alles stehen und liegen gelassen hatte, zeugte jedoch vom Gegenteil. Sicher, Antti war jemand, der im Bezug auf seinen jungen Kollegen gerne überreagierte, aber extra 1.000 Kilometer fliegen, weil Mikael am Telefon verzweifelt geklungen hatte? Da musste etwas sein, was die finnischen Kollegen bisher mit Bravour vor ihnen geheim gehalten hatten.


    Es verging Stunde um Stunde, in denen sich Semirs Gedanken drehten. Immer und immer wieder ging er vor seinem inneren Auge die letzten Tage durch, suchte verzweifelt nach dem Augenblick, wo er versagt hat. Dem Augenblick, in dem er nicht gesehen hatte, dass Mikael am Abgrund stand. Dem Augenblick, wo er versagt hatte seinen Partner vor einer Dummheit zu schützen. Inzwischen war Semir sich sicher, dass er Mikael hätte schützen können, wenn er Ben geschützt hätte. Wenn er nicht zugelassen hätte, dass Ben diesen Schicksalsmorgen alleine verbracht hätte, dann wäre sein Freund nie auf die Idee gekommen zum Anwesen von Hansen zu fahren und er wäre nicht angeschossen worden. Es wäre alles gut gegangen für Ben und für Mikael. Beide müssten jetzt nicht leiden.


    Semir schüttelte den Kopf, um die Schuld loszuwerden, die sich begann in ihm einzunisten. Es waren unglückliche Zufälle gewesen, die auch er nicht hätte verhindern können. Er drückte ein letztes Mal sanft die Hand von Ben, ehe er aufstand und das Krankenhaus verließ.


    Semir senkte den Blick, als er durch seine Wohnungstür trat. „Ich wünschte, ich hätte positive Neuigkeiten, aber es gibt keine. Sie wissen noch nicht, ob Ben durchkommt“, teilte er Andrea mit, während er ihr einen Kuss auf die Lippen gab. Er sah an seiner Frau vorbei ins Wohnzimmer. Eva saß auf dem Sofa und blickte stillschweigend aus dem Fenster. „Mikael hat heute morgen angerufen“, berichtete seine Frau, „sie macht sich fürchterliche Sorgen um ihn.“ Semir nickte. „Du hättest ihn sehen sollen. Ich hoffe, dass Antti es schafft seine Abwärtsspirale aufzuhalten …“ Andrea nickte traurig und er begab sich ins Wohnzimmer.


    Eva sah auf und lächelte ihn müde an. „Gott sei Dank sind Oskari und Viivi mit euren Kindern beschäftigt, dann fällt ihnen vielleicht nicht auf, dass etwas nicht stimmt“, sagte sie leise. Sie sah herab und spielte mit ihrem Ehering. „Es geht ihm sehr schlecht, oder?“ „Ja, leider“, gab Semir ehrlich zu. Eva hatte das Recht auf die Wahrheit. Es ging hier schließlich um den Mann, den sie liebte und wahrscheinlich hätte es ohnehin keinen Zweck sie anzulügen. Mikael konnte seinen Zustand nicht weiterhin verheimlichen. Es war offensichtlich, wie erschöpft er war. „Er hat mir erzählt, dass Ben … dass er tot war.“ Eine einzelne Träne lief ihr über die Wange und tropfte auf das Sofa. „Mikael musste ihn wiederbeleben“, flüsterte er leise die Antwort. Es war eine fürchterliche Vorstellung, dass Mikael ganz alleine war, als Bens Herz nicht mehr geschlagen hatte. Er konnte sich nur vorstellen, welche Verzweiflung und Panik in diesem Moment Mikaels Körper erfasst hatte. Eine Panik, die irgendeine Tür in seinem Inneren aufgerissen hatte, die er nun nicht mehr fähig war zu schließen. Ihre Tränen wurden mehr und Semir drückte sie sanft an sich. „Ich habe Angst, Semir. Ich habe Angst, dass Ben stirbt und ich habe Angst, dass Mikael es nicht durchsteht … er tut immer so stark, dabei ist er so verletzlich, instabil.“ Ihr Körper bebte in seinen Armen und für viele endlose Minuten sagte niemand etwas. Das einzige Geräusch im Raum blieb Evas Schluchzen.

  • „Würdest du mich wo hinfahren?“ Antti sah auf und blickte Mikael. Er musterte seinen jungen Kollegen kritisch. „Mikael … der einzige Ort, wo ich dich heute hinfahren werde ist Semirs Wohnung. Du siehst fürchterlich aus … dein T-Shirt, all das Blut und du bist blass.“ Sofort als sein Kommentar seine Lippen verlassen hatte, sah er, wie Mikaels Gesichtsausdruck sich veränderte. Er hatte nicht geglaubt, dass er noch trauriger werden konnte, aber das war wohl der Beweis dafür. „Ich hab sonst nichts hier“, nuschelte er leise und unbeholfen. „Warte hier, ich hole dir etwas von Ben.“ Antti stand auf und lief in Richtung des Schlafzimmers, als Mikaels Stimme erneut erklang. „Nein … bitte nicht. Ich-ich will nicht mit Bens Klamotten rumlaufen.“


    Er drehte sich um und bemerkte, wie Mikael zitterte. „Okay. Wir holen dir was Neues.“ Mikael schüttelte den Kopf. „Wir fahren dorthin, wo meine Sachen sind … ich muss mit Anna und Hannes reden.“ Ohne dass Antti etwas erwidern konnte, hatte Mikael sich bereits in Bewegung gesetzt und war auf dem Weg zur Wohnungstür. Er hechtete ihm hinterher. „Mikael, ich denke, dass es keine gute Idee ist dort hinzufahren.“ Er bekam keine Reaktion. „Mikael, wirklich … du kannst das in deinem Zustand unmöglich, du wirst alles nur noch verschlimmern!“ Der Schwarzhaarige blieb stehen. „Es kann doch nicht mehr schlimmer werden“, flüsterte er. Antti griff nach seinem Arm und drehte ihn zu sich. „Nein, weil es jetzt aufwärts gehen wird. Junge, ich werde nicht zulassen, wie du diesen Weg gehst! Ich weiß, dass du stark genug bist und das durchstehst.“ Mikael sah ihn lange stumm an und dennoch wusste er genau was in seinem Kollegen vorging. Er hatte Zweifel, dass er stark genug war. „Joshua ist tot … wegen mir und Ben … er … du weißt schon … die Welt wäre besser dran ohne mich …“, stammelte Mikael schließlich und Antti beobachtete, wie sich die Hände seines Freundes zu Fäusten ballten. „Nein, das stimmt nicht und das weißt du tief in dir drin auch. Als du zum Mord gekommen bist, da habe ich einen Freund gefunden. Einen Freund, für den ich alles tun würde. Einen Freund, der meine Familie ist. Ohne dich wären Oskari und Viivi nicht da. Du bist ein so großartiger Vater. So ein liebevoller Mann. Die Welt wäre nicht besser dran ohne dich!“, erklärte er seinem Gegenüber mit bestimmter Stimme. Er zeigte auf einen silbernen Audi. „Mein Leihauto steht da. Ich werde dich zu deiner Cousine fahren, aber ich werde dich nicht alleine reingehen lassen.“ Mikael nickte. „Wie du meinst, Antti.“



    Mikael sah auf die Villa und versenkte die Hände in seinen Hosentaschen. Er spürte, wie Antti seine Hand auf seine Schulter legte. Er schloss für einen Moment die Augen und atmete tief durch, ehe er sich schließlich in Bewegung setzte und in Richtung Haustür ging. Seine Hände zitterten und er hatte das Gefühl, wieder zu Boden gerissen zu werden. Die Leere und Dunkelheit breitete sich abermals in ihm aus. Noch bevor er geklingelt hatte, zog Hannes die Tür auf. Seine braunen Augen musterten ihn und blieben auf den blutverschmierten Sachen hängen. „Wie geht es dir Hannes?“, fragte er und versuchte seine Stimme so stark, wie möglich klingen zu lassen. „Weiß nicht“, murmelte der Jugendliche und öffnete die Tür ein Stück weiter. „Vor ein paar Stunden war die Polizei da und hat alle Unterlagen von Urgroßvater mitgenommen.“ Er nickte. „Das ist normal. Sie müssen ja noch untersuchen, in wie weit er an diesen Sachen beteiligt war.“ Mikael betrat, dicht gefolgt von Antti, das Haus. „Du warst nie hier, weil du wieder mit uns eine Familie sein willst.“ Er kam nicht umher, die Enttäuschung in Hannes Stimme zu spüren. „Nein. Es war mein Job Georg aus der Reserve zu locken, um ihm krumme Geschäfte nachweisen zu können.“ Der Blick des Jungen verfinsterte sich. „Das ändert nichts an all den Sachen, die ich dir anvertraut habe. All das habe ich ernst gemeint, Hannes.“ „Ja klar“, schimpfte Hannes leise. „Ich wollte auch dich vor ihm beschützen“, versuchte er. „Ach und deshalb war es dir so scheiß egal, dass er mich einfach mitgenommen hat?“ „Mein Freund … er war …“ Er schaffte es nicht die Worte über seine Lippen zu bringen. „Ist deine Mutter da, Hannes?“, griff nun Antti ein. „Sie ist in der Küche“, gab Hannes kurz Antwort. „Gut, dann bring uns bitte zu ihr.“ Mikael schüttelte den Kopf. „Geh du nur Antti, ich muss vorher noch was nachschauen.“ Der Blonde sah ihn fragend an. „Was musst du nachschauen?“ „Nichts von Bedeutung, gib mir nur ein paar Minuten.“ Widerwillig nickte sein älterer Kollege.


    Er wartete bis Antti Hannes in die Küche folgte und bog dann in den großen Wohnsaal ab. Seine Finger fuhren über die Holzschnitzereien in der Wand und drückten an einer leicht abgenutzten Stelle, die Wand ein Stück nach innen, wodurch ein Mechanismus betätigt wurde. Ein kleines Regal mit einigen Mappen tat sich auf. Er griff nach der Dicksten und schlug sie auf. Sein Großvater hatte ihn wirklich all die Jahre beobachten lassen. Es gab Fotos auf denen er gerade 16 war. Er hob eines mit zittrigen Fingern aus der Mappe und betrachtete es näher. Darauf war deutlich zu erkennen, dass er gerade eine Straftat beging. Auf einem anderen Foto wurde er zusammengeschlagen. Georg hatte seine Leute nicht eingreifen lassen. Es war ihm egal gewesen, dass diese Menschen ihn umgebracht hätten. Er blätterte weiter. Bis zu seinem 19. Geburtstag hatte er ihn intensiv beobachtet, dann hatte es aufgehört und fing erst dann wieder an, als sein Vater vor einigen Jahren starb. Aufmerksam las er die Notizen, die sein Großvater über ihn gemacht hatte. Seine Augen weiteten sich, als er die letzte Anmerkung las. ‚Schwäche: Ben Jäger. Ausschalten.‘ Er fühlte sich, als würde ein schwarzer Sog nach ihm greifen. Die Mappe glitt ihm aus den Fingern und fiel auf den Fußboden. Das Zimmer drehte sich und er musste sich an der Wand abstützen, um den Halt nicht zu verlieren. Er hatte das alles getan, um Ben zu schützen, warum hatte Georg weiterhin den Plan gehabt, seinen Freund aus dem Weg zu räumen? Ihm wurde übel, kalter Schweiß aus. Sein Gedankenstrom schien sich zu verlangsamen und sein Körper wurde schwer. Irgendetwas zog ihn unaufhaltsam in ein schwarzes Loch. Tiefer und tiefer.


    Er versuchte klar zu denken, doch es gelang ihm nicht. Jemand griff nach ihm, er verlor den Halt an der Wand und schwankte, wurde aber aufrecht gehalten. Eine verschwommene Gestalt stand vor ihm, Stimmen hallten in seinem Kopf, doch er konnte sie nicht verstehen.


    „Mikael!“, rief Antti mit kräftiger Stimme. Sorge breitete sich in ihm aus. Er hatte ihn mit einem festen Griff umschlossen, doch es schien nicht, als würde er ihn überhaupt wahrnehmen. Mikael war blass, Schweiß lief seine Stirn herunter. Anttis Blick schweifte über die Fotos und Blätter auf den Boden. Was zur Hölle hatte er sich angesehen? Er konnte erkennen, dass es Mikael auf den Bildern war, aber das konnte ihn nicht so aus der Fassung gebracht haben. Er wusste, dass Georg Hansen ihn beobachtet hatte. „Junge, bitte komm zu dir!“, forderte er erneut. Endlich vernahm er ein Blinzeln und Mikaels Augen sahen in seine. „Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte er mit behutsamer Stimme, „Was ist passiert?“ „Ben“, war alles was Mikael herausbrachte, dann schlossen sich seine Augen und er brach vollkommen in sich zusammen. Antti fing ihn auf und hob ihn in seine Arme. „Was ist mit ihm?“, hörte er eine panische Frauenstimme, „soll ich einen Arzt rufen?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein. Er ist nur ohnmächtig. Er wird gleich wieder bei uns sein.“ Antti legte Mikael auf das große Sofa unmittelbar in seiner Nähe und tätschelte Mikael leicht die Wange. „Junge, komm aufwachen“, sagte er behutsam. „Ich soll wirklich keinen Arzt rufen?“ Er sah sich um und blickte in das panische, ängstliche Gesicht von Anna Hansen. Er schüttelte den Kopf und wandte sich wieder Mikael zu. „Er hatte vor ein paar Jahren eine schwere Kopfverletzung. Er klappt öfters zusammen, es ist nicht so schlimm, wie es aussieht“, beruhigte er sie. In Wahrheit wusste Antti, dass dieser Zustand keinesfalls ohne Risiko war. Würde die Ohnmacht länger andauern, käme er um einen RTW nicht drumherum.


    Er tätschelte Mikael erneut leicht die Wange und raunte leise seinen Namen. Dieses Mal spürte er, dass er sich leicht bewegte. Einen Augenblick später öffneten sich seine Augen. „Du warst ohnmächtig“, erzählte Antti ihm. „Erinnerst du dich, was passiert ist?“ Mikael nickte seicht. „Da war diese Akte von mir“, hauchte er, „und diese Anmerkung über Ben.“ Antti drückte Mikaels Hand. „Darf ich sie lesen?“, fragte er behutsam. Er wusste, dass dort vielleicht Dinge drinstanden, die sein Freund ihm verheimlicht hatte und er wollte keinesfalls in seine Privatsphäre eindringen. Als er ein Nicken erhielt, sammelte er die Blätter und Fotos auf dem Boden ein und betrachtete sie aufmerksam. Auf dem einen Foto sah es so aus, als wäre Mikael gerade dabei einen der Alkoholläden in Helsinki zu überfallen. Er hielt eine Waffe in der Hand und zielte auf den Mann hinter dem Tresen. Er steckte das Foto wieder in die Mappe und blätterte die nächsten Aufnahmen durch. Oft war nicht viel Auffälliges dabei. Ein Jugendlicher, der rauchte, mit Freunden Alkohol trank oder kleine Bagatellen, wie Graffitis sprayen, ausübte. Dann jedoch raubten ihm drei Fotos den Atem. Jemand – die Jugendlichen aus den vorherigen Fotos – schlug auf Mikael ein. Man konnte auf den Aufnahmen deutlich erkennen, dass er bewusstlos war. Auf dem nächsten Bild waren die Jugendlichen weg und es beugte sich ein Polizist über Mikael. Er kannte ihn gut. Es war sein zweiter Partner, Ville Tamminen. Das dritte Foto zeigte, wie ein Rettungswagen dort stand. Warum hatte Georg Hansen zugelassen, dass sein Enkel zusammengeschlagen wurde? Dieser Fotograf hätte ihm helfen können oder zumindest die Polizei anrufen. Hastig drehte er die Fotos um und betrachtete die Uhrzeiten. Seine Hände begannen zu zittern. Fast zehn Minuten waren vergangen zwischen den ersten beiden Fotos. Zehn Minuten, in denen niemand einem bewusstlosen Jugendlichen geholfen hatte. Dann noch einmal zehn Minuten bis der Notarzt eintraf.


    Er sah Mikael an und dachte an die Zeit zurück, in der er mit Ville zusammengearbeitet hatte. Sie hatten so oft darüber gesprochen, was das schlimmste an der Polizeiarbeit war. Ville hatte ihm einmal von diesem Zwischenfall erzählt. Er war damals noch Streifenpolizist. Er hatte einen Jungen wiederbeleben müssen und die Ärzte hatten tagelang um sein Leben gekämpft. Er hatte lange im Koma gelegen. Antti hatte es komisch gefunden, als Ville ihm erzählte, dass er immer wieder zu Besuch bei diesem Jungen war. Wie sehr ihm die Verzweiflung seiner Eltern zugesetzt hatte. Nun, wo er wusste, dass Mikael offensichtlich dieser Junge war, fiel es ihm schwer zu glauben, dass Andreas Hansen wirklich in tiefer Sorge am Bett seines Sohnes saß. Es war geradezu eine groteske Vorstellung, wenn man bedachte, dass der gleiche Mann Jahre später auf seinen einzigen Sohn schoss. Irgendwann war er aufgewacht und Ville hatte ihm nur noch wenige Besuche abgestattet. Er konnte regelrecht in seinem Schädel hören, wie enttäuscht die Stimme seines Kollegen immer geklungen hatte, als er berichtete, dass der Junge jede Hilfe abgelehnt hatte.


    „Ville Tamminen“, sagte er laut und beobachtete ganz genau die Reaktion seines Kollegen. „Er dachte, er kann mich retten“, murmelte Mikael nun leise. „Ich wollte nicht gerettet werden, nicht von einem Bullen … zumindest nicht in der Zeit.“ „Ja, Ville hatte ein ausgeprägtes Rettersyndrom“, sagte er und schluckte schwer. Genau diese Tatsache hatte dafür gesorgt, dass Ville starb. Er wollte einer angeschossenen Person helfen, vergaß alles um sich herum und wurde schließlich selbst erschossen. „Ich nehme an, du willst mir nicht erzählen, wie es dazu gekommen ist?“, fragte er und hielt eines der drei Fotos hoch. Mikael schüttelte leicht den Kopf. Antti nickte sanft und widmete sich den Blättern in der Mappe. Krankenakten von seinem Schädelhirntrauma, Geburtsurkunden. Woher hatte der Typ das alles? Dann stolperte er schließlich über die Anmerkung, die Mikael so aus den Fugen gebracht haben musste. ‚Schwäche: Ben Jäger. Ausschalten.‘ Er schloss für einen kurzen Augenblick die Augen und atmete einmal tief durch. „Scheiße“, entkam es ihm leise. Dieser Mann hatte vor, Ben aus dem Weg zu räumen. Es war kein Zufall gewesen, dass er an dem Abend auf Ben geschossen hatte, kein plötzlicher Einfall. Hätte er an dem Abend nicht geschossen, dann wäre an einem anderen Tag ein Mordanschlag auf den deutschen Kommissar verübt worden.


    Anttis Blick blieb auf dem Regal haften, welches durch den geheimen Mechanismus wohl der Spurensicherung verborgen geblieben war. Er stand auf und stellte sich davor. Dort standen sicherlich an die 40 Mappen. Zufällig zog er eine Mappe hervor und scannte den Namen, steckte sie dann wieder hinein und griff nach der nächsten Akte. Dort stand ein Name, den er zu gut kannte. Seine Augen fielen kurz auf Mikael, ehe er sich entschied, die Akte zusammenzurollen und in seine Manteltasche zu stecken. Er blieb noch einige Minuten vor dem Regal stehen und untersuchte noch weitere Mappen. Georg Hansen hatte wirklich Informationen über jeden von Mikaels Freunden und Kollegen. Angewidert verzog er das Gesicht. Er blickte sich um. Anna Hansen beugte sich liebevoll über Mikael und redete ihm gut zu, während Hannes stumm danebenstand. „Ich bin kurz draußen“, ließ er sie wissen. „Achten Sie darauf, dass er sich nicht von der Stelle rührt!“


    Antti wartete, bis die Frau seine Bitte mit einem Ja bestätigte und entfernte sich dann aus dem Haus. Er setzte sich auf die Treppen vor der Haustür und zog die eingesteckte Mappe wieder hervor. „Joshua Lehto“, murmelte er leise und hob den Deckel an. Aufmerksam betrachtete er die Bilder und Informationen, die Hansen zu dem Jungen gesammelt hatte. Joshua war in dem gleichen Viertel wie Mikael aufgewachsen, schien aber nicht in kriminelle Taten verstrickt gewesen zu sein. Er fand keinerlei Fotos oder Notizen die darauf hindeuteten. Lehto hatte seinen Abschluss gemacht, die Polizeischule besucht. Eine vorbildliche Entwicklung. Sein Blick blieb auf dem Datum haften. Lehto war ein Jahr früher als Mikael auf die Polizeischule gegangen. Er war sich ganz sicher. Mikael hatte das Datum am Fuß eintätowiert und es war ein späteres. Warum zur Hölle, wusste er davon nichts? Er war immer davon ausgegangen, dass diese beiden Jungs gemeinsam begonnen hatten. Sie hatten schließlich alles gemeinsam gemacht. Er seufzte und griff nach seinem Smartphone, um einen Namen in seinen Kontakten anzuwählen, der ihm Antworten liefern konnte. „Kyllä, komisario Veikko Lindström. Helsingin rikospoliisista“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende. „Ich bin es“, ließ er Veikko wissen, „Ich brauche deine Hilfe.“ „Wobei? Geht es um Mikael … ist es sehr schlimm? Was ist mit Ben … er kommt doch durch?“, prasselten die Fragen seines jungen Kollegen auf ihn ein. „Dafür hab ich jetzt keine Zeit Veikko. Bens Zustand ist weiterhin kritisch, aber hör mal … Joshua, Mikael und Du? Habt ihr die Polizeischule zur gleichen Zeit begonnen?“ Anttis rechter Fuß wippte nervös auf und ab. „Wozu musst du denn so was wissen? Ist das von Bedeu…“ „Sag es mir einfach!“, würgte er die Nachfragen ab. „Ist ja gut, ist ja gut … Nein, Mikael hat ein Jahr nach uns begonnen. Aber diese Prüfungen da, die sind jetzt nicht so herausfordernd und …“ „… er hat zwei Jahre in einem absolviert?“ „Würdest du mich einmal ausreden lassen? Aber ja, hat er … ich dachte du wüsstest das, steht ja immerhin in seiner Akte. Da waren einige hohe Tiere, die das abgesegnet haben.“


    Antti blieb einige Zeit still. „Warum?“, entkam es ihm schließlich leise. „Warum, was?“ „Warum beginnt er ein Jahr später …“ Veikko lachte leise auf. „Er ist ein Jahr jünger als Joshua gewesen, deshalb vielleicht und ich, ich habe in der Schule einige Klassen überspru…“ „… das ist es ja“, fuhr er abermals dazwischen, ohne das genervte Aufstöhnen seines Partners wahrzunehmen. „Mikael hat die Schule im gleichen Jahr abgeschlossen wie Joshua. Was hat er gemacht? Wo hat er sich rumgetrieben?“ „Ich dachte du bist in Deutschland, frag ihn halt … und wozu überhaupt die ganze Fragerei nach Joshua?“ „Erkläre ich dir später, danke dir für deine Infos.“ Antti legte auf, ehe Veikko Widerworte geben konnte. Er hatte jetzt keine Zeit, dass ganze Wirrwarr in seinem Kopf auch noch mit einer dritten Person zu teilen. Seine Augen fielen wieder auf die Mappe in seinem Schoß. Er hatte Joshua nie wirklich kennengelernt, aber er war sich sicher, dass es eine enge Freundschaft zwischen den beiden gab. Mikaels Worte hallten in seinem Kopf wieder. „Ich wollte nicht gerettet werden …“ Langsam wurde ihm klar, dass der Grund, warum Mikael ein Jahr später begann, ein simpler war. Er hatte ganz einfach nicht zur Polizei gewollt. Nichts in seiner Biografie ließ darauf schließen. Er war sich sicher, dass am Ende Joshua keine unbedeutende Rolle gespielt hatte. Dafür war der Junge Mikael zu wichtig gewesen. Als Joshua ermordet wurde, weil jemand sich an Mikael rächen wollte. Der Junge hatte es nie überwunden und es nicht einmal übers Herz gebracht das Grab von Lehto zu besuchen. Warum fühlte er sich schuldig ? Warum dachte er, dass es ihm nicht zustand an Joshuas Grab zu stehen?


    Antti seufzte. Er könnte Mikael danach fragen, aber konnte er ihm wirklich weitere dunkle Erinnerungen aus der Vergangenheit zumuten. Er schüttelte den Kopf. Das würde er nicht können. Die Antworten auf seine Fragen mussten warten. Vielleicht könnte er einige Akten anfordern, die mit dem Jahr zusammenhingen, als Mikael in der Polizeischule begann? Darin würde er Antworten finden, die vielleicht auch seinem Kollegen helfen würden. Denn inzwischen war Antti sich sicher, dass sein Zusammenbruch nicht mehr nur mit Ben zu tun hatte, sondern diese Situation nur ein Auslöser war. Seine Hand glitt in seine Anzugtasche und er griff nach seinem Feuerzeug. Er hielt es an das Papier, zündete es an und beobachtete, wie schwarze Ascheflocken durch die Luft schwebten. Erst als nur noch verkokelte Reste übrig waren, machte er kehrt und betrat wieder das Haus.


    Mikael hatte sich inzwischen aufgerichtet und saß neben seiner Cousine auf dem Sofa. Antti setzte sich auf einen Sessel und beobachtete die Beiden. Keiner sagte ein Wort, sie saßen einfach nur stumm da. Gleiches galt für den Jungen. Antti seufzte. Das waren also die Scherben einer Familie. Er stand auf. „Wir sollten gehen“, merkte er kurz an und Mikael nickte. Antti sammelte die Reste von Mikaels Akte ein und sperrte sie zurück in das geheime Fach zu den anderen Mappen. Er würde später gemeinsam mit Semir überlegen, wie sie weiter verfahren würden. Danach ließ er sich von Hannes Mikaels Tasche bringen und führte den Kollegen, der immer noch wackelig auf den Beinen war, aus dem Haus. Er spürte, wie Mikael bei den verkohlten Resten vor der Haustür kurz inne hielt. „Du hast eine Mappe verbrannt“, murmelte er leise. „Ja, meine eigene. Das sind Dinge, die einen alten Mann nichts angehen“, sagte er behutsam und zog Mikael weiter zum Auto. Er wollte diesen Ort so schnell, wie möglich verlassen. Es tat Mikael nicht gut hier zu sein.


    Er setzte Mikael auf den Beifahrersitz und stieg anschließend auf der anderen Seite ein. „Du musst mich hassen“, ertönte es. Er sah erstaunt zur Seite. „Wie meinst du das, Junge?“ „All diese Sachen, die ich gemacht habe … du musst mich dafür hassen.“ Er legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Ich bin niemand, der in der Vergangenheit lebt. Ich hasse dich nicht, Mikael, ganz im Gegenteil: Ich bin stolz, dass du es geschafft hast, dieser Welt zu entkommen.“

  • Antti reichte Semir ein Bier und lehnte sich in dem Sessel zurück. Er hatte den deutschen Kollegen zu sich ins Hotel eingeladen, damit sie ungestört reden konnten. Nachdem er ihm von dem Besuch in der Hansen-Villa erzählt hatte, kam er auf die Mappen zu sprechen. „Es sind weitestgehend private Informationen, die niemanden etwas angehen. Ich denke, es gibt keinen Grund die SUPO und Frau Bergmann darüber zu informieren.“ Semir nickte nachdenklich. „Er hatte über seinen eigenen Enkel eine Akte? Was für ein geisteskranker Mann legt so etwas an?“ Antti nahm einen Schluck aus seiner Flasche. „Du wirst es nicht glauben, aber es gab sogar eine mit dem Namen Andreas Hansen. Sein eigener Sohn!“ „Hast du in den Mappen gelesen?“, wollte Semir nun wissen. Er schüttelte den Kopf. „Ich habe nur die von Joshua gelesen … und Mikaels.“ Der Deutschtürke kam nicht umher, zu bemerken, wie die Stimme seines finnischen Kollegen am Ende des Satzes leiser wurde. „Was stand in dieser Mappe noch außer der Information zu Ben?“ Antti seufzte. „Ich weiß nicht, ob ich darüber reden sollte, es ist sehr privat und Mikael ist sehr sensibel, was diese Zeit anbelangt.“ „Natürlich“, murmelte Semir leise, konnte seine Enttäuschung aber nicht verbergen. „Du weißt, dass ich es dir erzählen würde, aber Mikael, wenn ich sein Vertrauen jetzt missbrauche, dann sind all die Jahre dahin. Er wird sich mir nicht mehr anvertrauen. Ich bin mir sicher, wenn er bereit ist, erzählt er es dir.“ Der deutsche Polizist lächelte. „Natürlich Antti, das weiß ich.“


    Antti nahm einen weiteren Schluck aus seiner Bierflasche und knibbelte anschließend das Etikett ab. „Aber da ist eine Sache, die mir keine Ruhe lässt.“ „Was?“ „Es hat mit dem Datum zu tun, welches Mikael auf dem Fuß tätowiert hat“, murmelte er. Semir sah ihn erstaunt an. „Er hat ein Tattoo? Ich habe nie eines gesehen.“ „Es ist nicht besonders groß. Ein Datum am Fersenbein … er hat mir mal vor einiger Zeit erzählt, es wäre der Tag, wo sein Leben einen anderen Weg genommen hat.“ Der Deutschtürke nickte und lauschte gespannt den Erzählungen. „Für mich war klar, dass es der Tag war, an dem er gemeinsam mit Joshua Lehto zur Polizeischule ging, aber jetzt … in diesen Akten ist ein ganz anderes Datum bei Joshua vermerkt.“ Antti seufzte. „Vielleicht geht das schon zu weit, was ich dir jetzt sage, Semir, aber es hilft nichts. Mikael er war lange in diesem kriminellen Umfeld zuhause. Ich befürchte, dass er viel mehr verbrochen hat, als er sich eingestehen will und …“ Die folgenden Worte kamen dem finnischen Kommissar nur sehr leise über die Lippen. „Ich habe Angst, dass er nur für wenige Jahre dem Weg von Andreas Hansen gefolgt ist.“


    Semir lehnte sich zurück. „Hast du ihn danach gefragt?“ „Nein, du hast doch gesehen in welchem Zustand Mikael ist. Ich kann ihn unmöglich mit diesen Fragen belasten. Es gibt einen Grund, warum er mit niemanden darüber spricht.“ Der deutsche Kommissar sah, dass da noch mehr war, was Antti belastete. „Was hast du vor? Was verschafft dir solche Gewissensbisse?“ Der Blonde sah ihn an. „Ich habe Akten angefordert. Strafakten aus dem Jahr, wo Mikael bei der Polizei begonnen hat. Ich … Semir, ich befürchte, dass es etwas Schlimmes ist. Ich habe Angst, dass Mikael etwas getan hat, etwas was ihn seit diesem Augenblick verfolgt.“ „Aber du kannst es dir dennoch nicht vorstellen. Ich sehe doch deine Zweifel.“ „Ich habe keine Ahnung mehr, was ich denken soll und was nicht. Der Mikael, den ich kenne, dem würde ich es nicht zutrauen, aber Semir … Mikael war nicht immer der, der er heute ist. Ich weiß nicht, wozu ein 17-jähriger Mikael im Stande war.“


    *


    Mikael trat ihm ins Gesicht. Immer und immer wieder. „Gib die scheiß Kohle her!“ Der Mann vor ihm hielt schützend die Arme, um seinen Körper und wimmerte leise vor sich hin. „Gib schon her, alter Mann!“ „Gib’s ihm!“, feuerte ihn Knud an und er trat abermals zu.


    Plötzlich einsetzendes Blaulicht erhellte die Straße. „Verdammte Scheiße, die Bullen!“, hörte er Matti sagen. „Wir müssen hier weg!“, schrie Veera panisch. Er sah sich kurz um und stellte fest, dass die Beamten den Dienstwagen bereits verlassen hatten. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“, jammerte Veera. Er lächelte und zeigte nach links. „Bleib ruhig Prinzessin, die kriegen uns nicht. Meinst du, ich lass mich festnehmen? Niemals!“


    Er schreckte hoch und war sofort hellwach. „Schatz, was ist?“, hörte er Eva leise neben sich murmeln. „Hmm?“ „Du warst so unruhig und bist hochgeschreckt.“ Sie griff nach seiner Hand und er erwiderte ihren Druck. „Nichts … ich kann nicht schlafen. Ich werde mir etwas zu trinken holen.“ Er löste den Händedruck und schwang die Beine aus dem Bett, um sich in die Küche zu begeben. Er nahm sich gerade ein Glas, als ein Schatten hinter ihm auftauchte. Erschrocken wirbelte er herum und das Glas fiel mit einem Klirren zu Boden. „Ich bin es nur, Semir. Ich bin gerade nach Hause gekommen. Ich war bei Antti.“ Der Deutschtürke lächelte ihn an und er zwang sich das Lächeln zu erwidern. „Ich bin wohl etwas schreckhaft in letzter Zeit“, nuschelte er leise und ging dabei in die Hocke, um die einzelnen Scherben vor seinen Füßen aufzusammeln. „Tut mir leid, wegen dem Glas … ich werde das natürlich ersetzen.“ Semir kniete sich vor ihn. „Das brauchst du nicht. Es ist kein wertvolles Porzellan.“ Er nickte. „Wie du meinst.“


    Semir musterte Mikael ganz genau. Irgendetwas hatte ihn zuvor in Angst versetzt. Es war ihm anzusehen. Darüber hinaus schien er verwirrt. „Hast du nicht gut geschlafen?“, fragte er nach. Der Finne zuckte leicht zusammen und gab damit preis, dass Semir Recht gehabt hatte. Dennoch log er ihm ins Gesicht: „Doch. Ich hatte nur Durst.“ Semir zog skeptisch die Augenbrauen zusammen. „Mikael. Ich hoffe du weißt, dass du immer mit mir reden kannst.“ Er bekam nur ein Kopfnicken als Antwort. Der Schwarzhaarige erhob sich, warf die Scherben weg und ging unter einem Vorwand zurück in das Gästezimmer. Semir sah ihm lange hinterher und seufzte. Er musste Antti davon erzählen. Das war die einzige Möglichkeit Mikael vor dem nächsten totalen Zusammenbruch zu beschützen. Er wurde immer abwesender und blockte jedes Gespräch ab.


    Mikael schloss die Tür leise hinter sich und legte sich so vorsichtig wie möglich wieder neben seine Frau. Der Mond warf ein trübes Licht in den Raum. Eva rührte sich nicht. Sie atmete gleichmäßig und schien zu schlafen. Er hob seine Hand und entfernte eine Strähne aus ihrem Gesicht und führte die Hand später an die Stelle, wo ihr Herz war, um ihren gleichmäßigen Herzschlag zu spüren. Es war eine Angewohnheit, die er erst vor wenigen Monaten aufgenommen hatte. Der Augenblick, wo er geglaubt hatte, sie sei tot, hatte ihn vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht und ab und an musste er sich vergewissern, dass das einzige Gute in seinem Leben noch bei ihm war. „Du hattest einen Albtraum, nicht wahr?“ Eva öffnete die Augen und griff nach seiner Hand. Er antwortete nicht, rückte stattdessen näher an sie heran und küsste sie behutsam auf die Schulter. Sie drehte sich zu ihm und erwiderte seinen Kuss. Ihre Hand wanderte zärtlich über seine Brust, hinauf zu seinem Hals und in sein Haar. „Ich liebe dich“, flüstere sie leise und küsste ihn abermals. „Ich dich auch.“ Er drückte sie näher an sich, wollte ihre Wärme spüren, wo ihn doch derzeit nichts als Kälte umgab und schloss die Augen, um wieder in einen unruhigen Schlaf zu fallen.


    „Was hältst du von der da?“, fragte Knud und zeigte auf ein rothaariges Mädchen. Ihr Gesicht war leicht rundlich und von dicken Sommersprossen geziert. Sie trug einen kurzen Rock und ein tief ausgeschnittenes Top. Knuds Mundwinkel schoben sich nach oben. „Wie meinst du das?“, murmelte er unsicher. Der Blonde lachte und einige andere Jungs aus der Gruppe stimmten ein. „Wie ich das meine, fragst du? Was denkst du. Wir wollen alle ein bisschen Spaß.“ Knud ging auf das Mädchen zu. Er sah, wie sie zurückwich. „Hey Süße, du brauchst doch keine Angst zu haben. Wir wollen nur ein bisschen Spaß mit dir haben.“ Er griff nach ihr und drückte seine Hände gegen ihren Busen. Sie wollte ihn wegdrücken, hatte aber keine Chance. „Was soll das? Lass sie los Alter!“ Mikael zog Knud von dem Mädchen weg. „Ey Häkkinen, wo liegt dein Problem? Die kleine ist selbst schuld, wenn sie so hier rumrennt!“ Knud dreht sich wieder zu dem Mädchen. „Es wird sicher toll werden, bist du noch Jungfrau?!“ Er zog den Blonden abermals zu sich und schmiss ihn zur Erde. „Lass sie, habe ich gesagt!“, schrie er. Sein Kopf drehte sich zu dem Mädchen. „Ich würde vorschlagen du verschwindest“, sagte er und beobachtete, wie sie erst vorsichtig einige Schritte rückwärts machte, ehe sie in Panik ausbrach und ihr Tempo immer mehr beschleunigte. Knud funkelte ihn sauer an. „Du denkst, du bist der Boss?! Ich mach dich fertig. Du hast mir den Abend versaut!“ Sein Gegenüber war aufgesprungen, packte ihn mit den Armen an den Schultern und grub sein Knie schmerzhaft in seinen Magen. Er krümmte sich zusammen. „Spaß?“, fauchte er, „du wolltest sie gegen ihren Willen ficken!“ Knud machte eine Kopfbewegung und wenig später spürte er, wie zwei andere ihn von hinten packten. Jussi und Olav. Er zappelte. „Lasst mich ihr Arschlöcher!“ Er schlug und trat um sich, so heftig er konnte, doch er kam nicht gegen die Beiden an. „Du wirst bezahlen müssen, Häkkinen, ich bin der Chef und nicht du!“ Knuds linke Faust krachte gegen seinen Schädel und er merkte, wie er die Orientierung verlor. Kurz danach traf er seine Rippen. Er schrie laut auf. Jussi und Olav ließen ihn los, doch er konnte dennoch nicht schnell genug reagieren, als Knuds Faust seinen Kiefer traf. Er landete auf dem Rücken und sein Kopf prallte auf den Boden. Lichter tanzten vor seinen Augen und er stöhnte auf. Er hörte Gelächter um sich herum. „Kommt Jungs, ihr dürft auch Spaß mit ihm haben. Er hat uns die kleine Süße genommen, bisschen Rache muss sein.“ Wieder Lachen. Danach bohrte sich ein Fuß schmerzhaft in seinen Magen. Er versuchte sich zu schützen, die Schläge so gut es ging abzuwehren. Seine Arme hatte er vor das Gesicht gehalten. Die Minuten vergingen. Immer wieder Tritte, Schläge, Schläge, Tritte. Schmerzen bestimmten seinen Körper. Jemand riss seine Hände von seinem Gesicht weg und Knuds Visage tauchte vor ihm auf. „Fick dich, Häkkinen!“, zischte er. Dann packte er seinen Kopf zwischen seine Hände und schlug ihn immer wieder hart gegen den Asphalt. Dunkelheit breitete sich aus. Sein Körper wurde müder und er konnte nicht mehr denken. Angst und Panik bestimmten ihn. Er versuchte sich an irgendetwas in dieser Welt festzukrallen, doch es half nichts. Irgendwann war alles schwarz und er sank in die Bewusstlosigkeit.


    Mikael schreckte aus seinem Albtraum hoch und vergrub stöhnend den Kopf, der vor Schmerzen hämmerte, in seinen Händen. Konnte die Vergangenheit ihn nicht endlich in Ruhe lassen? Musste sie immer und immer wieder nach ihm greifen und ihn mit sich ziehen? „Scheiße“, murmelte er leise und drückte die Hände fester gegen seinen dröhnenden Schädel. Er warf einen Blick auf Eva. Sie schlief noch, er hatte sie diesmal nicht geweckt. Vorsichtig stand er auf und verließ leise das Zimmer. Er öffnete die Terrassentür und setzte sich in die kühle Nacht. Er dachte an den Tag zurück, als sie ihn fast totgeschlagen hatten. Nein, im Grunde hatten sie ihn totgeschlagen. Er lebte noch, aber nur, weil ein Polizist zufällig diese Route nach Hause nahm. Er hatte ihn wiederbelebt, einen Krankenwagen gerufen. Weder das Mädchen, noch er hatten jemals Anzeige erstattet und doch saß der Großteil seiner sogenannten Freunde heute hinter Gittern. Manchmal wünschte er, dass er jemals den Mut aufgebracht hätte diesem Polizisten, Ville Tamminen, zu danken. Ohne ihn wäre er nicht mehr am Leben. Er erinnerte sich, dass er ihn mal in der Kantine gesehen hatte, als er auf die Polizeischule ging. Tamminen schien ihn erkannt zu haben, hatte aber nichts gesagt. Er hatte nur gelächelt. Ein wärmendes, frohes Lächeln. Er sah in den Himmel. „Danke Ville“, murmelte er leise.


    „Du bist schon wieder wach.“ Mikael fuhr erschrocken rum und sah in Semirs braune Augen. „Du auch“, konterte er mit leiser und dünner Stimme. „Ich habe keinen wirklichen Schlaf gefunden. Es gibt viele Dinge zum Grübeln.“ Der Deutschtürke lächelte. „Ist dieser Ville ein Freund von dir?“, wollte er wissen und stellte sich neben ihn. „Nein, ich kenne ihn nicht einmal richtig.“ Semir sah ihn fragend an. „Es ist nicht wichtig“, murmelte er leise. Sein Gesprächspartner seufzte. „Ich denke schon, dass es dir wichtig ist. Du willst nur nicht darüber reden.“ „Vielleicht.“ Mikael war aufgestanden und wollte an ihm vorbei wieder ins Haus gehen, doch Semir hielt ihn fest. „Du solltest vor deiner Vergangenheit nicht davon laufen, Mikael. Ich war auch nicht ohne in meiner Jugend.“ Der Jüngere sah zu Boden. „Ich glaube nicht, dass man das vergleichen kann Semir“, flüsterte er ohne Stimme und löste sich aus seinem Griff.

  • Semir saß auf dem Sessel am Fenster und sah auf Mikael. Es war unverkennbar, dass er dabei war seine körperliche Grenze zu erreichen. Das Gesicht war kreidebleich. Die Augenringe noch stärker als am Vortag. Er sah wie weggetreten aus, den Blick ins Leere gerichtet. Er schien kaum noch zu schlafen und wenn dann nur unruhig. Semir war sich sicher, dass ihn Albträume plagten, aber Mikael wollte nicht darüber reden. Blockte jedes Gespräch mit ihm ab. Er hatte ihn nachts schreien und weinen gehört. Es war nicht mehr nur Ben, der Mikael verfolgte, es waren neue Namen hinzugekommen.


    Es war nun bereits fünf Tage her und sie warteten angespannt auf Neuigkeiten aus dem Krankenhaus. Semir war jeden Tag für mehrere Stunden dort, aber die Information der Ärzte hieß weiterhin „kritisch, aber stabil.“ Inzwischen hatte das Drogendezernat die Akte ‚Georg Hansen‘ geschlossen und auch den Mörder von Olaf Fischer hatte man mit Knut Lindstein gefunden. Ein Streit der Geschäftspartner, in dem es um das Drogengeld von Hansen ging, war eskaliert. Lindstein hatte seinen Freund im Affekt umgebracht. Sein Blick fiel an Mikael vorbei auf Antti, der aufgeregt auf der Terrasse telefonierte. Wahrscheinlich ging es um die Arbeit in Finnland. Er hatte alles stehen und liegen gelassen, als er hergekommen war und nun mussten Kasper und Veikko gleich zwei Lücken in der Mordkommission füllen. Nach etwa zehn Minuten nahm der stämmige Finne sein Handy vom Ohr und trat wieder ins Haus. „Der Chef wollte wissen, wie lange ich noch vorhabe Urlaub zu nehmen“, sagte er und Semir nickte. Antti setzte sich neben Mikael und umgriff seinen Arm. „So kannst du unmöglich weiter machen. Du setzt deine Gesundheit aufs Spiel. Wann hast du zum letzten Mal geschlafen? Oder gegessen?“ Mikael zog die Achseln hoch. „Was ist mit deiner Familie? Die Kinder, Oskari fragt mich immer und immer wieder, ob du krank bist. Komm schon … sei stark für ihn und für Viivi.“ „Ich kann nicht mehr“, war alles, was der junge Kollege rausbrachte.


    Antti warf Semir einen vielsagenden Blick zu und der Deutschtürke wusste, was jetzt kommen würde. Sie hatten sich lange mit Eva über diese Option unterhalten. „Mikael, du brauchst Hilfe! Du brauchst professionelle Hilfe!“ Von weit her kam Mikael ins Hier und Jetzt zurück. „Es tut mir leid, dass ich nicht so ruhig bleiben kann, wie ihr! Wenn ich nicht die Kraft aufbringe …“ Mikael wollte aufstehen, doch Antti hielt ihn zurück. „Bleib“, forderte er mit starker Stimme. Der Schwarzhaarige sah ihn trotzig an. „Ich will aber nicht! Ich möchte alleine sein!“ „Benimm dich nicht, wie ein pubertierender Teenager! Setz dich.“ Diesmal folgte Mikael der Anweisung und setzte sich wieder auf das Sofa. „Ich möchte, dass du mit mir zu einem Psychologen gehst. Ich habe einen Termin gemacht.“ Antti versuchte seine Stimme ruhig klingen zu lassen, doch die Botschaft kam dennoch falsch beim Adressaten an. „Du kannst mich nicht zwingen … ich werde dort nicht hingehen!“ Mikael sprang erneut auf, stürmte förmlich aus dem Wohnzimmer heraus und verließ fluchtartig das Haus. So schnell er konnte, entfernte er sich von dem Gebäude und blieb erst dann stehen, als ein neues Monster aus einer tiefen Höhle seiner Erinnerung empor kroch. Wie angewurzelt starrte er auf eine junge Frau, die mit ihrer kleinen Tochter schimpfte. „GALINA. Du machst was ich dir sage!“ Sie zog an ihrer Tochter und das Mädchen begann erbärmlich zu schreien. Tränen liefen über ihre Wangen und sie hörte nicht mehr auf.


    Galinas tränenfeuchte Augen sahen ihn an, glänzten vor Angst. „Es tut mir leid … ich kann mein Versprechen nicht halten“, hauchte es in den Raum. Dann fiel ein Schuss und ihr Körper fiel vornüber, landete unmittelbar vor seinen Füßen.


    Sein Herz begann aufgeregt zu schlagen. Panik und Angst trieben ihm den Schweiß auf die Stirn. „Reiß dich zusammen. Du bist nicht mehr schwach, du bist dieser Welt entkommen! Du musst jetzt durchhalten. Du darfst nicht aufgeben!“, fuhr ihn im Inneren eine Stimme an. Er schloss die Augen, doch als er sie öffnete, weinte das Mädchen immer noch. Es weinte und weinte, sorgte dafür, dass die Bilder in seinem Kopf sich immer und immer wieder wiederholten. „Hör endlich auf zu weinen!“, schrie er laut und das Mädchen vor seinen Augen zuckte zusammen. Seine Mutter sah ihn an, schob ihre Tochter schützend hinter sich. „Lassen Sie meine Tochter in Ruhe … verschwinden Sie, oder ich hole die Polizei!“ Wie in Trance nickte er und setze sich in Bewegung. Ging weiter, ohne dass er überhaupt das Ziel kannte.



    *


    Semir lief aufmerksam die Straße entlang. Nachdem Mikael so plötzlich verschwunden war, hatten Antti und er sich getrennt und auf die Suche gemacht. Es hatte nicht lange gedauert und er war fündig geworden. Der Schwarzhaarige saß auf einer Bank am Straßenrand und blickte ins Leere. Er trat vorsichtig näher und setzte sich neben ihn. „Wir haben uns Sorgen gemacht“, begann er. Mikael sah ihn an und Semir kam nicht umher zu merken, wie sich das verzweifelte Gesicht in eines gewandelt hatte, was keine Emotion ablesen ließ. „Es geht mir gut … ich habe mich abreagiert“, ließ ihn sein Banknachbar wissen. „Du schläfst schon seit Tagen nicht und isst nicht richtig. Antti meint es nur gut und ich denke, dass es dir vielleicht helfen wird über deine Probleme zu reden.“ Mikael war aufgestanden und nickte nachdenklich, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Es geht wieder. Ich habe mich wieder vollkommen unter Kontrolle.“ Semir sah ihn skeptisch an. „Es ist nicht einmal 30 Minuten her“, gab er zu bedenken. „Geht manchmal schnell bei mir“, konterte der Jüngere und setzte sich in Bewegung. „Wir sollten wieder nach Hause gehen, du willst doch sicherlich noch bei Ben vorbei, die Besuchszeit fängt bald an.“ Der deutsche Kommissar sah auf die Uhr. Mikael hatte Recht, in 20 Minuten begann die Besuchszeit auf der Intensivstation. Dennoch war er sich sicher, dass diese Tatsache dem Finnen ganz gut passte. So musste er sich immerhin nicht weiter mit ihm auseinandersetzen. Verwirrt schüttelte er den Kopf und folgte Mikael in Richtung seines Hauses. „Bist du auch innerlich wieder ruhig?“, fragte er nach einer Weile. Mikael sah zu ihm herüber. „Wie meinst du das?“ „Wirklich, du fragst das? Du bist das Genie … du weißt was ich meine. Du bist ein Experte darin, Emotionen einzusperren. Du solltest das nicht tun … lass uns teilhaben an deinen Sorgen.“ Der Schwarzhaarige zuckte mit den Schultern. „… Hör auf dir Sorgen zu machen, es reicht, wenn du dir die bei Ben machen musst.“


    Es dauerte nicht lange und sie hatten das Haus der Gerkhans erreicht. „Du kannst mich reinlassen und dann zu Ben fahren.“ Semir sah ihn skeptisch an. „Es geht mir wirklich gut.“ Mikael zog die Mundwinkel zu einem sanften Lächeln hoch. „Gut, gut … ich glaube dir ja, aber wenn du Hilfe brauchst, dann sag bitte Antti oder jemand anderem Bescheid, okay?“ Der Schwarzhaarige nickte und Semir schloss auf, ehe er in Richtung Auto ging und den Kollegen mit einem unguten Gefühl zurückließ.



    Es war 20 Uhr, als Semir die Tür zu seinem Haus aufschloss. Er hatte lange Zeit an Bens Bett verbracht, ehe er noch etwas in der Stadt herumgefahren war. Er hörte eine raue Männerstimme angeregt eine Geschichte erzählen. Antti war also noch da. „Wir haben mit dem Essen auf dich gewartet.“ Andrea erschien in seinem Blickfeld und gab ihm einen Kuss. „Wie sieht es aus?“, wollte sie wissen. Er lächelte. „Besser. Die Ärzte sagen, dass es langsam aufwärts geht. Ben braucht nicht mehr intubiert werden.“ Seine Frau strahlte und drückte ihn an sich. „Das sind fabelhafte Neuigkeiten! Wir sollten sie sofort Mikael erzählen.“ „Lass uns bis morgen früh warten … der Doc sagte, dass es noch zu Komplikationen kommen kann. Ich möchte nicht, dass er sich Hoffnungen macht.“ Sie nickte. „Es scheint ihm besser zu gehen. Er wirkte deutlich entspannter heute Abend.“ Semir sah an Andrea vorbei in das Wohnzimmer. Sie hatte Recht. Mikael saß gemeinsam mit Oskari auf dem Teppich und spielte mit dem Spielzeugauto seines Sohnes. Dennoch, sein ungutes Gefühl blieb. So schnell konnte Mikael unmöglich all seine Probleme beiseitegeschoben haben. Mikael war gut darin sich zu verstellen. Er hatte vielleicht Andrea und Eva überzeugt, aber ihn noch lange nicht.


    Semir setzte sich zu Antti auf das Sofa und tauschte mit seinem Kollegen einen vielsagenden Blick aus. Antti glaubte also auch nicht daran, dass es Mikael wirklich gut ging. Es dauerte nicht lange und der Blonde erhob sich vom Sofa. „Ich werde ins Hotel fahren. Ich bin müde.“ Semir nickte und folgte ihm aus dem Wohnzimmer, mit den Worten, dass er ihn noch zur Tür bringen werde. „Behalte ihn für mich im Auge, ja?“, sagte der finnische Kommissar leise, als er nach seiner Jacke griff und in die kalte Nacht trat. „Keine Sorge, das werde ich“, verabschiedete Semir sich, ehe er wieder zurück ins Wohnzimmer ging und den Abend mit der Familie ausklingen ließ.


  • Er presste sein Ohr gegen die Tür. „Andreas. Ich meine das ernst, er ist den Namen Hansen nicht wert, sorge dafür, dass du einen weiteren Nachkommen zeugst.“ „Wie kannst du so etwas überhaupt sagen?!“ Sein Vater klang wütend. „Er ist schwach“, schrie sein Großvater, „schau ihn dir doch an. Klein, blass und hager. Lässt sich einfach so ohne Gegenwehr verprügeln!“ Es herrschte lange Stille, ehe die Stimme seines Vaters erneut ertönte. Laut und bestimmend. „Du lässt ihn beschatten und siehst dann keine Notwendigkeit darin ihm zu helfen!? Das ist widerlich! Ist dir klar, dass er ohne diesen Polizisten tot wäre?!! Du hast keine Ahnung, wie es ist am Bett seines Kindes zu wachen und nicht zu wissen, ob es wieder gesund wird. Ich möchte, dass du jetzt gehst, Vater. Ich will dich in meinem Haus nicht mehr sehen. Wir sind Familie Häkkinen und der Name Hansen kommt in unserem Stammbaum ab diesem Tag nicht mehr vor!!“ Etwas fiel zu Boden und brach mit einem lauten Klirren. „So redest du nicht mit mir, Andreas!“, schrie Georg Hansen. „Ich rede mit dir, wie es mir passt und nun verschwinde, lass meine Familie in Ruhe!! Ich kann dich stürzen und das weißt du!“ Sein Großvater lachte. „Dann gehst du auch unter!“ „Das ist mir egal, wenn ich Mikael so vor deinen machtgierigen Händen schützen kann und jetzt raus.“ „Du wirst von meinem Erbe nichts mehr bekommen. Es wird alles an deinen Bruder gehen, Andreas. Deine Familie ist den Namen Hansen nicht wert. Sie ist schwach und verweichlicht! Ich glaube langsam, ich habe bei deiner Erziehung etwas verkehrt gemacht!“ Eine Tür fiel ins Schloss. Er hörte, wie sein Vater schwer atmete, wütend gegen die Wand schlug. Dann vernahm er Schritte, die immer näher kamen. Eilig versuchte er sich wieder in Richtung Bett zu begeben, doch er war in seinem derzeitigen Zustand zu langsam und die Tür öffnete sich, ehe er es geschafft hatte. Er blieb wie versteinert stehen. Sein Vater musterte ihn. „Du hast es gehört?“, war schließlich alles was er sagte. „Ich wollte das nicht, tut mir leid Papa“, nuschelte er leise und richtete seinen Kopf in Richtung Fußboden.

    Sein Vater trat auf ihn zu. „Dann weißt du ja, wie sehr ich dich liebe. Ich würde dich immer beschützen und es erfüllt mich mit Stolz, dass du dieses Mädchen beschützt hast. Du hättest mir die Wahrheit sagen können.“ Die Hand von Andreas Hansen rastete auf seiner rechten Schulter. „Du hättest mir erzählen können, wer dich zusammengeschlagen hat und warum. Das war tapfer. Alleine gegen so viele andere.“ Er sah nicht auf, blickte weiter stumm auf seine Füße. Sein Vater hob seinen Kopf leicht an und lächelte. „Ich weiß, dass du für dein Alter mehr begreifst, als du solltest. Also hör gut zu. Georg ist niemand, der duldet dass jemand sich anders verhält, als er es bestimmt. Er denkt, er sei das Oberhaupt und alle müssten sich seinem Willen fügen. Er hat mir viel genommen, als ich so alt war wie du. Ich werde nicht zulassen, dass er dich auch benutzt.“ „Was hat er dir genommen?“, stotterte er leise, „Du hast Mama und all das Geld.“ Sein Vater fuhr ihm durch die Haare und lächelte. „Meinen Freund … so wie er dir deinen Freund genommen hat.“ Er sah den Mann vor sich trotzig an. „Du hast mir Ben genommen, nicht Großvater!“ „Hör zu, jemand wollte mich der Polizei ausliefern … ich wollte ihn dir nicht nehmen, ich hätte sicher eine andere Lösung gefunden. Vater, dein Opa, hat das alles in die Wege geleitet. Er braucht mich hier, hat er gesagt.“ Sein Vater grinste ihn an. „Aber der Papa lässt sich von dem Opa nicht so einfach untertan machen.“ Mikael sah ihn fragend an. „Wie meinst du das, Papa?“ „Du bist schlau. Ich bin mir sicher, du weißt es schon längst.“ Er nickte. Natürlich wusste er es. Das ganze Viertel machte das, was sein Vater verlangte. „Dieser Polizist. Du hast ihm nicht von mir und meinem Job erzählt, oder?“ Er schüttelte sanft den Kopf. „Natürlich nicht Dad.“ Sein Vater lächelte. „Was hältst du davon, wenn wir am Wochenende etwas Tolles unternehmen? Wir könnten rausfahren aus der Stadt. Ich werde Häpi mit den Geschäften beauftragen und dann machen wir was zusammen. Nur Du, Mama und Ich.“


    Mikael fuhr aus dem Schlaf hoch. Schweißgebadet schnappte er nach Luft. Sein Kopf hämmerte. Er sah nach links und versicherte sich, dass er Eva nicht geweckt hatte und schlich dann leise aus dem Zimmer an die frische Luft. Verzweiflung überkam ihn. Er wollte diese Vergangenheit abstreifen. Sein zweites Ich gehörte einfach nicht in diese Welt. Es war ein Eindringling, welcher in dieser perfekten Welt nichts verloren hatte. Das galt auch für Andreas Hansen. In dieser Welt war nur Platz für den Verbrecher Andreas Hansen, nicht für den liebevollen Vater. Nur der Verbrecher wurde von seinen Mitmenschen akzeptiert, niemand außer ihm war fähig den anderen Andreas Hansen zu sehen. Die Tränen liefen ihm übers Gesicht. Er versuchte gar nicht, sie wegzuwischen. Er war zu müde, um noch stark zu sein. Zu erschöpft, um die Fassade aufrechtzuerhalten. „Warum tust du mir das an, Papa? Warum bist du gegangen ohne mir Erklärungen zu liefern?“, schrie er und vergrub sein tränennasses Gesicht in den Händen.


    „Schatz?“ Eva trat vorsichtig näher und stellte sich vor Mikael. „Du weißt, dass Ben es schaffen wird. Bald wird es ihm besser gehen.“ „Es geht nicht um Ben“, murmelte er leise. „Worum dann?“ „Das würdest du nicht verstehen.“ Er sah nach unten. „Du hast es nicht einmal versucht. Ich liebe dich, lass mich teilhaben an deinem Leben. Schließ mich nicht aus. Ja?“ Sie bekam, wie so oft in den letzten Tagen, keine Antwort von ihm. „Warum tust du das?“, fragte sie nun. Er blieb weiter still. Enttäuschung und Wut stiegen in ihr auf. Sie konnte den Menschen, den sie am meisten liebte nicht mehr verstehen. Er entfernte sich immer weiter und sie wusste nicht, wie sie es aufhalten konnte. Sie fühlte sich hilflos und alleine. „Warum stößt du uns alle weg?“, schrie sie. Er sah zu ihr auf, blieb stumm und stand dann auf, um an ihr vorbei ins Haus zu gehen. Wütend griff sie nach seinem Arm, hielt ihn auf. „Lass mich los“, presste er heraus. Sie schüttelte energisch den Kopf, umfasste sein Handgelenk fester. „Nein! Ich werde dich nicht gehen lassen … Nein!“ Er riss sich los, doch sie umgriff ihn abermals, umschlang sein Handgelenk mit ihren Fingern und zog ihn rückwärts. Das Herz schlug rasend in ihrer Brust und sie spürte, wie heiße Tränen ihren Weg fanden. „Bitte …“, flehte sie, ehe ihre Stimme versagte. „Nein, niemand würde es verstehen … Niemand würde verstehen, dass ich jetzt gerne meinen Vater um Rat fragen würde. Niemand würde verstehen, dass ich ihm gerne danken würde“, schrie er sie nun wütend an. Unverständnis zeichnete sich in Evas Gesicht ab und machte ihn nur noch wütender. „Niemand versteht das! Andreas Hansen war wie ICH … All das was er getan hat, er-er war ein Gefangener von Georg!“ Eva sah ihm in seine Augen, musterte ihn kritisch. „Er hat auf dich geschossen und Ben vergiftet.“ „Ich sagte ja, dass ihr das nicht versteht! Ich bin mir sicher, dass er seine Gründe hatte. Mein Vater war kein Mörder. Er war liebevoll, seine Familie war ihm wichtig! … Ich war ihm wichtig.“ Für einen kurzen Moment sah sie, wie Schmerz und Trauer in seinen Augen aufblitzten, ehe er seinen Blick wieder von ihr löste, sich aus ihrem Griff befreite und ging. „Ich bin müde“, war alles war er noch zu ihr sagte und sie wusste, dass er damit seinen psychischen Zustand meinte. Sie war dabei ihn zu verlieren. Sie war nicht stark genug den Menschen an sich zu binden, den sie am meisten liebte. Ohne dass sie erneut etwas sagen konnte, war Mikael in die Nacht verschwunden.





    Fast drei Stunden lief er ziellos umher. In seinem Kopf rasten die Gedanken, immer wieder spielten sich dort Szenen mit seinem Vater ab, ehe das starre Gesicht von Joshua auftauchte oder die toten Augen von Galina. Manchmal glaubte er, die Kälte vom Körper seines Freundes noch heute in sich zu spüren. Die Gedanken wüteten wie ein Orkan durch seinen Kopf. Der Selbsthass zerfraß ihn immer mehr und die Dämonen zogen ihn mit sich, wollten einfach nicht verstummen. Er stolperte über eine Bordsteinkante und wurde aus seinen Gedanken gerissen. Sein Kopf hob sich. Sein Unterbewusstsein hatte ihn zur Universitätsklinik gelenkt. Er steckte die Hände in seine Jogginghose und schritt langsam auf das Gebäude zu, in Richtung Intensivstation.


    Am Ende war es verwunderlich, wie einfach es gewesen war, in das Zimmer zu kommen. Niemand hatte ihn überhaupt gefragt was er hier suchte und das obwohl er mitten im Winter nicht mehr als Jogginghose und Pullover trug. Mikaels Blick strich über das Bett, wo Ben bewegungslos mit geschlossenen Augen lag. Seine Arme waren zu beiden Seiten ausgestreckt. Eine Nadel mit einem Schlauch steckte in seinem Handrücken. Einige Kabel führen von seinem Bett zu der Reihe von Monitoren. Der Herzmonitor piepte. Der Puls war schwach, aber regelmäßig. Seine Augen blickten für eine Augenblicke auf die Linien. „Ben …“, hauchte er leise, „ich wollte das nicht.“


    Er wollte nach der Hand seines Freundes greifen, brachte jedoch nicht den Mut auf. Sein Körper begann zu zittern, Angst überkam ihn, ehe sie von Schuld abgelöst wurde. Er hatte das zu verantworten. Wegen ihm lag Ben hier. Er hätte es verhindern können, alles was er hätte tun müssen, war auf Georg Hansen zu schießen. Doch am Ende war er ein elender Feigling gewesen. Er hatte einfach nicht den Mut aufgebracht, den Abzug der Waffe durchzudrücken.


    „Was machst du hier?“ Er fuhr erschrocken rum und sah in das Gesicht von Konrad Jäger. „Habe ich mich nicht klar genug ausgedrückt? Wie bist du hier reingekommen!?“ Seine Stimme klang wütend und er wusste nicht das passende zu erwidern. „Antworte mir Mikael!“ „Ich wollte nur …“, murmelte er kraftlos. „Du wolltest nur?! Sieh ihn dir an, sieh was du angerichtet hast!“ Konrad Jäger umgriff schmerzhaft seinen Arm und zwang ihn dazu Bens leblosen Körper anzusehen. „Du hättest nicht auftauchen sollen! Du hättest für immer verschwinden sollen. Deine Familie bringt Unheil über meine und ich werde das nicht weiter zulassen!“ Konrad Jäger zog ihn aus dem Zimmer und drückte ihn hart gegen die Wand. „Ist das Freundschaft für dich? Ben immer und immer wieder für deine Sünden büßen lassen!?“ Der Mann funkelte ihn sauer an. „Sag schon!“, zischte er. „Ich … ich wollte das doch nicht … Ben ist mein Freund.“ Er wollte dem Blick von Bens Vater ausweichen, doch er konnte es nicht. Der Ältere zog ihn an sich und drehte ihn in Richtung der Glasscheibe von der Zimmertür, wo sich die Situation widerspiegelte. „Sieh dich an. Du bist wie dein Vater … Äußerlich und wie sich jetzt herausstellt auch innerlich! Freundschaft hat ihm nie etwas bedeutet!“


    Mikael sah stumm auf sein Spiegelbild. „Er war Ihr Freund“, murmelte er schließlich leise. Er sah in der Scheibe, wie Konrad Jägers Gesicht vor Wut rot anlief. „Du hast kein Recht über mich zu urteilen“, schrie er nun. „Warum nicht?“, konterte er mit ruhiger Stimme. Die Professionalität hatte von ihm Besitz ergriffen. Nun war er es, der die Zügel in der Hand hatte. Er würde nicht zusehen, wie Konrad Jäger seinen Vater weiter durch den Dreck zog. „Wag es nicht, Mikael! Du bist nicht besser als Andreas … du hast keine Ahnung!“ Mikael spürte, wie der Druck von Konrad Jäger größer wurde. „Sie haben ihn damals verloren gegeben. Sie sind der schlechte Freund!“ Bens Vater zog ihn an der Kapuze zurück und warf ihn gegen die Wand. Sein Gesicht war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. „Was willst du damit andeuten?“ Er lächelte. „Mein Vater war nicht wie Sie … er hat mit mir über vieles geredet. Ich kenne die Wahrheit, Herr Jäger!“ Konrad Jäger lachte. „Achja und wer sagt dir, dass dein Vater dich nicht belogen hat?“ „Niemand, außer Sie mit Ihrem Benehmen in genau diesem Augenblick.“ Der Ältere stemmte seinen Arm schmerzhaft auf seine Brust, nahm ihm die Luft zum Atmen. „Da sieht man es … verlogene Tricks eines Hansen!“ „Sie hatten Angst vor Georg … er hat sie unter Druck gesetzt und dann haben Sie meinen Vater fallen gelassen. Sie haben nicht einmal den Versuch unternommen ihm zu helfen! Sie waren es, der zugelassen hat, dass er den falschen Weg geht.“ Er nutzte die Überraschung seines Gegenübers und löste Konrad Jägers Arm von seinem Körper. „Sie hatten Pläne. Ein gemeinsames Bauunternehmen … mein Vater hat ihre Geldgrube mit aufgebaut und Sie, Sie haben ihn aus den Firmenunterlagen gestrichen. Sie schämen sich für ihren Freund. Das ist es, was mich anwidert!“ Er löste sich von der Wand und wollte gehen, doch Konrad Jäger umgriff sein Handgelenk mit seinen Fingern wie eine Fessel und zog ihn zurück, drückte ihn wieder gegen das Gemäuer. „Dein Vater hat meine Familie erpresst! Er hat meine Frau und meine Kinder bedroht … ich glaube kaum, dass sich das eine mit dem anderen vergleichen lässt.“ „Lassen Sie mich gehen!“, forderte er. Der Druck verstärkte sich. „Du wirst dir alles anhören Mikael, alles! … Dein Vater ist gierig nach Macht gewesen. Er ist Georg blind gefolgt, er hat nicht gemerkt, wie er sich in dieser Welt verliert!“ „Das ist es, was Sie glauben wollen. Er hätte das alles für mich geopfert!“ Er wollte sich wieder lösen, doch Bens Vater presste seinen Arm gegen seine Brust und fixierte ihn so an der Wand. Das Atmen fiel ihm schwer. Mikael spürte, wie die Geste Panik in ihm auslöste. Es war erst wenige Wochen her, da wollte ihn jemand erwürgen und urplötzlich war das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen und zu ersticken zurück. „Lassen Sie mich los“, flüsterte er leise. „Du hörst jetzt verdammt noch mal zu!“, schrie Jäger und er zuckte zusammen. „Dein Vater hat meine Familie erpresst, mich in Drogengeschäfte hineingezogen, meinen Sohn entführt, ihn ermorden wollen und du erzählst mir ich habe ein falsches Bild von ihm.“ „Bitte … lassen Sie los“, flehte er. „Ich werde dich erst gehen lassen, wenn ich fertig bin!“, schimpfte Konrad Jäger und verstärkte den Druck abermals. „Du bist ein kleiner, schäbiger Emporkömmling der Hansens. Freundschaft hat für euch keinen Wert. Ihr benutzt die Menschen!“


    Ein langes, grelles Piepen ertönte aus Bens Zimmer und ließ die beiden Männer zusammenzucken. Die Ruhe auf der Intensivstation war gebrochen. Um sie herum brach Hektik aus. Schnelle Schritte, laute, aufgeregte Rufe. „Jäger wird instabil!“ Mikael hörte den Ruf, als würde er von weit weg kommen. Konrad Jäger hatte ihn losgelassen, starrte, wie er, auf das Zimmer vor ihnen. Neben Hilflosigkeit überkam ihn bei jeder Anweisung, die aus dem Raum in den Flur kam das erdrückende Gefühl von Schuld. Unkontrolliertes Zittern erfasste seinen Körper. Panik stieg in ihm auf. Er taumelte rückwärts, drehte sich um und begann zu rennen, als sei der Teufel hinter ihm her. Er wollte nur noch weg, weit weg. Sein Freund starb und er konnte nichts daran ändern. Er war schuldig.

  • Sein Atem ging schneller, seine Lunge brannte, seine Beine begannen zu schmerzen. Er hörte nur noch das Blut in seinen Ohren rauschen. Er rannte – rannte, wie er noch nie in seinem Leben gerannt war und wusste doch mit schrecklicher Gewissheit, dass er keine Chance hatte zu entkommen. Er konnte der Schuld nicht entkommen. „Wir haben die Leiche von Andreas Hansen gefunden.“ Er taumelte, fiel zu Boden, kämpfte sich wieder hoch und rannte einfach weg, ignorierte den aufkommenden, stechenden Schmerz in seinem rechten Knie. „Mikael, er ist tot … Joshua ist tot. Bitte, lass ihn los!“ Unter Tränen verschwamm seine Sicht, doch er blieb nicht stehen. Ihm wurde schwindelig, er geriet immer häufiger ins Wanken, doch die Panik und Schuld sorgten dafür, dass er einfach weiter rannte. Das langgezogene Piepen des Herzmonitors hallte in seinem Schädel wieder. Ben war tot. Er hatte den nächsten Freund verloren, ohne dass er es hätte ändern können. Ben war gestorben, nur weil er ihn nicht beschützt hatte. Ein Wirbelsturm von Verzweiflung raste durch seinen Körper, ließ eine Spur der Verwüstung zurück. Sein Körper fühlte sich urplötzlich schwer wie Blei an. Er konnte nicht mehr weiterlaufen. Er war zu müde, weiter einen Fuß vor den anderen zu setzen. Er war zu müde, weiter zu kämpfen.


    Er sah hoch und merkte, dass er vor Bens Wohnung stand. Mit zittrigen Fingern tastete er in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, verschaffte sich Zutritt zum Wohnungskomplex. Er hatte ihn vor einigen Tagen eingesteckt, als er hier war. Er hatte auf der Kommode gelegen. Als er in Bens Wohnung angekommen war, sah er sich nervös um. Seine Augen scannten das Regal, doch er fand nicht was er suchte. Er öffnete einen Schrank, doch fand auch da nicht das Objekt seiner Begierde. Sein Blick blieb stattdessen auf den Flaschen hängen. Er zog eine hervor und betrachtete sie. Es war ein teurer Whiskey, vermutlich hatte Ben ihn von seinem Vater bekommen. Er drehte an dem Schraubverschluss und hielt sich die Flasche an die Lippen, um einige kräftige Schlucke zu nehmen. Der starke Whiskey betäubte für einen kurzen Moment die Kälte in seinem Körper, derer er sich bis vor wenigen Sekunden überhaupt nicht bewusst war. Die Flasche mit der rechten Hand fest umgriffen, durchkämmte er das Wohnzimmer weiter. Schließlich blieb er vor dem Safe stehen. Seine Finger glitten flink über die kleinen silbernen Tasten und er zog die Tür auf. Er griff nach Bens Dienstwaffe und hielt sie fest umklammert. Das Zittern seines Körpers ließ urplötzlich nach. Die Gewissheit, dass er etwas in der Hand hielt, was die Schuld für immer verstummen lassen könnte, beruhigte ihn.


    Er hielt die Flasche einmal mehr an die Lippen und lächelte. Endlich konnte er wieder klar denken. Er hatte seinen Verstand zurück und war wieder der Alte. Seine Nerven hatten sich für einen winzigen Augenblick beruhigt. Er glitt an der Wand in Richtung Boden und betrachtete die Waffe in seiner Hand, wägte ab, was er in diesem Leben überhaupt noch hatte. Wofür lohnte es sich zu kämpfen? „Für alles! Für das Leben selbst? Reicht das nicht?“, hörte er Joshua in seinen Gedanken sagen. Er konnte ihn vor seinem geistigen Auge sehen. Wie er vor ihm stand, ihn anlächelte, während er am Boden saß und wie genau in diesem Augenblick, abwog, ob es für ihn überhaupt noch etwas gab. „Zu leben, zu leiden, sich zu freuen. Das Leben ist doch eine wunderschöne, prächtige Sache … gib nicht auf!“ Er wünschte, Joshua wäre hier. Aber Joshua war tot. Er konnte ihm keinen Ratschlag mehr geben, ihn auffangen. Joshua war tot und er hatte es zu verantworten! Er trug die Schuld daran, genau wie bei seinen Eltern und Ben. Ben. Das langgezogene Piepen des Herzmonitors und damit die Verzweiflung wand sich zurück in seine Gedanken. Er hatte wieder begonnen zu zittern. Eine unnatürliche, eisige Kälte umgab ihn. Sie kam nicht von außen, sondern breitete sich tief in ihm drin aus. Fror seine Gedanken ein. Sein Blick fiel wieder auf die Waffe, schließlich erweckte das Armband, welches um sein Handgelenk geschnürt war, seine Aufmerksamkeit. Er riss es von seinem Handgelenk und musterte den Anhänger. Er hatte den gleichen vor mehr als 20 Jahren Ben geschenkt. Er hatte ihn immer getragen. Mit einem unterdrückten Schluchzer strich er mit zitternden Fingern sanft über das Silber. Eine Träne rollte seine Wange herunter und landete auf seiner Hand, von wo aus sie zu Boden glitt. Hastig griff er wieder zur Flasche und schüttete den Whiskey seine Kehle herunter. „Du hast noch Eva und die Kinder“, sagte er laut zu sich selbst, als könnte er sich damit selbst davon überzeugen, dass das Leben schön war, doch die Kälte in seiner Seele hatte längst die Übermacht gewonnen. Neue Tränen bahnten sich ihren Weg. Er konnte sie nicht zurückhalten, so sehr er sich bemühte.


    Er schaffte es nicht mehr gegen die dunklen Gedanken, die sein Gehirn erklommen, anzukämpfen. Er hielt sich die Waffe gegen den Oberschenkel und drückte den Lauf tief in seine Muskeln. All das Leid, all die Schmerzen und Schuldgefühle würden binnen weniger Momente vergessen sein. Er musste nur abdrücken. Er entsicherte die Pistole und drückte den Abzug etwas durch, ohne letztendlich einen Schuss abzufeuern. Seine Hand begann stärker zu zittern und er ärgerte sich. Warum hatte er Angst vor dem Tod? Es war die einzige Wahl, all dem zu entkommen, Menschen um sich herum zu schützen. Die Vergangenheit hatte gezeigt, dass er Unheil bedeutete. „Scheiße, Scheiße, Scheiße!“ Er presste die Flasche abermals an seine Lippen, nahm einige riesige Schlucke und leerte die Flasche knapp über die Hälfte. Vielleicht würde er mit ein bisschen mehr Alkohol mutiger. Vor ein paar Sekunden war er doch noch so entschlossen gewesen? Warum schaffte er es jetzt nicht?


    Er umschloss die Waffe fester, drückte sie jetzt gegen seine Schläfe. Er schloss die Augen, atmete einige Male tief ein. Diesmal würde er es schaffen. Er war nicht schwach. Er war stark genug! Eins, Zwei …


    Mikael hielt inne, als er Schritte hörte. „Jemand war in Bens Wohnung, Herr Gerkhan. Die Tür war offen“, berichtete eine nervöse Stimme. „Ich werde jetzt reingehen … es wird schon nichts passieren … gut gut, ich bleibe dran.“ Nur wenig später hatte sein Gehirn die Stimme einer Person zugeordnet. Konrad Jäger. „Mikael …“, entkam es Bens Vater überrascht. Dann schien er sich wieder zu fangen. „Herr Gerkhan, es ist Mikael. Ich kümmere mich selbst darum.“
    Konrad Jäger sah den Eindringling verärgert an, als er das Handy zuklappte. „Was machst du hier? Wieso dringst du in die Wohnung meines So…“ Bens Vater verstummte. Wie blass Mikael war, dachte er. Sein dunkles Haar hing unordentlich in seine Stirn, und seine Augen sahen rot und geschwollen aus. Seine Haut war mit Schweiß bedeckt und er zitterte. Er weinte. Rotz hing ihm aus der Nase, Speichel bedeckte sein Kinn. Was war in den letzten zwei Stunden geschehen? Er sah ihn nicht an. Mikaels Blick war zu Boden gesenkt. Nein auf seine Hand. Er hielt etwas in der Hand. Er konnte einen Anhänger erkennen. Immer und immer wieder fuhr Mikael mit zittrigen Fingern darüber. Die Geste fühlte sich in seinem Inneren wie kleine Nadelstiche an. Die Sache mit seinem Sohn schien Mikael wirklich an die Nieren zu gehen. In der rechten Hand hielt Mikael eine Waffe. Wollte er sich umbringen? Schuld überkam ihn. Sicher, er war wütend auf Mikael gewesen. Er hatte ihm viele Dinge an den Kopf geworfen und all diese Dinge über Andreas gesagt. Aber konnte das ihn wirklich so aus den Fugen gebracht haben? „Ben … bitte …“, hörte er den Schwarzhaarigen nun leise hervor schluchzen und er verstand. Mikael hatte nicht mitbekommen, wie die Ärzte das Leben von Ben noch einmal gerettet hatten. Er hatte nicht gehört, wie sie auf ihn zugetreten waren und ihm Entwarnung gegeben hatte. Mikael glaube, dass Ben nicht mehr am Leben war.


    Er machte einige langsame Schritte in Mikaels Richtung. Urplötzlich hob sich Mikaels Kopf und er starrte ihn mit roten, in Tränen schwimmenden Augen an. Als er ihn erblickte, wich er panisch zurück, drückte sich an die Wand hinter sich. Hatte er etwa Angst vor ihm? Er hatte ihm doch überhaupt nichts getan! „Weg, gehen Sie weg!“, brüllte Mikael aufgebracht. Er streckte den Arm aus und richtete die Waffe auf seinen Kopf. Er wagte kaum zu atmen und wich instinktiv einige Schritte zurück. „Mikael … bitte nimm die Waffe runter“, versuchte er mit ruhiger Stimme zu dem Mann vor sich durchzudringen. Doch der angsterfüllte Blick blieb. „Mikael, du musst dich beruhigen!“


    Angst und Panik machte sich in Mikael breit. Konrad Jäger kam immer näher und das Gefühl der Hilflosigkeit ergriff von ihm Besitz. Die Bilder, wie er ihn im Krankenhaus gegen die Wand gedrückt hatte, erschienen vor seinem inneren Auge. Das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen festige sich abermals in seinem Gehirn. Zitternd vor Angst, presste er sich enger gegen die Wand. „Gehen Sie! Rühren Sie mich nicht an!“, schrie er. Der Zeigefinger lag auf dem Abzug der Pistole. „Leg die Waffe weg, Mikael … bitte! Sei vernünftig“, forderte Bens Vater und machte wieder einige Schritte auf ihn zu. Er wollte zurückweichen, doch sein Spielraum war begrenzt. Die Wand nahm ihm die Möglichkeit der Flucht. „Bleiben Sie stehen! Nicht näher kommen!“ Jäger hörte nicht, ließ ihm keine Wahl. Er drückte den Abzug mit zittrigen Fingern durch und die Kugel schlug nur unmittelbar neben Konrad Jäger in den Türrahmen ein. Sein Gegenüber erstarrte und hob die Hände. „Gut, wie du willst. Ich bleibe hier stehen. Alles ist in Ordnung.“ Mikael griff mit der linken Hand nach der Flasche auf der Erde und führte sie an seine Lippen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jäger sich wieder in seine Richtung bewegte. Er setzte den nächsten Schuss frei, worauf Bens Vater sofort wieder erstarrte. „S-sie sollen stehen b-bleiben! Ich will Sie nicht t-töten müssen!“ Die Hand des Schwarzhaarigen zitterte und Tränen liefen seine Wangen herunter. „Du musst dich beruhigen“, versuchte es Konrad erneut. „Lass mich dir helfen!“ Konrad Jäger lächelte, als er die Worte sagte. Warum lächelt er?, forderte sein Gehirn Antworten. Er wollte ihn sicherlich austricksen! „S-sie wollen mir helfen? Ausgerechnet Sie! Sie-sie haben meinem Vater nicht geholfen … für Sie bin ich doch nur menschlicher Abschaum, der Ben auf dem Gewissen hat! Sie hassen mich, wie mich alle hassen …“


    Ein Stechen fuhr durch seinen Kopf. Er schloss für einen winzigen Augenblick die Augen, doch es half nichts. Als er sie wieder öffnete, fühlte es sich an, als würde dunkler Nebel sich um ihn ausbreiten. Lichtblitze flimmerten vor seinen Augen. Ausgerechnet jetzt wollte ihm sein Körper die Grenzen aufzeigen und fast hätte er das Bewusstsein verloren. Er fokussierte seine Gedanken und kämpfte dagegen an. Seine linke Hand löste sich von der Flasche und fuhr an den Kopf, als könne er dadurch dem stechenden Schmerz Einhalt gebieten, der versuchte durch seine Schädeldecke zu entfliehen. Aus dem Augenwinkel sah er, wie Jäger die Situation ausnutzen wollte und abermals an ihn herantrat. Er löste die Hand wieder von seinem Kopf und starrte ihn an. „Sagen Sie Herr J-Jäger, warum hassen Sie-sie mich so?“ Konrad Jäger lächelte gezwungen. „Ich hasse dich nicht.“ Was für eine Lüge! Dieser Mann hatte ihm oft genug gezeigt, wie tief sein Hass saß. Wie sehr er seinen Vater und ihn verabscheute. Konrad Jäger hielt sich für Gott und das hatte er ihm oft genug in der Vergangenheit aufgezeigt. „Natürlich! Sie-sie hassen mich! Sie hassen mich, sagen Sie es!!!“ Er fokussierte mit der Pistole Jäger, doch die Schmerzen in seinem Kopf ließen nicht zu, dass er sich vernünftig konzentrieren konnte. Seine schweißbedeckte Hand drohte den Halt um die Waffe zu verlieren. Er löste die Finger kurz, um wenig später die Waffe erneut zu umgreifen. Es war doch derzeit sein einziger Schutz, den er gegen Jäger hatte. Sein Finger zappelte nervös über den Abzug, bereit jeden Moment erneut eine Kugel abzugeben. „Du solltest die Waffe weglegen, damit wir in Ruhe …“, ertönte die Stimme von Bens Vater abermals.
    Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. Das würde Jäger so passen. Er würde ihm sicher nicht schutzlos entgegentreten. „Sie hassen m-mich, weil Sie meinen Vater hassen … Sie kennen mich nicht und hassen mich dennoch!“, schrie er aufgebracht. Tränen liefen über Mikaels Wagen, aber er kümmerte sich nicht mehr darum sie wegzuwischen.


    Er griff abermals nach der Flasche, die neben ihm auf dem Boden stand ohne dabei Konrad Jäger nur für einen winzigen Augenblick aus den Augen zu lassen. Er nahm einige gierige Schlucke und betrachte sein Gegenüber. „Es-es ist o-okay, denke ich, Sie-sie haben das Recht dazu … Ben ist tot, wegen mir und m-mein ganzes Leben lang sterben Leute um mich herum …“, murmelte er und ließ die Waffe ein Stück sinken. „Mikael, Ben ist nicht to …“ Seine Hand fuhr erschrocken wieder hoch, als Jäger erneut einige Schritte auf ihn zumachte. Er drückte den Abzug durch und die nächste Kugel krachte in die Wand. „L-lassen Sie mich ausreden!“ Jäger wich zurück und nickte. „Ben ist tot, weil ich … ich nicht fähig bin die Menschen, die ich liebe, die mir wichtig sind, zu beschützen … ich habe etwas a-an mir, was-was den Tod bedeutet … einen Fluch oder … ich w-weiß nicht. Verstehen S-sie?! Ich will das nicht und doch p-passiert es einfach!“ Als er die Worte aussprach überfluteten ihn Angst und Trauer erneut. Er hatte alles verloren im Leben, was ihm etwas bedeutete. Warum hasste ihn das Leben so? Warum hatte er es nie einfach gehabt? „Das verstehe ich, aber Mikael … Ben lebt. Er ist nicht tot. Er lebt, hörst du!“ Konrad Jäger versuchte seine Stimme ruhig zu halten, doch es misslang ihm. Man könnte heraushören, wie sie unter der Anspannung zitterte. Mikael lachte hämisch auf. „Das s-sagen Sie nur, weil-weil ich eine Waffe auf Sie richte! Ich-ich bedeute Unheil … Sie … Sie haben Recht!“


    Sein Entschluss stand fest, sein Leben würde ein Ende finden. Er würde gehen, damit er beschützen konnte, was er noch nicht verloren hatte. Er löste die Waffe von Konrad Jäger und richtete sie gegen seinen Kopf. „Wissen Sie, Herr Jäger. Ich habe lange darüber nachgedacht, was die nötige und unumgängliche Konsequenz ist, damit ich nicht noch mehr Leute verliere. Denn logisch betrachtet – das wissen Sie und das weiß ich – bin ich der Grund, warum diese Leute sterben mussten. Warum Ben und Joshua tot sind.“


    Plötzlich war er ganz ruhig, ja sogar erleichtert. Seine Hände zitterten nicht mehr, sein Herz schlug ruhig und gleichmäßig, als würde er sich gerade unspektakulärer Aktenarbeit widmen. Selbst seine Angst und Panik waren verschwunden. Es gab nur noch ihn und die Waffe. Er lächelte und drückte dann widerstandslos und ohne großes Zögern den Abzug der Waffe durch.

  • Angst durchflutete Konrad Jägers Körper. Wie in Zeitlupe sah er, wie sich Mikaels Zeigefinger am Abzug krümmte. Was hast du getan, war der einzige klare Gedanke, den er in diesem Augenblick fassen konnte. Ein Mann brachte sich vor seinen Augen um. Er hatte ihn nicht daran hindern können. Nein, er war sogar schuldig. Er hatte diesen Zustand im Krankenhaus herbeigeführt. Fast mechanisch schlossen sich seine Augen, um dem Bild vor sich zu entgehen. Er wartete auf den Knall, doch alles was kam, war ein helles, metallisches Klacken. Er vernahm, wie Mikael wütend schrie, ehe das Klacken wieder und wieder ertönte. „Nein, nein, nein!“ Konrad brachte den Mut auf, die Augen wieder zu öffnen. Mikael saß noch immer an der Wand, die Waffe war weiterhin gegen seine Schläfe gedrückt. Immer und immer wieder betätigte er den Abzug, doch es passierte nichts. Das Magazin der Waffe war leer. Mikaels Hand zitterte, heiße Tränen liefen abermals seine Wangen hinunter und dann starrte er ihn an. Seine rot unterlaufenen eisblauen Augen schienen ihn zu durchbohren. „Es-es ist Ihre Schuld!!“, schrie er hysterisch, „nur weil Sie hier sind! Ich hätte nicht auf Sie geschossen … Sie sind Schuld!“ Langsam löste sich Konrad aus seiner Position und machte bedachte, langsame Schritte auf Mikael zu. „G-gehen Sie! Lassen Sie mich! … Ich-ich muss doch Eva und die K-Kinder beschützen, ich m-muss … wenn ich nicht mehr bin, d-dann wird ihnen nichts mehr p-passieren!“ Mikaels Stimme zitterte vor Verzweiflung, er verschluckte Worte in den Tränen und kämpfte sich nun mit wackeligen Beinen nach oben und taumelte in Richtung Balkon.


    Mit einer entschlossenen, schnellen Bewegung, die Konrad Mikael in diesem Zustand nicht zugetraut hatte, schwang er sich über das Geländer des Balkons, an die Außenseite der Gitterstäbe, den Abgrund nun direkt unter sich. Er hielt sich mit beiden Händen an dem Metallbalken fest. Seine Füße klemmten zwischen den senkrechten Streben. Der Blick war in die Tiefe gerichtet. Konrad sah, wie der Körper des jungen Mannes bebte und zitterte. Er wusste nicht, was er tun sollte. Als er mit der Waffe auf dem Boden gesessen hatte, da war Mikael panisch, hatte ihn nicht in seine Nähe gelassen. Wenn er ihm jetzt zu nahe kam, würde er womöglich springen. Er spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. Panik hatte ihn im Griff. Er konnte einfach nicht klar denken und einen Ausweg aus dieser Situation finden, der für Mikael nicht tödlich enden würde.


    „Wo ist er?!“, ertönte es hinter ihm und er zuckte überrascht zusammen. Er hatte in den letzten Sekunden nichts wahrgenommen, nichts gehört außer dem Rauschen des Blutes in seinen Ohren. Nun standen Semir Gerkhan und Antti Heikkinen vor ihm.


    Semir sah verwirrt auf Konrad Jäger. Bens Vater war bleich, zitterte leicht und schien ihr Kommen überhaupt nicht bemerkt zu haben. „Wir sind sofort her, als wir gehört haben, dass Mikael hier ist“, ließ er den Mann vor sich wissen. „Wo ist er?“ Konrad Jäger wollte ihnen gerade antworten, da hatten die beiden Kommissare ihren jungen Kollegen bereits erblickt. „Er-er wollte sich erschießen … er hat einfach abgedrückt!“, berichtete Konrad Jäger panisch, „Gott sei Dank war das Magazin leer, aber dann ist er da raus und ehe ich mich versehen konnte … O' Gott! Ich konnte ihn nicht aufhalten. Sie müssen da runterholen …“


    Semir und Antti warfen sich einen vielsagenden Blick zu. Jetzt durfte ihnen kein Fehler unterlaufen. Sie durften nicht in Hektik verfallen, so sehr sie diese Situation doch in Panik versetzte. „Lass mich das machen … er vertraut mir. Er wird mich in seine Nähe lassen …“, forderte Antti und Semir nickte. „Soll ich … soll ich Eva anrufen?“ Der Blonde schüttelte den Kopf. „Nein, lass es uns erst einmal so versuchen. Ich glaube nicht, dass sie ihm helfen kann … sie würde selbst zu panisch werden.“ Der deutsche Beamte nickte abermals und Antti setzte sich langsam in Bewegung in Richtung Balkon.


    Der Blonde machte einige Schritte auf Mikael zu und legte eine Hand neben ihm auf das Geländer. Der eisige Wind peitschte ihm ins Gesicht. „Tu das nicht!“, sagte er mit ruhiger Stimme. „Geh weg!“ „Bitte, lass den Unsinn Mikael. Ben lebt, Konrad hat nicht gelogen.“ Mikaels Blick wechselte nervös zwischen Antti und dem Abgrund. „Bitte Geh!“ Antti schüttelte sanft mit dem Kopf. „Ich weiß, wie du dich fühlst. Als meine Frau und mein Sohn gestorben sind, da dachte ich auch, dass ich das Leben nicht verdient hätte.“ „Das … das kannst du nicht ver-vergleichen!“, schrie Mikael aufgebracht und Antti registrierte, wie der Körper seines Kollegen bedrohlich schwankte und er drauf und dran war das Gleichgewicht zu verlieren. „Sie-sie sind nicht wegen dir gestorben!“


    Mikaels Finger verkrampften sich um das kühle Eisen. Seine Knie zitterten. „Bitte vertraue mir Mikael, komm runter. Ben lebt, alles wird wieder in Ordnung kommen.“ Antti musste sich zusammenreißen, um Mikael nicht gewaltsam über das Geländer zurück auf sicheres Terrain zu ziehen. Sein Kollege musste es alleine schaffen, es wollen. „Sselbst wenn du Recht hast, würde ich-ich ihn durch meinen Tod vor mehr Leid bewahren!“, presste er heraus. Panisch registrierte der Blonde, wie Mikael mit dem rechten Fuß den Halt verlor und abrutschte. Er umgriff den Körper und zog ihn wieder hoch. Antti legte die Hand fest um Mikaels Arm, um ihn am Fallen zu hindern. „Komm bitte runter jetzt, wir finden einen Weg. Mikael bitte, wenn du springst … ich halte das nicht aus, noch einmal meine Familie zu verlieren. Das erste Mal war schlimm, noch einmal stehe ich das nicht durch und dann wirst du am Ende doch Schuld an einem weiteren Tod sein.“ „Antti“, flüsterte der Schwarzhaarige leise, „Ich-ich kann nicht mehr … “ „Ist das nicht normal in einer solchen Situation? Aber du bist nicht alleine. Semir ist da, Eva ist da und ich. Wir sind alle für dich da. Du bist nicht alleine!“ Mikaels rot unterlaufene Augen starrten ihn an. Matt und kraftlos sahen sie in seine. „I-ich werde Eva verlieren … sie versteht das nicht … sie-sie versteht mich nicht!“, murmelte Mikael leise und unverständlich. „Sie liebt dich Mikael … ihr bekommt das hin. Sie liebt dich.“ Er streckte seine rechte Hand aus. „Komm bitte runter. Wir können sicherlich in Ruhe darüber reden.“ „Ich bin … müde“, nuschelte der Jüngere und Antti nickte. „Ich weiß. Ich verspreche dir, wir bekommen das hin. Aber jetzt musste du erst einmal runter kommen … du weißt, dass du nicht klar denkst, wenn du müde bist.“ Der Schwarzhaarige nickte leicht und löste seine rechte Hand von dem Geländer, um nach Anttis Arm zu greifen. Der Ältere lächelte, umgriff die Arme seines jungen Kollegen und half ihm dabei, wieder zurück auf den Balkon zu klettern.


    Als er sicheren Boden unter den Füßen hatte, knickten seine Beine zusammen und er sank auf die Knie. Seine Augen füllten sich mit Tränen und im nächsten Augenblick begann er zu weinen. Antti kniete sich neben ihn auf den kalten Fliesenboden des Balkons. Ohne etwas zu sagen, nahm er Mikael in die Arme, der seinen Kopf nun im Pullover des Älteren versenkte und noch heftiger weinte. Sanft schaukelte er Mikael behutsam vor und zurück und fuhr über seinen Rücken. „Es-es war doch der einzige A-ausweg … ich-ich wollte nicht sterben Antti … du-du musst mir glauben, dass … dass ich dich nicht einfach so alleine lassen …“, schluchzte Mikael heraus. Antti merkte, wie das Herz seines Freundes gegen seinen Brustkorb schlug. Schnell und aufgebracht. Mikaels Muskeln verkrampften sich und ein Zittern durchfuhr seinen Körper. Immer und immer wieder. „Alles wird wieder in Ordnung kommen“, sprach er seinem jungen Kollegen gut zu und fuhr ihm durch die Haare. „Alles wird gut werden!“ „Ich-ich bin so m-müde“, kam es leise aus seinen Armen. „Ich weiß Mikael … Ich weiß. Wir alle sind müde und erschöpft. Wir alle … komm wir sollten reingehen. Es ist kalt hier draußen.“ Er zog Mikael sanft nach oben. Sein junger Kollege schwankte und seine Hände krallten sich instinktiv, nach Halt suchend, in die Kleidung von Antti. Behutsam bugsierte er den Schwarzhaarigen wieder zurück in die Wohnung und setzte ihn auf dem Sofa ab.


    „Hier Antti.“ Er sah auf. Semir hielt ihm eine Decke entgegen. Er nickte und legte sie um Mikaels Schultern. Sein Blick fiel auf die Whiskey-Flasche auf dem Boden. Mikael hatte sich zumindest diesmal nicht vollkommen besoffen. Im Grunde machte ihm diese Tatsache aber noch mehr Sorgen. Wenn Mikael zu so etwas im Stande war, ohne dass er sturzbetrunken war, hieß es, dass er wirklich am Ende war. Er sah wieder auf Mikael, der unter der Wolldecke weiterhin zitterte. Einige schwarze Strähnen klebten an seiner schweißnassen Stirn, die Augen und Wangen waren von Tränen rot gezeichnet. „Ich werde einen Tee machen“, hörte er Semirs Stimme und er nickte wieder.


    Der Schock saß auch Konrad Jäger in den Gliedern. Er zitterte leicht und stand etwas weiter entfernt von Mikael und dessen Kollegen. Sein Blick wollte sich nicht von dem jungen Mann lösen. Kreidebleich saß er auf dem Sofa, nur die kräftigen Arme seines Kollegen hielten ihn in der aufrechten Position. Schweiß stand auf seiner Stirn, der ganze Körper zitterte unaufhörlich und er atmete hektisch und abgehackt. All seine Wut, die er in den letzten Jahren auf Mikael angesammelt hatte, war in den letzten Minuten verflogen. Er fühlte nur noch Schuld. Schuld und Mitleid für einen verzweifelten jungen Mann, der seinem Leben ein Ende setzen wollte, obwohl er noch mehr als die Hälfte davon vor sich gehabt hatte.


    „Sie sollten gehen Herr Jäger.“ Er fuhr aus seinen Gedanken hoch und sah zur Seite. Der Kollege seines Sohnes stand mit einer Teetasse neben ihm. „Ich… mein Freund ist Chefarzt in einer Privatklinik … ich kann ihn für Sie anrufen … ich, es ist das mindeste, was ich jetzt noch tun kann.“, brachte er leise und mit zitternder Stimme hervor. „Er braucht Hilfe … sehen Sie sich ihn an … ich habe das mit zu verantworten und nun, nun ist es doch meine Aufgabe ihm zu helfen.“ Der Deutschtürke nickte nachdenklich. „Sie haben Recht“, sagte er nun, „rufen Sie ihren Freund an.“


    Es hatte nicht lange gedauert und Konrad Jäger spürte den kräftigen Händedruck seines Freundes, Patrick Weißenkamp. „Du hast gesagt, es sei dringend.“ Er nickte. „Es geht um den Freund von meinem Sohn … ich habe dir doch erzählt, dass Ben … dass er im Koma liegt derzeit und Mikael … also sein Freund. Er …“ Der Arzt sah an ihm vorbei in das Wohnzimmer. „Er hat einen Zusammenbruch.“ „Ja.“ Weißenkamp nickte. „Es geht ihm schon länger schlechter. Er schläft sehr wenig, macht sich große Sorgen und gibt sich Schuld.“ „Schuld?“ Konrad lächelte. „Es ist kompliziert, Patrick … hab Verständnis, dass ich es dir nicht genauer erklären kann.“ Sein Freund nickte mitfühlend. „Wie lange zittert er schon so?“ „Ich weiß nicht genau … ich denke, dass ich ihn vor etwa 1 ½ Stunden hier gefunden habe in diesem Zustand.“ Er wusste nicht, warum er seinem Freund die Tatsache verschwieg, dass sich Mikael das Leben hatte nehmen wollen. Es schien ihm zu privat, um es an andere Personen weiterzutragen. „Ich denke, dass er schon lange nicht mehr geschlafen hat.“ „Gut ich werde ihm ein Beruhigungsmittel geben, was eine sedierende Wirkung hat. Er wird danach einige Stunden schlafen.“ Patrick Weißenkamp trat durch die Tür und begrüßte die anwesenden Personen kurz, ehe er die Tasche öffnete. „Ich werde Ihnen ein Beruhigungsmittel geben“, sprach er sachte in die Richtung seines Patienten, der daraufhin sofort hektischer wurde.


    Als Mikael die Spritze sah, geriet er in Panik. „Nein! Keine Spritze! Nein … ich will das nicht …“ „Es ist in Ordnung, Mikael … er will dir nur helfen“, versuchte Antti ihn zu beruhigen. „Keine Spritze! Keine Spritze!“ Er wand sich aus Anttis Armen und sprang auf, doch seine Beine trugen ihn nicht. Er fiel auf die Knie, versuchte sich mit zittrigen Armen wieder hochzustemmen. Antti kniete sich neben ihn und hob ihn mit seinen starken Händen wieder auf das Sofa. „Du musst doch Zeit haben, dich zu erholen. Endlich mal zur Ruhe zukommen“, sagte der Finne behutsam. „Halten Sie seinen Arm ruhig“, forderte Dr. Weißenkamp. Der Doktor sprach mit Antti, als wäre er gar nicht im Raum. Antti überstreckte seinen Arm leicht und er spürte, wie der Arzt die Spritze ansetzte. Bevor er reagieren konnte, glitt die Nadel tief in die Vene. „Nein!“, schrie er laut auf und schlug aus Verzweiflung wild um sich. Ein Schlag traf den Arm des Arztes, bevor er den Kolben vollständig herunterdrücken konnte. Mit einer heftigen Bewegung riss er sich die Nadel aus der Vene. „Ich-ich will nicht! Keine Spritze!“ Blut quoll aus der Einstichstelle und tropfte auf die Jeans. Durch die heftigen Bewegungen wurde ihm urplötzlich schwindelig und die Stimmen um ihn herum schienen sich zu entfernen. Offenbar hatte doch eine gewisse Menge den Weg in seine Blutbahn gefunden. Die Wirkung setzte bereits ein. Er schüttelte benommen den Kopf. „Ich will nicht … Perkele!“, schrie er wütend, als er spürte, wie der Arzt wieder zupackte und seinen Arm streckte. Er wollte sich wehren, doch Antti schien aus seinem ersten Versuch die Lehre gezogen zu haben. Seine Hände umfassten ihn fest und ließen nicht los. Er spürte, wie er ruhiger und entspannter wurde. Sein Körper hörte auf zu zittern, seine Zähne schlugen nicht mehr auf einander. Er spürte, wie er von einer bleiernen Müdigkeit überschwemmt wurde. „Es hat eine leicht sedierende Wirkung. Sie werden bald schlafen“, sagte der Arzt wie durch Watte. Er wollte etwas antworten, doch seine Zunge war so schwer, dass er kein Wort mehr herausbringen konnte. Sekunden später war er in den Schlaf gesunken.


    Semir verfolgte, wie Antti Mikael sanft in seine Arme hob und ohne viele Worte in Bens Zimmer verschwand. „Du solltest ihn im Auge behalten, Konrad. Die Symptome deuten auf einen schweren psychischen Schock hin“, berichtete der Arzt und Konrad Jäger nickte. „Ich lasse dir ein paar Beruhigungsmittel da. Es ist nicht stark dosiert, aber es wird ihm helfen in den nächsten Tagen. Wenn es anhält, sorge dafür, dass er zu einem Psychiater geht. Ich kann dir eine Adresse geben.“ „Natürlich, ich werde darauf Acht geben, Patrick.“ Bens Vater gab den Arzt die Hand und geleitete ihn in Richtung Tür, ehe er wenig später zurückkehrte. „Sie müssen nicht hier bleiben, Herr Jäger“, murmelte Semir gedankenverloren, während er weiter auf die Tür starrte, durch welche Antti verschwunden war. Er war noch immer vollkommen aufgewühlt von Mikaels Zustand. „Vielleicht bin ich es ihm schuldig.“


    Semirs Blick löste sich von der Tür und er sah Konrad Jäger an. „Mikael hatte Recht mit seinen Vorwürfen, ich habe damals nicht genug getan, um seinen Vater vor einer Dummheit zu bewahren. Ich war ein schlechter Freund und Mikael … er ist es nicht. Ich trample auf den Gefühlen eines psychisch instabilen Mannes herum, treibe ihn fast in den Selbstmord!“ Der Körper von Bens Vater zitterte aufgebracht. Semir würde ihm gerne sagen, dass ihn keine Schuld treffen würde, aber inzwischen war er sich nicht mehr sicher, ob Konrad Jäger Mikael nicht wirklich in diese aussichtslose Verzweiflung getrieben hatte. „Im Augenblick können sie nichts tun. Er wird einige Stunden durchschlafen. Ich bin mir sicher, Sie brauchen auch dringend Schlaf Herr Jäger.“ Der Schwarzhaarige nickte schwerfällig. „Vielleicht haben Sie Recht.“


    Als Konrad Jäger gegangen war, hatte Semir sich auf einen der Stühle am Esstisch gesetzt und blickte wieder auf die Tür, durch die Antti verschwunden war. Es war inzwischen bereits drei Stunden her. Vermutlich brauchte er Zeit für sich. Mikael war mit die wichtigste Person in seinem Leben und die wollte sich vor seinen Augen umbringen. Irgendwann schob sich die Tür auf und der Blonde trat mit gesenktem Blick aus dem Zimmer und setzte sich gegenüber von ihm an den Tisch. Seine Hand fuhr sich durch das Gesicht und er fluchte leise auf Finnisch. „Wie geht es dir?“, fragte Semir vorsichtig nach. „Ich weiß nicht. Es ist irgendwie alles so unwirklich. Mikael … ich meine er … O' Gott ich will da nicht drüber nachdenken.“ Semir nickte betreten. „Vielleicht sollten wir ihn in ein Krankenhaus bringen. Er braucht professionelle Hilfe. Wir können ihm nicht mehr helfen.“ Antti sah auf. „Ich werde nichts gegen seinen Willen tun. Ich habe ihm das versprochen … ich habe ihm versprochen, dass er in kein Krankenhaus muss.“ „Antti, aber das hier. Du hast doch selbst gesehen … er wollte sich umbringen. Er wollte springen!“, konterte Semir aufgewühlt. Der Schreck der letzten Stunden steckte immer noch in seinen Knochen. „Wäre es Ben, du würdest ihn nicht in ein Krankenhaus stecken!“, fuhr ihn Antti nun an. „Natürlich würde ich das …“ „NEIN! Das sagst du jetzt, Semir … aber ich weiß, dass du es nicht wirklich machen würdest!“ Der Deutschtürke verstummte. Vermutlich hatte Antti Recht. Vielleicht würde er Ben in keine Klinik bringen. „Er wollte springen, nicht weil er am Leben nichts mehr Sinnvolles sieht, sondern weil er dachte, dass er so andere Leute schützt. Das ist etwas anderes …“ „Nein, Antti … das zeigt nur, dass Mikael nicht mehr fähig ist logisch zu denken. Der Schlafmangel, der psychische Druck, diese ganze Situation treibt ihn immer tiefer in die Verzweiflung. Manchmal musst du deinen Freund verletzen, damit du ihm helfen kannst“, erinnerte Semir ihn. Antti schüttelte energisch den Kopf. „Er ist meine Familie. Ich werde ihm das nicht antun!“ Der stämmige Finne ballte wütend die Hand zur Faust und Semir sah, wie er sich beherrschen musste, nicht vollkommen die Fassung zu verlieren.


    Er nickte vorsichtig. „Gut Antti, aber wenn diese Medikament, die der Arzt gebracht hat nicht helfen und er noch einmal nur in die Nähe eines Zusammenbruchs kommt, dann werden wir ihn in ein Krankenhaus bringen, okay?“ „Ja … wie du meinst.“ Antti löste seine Faust wieder, doch Semir konnte sehen, dass sein Körper weiterhin vor Erregung bebte. Eine Tatsache, die es nicht gerade leichter machte, seine nächste Frage zu stellen. „Die Sache, die Mikael auf dem Balkon gesagt hat … mit deiner Frau und deinem Kind, du hast nie davon erzählt“, sagte er mit dünner Stimme. „Es ist lange her“, gab ihm sein Gegenüber Antwort. „Es war ein Autounfall vor 15 Jahren. Sie waren sofort tot.“ „Das tut mir leid, Antti.“ Semir senkte betreten den Kopf. „Manchmal denke ich, dass das der Grund ist, warum ich seit diesem Tag einfach keine Beziehung mehr hatte, die länger als zwei Jahre dauerte … ich bin nicht mehr fähig mich zu binden.“ Er machte eine Pause. „Aber ich kann dennoch nicht behaupten, dass ich unglücklich bin. Mikael, bei ihm habe ich das Gefühl ein Teil dieser kleinen Familie zu sein und Veikko … seit er mein Untermieter ist, holen mich auch dort nicht mehr so häufig die Gedanken an damals ein.“ Anttis Hand umklammerte zitternd die Tischkante. „Ich habe Angst, Semir … Angst, dass diese Familie zerbricht. Angst um Mikael. Angst um Eva, die mit dieser Situation überfordert ist … Angst, wie ich es Veikko und Kasper erklären soll. Ich bin die Ausreden leid und dennoch lüge ich sie weiter an.“ „Mikael wird es schaffen. Er hat so viel geschafft. Verlier das Vertrauen nicht“, redete Semir ihm gut zu. Antti nickte stumm, erwiderte jedoch nichts mehr auf seine Worte.

  • Semir folgte, wie in den Tagen zuvor, einer öden Routine. Er wusch sich, aß sein Frühstück und dann führte der direkte Weg zu Ben, ehe er dann wieder nach Hause fuhr. Meist empfing ihn dann Mikael, der damit kämpfte irgendwie mit seiner Schuld klar zu kommen. Die Beruhigungsmittel halfen dem jungen Kollegen sich nicht vollkommen zu verlieren und den nächsten Zusammenbruch zu erleiden, doch es war ihm anzusehen, wie sehr ihm alles zusetzte. Er war über die letzten zwei Wochen magerer geworden. Sein Gesicht war bleich und er redete nicht mehr als nötig. Hinzu kam, dass Antti seinen Urlaub einfach nicht noch mehr hinauszögern hatte können. Er war vor vier Tagen zurück nach Helsinki gereist und würde erst in zwei wieder kommen. Umso mehr freute sich Semir, dass er heute endlich positive Neuigkeiten überbringen konnte.


    Er ging in das Wohnzimmer und setzte sich neben Mikael, der aus dem Fenster sah und in seine Gedanken versunken schien. „Es gibt Neuigkeiten aus dem Krankenhaus ...“, begann er und merkte, wie er sofort Mikaels volle Aufmerksamkeit hatte. Der Kopf des Finnen preschte regelrecht in seine Richtung und seine matten blauen Augen starrten ihn an. „Ben …“, flüsterte der junge Kommissar mit erstickter Stimme. „Er ist aus dem Koma erwacht“, fuhr Semir fort. „Und hat sich bei der Schwester nach dir erkundigt.“ Mikaels Hände begannen leicht zu zittern und er presste sie in seine Jeans. Semir vermutete, dass er die Hoffnung hatte, dass er es nicht sehen würde. „Wach? Er ist wach? …“ „Seit einigen Stunden. Konrad ist im Augenblick bei ihm … daher habe ich ihn heute Morgen auch nicht besucht. Wir können ihn heute Nachmittag gemeinsam besuchen.“ Mikael kämpfte mit der Fassung. Das leichte Zittern war inzwischen auf seinen ganzen Körper übergegangen. „Er-er … will mich sehen?“, fragte er mit unsicherer Stimme nach. „Ja. Du bist doch sein Freund“, antwortete Semir und umgriff dabei Mikaels Arm und drückte ihn sanft. Mikael nickte und sah auf den Boden. Es war unverkennbar, dass diese Nachricht nicht den Effekt hatte, den Semir sich erhoffte. Die Traurigkeit war nur für einen winzigen Augenblick nach dem Erhalten der Nachricht aus seinen Augen verschwunden. „Es wird alles wieder gut werden“, sprach ihm Semir gut zu. „Ich weiß nicht … ich habe viel verkehrt gemacht und …“, stammelte der Schwarzhaarige nun. „Ben hat dir doch schon lange verziehen. Sofort, als er wusste, dass du undercover warst.“ Das Zittern von Mikaels Körper ließ nicht nach. Semir lächelte sanft. „Vertraue mir Mikael. Er wird sich freuen dich zu sehen und dir wird es gut tun. Es wird dir helfen.“ Sein Gegenüber nickte unsicher. „Ja … vielleicht“, murmelte er schließlich. „Ganz bestimmt“, ließ Semir ihn wissen.



    Es war 15 Uhr, als die beiden zum Krankenhaus aufbrachen. Die ganze Fahrt über hatte Semir versucht Mikael in ein Gespräch zu verwickeln, doch der junge Kollege war stumm geblieben und hatte in Gedanken versunken aus dem Fenster geblickt. Als sie die Gänge des Krankenhauses herunterliefen merkte er, wie Mikael neben ihm immer mehr zu zittern begann. Erst nur an den Händen, dann am ganzen Körper. Kurz vor der Intensivstation hielt der Finne dann an. „Ich-ich schaffe das nicht“, murmelte er leise und er musste sich bemühen, dass er überhaupt ausmache konnte, was Mikael sagte. „Ben … er wird furchtbar wütend auf mich sein.“ „Nein, wird er nicht. Er hat extra nach dir gefragt. Doch wohl nicht, um dich dann anzuschreien?“, redete Semir ihm gut zu. Mikael nickte, setzte sich jedoch nicht in Bewegung. Der Blick des jungen Mannes war betreten zu Boden gerichtet, als würde er vermeiden wollen, dass Semir sah, was wirklich in ihm vorging. „Mikael, du wirst es schaffen. Es sind nur noch ein paar Schritte.“ „Ich fühl mich nicht gut … mir ist schwindelig“, nuschelte der Mann vor ihm leise eine Antwort und drehte sich weg, wollte die Flucht antreten.


    Semir griff nach dem Handgelenk des Jüngeren und hielt ihn vom Gehen ab. „Wenn du jetzt gehst Mikael, dann wird es für dich und Ben nicht einfacher werden.“ Seine Stimme war sanft, aber eindringlich, als würde er einer seiner Töchter gerade etwas erklären. „Ich … ich muss mir klar werden, was ich sagen will. Ich kann nicht klar denken ... alles dreht sich in meinem Kopf im Kreis. Ich-ich kann nicht … ich schaffe das nicht.“ Semir lockerte den Griff. „Renn nicht davon. Du hast doch gesehen, wohin das führt. All diese Albträume aus deiner Vergangenheit!“ Mikael nickte, drehte sich aber nicht in seine Richtung und setzte sich dann wieder in Bewegung.


    Semir verfolgte, wie Mikael den Gang herunterlief, den Blick dabei noch immer schuldbewusst zu Boden gesenkt. Er schüttelte den Kopf. Die Nachricht von Bens Erwachen hatte ihm wohl wirklich nicht geholfen, sich von seinen dunklen Gedanken zu befreien. Die Schuld und die Hilflosigkeit waren noch immer da. Er musste sich später darum kümmern. Vielleicht konnte Antti noch einmal mit ihm reden. Er seufzte und drehte sich schließlich in die andere Richtung, um Ben endlich einen Besuch abzustatten.


    Er klopfte einige Male, ehe er die Tür zum Krankenzimmer öffnete und hereintrat. Ben lag etwas aufrecht in seinem Bett und lächelte ihn müde an, als er die Zimmertür wieder hinter sich schloss. Semir schob einen Stuhl an das Bett und erwiderte das Lächeln seines Partners. „Ich bin froh, dass du nun endlich wieder wach bist. Wir haben uns Sorgen gemacht.“ „Es … tut mir leid. Es war dumm von mir alleine zu Hansen zu fahren“, flüsterte Ben leise, „der Typ hat einfach geschossen, mir keine Wahl gelassen.“ Semir nickte und drückte die Schulter des Jüngeren sanft.


    „Es war wirklich knapp.“ „Mikael … er …“ Bens Stimme versagte, als er daran dachte, wie verzweifelt Mikael gewesen war, als er neben ihm kniete, ihn anflehte nicht zu gehen. „Wo … ist …er?“, presste er mit zitternder Stimme hervor. Semir lächelte gezwungen. „Ben … Mikael ist …“ Er beobachtete, wie sich in Bens Gesicht Panik widerspiegelte. „Er ist nicht tot oder? Dieses Schwein hat ihn nicht …“ Der Deutschtürke schüttelte den Kopf. „Nein, um Gottes Willen … Nein, er lebt.“ Ben sah ihn verwirrt an. „Warum schaust du dann so, als wäre etwas mit ihm passiert?“ Der Deutschtürke seufzte. Vielleicht war es besser Ben in dieser Hinsicht die Wahrheit zu sagen. „Es geht ihm körperlich gut, aber psychisch. Wir machen uns große Sorgen um ihn. Diese Sache hat ihn an seine Grenzen gebracht. Er macht sich riesige Vorwürfe.“ „Wegen mir? … Ich bin doch selbst … schuld“, murmelte Ben. „Ich denke seine Schuld geht tiefer. Er schläft kaum noch und hat Albträume.“ Semir schluckte, ehe er fortfuhr. „Manchmal höre ich ihn nachts nach Joshua oder seinem Vater schreien … und nach dir.“


    Ben ließ sich tiefer in sein Kissen sinken. Es schmerzte, all das erfahren zu müssen. Er fühlte sich urplötzlich schuldig daran. Er war es gewesen, der sich durch seine Dummheit hatte anschießen lassen. Nur deshalb ging es seinem Freund schlecht. „Was ist mit Georg Hansen?“, wollte er wissen. „Er wurde erschossen bei einem Zugriff. Er wird dir nichts mehr tun können“, antwortete ihm Semir. „Und Mikael …“, murmelte er in Gedanken versunken. „Wie?“, hakte Semir bei seinem jüngeren Kollegen nach. „Er wird Mikael nichts mehr tun können, wie ein dunkler Schatten über ihn schweben …“, führte er seinen Gedanken weiter aus. „Nein, dass wird er nicht mehr können.“ Semir sah betrübt zu Boden, eine Geste, die Ben nicht entgangen war. Das Thema ‚Mikael‘ schien bei seinem Partner Wehmut und Trauer auszulösen. „Kannst du ihn herbringen? Ich muss da noch etwas mit ihm klären … all diese Sachen, die zwischen uns in den letzten Wochen passiert sind“, wollte Ben nun wissen. Sein Partner nickte leicht. „Um ehrlich zu sein, sind wir gemeinsam hergekommen. Ihn hat der Mut verlassen, als wir vor deiner Tür standen.“


    Ben sah Semir überrascht an. Irgendwie fiel es ihm schwer zu glauben, dass Mikael der Mut verließ. Er war niemand, der aufgab. Er kämpfte immer weiter, auch wenn es aussichtslos war. Er musste sich einfach selbst ein Auge davon machen, was seinen Partner so bedrückte. „Bitte suche ihn. Ich muss wirklich mit ihm reden. Ich muss … ich muss ihn sehen.“ Semir nickte. „Natürlich, ich werde ihn herholen, wenn du das willst.“ „Es ist wirklich wichtig“, wiederholte Ben ein weiteres Mal, als sich Semir erhoben hatte und in Richtung Tür ging.


    Als sich die Tür geschlossen hatte, schloss Ben erschöpft die Augen. Er war müde und doch hielt ihn die Erwartung wach. Es ging Mikael schlecht, hatte Semir gesagt. Was war nur passiert, als er weg war? Was war mit Mikael geschehen, dass er an seine Grenzen geriet? Die verzweifelten Schreie von seinem Freund, als er im feuchten Gras lag, hallten durch seinen Kopf. Er hatte gefleht, gebettelt, dass er bei ihm blieb und er hatte sein Versprechen nicht halten können. Er war nicht stark genug gewesen, um Mikael seinen Wunsch zu erfüllen. Er war in ein schwarzes Nichts eingetaucht. War er tot gewesen? Ben konnte sich nicht erinnern und niemand hatte ihm diese Frage bisher beantwortet. Hatte es eine Bedeutung? Er lebte und das war es, was am Ende zählte!

  • Ben sah auf, als sich die Tür zu seinem Zimmer öffnete. Mikael trat unsicher herein – Semir hatte ihn also irgendwie überreden können. Der Schwarzhaarige hatte den Kopf gesenkt und presste die Hände in seine Pullovertaschen. „Hi Ben“, war alles was ihm über die Lippen kam, ehe er sich setzte und ihn ansah. Ben stockte für einen Moment. Mikael sah schlecht aus. Er war blass und seine Augen hatten ihren ursprünglichen Glanz verloren, sahen ihn matt an. „Man könnte meinen, du bist derjenige, der im Koma lag“, witzelte er. Mikael erwiderte seinen Kommentar nicht. Nicht einmal das kleinste Lächeln war ihm zu entlocken. „Hör zu Ben, ich-ich … das alles …“, stotterte Mikael schließlich, kam jedoch zu keinem Abschluss. „Es ist nicht deine Schuld. Du hättest es nicht verhindern können, dass dein Großvater auf mich…“ , begann er mit leiser Stimme, doch wurde sofort unterbrochen. „… Das meinte ich nicht.“ Mikael senkte den Kopf. „Ich … Ben … ich-ich bin kein guter Freund und … das alles … ich habe dich nicht beschützt und noch dazu … ich … das alles … diese Sachen, die ich zu dir gesagt habe … ich …“ Sein Freund vergrub die Hände immer tiefer in seine Pullovertaschen. „Du warst undercover und hast all die Dinge nicht so gemeint. Ich hätte auf dich hören sollen“, fuhr Ben dazwischen, um seinen Gesprächspartner von seinem unsicheren Gestammel zu erlösen. Mikael schüttelte den Kopf. „Ich-ich habe vieles so gemeint Ben … ich, du siehst es als eine Uraufgabe alles über mich zu wissen.“


    Ben sah Mikael lange an. Er wusste einfach nicht, was er darauf erwidern sollte. Erst nach langer Stille, fand er die richtigen Worte. „Ich habe einfach das Gefühl, als wäre da diese Mauer zwischen uns … etwas Unüberwindbares, was die Jahre betrifft, wo wir uns nicht gesehen haben. Etwas, was unser Vertrauen immer schon mit einem dunklen Fleck überzogen hat“, murmelte Ben leise und beobachtet ganz genau Mikaels Reaktion. Der Schwarzhaarige sah auf die Erde und seine Hände lösten sich aus den Taschen und fuhren nun unsicher über seine Jeans. Mikael gab durch seine Gestik Gefühle frei und das machte Ben nur noch mehr stutzig. Wenn er so etwas tat, musste es ihm wirklich schlecht gehen. Mikael war ein Bollwerk, das Emotionen – und besonders erdrückende – nicht zuließ und vor anderen versteckte. Er verlor die Kontrolle darüber nur in wenigen Momenten. „Wenn du davon weißt, du wirst das nicht verstehen … das-das ist, wie ein anderes Ich und … niemand versteht das … es ist, wie ein Dämon, der immerzu nach dir greift und dich nicht los lässt … dich mit sich zieht“, stammelte Mikael. Ben lächelte schwach. „Du riskierst doch sonst immer alles. Versuch es, erzähl es mir. Erzähl mir von den Jahren, wo ich dachte Mikael Häkkinen sei tot …“ Der deutsche Hauptkommissar wartete darauf, dass Mikael begann, doch er blieb stumm. „Mikael?“, hakte er nach. „Du wirst mich hassen.“ „Das kannst du nicht wissen“, konterte er und richtete sich schwerfällig etwas in seinem Kissen auf. „Du bist doch kein Feigling … du warst es nie.“ Mikael sah auf. „Als mein Vater deinem von all dem erzählt hat, da hat er ihn gehasst und nie wieder seinen Freund genannt“, sagte er nun. Der Kommentar raubte Ben kurz den Atem. War es wirklich so gewesen? War eine ähnliche Situation wirklich der Ausgangspunkt im Streit ihrer Väter?


    „Ich bin nicht mein Vater, das solltest du inzwischen wissen“, erklärte er schließlich. Sein Freund schüttelte den Kopf. „Du bist deinem Vater ähnlicher als du glaubst“, nuschelte er, „das habe ich in den letzten Wochen am eigenen Leib gespürt.“ Ben sank tiefer in sein Kissen. Mikael hatte Recht. Er hatte ihm den gleichen Hass entgegengebracht, mit dem sein Vater seinen Freund so oft quälte. „Es tut mir leid … ich“, er stockte, wusste nicht, wie er fortfahren sollte. Er hatte keine Ahnung, wie er den entstandenen Riss zwischen ihnen wieder kitten solle. Er wusste nur eins: Er wollte Mikael als Freund nicht verlieren. „Du hast Recht … ich habe so viel gesagt in den letzten Wochen, was ich bereue. Aber wir-wir waren so lange Freunde … Mikael, du kannst mir vertrauen. Ich werde dich nicht verurteilen.“ Der Schwarzhaarige sah auf, senkte seinen Blick jedoch sofort wieder und fuhr sich mit den Händen durch seine Haare, so dass sie noch wilder abstanden, als ohnehin schon. „Ich war in einer Straßengang“, begann er schließlich mit dünner Stimme. „Das war Semir auch“, munterte ihn Ben mit einem kleinen Lächeln auf. „Ich meine keine Gang in der es um Autoknacken und illegale Wettrennen ging.“ Mikaels Finger krallten sich unsicher in seinen Oberschenkel. „Einbrüche, Diebstähle … ich war dabei, wie ein alter Mann zusammengeschlagen wurde. Eigentlich war ich sogar derjenige, der in zusammengeschlagen hat.“ Ben versuchte die Dinge zuzuordnen, die Mikael gerade zu ihm sagte, doch das alles passte nicht zu seinem Freund. Das waren für Mikael vollkommen untypische Verhaltenszüge. Der Mikael, den er kannte, hätte dem alten Mann geholfen und ihn nicht verprügelt. „Warum?“, entkam es ihm zittrig. „Wut … Wut auf mich, auf die Welt …“ Der Finne sah wieder auf und blickte in Bens ernste Gesichtszüge. Der deutsche Kommissar fühlte sich, als würden die eisblauen Augen seines Freundes ihn durchbohren und sehen, dass ihn dieses Geständnis aus der Bahn warf. „Wie alt warst du? Ich meine, wie lange …“ „Als ich 15 war, bis zu meinem 16. Geburtstag …“ Ben nickte. „Was war dann passiert?“ Ben beobachtet, wie Mikaels Hände begannen zu zittern. „Sie wollten ein Mädchen vergewaltigen“, presste er heraus. Dem Braunhaarigen entglitten sämtliche Gesichtszüge und er spürte, wie sein Magen sich zusammenzog. „Du hast doch nicht etwa?“, fragte er unsicher nach. Mikael schüttelte energisch den Kopf. „Nein, natürlich nicht … ich wollte sie davon abhalten. Sie haben gelacht und mich zusammengeschlagen ...“ Ben starrte Mikael an. Es schien eine Ewigkeit zu brauchen, bis die erhaltenen Informationen nach und nach von seinem Gehirn verspeist wurde. 15, dass heißt es war nur unmittelbar nach dem Verschwinden aus Köln gewesen. „War das dann der Punkt, wo du dich gegen dieses Leben entschieden hast? Zur Polizei wolltest?“ Der deutsche Kommissar war erstaunt, dass er ein Kopfschütteln von Mikael vernahm. „ … ich bin ehrlich mit dir. Ich habe begonnen mich für die Geschäfte von meinen Vater zu interessieren, ich wollte diese Schweine irgendwann dafür büßen lassen, dass sie mich so gedemütigt haben … ich-ich … es war nur Joshua zu verdanken, dass ich nicht ganz … du weißt schon.“ Ben sah ihn einige Zeit stumm an. Er war sich nicht sicher, was er sagen sollte. Mikael hatte Recht gehabt, diese Erzählung klang, als würde sie von einem ganz anderen Menschen sein. „Aber immerhin hast du dann die Kurve bekommen, als du 16 warst, auch wenn Josh…“ „…Ben, du weißt, dass ich Pekka Solheim Drogen verkauft habe und um ehrlich zu sein, war es nicht das einzige Verbrechen, was ich nach meinem 16. Geburtstag begangen habe“, unterbrach Mikael ihn, ehe er ausgesprochen hatte. „Es tut mir leid, dass ich dir nicht das Bild liefern kann, was du gerne von mir hättest. Diese Wut auf die Welt, die war immer in mir … sie ist es noch. Manchmal habe ich Angst mich wieder in ihr zu verlieren.“ Ben musterte ihn verwirrt. „Wie meinst du das? Du bist ein guter Mensch, du beschützt diejenigen, die dir wichtig sind, du …“ „… als Joshua ermordet wurde, ich habe mich betrunken bis zur Bewusstlosigkeit. Antti hat mich gefunden und in eine Klinik gebracht.“ Mikael sah in seine Augen. „Scheiße Ben, ich habe mich so sehr besoffen, dass“, er schluckte,“… ich war … ich … mein Kreislauf ist …“ Der Finne raufte sich durch die Haare. „Wäre Antti an dem Tag nicht vorbeigekommen, dann wäre ich tot!“ „Davon hat Antti nie etwas gesagt“, presste Ben mit belegter Stimme heraus. „Hättest du es verstanden? Hättest du die Wut verstanden, die ich hatte? Ich habe die Welt gehasst, weil sie den einzigen Menschen genommen hat, der wusste, wie er mit meiner hasserfüllten Seite umgehen muss. Ich wusste nicht, wie ich es durchstehen soll, ohne mich wieder zu verlieren.“


    „Du hättest mit mir reden können.“ Ben versuchte die Enttäuschung nicht rausklingen zu lassen, doch sie war da. Mikael nickte. „Ich habe mich geschämt für das was ich bin … ich wollte nicht, dass du diese Seite siehst, dass irgendwer sie sieht.“ „Antti hat dir da rausgeholfen“, stellte Ben fest. Tief in seinem Inneren ärgerte er sich, dass Mikael zu einem neuen Kollegen, einem Menschen, den er zu dem Zeitpunkt noch nicht lange kannte, mehr Vertrauen hatte, als zu ihm. „Ja“, gab Mikael leise Antwort. „Antti … er … anders als du, weiß er, wie es ist etwas wichtiges in seinem Leben zu verlieren. Er hat mich verstanden, er kennt diesen Hass, er kennt diese Leere in deinem Herz, diese Schwere … als ich Eva hatte, schien alles Aufwärts zu gehen. Und dann kamen Oskari und Viivi … ich dachte mein Leben wäre perfekt.“ Die Tonlage verriet, dass noch mehr kommen würde. „Vor einem Jahr hatten wir einen ziemlich heftigen Mordfall. Ich-ich weiß nicht warum oder wieso, aber plötzlich war dieses Gefühl von damals da. Ich war wütend, weil ich nichts ausrichten konnte …“


    Ben sah Mikael lange an. In seinem Körper fochten Wut und Schuld einen Kampf aus. Einerseits war er fürchterlich wütend, dass Mikael sich ihm nie anvertraut hatte. Anderseits fühlte er sich mehr als schuldig, dass er nie bemerkt hatte, wie schlecht es einem seiner besten Freunde ging. Er hatte nicht gemerkt, dass Mikael mühselig eine Fassade aufrecht erhielt und nur wenige Menschen in seinem Leben wissen ließ, was dahinter vorging.


    Mikael musterte sein Gegenüber ebenfalls. Auch wenn Ben es nicht wollte, verriet seine Mimik ihn. Er war mit der Wahrheit überfordert und dabei hatte er bereits so vieles ausgelassen. Er stand auf. „Ich sollte gehen, Ben.“ „Bleib noch“, bat Ben mit leiser Stimme. Er schüttelte den Kopf. „Ich sehe doch, dass du Zeit brauchst. Es ist okay … ich weiß, dass es nicht in dein Bild von mir passt. In das Bild, wo alles schwarz und weiß ist. Es gab gute Gründe, warum ich dir von diesen Sachen nie etwas erzählt habe. Ich wollte dich nicht verlieren, aber ich bin am Ende. Ich kann es nicht mehr verheimlichen … ich bin zu müde dafür. Wenn ich dich verliere als Freund, dann kann ich es nicht verhindern.“ Mikael senkte die Augen zu Boden und verließ das Zimmer, ohne Ben noch einmal anzusehen. Erst als er draußen war, merkte er, wie die Anspannung von ihm wich. Er glitt an der Wand herunter auf den Boden und atmete einige Male tief durch. Ihm war klar, dass er Ben früher oder später erzählen musste, was er wirklich gemacht hatte nach seinem 16. Geburtstag, aber für den Augenblick reichte es, dass Ben wusste, dass er irgendwann den richtigen Weg wiedergefunden hatte.

  • „Erde an Ben.“ Semir lächelte seinen Partner schief an. Seit er vor 10 Minuten ins Zimmer gekommen war, wirkte sein Kollege abwesend und hörte seinen Erzählungen nicht wirklich zu. „Ich denke über Mikael nach“, gab der Jüngere schließlich ehrlich zu. „Ich bin mir nicht sicher, ob ich richtig reagiert habe. Ich wollte ihm gut zureden, ihm sagen, dass ich das alles verstehe …“ Ben stockte. „Aber ich habe es nicht. Ich war irgendwie überrumpelt von der Wahrheit und habe … ich glaube, Mikael hat es bemerkt. Er ist gegangen, ehe ich ihm sagen konnte, dass er mir weiterhin wichtig ist und dass seine Vergangenheit nichts daran ändern wird.“ Semir nickte. „Ich bin mir sicher, Mikael wird bald noch einmal zu Besuch kommen. Er muss diese Situation erst einmal verarbeiten, wie du auch.“


    Sie schwiegen sich einige Zeit an, ehe Ben abermals die Stimme erhob. „Er sah wirklich fertig aus … du hast ihn doch im Auge oder? Du lässt nicht zu, dass er seine Gesundheit aufs Spiel setzt. Du weißt, wie schnell Mikael die Warnzeichen von seinem Körper ignoriert.“ Ben beobachtete, wie Semirs Gesicht erstarrte. Das konnte nur eins Bedeuten: Es war bereits etwas passiert. „Was ist passiert?“, forderte er nun Antworten von seinem Partner. „Ben … ich weiß nicht, ob das der richtige Zeitp…“ „Es gibt nie den richtigen Zeitpunkt“, warf er dazwischen. „Ich will wissen, was passiert ist! Was war mit Mikael?“ Semir sah betreten zur Erde. „Ben, wirklich, du solltest erst einmal wieder gesund werden und dann können wir darüber reden.“ „Nein, ich will es jetzt erfahren. Was war?“ Semir atmete einige Male tief durch. „Er war verzweifelt und er hat …“ Die Stimme des Älteren stockte. Er schaffte es einfach nicht, diesen Satz über die Lippen zu bringen. „Sag es mir endlich!“, forderte Ben erneut. „Er wollte sich … du musst verstehen, er hat an dem Abend nicht klar gedacht … es gab eine Situation hier im Krankenhaus und er war etwas betrunken … er würde es sicherlich im Nachhinein nicht mehr …“ „Rede doch nicht so um den heißen Brei! Was zur Hölle ist passiert!“ Ben krallte die rechte Hand wütend in seine Bettdecke. „Er wollte sich umbringen“, schoss es nun aus Semir heraus. „Er wollte sich umbringen, weil er dachte, dass all das nur passiert, weil er den Leuten den Tod bringt. Er dachte, er sei der Grund für all das Leid.“


    Bens Gedanken froren für einen Augenblick ein, ehe sie urplötzlich erwachten und in seinem Kopf einen wilden Reigen tanzten. Hin und her flogen Gedankenfetzen, die er nicht greifen oder wirklich ausmachen konnte. Warum? Dieses eine Wort, war alles, wozu er im Augenblick im Stande war. Warum hätte Mikael so etwas tun soll? Warum sah er sich als Ursache? Warum war er so verzweifelt gewesen? Warum war er nicht dagewesen, um seinen Freund zu helfen?


    „Ben … Ben, geht es dir gut?“ Er zuckte hoch, als Semirs Hand ihn an die Schulter fasste. Sein Partner sah ihn besorgt an. „Soll ich eine Schwester holen, du zitterst.“ Er betrachtete seine Hand, die auf der Bettdecke leicht auf und ab schwang. „Ich … nein. Es geht mir gut“, murmelte er leise. Er nahm einige tiefe Luftzüge und spürte, wie das Zittern in seinem Körper langsam nachließ. „Wie ist sein Zustand jetzt?“, fragte er mit leiser, dünner Stimme. „Es ist besser geworden, aber er nimmt weiterhin leichte Beruhigungsmittel. Es wird ihm sicher helfen, dass du jetzt wieder wach bist.“ Ben nickte seicht. „Als er hier war, also bei mir Zuhause … bevor er diesen Einsatz bei seinem Großvater angenommen hat.“ Er hielt für einen Augenblick inne, ehe er fortfuhr: „Ich bin in der Nacht aufgewacht, als Mikael geschrien hat. Er hat Joshuas Namen gerufen. Als ich durch die Schlafzimmertür kam, da saß er auf dem Sofa und er hat geweint … geweint und gezittert.“ Ben blickte verlegen auf die weiße Decke, die seinen Körper bedeckte. „Semir, ich wusste nicht was ich sagen sollte, also bin ich wieder in mein Zimmer gegangen und habe getan, als hätte ich es nicht gehört … ich hätte zu ihm gehen sollen. Ich hätte mit ihm reden sollen.“ Semir griff nach Bens Hand. „Gib dir nicht die Schuld. Du konntest nicht ahnen, dass es Mikael so schlecht geht. Er hat es vor allen verheimlicht. Nicht einmal Antti hat mitbekommen, wie schlimm es wirklich war.“ „Aber ich hab es doch gesehen und trotzdem war ich nicht fähig ihm zu helfen. Er hat nur wenige Tage davor mit mir geredet, mir erzählt, dass er sich erdrückt fühlt … ich hätte es ahnen müssen. Er hat um Hilfe gerufen und ich habe es nicht einmal bemerkt.“ Seine Hand begann wieder zu zittern und er spürte, wie Semir sie fester drückte. „Ich habe ihm sogar all diese Dinge an den Kopf geworfen, als er bei Georg Hansen war. Ich habe geglaubt, dass er vom rechten Weg abgekommen ist … verstehst du Semir, ich bin Schuld, wenn diese Freundschaft zerbricht!“


    Semir lächelte sanft. „Nein Ben, so darfst du nicht denken! Mikael und du, ihr bekommt das wieder hin. Diese tiefe Verbindung, glaub mir, ich habe gesehen, dass sie noch da ist.“ Ben sah ihn zweifelnd an. Wie nur konnte sich Semir so sicher sein, dass alles wieder in Ordnung kommen würde? Diese Situation hier im Krankenzimmer. Es hatte sich fremd angefühlt. Als wäre Mikael ein Fremder gewesen, der ihm einen Besuch abstattete. Die Vertrautheit, Unbeschwertheit war ihnen abhanden gekommen und keiner von ihnen wusste, wie sie das wieder herstellen konnten. „Als Mikael vor ein paar Jahren in deinem Leben aufgetaucht ist, hast du nicht einen Augenblick gezweifelt. Du wusstest, das ist dein Freund. Du wusstest, dass du ihm dein Leben anvertrauen kannst. Du wusstest, dass er für dich alles geben würde.“ Bens Mundwinkel zogen sich leicht nach oben. Semir hatte Recht. Ben hatte damals nie in Frage gestellt, dass Mikael sein Freund war. Er hatte immer gewusst, dass dieser Mensch vielleicht nicht immer derjenige war, der er in Deutschland war, aber es hatte ihn nicht interessiert. Was gezählt hatte, war die Person, die Mikael jetzt war. „Du hast Recht, wir werden das wieder hinbekommen!“

  • „Scheiße, ist das ‘ne Waffe?“ Joshua sah ihn mit großen Augen an. „Ich bin kein Schwächling! Ich mache Knud fertig! Der wird sich wünschen nie geboren zu sein“, schimpfte er leise und streichelte über den Lauf der Waffe. „Bist du noch ganz dicht?“ Joshua riss ihm die Pistole aus der Hand. „Wenn du das machst, bist du nicht besser als er!“ „Und? Dieser Weg ist doch ohnehin für mich vorbestimmt! Georg verlangt, dass ich später mal alles übernehme!“ Seine Hand griff nach der Waffe, doch sein Freund zog sie weiter zu sich. „Das ist der Weg, den jemand anderes für dich bestimmt! Es ist Zeit, dass du in dich hinein hörst! Was willst du? Ich dachte, wir wären uns einig, dass wir dieses scheiß Drecksloch verlassen wollen … einstehen für andere Leute!“ Mikael lachte. „Wirklich, ich hab keinen Bock auf deinen Bullentraum, Josh!“ Der Blonde sah ihn ernst an. „Warum? Weil es der Traum von diesem Ben ist? Du versuchst dich von diesem Typen zu lösen, indem du das tust!“ „Das ist das dümmste, was ich je gehört habe!“ „Und doch ist es wahr! Bin ich nicht gut genug als Freund? Hör endlich auf diesem Deutschen hinterherzutrauern. DU BIST NICHT MEHR MICHAEL HANSEN!“ „Er denkt ich bin tot …“ „Und?“ „Stell dir vor ich wäre tot … dieses Gefühl der Leere und …“ „Arghh! Echt Mikael, manchmal kannst du einem mit deiner depressiven Stimmung echt auf die Nerven gehen.“ Joshua lehnte sich gegen die Wand und fuhr sich mit der rechten Hand durch seine blonden Haare. „Ist dir eigentlich klar, dass dich niemand daran hindern kann, Kontakt mit diesem Ben aufzunehmen? Wir leben in einer Zeit, wo man Briefe schreiben kann, Telefone benutzt und doch hast du es nie gemacht … du willst, dass er denkt, du bist tot.“ „Das ist Schwachsinn!“ „Du denkst, du würdest ihn sonst in die Geschäfte deines Vaters mit reinziehen …“ „Du redest so einen Müll. Da wird einem schlecht!“ „Ich rede Müll? Du redest totalen Bockmist. Siehst du nicht, was du dir damit antust? Siehst du nicht, wie du das“, Joshua tippte demonstrativ auf sein Herz, „einbetonierst? Du bist nicht gefühllos und doch tust du so, als ob und verlierst dich immer mehr. Wenn du diesen Weg gehen willst, geh ihn, aber ich werde dich nicht begleiten!“ „Du kündigst mir die Freundschaft?“, fauchte Mikael wütend und ballte die Fäuste. „Nein, du! Wie du immer und immer weiter sinkst … du zerstörst dich, ich habe gesehen, wie du im Schlaf geweint hast, nachdem ihr den Kerl da verprügelt habt … mach so weiter und du bist in weniger als fünf Jahren nicht mehr am Leben!“ Joshua löste sich von der Wand. „Tschüss Kumpel, wir sehen uns, wenn ich dich das erste Mal festnehme.“


    Seine Augen öffneten sich abrupt. Er presste die Finger in die Matratze und versuchte sich darüber klar zu werden, was plötzlich los war. Warum verfolgte ihn seine Vergangenheit? Warum konnte sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen? Er seufzte. Er würde heute Nacht keinen Schlaf mehr finden. Sein Körper war zu aufgewühlt, um einen klaren Gedanken zu fassen. Müde kämpfte er sich aus dem Bett und flüchtete, wie so oft in den Nächten zuvor, an die kühle Luft.


    Semir beobachte aus dem Küchenfenster, wie Mikael auf den kalten Terrassensteinen saß und in die Ferne blickte. Der Deutschtürke hatte nicht schlafen können, weil er sich um den jungen Kollegen aus Finnland gesorgt hatte und wie sich nun herausstellte, war seine Sorge nicht ganz unberechtigt. Mikael schien einmal mehr von Albträumen heimgesucht worden zu sein. Er atmete einige Male tief ein und aus und begab sich dann in die Richtung von Mikael. Der Schwarzhaarige saß an die Hauswand gelehnt und hielt ein kleines abgenutztes Notizbuch in seiner Hand, das er stumm betrachtete. Er setzte sich neben Mikael auf die Erde. Es herrschte lange Zeit Schweigen zwischen den beiden, ehe Semir die Stimme erhob. „Was ist das für ein Buch? Es sieht alt aus.“ Mikael sah auf und lächelte. „Etwas, was Joshua und ich immer gemeinsam machen wollten. Eine Rundtour durch Alaska, auf Skiern … am Ende ist es nie dazu gekommen.“ Er hielt Semir das Heft entgegen und er begann aufmerksam darin zu blättern. Die beiden schienen wirklich alles durchgeplant zu haben. Das konnte er sehen, auch wenn er von den finnischen Wörtern nur wenige verstehen konnte. Sowohl Joshua, als auch Mikael mussten daran geschrieben haben, denn Semir erkannte zwei Handschriften, die sich deutlich voneinander unterschieden. Nach etwas mehr als der Hälfte des Büchleins war es nur noch eine Handschrift. Sein Magen zog sich zusammen, als er daran dachte, warum es so war. Joshua lebte ab diesem Zeitpunkt nicht mehr. „Ich muss hier raus“, murmelte Mikael nun leise neben ihm. „ Ich muss weg, weg von diesem Albtraum, raus aus diesem Druck. Ich ertrage es einfach nicht mehr und es wird immer schlimmer.“ Semir war erstaunt, wie fest und ernst die Stimme von Mikael plötzlich klang. Die ganze Unsicherheit der letzten Wochen schien verflogen. Semirs Blick wechselte zwischen dem Notizbuch und Mikael. „Du hast vor diese Reise zu machen?“, schlussfolgerte er. „Ich kann nicht mehr. Ich muss irgendwas tun und ja, ich denke, dass es das vielleicht ist. Vielleicht schaffe ich es dann endlich damit abzuschließen. Mit Joshuas Tod und dem ganzen Scheiß der letzten Jahre.“ Der Deutschtürke nickte. „Du wirst einige Monate unterwegs sein, wenn ich diese Notizen richtig deute.“ „Ja“, war alles was er als Antwort bekam. „Was ist mit Eva und den Kindern?“ „Ich werde sie verlieren, wenn ich so weitermache wie bisher … ich merke, wie wir uns immer weiter entfernen. Sie versteht das alles nicht und ich, ich weiß nicht, ob ich sie verstehen kann.“ Mikael richtete seinen Blick in den Himmel und schloss die Augen. „Ich denke, dass es derzeit mein einziger Ausweg ist. Den Alltag verlassen und einfach nur für mich sein. Mir klar zu werden, wer ich bin und was ich will. Ich werde morgen mit Eva darüber reden.“ Semir lächelte und legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Ich bin mir sicher, dass es dir richtige Entscheidung ist. Wenn du spürst, dass sie es ist, wird es der richtige Weg sein.“


    Nur wenige Stunden später beobachtete Semir, vom Küchentisch aus, wie Mikael fast genau an der gleichen Stelle, wo er mit ihm geredet hatte, seiner Frau von seinen Plänen berichtete. Eva schrie ihn an, doch dann weinte sie. Mikael drückte sie an sich, küsste ihr die Tränen weg und anschließend umklammerten sie sich eine gefühlte Ewigkeit, ohne dass einer von Beiden etwas sagte. „Was ist da draußen los?“, ertönte es hinter ihm und er drehte sich erschrocken um. Er hatte überhaupt nicht mitbekommen, dass Antti gekommen war, so vertieft war er in seine Beobachtungen gewesen. Der Finne lächelte, als er sein überraschtes Gesicht registrierte. „Deine Frau hat mich rein gelassen.“ Dann sah Antti wieder nach draußen. „Also? Warum weint Eva so bitterlich? Was habe ich verpasst, als ich in Helsinki war.“ „Mikael will für einige Monate weg“, klärte Semir ihn auf, „raus aus dem Ganzen.“ Sein Gesprächspartner verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Dieses Alaska-Ding?“ „Er hat es dir schon erzählt?“, antwortete Semir überrascht. „Nein, aber er hat vor einigen Monaten schon Mal davon geredet. Wollte mich mitschleppen. Bin ich verrückt? Sehe ich wirklich so aus, als würde ich auf Skiern durch Alaska laufen?“ Antti begann laut zu lachen. „Nie im Leben, habe ich ihm gesagt!“ Der Finne wurde wieder ernst. „Aber ich bin froh, dass er einen Ausweg erkannt hat. Ich bin mir sicher, es ist das Richtige für ihn. Es wird ihn auffangen.“ „Ganz alleine in der Wildnis von Alaska … wenn er da nervlich total zusammenbricht, ich weiß nicht“, murmelte Semir in Gedanken. Er vernahm ein leises Lachen. „Er wird nicht zusammenbrechen. Es gibt einen Ort, wo Mikael alles vergessen kann. Draußen in der Natur. In der Kälte, in beschissen nassem Schnee. Das kann ich dir mit Sicherheit sagen.“ „Wenn du das so sagst, klingt es schon fast negativ“, warf Semir ihm mit einem leichten sarkastischen Unterton vor. „Du findest es romantisch? In weniger als drei Tagen wird er stinken wie ein Iltis, dann diese Kälte, die sich durch deine Kleidung frisst.“ Semir grinste in sich hinein. „Das klingt in der Tat wenig romantisch, Antti.“ Der Blonde zog einen Stuhl nach hinten und setzte sich neben ihn. „Wie geht es Ben nach der Unterhaltung mit Mikael?“ Er zuckte mit den Achseln. „Er hat noch daran zu knabbern und Angst, dass er Mikael verliert. Ihre Freundschaft das hier nicht überstehen wird.“ Semir sah wieder nach draußen. „Dass Mikael nun gehen wird … ich denke, das wird ihm nicht wirklich gefallen. Es bestätigt seine Angst, dass Mikael erst einmal Abstand braucht und nicht in Bens Nähe sein kann. Er wird sich schuldig fühlen, dass er Mikael nicht von Anfang an vertraut hat.“ Antti nickte und sah nun ebenfalls für einige Zeit still aus dem Fenster.


    „Ich habe in Helsinki übrigens etwas nachgeforscht … du weißt schon über das Tattoo und so.“ Semir wandte sich von der Szene in seinem Garten ab und blickte nun Antti an. „Ja, dieses Datum. Ich erinnere mich.“ Der Blonde holte sein Handy aus der Hosentasche, drückte einige Zeit darauf herum und reichte es dann Semir. Er blickte auf das Bild, welches die Leiche einer jungen Frau zeigte. „Wer ist das?“ „Galina Sorokin. Mikael hat ihr Todesdatum am Fuß tätowiert.“ Antti lehnte sich zu ihm rüber. „Weißt du, ich dachte immer, dass es das Datum sei, an dem er sich bei der Polizei beworben hatte, aber das stimmt nicht. In den Akten ist das ein anderer Tag. Ich habe nachgeforscht und bin auf diese Frau gestoßen.“ „Galina“, wiederholte Semir leise, „ich habe ihn den Namen im Schlaf schreien gehört.“ „Man hat ihren Mörder nie gefunden“, sagte Antti nun. „Du denkst doch nicht, dass Mikael?“, entfuhr es Semir geschockt, doch sein Gegenüber schüttelte bereits energisch den Kopf. „Nein, natürlich nicht. Aber Mikael verbindet was mit dieser Frau. Ich werde dem weiter auf den Grund gehen. Es muss einen Grund geben, warum er Galina Sorokin nie erwähnt hat … vielleicht ist es falsch, ihm das zu verheimlichen, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich es wissen muss. Ich muss wissen, was für ein Erlebnis er mit sich rumträgt, was so schlimm ist, dass niemand davon weiß.“ Semir nickte und sah wieder aus dem Fenster. „Joshua wüsste es sicherlich“, sagte er mehr zu sich selbst, als zu Antti. „Vermutlich“, bestätigte ihn Antti mit leiser Stimme.

  • Einige Tage später:


    Ben schaute aus dem großen Fenster hinaus in den Krankenhauspark. Die Sonne schien und so hatten sich viele Patienten nach draußen begeben, um etwas Luft zu schnappen. Seine Augen blieben auf einem ihm gut bekannten Menschen hängen. Mikael saß auf einer der Bänke und schien in Gedanken zu sein. Ob er wohl zu ihm wollte? „Natürlich, zu wem sonst“, tadelte er sich wenig später selbst. Den Kopf in seine Hände gestützt saß Ben noch fast eine Stunde da und sah auf die Bank, auf der Mikael saß. Sein Freund hatte sich in all den Minuten kaum bewegt und schien keine Anstalten zu machen, überhaupt nach oben zu kommen. Er seufzte. „Wie heißt es so schön: Wenn der Berg nicht zum Propheten kommt, muss der Prophet zum Berg gehen.“ Er stand aus seinem Stuhl auf und kämpfte sich mit langsamen Schritten Meter um Meter vor in den Park, wo er sich schließlich neben Mikael fallen ließ. „Du hättest auch hochkommen können. Dann hätte ich mir die Plagerei sparen können“, sagte er mit einem Lächeln. „Ich war unsicher, ob du mich auch sehen wolltest … nach all dem, was du nun weißt.“ Ben musterte das betrübte Gesicht seines Freundes. „Du bist ein Idiot, das ändert nichts an unserer Freundschaft. Ganz im Gegenteil. Ich bin froh, dass du mir endlich vertraust und auch über diese Dinge in deinem Leben sprichst.“ Mikael sah auf und seine blauen Augen trafen seine braunen. „Ich mein das ernst. Du bist zwar ein kleiner Arsch, der seine Freundschaft riskiert nur um seinen Großvater an die Bullen auszuliefern, aber ich habe dir verziehen und meine Lehre daraus gezogen.“ Ben hielt einige Sekunden inne. „Ich hätte dir von Anfang an vertrauen sollen. Es war dumm von mir überhaupt zu glauben, dass du die Geschäfte von deinem Dad fortführen willst … ich hoffe du weißt, dass das alles nicht deine Schuld ist.“


    Es herrschte lange Stille, bis Ben erneut die Stimme erhob. „Semir hat mir von deinem … du weißt schon, diese Sache … dass du nicht mehr leben wolltest … erzählt.“ Mikael senkte den Kopf. „Ja, ich habe mich verloren. Ich habe in den letzten Jahren vergessen mich mit den Dingen auseinanderzusetzen … das ist wohl die Quittung dafür.“ Ben legte seine Hand auf Mikaels rechte Schulter. „Ist das nicht normal? Es war ziemlich viel Scheiße und …“ „… Ich muss die Reißleine ziehen. Für mich und für meine Familie. Ich würde dir gerne so viel erzählen, denn die Erklärung von vor einigen Tagen. Ben, wir wissen beide, dass die nur notdürftig war. Ich habe so viele Fehler gemacht und ich weiß“, Mikael stockte, blieb einige Sekunden still. „Ich weiß, dass du ein Recht hast es zu erfahren. Ein Recht darauf, jedes Detail erzählt zu bekommen. Aber ich bin dafür noch nicht bereit. Ich muss erst mich selbst wiederfinden.“ Der deutsche Kommissar sah seinen Freund verwundert an. „Wie meinst du das?“ „Es gibt da etwas, was ich schon machen wollte seit ich 15 war. Vielleicht ist es Zeit es jetzt zu tun. Ich werde für einige Monate weggehen.“ „Wie? Wohin? Was ist mit Eva und den Kindern?“, schoss es aus Ben heraus. Wie konnte Mikael das machen? Er schuldete ihm doch noch so viele Erklärungen. Da war so viel, was er nicht verstand. Was er wissen wollte. „Alaska.“ „Alaska! Das ist tausende Kilometer weg!“, entfuhr es ihm überrascht. „Das weiß ich Ben … ich muss das tun. Ich muss hier raus. Ich kann nicht mehr hier sein, nicht im Moment. Es macht mich alles fertig. Alles erinnert mich an irgendwas und ich schaffe es nicht es abzuschütteln.“ „Und was ist mit Eva?“ „Wir wissen beide, dass es die einzige Chance ist uns zu retten … unsere Familie zu retten.“ Ben nickte schwerfällig. Er hatte die Informationen, die Mikael ihm mitgeteilt hatte noch nicht wirklich verarbeitet. „Wie lange wirst du weg sein?“ „Keine Ahnung“, antwortete der Jüngere ehrlich, „Ich hab nur einen Hinflug gebucht. Ich weiß nicht, wie lange es dauern wird … er wird in zwei Tagen von Helsinki gehen.“ „Wie? Ich meine … so bald schon … musst du nicht planen? Zwei Tage … von Helsinki, wann fliegst du dahin?“, stammelte er leise. „Heute Nacht.“ Mikael sah auf und zog ein kleines Buch aus seiner Tasche. Ben kannte es. Er hatte seinen Freund oft darin schreiben sehen, wenn er auch nicht wusste, was es genau damit auf sich hatte. „Ich muss nichts planen, weil ich es schon seit 15 Jahren mache. Es steht alles hier drin … das Abenteuer, das ich immer geplant habe, aber nie gemacht.“ Er lächelte. „Bis jetzt.“


    Es entstand ein Schweigen. Ben musste erst einmal sacken lassen, was Mikael ihm gerade erzählte. Sein Freund wollte weg und das schon heute Nacht. Das war in wenigen Stunden. Das war ihr letztes Treffen für Monate. In den letzten Monaten war so viel zwischen ihnen passiert und Ben spürte, dass Mikael die gemeinsamen Situationen ebenfalls unangenehm waren. Was, wenn er nicht zu ihm zurückkam? Was, wenn ihm die Freundschaft oder das, was davon übrig war nichts mehr bedeutete? Mikael schien seine Sorge zu erkennen. „Ich werde zurückkommen. Nicht heute, nicht morgen, aber ich verspreche, dass ich zurückkommen werde“, sagte der Finne mit kräftiger Stimme. „Denn trotz all dem sind wir doch immer noch Freunde.“ Ben lächelte sanft. „Ja, wir sind Freunde.“


    Mikael stand auf und Ben tat es ihm gleich. Er drückte seinen jüngeren Freund an sich. „Ich werde dich vermissen“, flüsterte er leise und spürte, wie Mikael ihm auf die Schulter klopfte. „Du tust so, als wäre es ein Abschied für immer. Du wirst mich nicht mehr los. Ich werde zurückkommen.“ Der Schwarzhaarige löste sich langsam aus der Umarmung und kehrte ihm den Rücken zu. „Bis bald, Ben.“ Ben blieb stehen und sah ihm hinterher, bis er am Horizont verschwand. Er seufzte und begab sich mit langsamen Schritten in Richtung des Krankenhauses. Die Angst hatte seinen Körper noch nicht verlassen. Die Angst, dass dies ein Abschied für immer gewesen war. Die Angst, dass Mikael vielleicht nicht zurückkommen würde. Dass er durch sein Misstrauen ihre ganze Freundschaft zerstört hatte.





    Semir beobachtete die Szene von Weitem. Die Distanz, die die beiden Freunde entwickelt hatten war spürbar, aber er war sich sicher, dass sie bald wieder gewohnt miteinander umgehen konnten. „Grüß dich.“ Jemand trat an ihn heran und er erwiderte den Gruß. „Morgen Antti.“ Er löste den Blick von seinem Partner und drehte sich um. Antti hielt ihm eine Mappe entgegen. „Galina Sorokin wurde erschossen, nachdem sie zuvor vergewaltigt wurde. Man hat sie einige Tage nach ihrem Tod in einer Fabrikhalle gefunden. Es gibt Blutspuren von einer unbekannten Person, die man damals nicht zuordnen konnte.“ Semir nahm die Mappe entgegen, öffnete sie jedoch nicht. „Ihr habt Mikaels DNA damit abgeglichen?“ „Ja, sie passt. Das Blut wurde damals an einem Pfeiler gefunden. Ich habe Veikko die Tatortfotos gegeben. Er sagt, die Spuren im Sand und die Stelle, an der das Blut gefunden wurde. Es deutet darauf hin, dass Mikael da festgebunden war …“ Semir nickte. „Vielleicht hat er gesehen, wie sie ermordet wurde.“ Antti hielt ihm ein Blatt Papier hin und er griff danach, stellte jedoch fest, dass es ihm überhaupt nichts nützte. „Es ist Finnisch“, sagte er mit einem Lächeln. „Es tut mir leid, ich neige dazu, das manchmal zu vergessen!“ Antti lachte laut und nahm den Zettel wieder an sich. „Das ist eine Aussage von einem kleinen Revier, etwas außerhalb von Helsinki. Jemand meldet einen Mord … gibt aber falschen Namen und Adresse an. Sie wurde zu den Akten gelegt, weil man glaubte, dass es ein Junkie auf Drogen war.“ „Du denkst, es war Mikael?“ „Verstehst du, niemand hat ihm geholfen! Er muss verzweifelt gewesen sein. Er hat einen Mord gesehen und niemand hilft ihm … diese Ohnmacht. Ich denke, das war der Grund, warum er zur Polizei gegangen ist. Er wollte es besser machen.“ „Er hat es sich auf den Fuß tätowiert, damit die Sache mit Galina ihn immer daran erinnert, warum er Polizist ist“, murmelte Semir in Gedanken und verfolgte nun wieder die Szene zwischen Ben und Mikael. „Weiß er, wer der Mörder ist?“ „Ich denke nicht. Er beschreibt einen Mann mit Sturmmaske und grünen Augen, einer Narbe über dem rechten Augenlid.“ Der deutsche Kommissar nickte. „Denkst du, dass er noch nach diesem Mann sucht?“ „Laut den Spuren auf seinen Computer – ich habe Veikko nachschauen lassen – schon, aber er hat ihn noch nicht gefunden.“

  • Zwei Monate später


    Eisiger Wind wehte ihm ins Gesicht, schnitt in die Augen. Er hatte Schwierigkeiten sein Zelt aufzuschlagen. Immer wieder hob das Zelt in die Luft ab, ehe er es schließlich mit Skistöcken befestigte und die Heringe in den eisigen Boden hauen konnte. Er zog den Reißverschluss herunter, breitete die Polyurethanmatte auf dem Boden aus. Dann kroch er hinein. Er saß lange da und hörte dem Wind zu, wie er Eiskristalle gegen die Plane des Zeltes blies. Er zündete den Kocher an und stopfte sich Trockenfleisch und Brot in den Mund. Der Tag war ereignislos gewesen, wie die anderen auch. Acht Stunden täglich in denen nichts passierte, außer Schritte nach vorne, die sich immer glichen. Ihn begleitete nichts außer Schnee und Kälte. Und doch war es, als würde er sich zum ersten Mal wieder vollständig fühlen. Als wären all die letzten Jahre vergessen gewesen. Er hatte an nichts gedacht, als ihm der eisige Wind in das Gesicht schlug. Seine Konzentration war nur auf eine simple Aufgabe gelenkt. Zu atmen und einen Fuß vor dem anderen zu setzen, damit er die geplante Wegstecke hinter sich brachte. Das einzige vernehmbare Geräusch war das trockene Einstechen der Stöcke und das leise Schleifen der Skier auf dem Schnee. Es war, als hätte man den Menschen nie erfunden.


    Er erinnerte sich daran, dass er trinken musste. Er hatte schon zu lange nicht getrunken. Er öffnete das Zelt nur ein winziges Stück und schaufelte etwas Schnee in den Topfdeckel und füllte ihn in den Topf über den Kocher. Immer und immer wieder wiederhole er den Vorgang, bis er genug Wasser hatte. Er suchte in seinem Rucksack nach einer Tasse und hielt sie in den Topf, füllte sie mit dem kochenden, klaren Wasser. Danach mischte er unter das restliche Wasser im Topf Tomatensuppenpulver. Es war nicht gerade eine Delikatesse, aber er hatte schon nach wenigen Tagen aufgehört wählerisch zu sein. Alles was noch von Bedeutung war, war etwas Warmes im Magen zu haben. Als er endlich das Kochen erledigt hatte und sein Magen mit warmer Suppe gefüllt war, griff er abermals in seinen Rucksack und zog eine Postkarte hervor. Er hatte sie vor sechs Tagen in einer größeren Stadt gekauft und würde sie in der nächsten Stadt wieder abgegeben. So wie er es immer machte, seit er vor zwei Monaten aufgebrochen war. Es war nicht leicht mit den dicken Handschuhen zu schreiben, aber diese wenigen Worte, würde der Empfänger auch entziffern können, wenn sie zittrig und ungenau geschrieben waren. Es waren immer die gleichen, änderten sich nie.


    Als er die Karte fertig geschrieben hatte, legte er sich vollständig angekleidet in seinen Schlafsack und schlief binnen weniger Sekunden ein und fiel in einen tiefen, ruhigen Schlaf, der bis zum frühen Morgen des nächsten Tages andauern sollte.





    Ben ging wie jeden Abend zum Briefkasten. Er nahm einen Stapel Post heraus, als sein Blick jedoch auf eine Postkarte fiel, ignorierte er die restlichen Briefe. Auf der Vorderseite war ein Berg abgebildet, den er nicht kannte. Er drehte sie um und erkannte sofort Mikaels Handschrift. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er sie las. Es waren immer die gleichen zwei Sätze und doch fühlte Ben jedes Mal, wie sie ihn mit Freude erfüllten. Es war ein Versprechen. Ein Versprechen, das der Schreiber mit jeder Postkarte erneuerte, als würde er auch über die Entfernung wissen, dass Ben sie jetzt hören musste.


    Ich werde zurückkommen. Nicht heute, nicht morgen, aber ich verspreche, dass ich zurückkommen werde.


    Er stiefelte die Treppe nach oben und öffnete seine Wohnung. Seine Füße nahmen automatisch den Weg zu einer kleinen Pinnwand. Er nahm eine Nadel heraus und stach sie vorsichtig durch die Karte, als wollte er sie nicht beschädigen. In Wirklichkeit konnte man jeder Karte ansehen, dass sie eine weite Reise hinter sich hatte. Sie waren oft vor Feuchtigkeit gewellt, manchmal war sogar die Schrift darauf verschwommen oder sie waren angerissen. Aber dennoch war Ben darauf bedacht, sie nicht noch mehr zu beschädigen. Sie waren trotz ihres Zustandes für ihn persönlich von großem Wert. Er heftete sie an die Pinnwand und blieb einige Zeit still davor stehen. Drei Monate war Mikael schon weg. Vier Karten hatte er in dieser Zeit bekommen. Sie waren oft lange unterwegs, so wie die Letzte. Er hatte auf den Poststempel geschaut. Einen Monat hatte die kleine Karte von seinem Freund bis zu ihm gebraucht. Vier lange Wochen.


    Vier Wochen. Das war genau der Zeitraum, seit er wieder mit Semir auf Streife fuhr. Er war schon zwei Monate wieder im Dienst, doch Frau Krüger hatte darauf bestanden, dass er erst wieder auf die Autobahn durfte, wenn er wieder komplett fit war. Er hatte den Moment kaum erwarten können, bis es endlich so weit war und er den Bürojob wieder gegen die Straße eintauschen konnte. Wenn er mit Semir unterwegs war, musste er wenigstens nicht dauernd an Mikael denken. Er war abgelenkt von seinen Sorgen. Semir bestärkte ihn darin, dass alles wieder gut werden würde und er glaubte seinem Partner. Er wusste von Eva, dass wenn Mikael sich bei seiner Familie meldete, er glücklich klang. Der Abstand von dieser hektischen, von Sorge erfüllten Welt, schien im wirklich gutzutun. Er lächelte und strich mit seinen Fingern ein letztes Mal über die Karte, ehe er sich schlafen legte.

  • 4 Monate später


    Je näher er seinem Ziel kam, desto schwerer wurden seine Beine, desto enger wurde der imaginäre Strick um seine Lungen. Er blieb stehen. Ich schaffe das nicht, ich bin zu schwach, dachte er. Doch dann zog ihn etwas leicht nach vorne. Er blickte auf die Leine in seiner Hand. Tarmo, sein Australian Shepherd, zog daran, um einem Geruch außerhalb seiner Reichweite nachzugehen. Vielleicht war das ein Zeichen? Er atmete tief durch. Er musste es endlich hinter sich bringen! Langsam lief er weiter und blieb schließlich vor einem Grabstein stehen. Das Grab war gepflegt und mit frischen Blumen hergerichtet. Ein Zeichen, dass der Mensch, der hier lag, noch immer vermisst wurde. „Hallo Joshua“, sagte er leise. „Es tut mir leid, dass ich nie bei dir war, aber ich habe es einfach nicht geschafft. Ich hoffe, du hältst mich deshalb nicht für einen schlechten Freund.“ Er spürte, wie Tränen sich ihren Weg bahnten. Das Atmen fiel ihm immer schwerer und er begann zu zittern. Er hatte das Gefühl, wieder am Abgrund zu stehen, die Dämonen seiner Vergangenheit streckten die Arme nach ihm aus. Er war Schuld, dass Joshua nicht neben ihm stand und ihm die Hand auf die Schulter legte, wie er es immer getan hatte, wenn er ihn brauchte. Es hatte keine Worte zwischen ihnen gebraucht. Ein leises Jaulen erklang und er fühlte, wie Tarmo ihn immer wieder sacht mit der Schnauze an die Hand stieß. Er schloss die Augen und holte tief Luft, ehe er sie wieder öffnete. Sein Blick fiel auf den Hund, der neben ihm saß und ihn mit seinen treuen blauen Augen ansah. „Danke Tarmo“, murmelte er leise und streichelte dem Tier sanft über den Kopf.


    Anschließend richtete er seinen Blick wieder auf das Grab. „Ich wünschte, du würdest noch an meiner Seite sein. Ich wünschte, du wärst mein Trauzeuge gewesen … Eva, wir sind jetzt Mann und Frau, eine Familie. Hörst du, ich, Mikael Häkkinen, habe eine Familie.“ Er lächelte schwach. „Unglaublich, dass du es schon auf der Polizeiakademie gewusst hast, dass diese Frau die Richtige für mich ist. Sie ist perfekt, Josh, sie liebt mich, wie ich bin. Wir haben zwei Kinder. Oskari und Viivi. Du wärst sicherlich ein perfekter Patenonkel geworden …“ Er begann seinem Freund von den letzten Jahren zu erzählen und bemühte sich nichts auszulassen, egal wie schwer es war, die Dinge über die Lippen zu bringen. Wenn er die Dämonen abschütteln wollte, war die Wahrheit die einzige Möglichkeit, das hatte er jetzt begriffen. Er wusste nicht wie lange er am Grab gestanden hatte, doch als er fertig war, senkte sich die Sonne bereits am Horizont. Es mussten also einige Stunden gewesen sein. „Ich habe übrigens unsere Alaska-Reise gemacht.“ Er griff in seine Tasche und zog ein kleines Büchlein heraus. „Ich habe dir alles aufgeschrieben … jede Einzelheit“, ließ er seinen Freund wissen, während er an das Grab trat und ein kleines Loch mit seiner Hand buddelte, um das Buch hineinzulegen. „Ich habe mir auch extra Mühe mit meiner Handschrift gegeben. So hast du keinen Grund zu schimpfen … Bis bald, Josh.“ Er drehte sich mit einem Lächeln von dem Grabstein weg in Richtung Friedhofseingang. Seine rechte Hand fuhr über das Fell des Hundes. „Danke Junge, ohne dich hätte ich es nicht geschafft.“




    Ben saß auf der Bank und beobachtete Mikael. Eigentlich hatten sie ausgemacht, dass er ihn nur hierherfahren würde, aber Ben war dageblieben. Er wollte einfach sicher gehen, dass es seinem Freund gut ging und er diese Situation meisterte. Immer wieder war er kurz davor aufzuspringen und zu Mikael zu gehen, doch dann schien sich der Schwarzhaarige zu fangen und er beruhigte sich, lehnte sich zurück. Es hatte fast zwei Stunden gedauert, bis Mikael sich letztendlich von dem Grab gelöst hatte und den kleinen Weg zu den Friedhofstoren herunterlief. Als er an ihm vorbeilief, erhob Ben sich und lief einige Zeit still neben Mikael her, ehe er die Stimme erhob. „Ich wusste, du schaffst es.“ „Du hättest nicht dableiben müssen, Ben.“ Er lächelte und legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Ich musste doch sicher gehen, dass du es auch wirklich durchziehst. Wie geht es dir?“ Der Finne zuckte mit den Achseln. „Gut … ich denke, gut“, sagte er leise. Er nickte und verfiel wieder in Schweigen. Mikael war in solchen Situationen nicht der große Redner und so reichte es ihm, dass er ihm auf diese Weise zeigen konnte, dass er immer für ihn da war. Er war vor zwei Tagen nach Helsinki gekommen, um nach ihm zu sehen und er war glücklich, dass er es gemacht hatte. Mikael schien es deutlich besser zu gehen, als vor sieben Monaten, wo sie sich in Köln voneinander verabschiedet hatten. Ben hatte das Gefühl, als würde sein Freund es schaffen seine Vergangenheit endlich abzustreifen. Er schien endlich über den Tod von Joshua hinweggekommen zu sein. Es fiel ihm um einiges leichter über die Zeit zu reden, an der Joshua an seiner Seite war. Er hatte aufgehört seinen Freund auszublenden und vor allem hatte er aufgehört, sich als Gefahr für sein Familie und Freunde zu sehen.


    Die Risse in ihrer Freundschaft begannen sich langsam wieder zu schließen. Auch wenn sie sich sieben Monate nicht gesehen hatten, so hatte Ben doch vor zwei Monaten, als er erfahren hatte, dass sein Freund aus Alaska zurück war, begonnen Mikael fast täglich anzurufen. Die ersten Telefonate waren beklemmend, dauerten kaum länger als fünf Minuten, aber dann wurde der Zeitraum immer länger und Ben hatte gespürt, wie der vertraute Umgang sich langsam wieder einstellte. Vor zwei Wochen hatte Mikael schließlich zum ersten Mal von der Vergangenheit geredet, wobei er bisher vor allem über die guten Zeiten gesprochen hatte. Über Joshua oder gemeinsame Ausflüge mit seinem Vater. Ben wusste, da war noch mehr. Etwas dunkles, was Mikael zusetzte und ihn so an sich zweifeln ließ.


    Unbewusst griff er nach Mikaels Arm und sein Freund hielt an. „Was ist?“, wollte er wissen. Ben blickte in die eisblauen Augen. „Ich möchte wissen, was in der Zeit von deinem 16. Geburtstag bis zur Anmeldung auf der Polizeischule passiert ist“, sagte er und war selbst etwas erstaunt darüber, wie fest seine Stimme klang. Der Schwarzhaarige nickte und zeigte auf eine kleine Bar, die nur knapp 300 Meter vom Friedhofseingang entfernt war.


    Sie setzten sich etwas abseits an einen Tisch in der Ecke und bestellten Bier. Tarmo machte es sich derweil unter dem Tisch bequem und legte den Kopf auf den Oberschenkel von Mikael, der die Geste mit Streicheleinheiten zur Kenntnis nahm. Es herrschten einige Minuten Stille, ehe Mikael die Stimme erhob. „Ich habe die Geschäfte meines Vaters übernommen, an der Seite von Akseli Häpi … ich dachte ich wäre es Papa nach seinem Tod schuldig … ich dachte, dass ich ihn mit meinen Anschuldigungen nach Pekka Solheims Drogenmissbrauch in den Tod getrieben hätte, dass dieser Unfall meine Schuld war … es war dumm … zumal ich eigentlich nie wirklich seine Geschäfte betrieben habe, sondern eigentlich nur Häpi … Ich habe Joshua als Freund verloren, er wollte nicht mehr mit mir reden.“ Ben presste die Finger enger um sein Bierglas und nickte. „Was war dann?“ Der deutsche Kommissar kam nicht umher zu bemerken, wie Mikaels Hände begannen leicht zu zittern. „Da waren diese Russen, sie haben Helsinki innerhalb von wenigen Wochen fast komplett übernommen und wollten uns aus dem Geschäft drängen. Sie haben mich entführt und Häpi erpresst und da war dieses Mädchen, Galina …“ Mikael verstummte und sah auf sein Bier. Ben überlegte, ob er weiter nachfragen sollte, entschied sich aber dazu, zu warten, bis Mikael von sich aus weiterreden würde. „Ich war an einen Stahlpfeiler festgebunden und-und sie hatten mir irgendwas gegeben … Galina, sie … ich musste dabei zusehen, wie jemand sie vergewal…“, seine Stimme brach ab. „Die Angst in ihren Augen … ihre Panik … ich konnte ihr nicht helfen … Er hat sie vergewaltigt und dann weggeworfen! … Sie wurde getötet …“ Ben brachte lange keinen Laut heraus, so überrascht war er. „Wie bist du entkommen?“ „Ich weiß es nicht … ich bin irgendwann verdreckt und voller Blut auf der Straße aufgewacht … ich bin zur Polizei, sie wollten mir nicht glauben, dachten ich wäre ein Junkie! Ich bin dann zu Joshua … er-er hat einen Polizisten gefunden, der sich der Sache angenommen hat und ja … ich denke, Galina war der Grund, warum ich zur Polizei bin. Diese Ohnmacht, dass man nichts tun konnte und dass einem niemand hilft. Ich wollte anders sein, ich wollte den Menschen helfen … vielleicht wollte ich diesen faulen Bull …“ Mikael hielt inne, korrigierte sich dann: „ … Polizisten auch nur zeigen, wie es richtig geht.“ Ben sah auf sein Bier, verfolgte wie die Bläschen vom Boden an die Oberfläche schwebten. „Dieser Polizist, war das jemand den ich kenne?“ Mikael drehte seinen Bierdeckel mit den Fingern. „Was denkst du, wer es war?“ Ben sah seinen Freund lange an und ließ die letzten Jahre Revue passieren. Am Ende kam ihm nur ein Name in den Sinn. „Harri Kaurismäki?“ Er hörte ein leises, sarkastisches Lachen. „Es ist doch unglaublich, dass ausgerechnet der Mensch mein Leben in die richtigen Wege gelenkt hat, der mich nur benutzen wollte für seine Zwecke.“ Der Schwarzhaarige warf den Bierdeckel auf den Tisch. „Er hat mich gefördert, sich eingesetzt, dass ich die Ausbildung schneller abschließen kann, in seine Abteilung geholt und wozu? … Weil er die ganze Zeit über gewusst hat, wer ich bin. Er brauchte mein Vertrauen, dieser Arsch!“ Mikael senkte seinen Blick und Ben sah, wie sich unter dem Tisch Tarmo näher an sein Herrchen drückte, als wüsste der Hund, dass er ihn brauchte. Harri Kaurismäki war ihm selbst noch gut in Erinnerung. Ein korrupter Polizist, der sich schon früh mit Mikaels Vater – Andreas Hansen – angelegt hatte, in ihm aber einen zu großen Gegner fand. Hansen hatte Materialien gesammelt, mit dem er so einige Menschen in Finnlands Justizsystem ans Messer hätte liefern können. All das hatte er in einer kleinen Box aufbewahrt, dessen Schlüssel er schon früh Mikael ohne sein Wissen zugeschoben hatte. Harri Kaurismäki war verbissen in diese Informationen gewesen und hatte seinen Freund über Jahre benutzt, nur um sie zu erhalten. „Joshua ist tot, weil … weil ich diesem Mann blind vertraut habe“, holte ihn Mikaels dünne Stimme aus den Gedanken. Sein Gegenüber sah nach oben. „Als ich diesen Unfall hatte …“ Ben nickte. „Wir hatten Angst um dich, ich dachte du würdest einfach die Biege machen.“ „Als ich das in meinem Kopf nicht richtig im Griff hatte … Ich … es war, als würde ich alles noch einmal durchleben … Galina, die Leiche von meinem Vater, Joshua … ich hatte fast jede Nacht Albträume …“ „Du hast es niemandem gesagt“, stellte Ben fest. Mikael lächelte und Ben war sich sicher, dass dieses Lächeln ernst gemeint war. Es war ehrlich und nicht aufgesetzt, wie so oft in den letzten Monaten. „Nein, du kennst mich. Man mag mich zwar für intelligent halten, aber das bin ich nicht. Ich bin Dumm, denke ich bin stark genug alles alleine zu schaffen und ich-ich wollte mir all die Jahre nicht eingestehen, dass ich nie aufgehört habe meinen Vater als jemanden zu sehen, der zu mir gehört.“ Mikael machte eine Pause. „Ich weiß, was er getan hat und vielleicht ist es naiv, aber im Grunde war ich in meinen ersten Jahren hier in Helsinki genau wie er. Wer weiß, wenn diese Sache mit Galina nicht gewesen wäre, vielleicht … nein, ganz bestimmt … ich denke, ich wäre dieser Welt nicht entkommen. Inzwischen habe ich verstanden, dass er immer ein Teil von mir war und sein wird.“ Ben spielte an seinem Glas, lauschte stumm Mikaels Worten. Vor gut einem Monat hatte ihm sein Vater erzählt, was damals wirklich passiert war. Georg Hansen hatte ihn unter Druck gesetzt, die Finger von Andreas zu lassen. Er hat verlangt, dass er ihn gehen lässt, aufhört ihn von ihrer tiefen Freundschaft überzeugen zu wollen. Jetzt, wo Mikael so redete und sich mit Andreas Hansen verglich, da verstand er, dass Mikael Recht hatte. Andreas Hansen war ein Gefangener und anders als Mikael, dem Joshua geholfen hatte, war niemand an seiner Seite gewesen. Sein Freund hatte ihn fallen gelassen. „Egal, was in der Vergangenheit war, du bist mein Freund und ich werde immer für dich einstehen“, fuhr Ben zwischen Mikaels Geschichte, „Ich weiß, dass du ein guter Mensch bist und das ist es was zählt und vielleicht … vielleicht macht dich das ganze sogar zu einem besseren Polizisten.“ Ben lächelte und Mikael erwiderte sein Lächeln. „Danke Ben …“



    - FIN -

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