Vertrauen

  • Diese Geschichte ist der siebte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:



    1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
    2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
    5.Fall: Blackout
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: -
    8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
    9. Fall: Kalter Abschied

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    Ben beobachtete das Haus gegenüber und stopfte das Sandwich, das er sich von Zuhause mitgebracht hatte, in den Mund. Wie die Tage zuvor blieb er auch heute nicht unbemerkt. Eine Silhouette war hinter den großen Vorhängen im zweiten Stock zu erkennen. Ben wusste, wer ihn da ansah. Georg Hansen. Er war sich sicher, dass dieser Mann nicht so sauber war, wie er vorgab und er war gewillt es herauszufinden. Irgendwann würde der alte Herr in dem Haus einen Fehler machen und dann, dann würde er zuschlagen. Er lehnte sich seufzend zurück und verstellte die Rückenlehne etwas nach hinten. So langsam könnte mal etwas passieren. Seit zwei Wochen saß er fast ununterbrochen vor der Villa und noch hatte sich nichts getan. Der Typ sah ihm erst bis circa 23 Uhr zu und danach schien er ins Bett zu gehen. „Wie verdammt langweilig“, stieß Ben genervt aus, hielt dann jedoch inne, als sich jemand dem Haus näherte. Die Person trug eine Jeans und einen Kapuzenpulli, man konnte das Gesicht nicht erkennen. Der Gang und die Statue ließen ihn dennoch sofort erkennen, wer es war. Bens Augen weiteten sich ungläubig.. Wut stieg ihn ihm auf. Er war belogen worden, abermals! Am liebsten wäre er aus dem Auto gesprungen und hätte die Person zur Rede gestellt, aber sein Körper setzte sich nicht in Bewegung. War es Angst, Panik oder Enttäuschung, die ihn so lähmte? Er beobachtete, wie die Person schellte und wenig später in das Haus trat. Ben sah gebannt auf die Fassade. „Komm schon, geht ans Fenster“, murmelte er, doch es geschah nichts. Keine Person tauchte vor den hellerleuchteten Fenstern auf.


    *


    Mikael zog die Kapuze zurück und sah den alten Mann vor sich an. „Dein Freund beobachtet uns“, begann Georg Hansen. Er lächelte. „Er ist nicht der Einzige, der dich Tag und Nacht im Blick hat, Großvater. Nur etwas weiter entfernt steht ein weiteres Auto … ich vermute die Drogenfahndung?“ Der Grauhaarige wies in ein Zimmer. „Lass uns in den Saal gehen, er geht nach hinten raus und ist vor neugierigen Blicken geschützt.“ Er nickte und folgte dem Mann. Er ließ sich auf das Sofa nieder und betrachtete die Person vor sich. „Schön, dass du dich gemeldet hast. Ich hatte die Hoffnung schon aufgegeben“, begann Georg Hansen und goss ihm ein Glas Whiskey ein. Er schüttete die brennende Flüssigkeit in seine Kehle. „Du weißt hoffentlich, dass mir das viel bedeutet, dass du nach all diesen Jahren hier zu mir kommst und wieder Teil der Familie sein möchtest“, fuhr sein Großvater fort und er nickte. „Die letzten Wochen haben mir gezeigt, wer meine wahren Freunde sind und auf wen ich zählen kann.“ Der Mann lächelte und schüttete ihm ein neues Glas ein. „Es ist ein edler Whiskey, du solltest ihn mehr schätzen und nicht so herunter spülen.“ Der Grauhaarige lehnte sich zurück und betrachtete ihn. „Du hast die Polizeiarbeit also an den Nagel gehängt?“ „Ja, wie am Telefon gesagt, die letzten Wochen haben mir gezeigt, auf wen ich wirklich zählen kann.“
    Mikael lächelte, griff nach dem Glas und ließ die Flüssigkeit darin vor seinem Auge kreisen. „Was ist mit Jäger?“, fragte sein Großvater nun. „Ben oder Konrad?“, stellte er die Gegenfrage. Ein Lachen erfüllte den Raum. „Natürlich Ben.“ Er zog die Schultern hoch. „Ich werde mich in den nächsten Tagen darum kümmern, dass er nicht mehr vor deiner Tür steht. Das ist es doch, was du möchtest oder?“, antwortete er gleichgültig.
    „Er stört die Geschäfte“, war alles was Georg Hansen antwortete.


    *


    Ben verfolgte, wie sich die weiß verzierte Tür der Villa wieder öffnete und Mikael heraustrat. Die blauen Augen seines Freundes blieben für einen Moment auf ihm haften und plötzlich war er sich sicher, dass er die ganze Zeit gewusst hatte, dass er hier stand und das Haus beobachtete. Der deutsche Kommissar hatte darauf gehofft, dass Mikael zu ihm kommen würde, ihm alles erklären würde, doch stattdessen senkte er den Kopf und ging mit eiligen Schritten davon. Ben verließ das Auto und lief ihm hinterher. „Bleib stehen, Mikael“, rief er, dich er erhielt keine Antwort. Ganz im Gegenteil, sein Freund erhöhte das Tempo noch einmal und begann schließlich zu rennen. „Bleib stehen! Mikael, verdammte Scheiße!“ Ben folgte seinem Freund und verkürzte den Abstand immer weiter. Die Tatsache, dass Mikaels Körper sich immer noch von einer Reihe von Verletzungen erholte, sollte jetzt sein Vorteil werden. Nur noch wenige Meter trennten ihn von seinem Freund. „Bleib doch endlich stehen!“, schrie er erneut und diesmal kam Mikael seiner Bitte nach und stoppte so abrupt, dass er ihm fast hinten reingelaufen wäre.


    „Was machst du hier?“, stieß Ben zwischen seinen hektischen Atemzügen aus. „Ich weiß, wie das aussieht, Ben“, murmelte Mikael. Ben packte seine Schulter und drehte den Körper seines Freundes zu sich, damit er ihm in die Augen sehen konnte. „Was machst du hier? Ich dachte, dass du wieder in Finnland bist.“ „Ich muss etwas wissen“, antwortete Mikael mit bedrückter Stimme. Er sah ihn schief an. „Was musst du wissen?“ „Es hat mit meiner Vergangenheit zu tun, Ben. Es geht um meine Familie. Ich hoffe du verstehst, dass ich dich da nicht mit reinziehen möchte“, nuschelte der Schwarzhaarige, „…nicht noch einmal.“ Mikael setzte sich langsam in Bewegung. „Du solltest so tun, als hättest du mich nicht gesehen, Ben.“ Die Augen des Autobahnpolizisten weiteten sich. „Warum sollte ich das?“ Er griff nach dem Arm seines Freundes. „Mikael! Rede mit mir!“ Der Finne drehte sich um. „Bitte Ben, es ist besser so.“ Bens Augen trafen das blaue Augenpaar von seinem Freund. „Was ist los? Ich dachte, wir sind Freunde!“, schrie er nun. „Ich dachte, du willst keine Alleingänge mehr machen!“


    „Du verstehst das nicht“, kam es nun. „Dann erklär es mir, Mikael, erzähl mir davon.“ Der Schwarzhaarige sah ihn lange an. „Vertraust du mir?“, fragte er schließlich. Ben runzelte die Stirn. „Wie meinst du das?“ „Es ist eine einfache Frage, vertraust du mir?“, wiederholte Mikael nur. „Natürlich vertraue ich dir. Wir sind Freunde, du hast mir nie Grund gegeben daran zu zweifeln“, stieß er nun aus. Mikael lächelte schwach und blickte zu Boden. „Dann erzähl niemandem, dass du mich hier gesehen hast. Nicht Eva, nicht Antti und auch nicht Semir.“ „Ich verstehe nicht, wie meinst du das?“ „Wenn sie nach mir fragen, bestätige, dass ich noch bei dir bin und über die letzten Wochen nachdenke … alleine sein möchte.“ Mikael drehte sich wieder von ihm weg und setzte seinen Weg fort. Ließ ihn verwirrt zurück. „Und bitte hör auf meinen Großvater zu überwachen.“ Er hechtete hinterher und packte ihn am Arm, um ihn zum Anhalten zu bewegen. „Was hast du vor! Du redest, als würdest du kurz davor sein, dir Probleme einzuhandeln!“ Der Jüngere löste sich aus Bens Griff. „Vertrau mir. Alles, was ich die nächsten Wochen tun werde, werde ich tun, um dich zu schützen. Bitte, Ben, zweifle nie daran!“

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  • Die Luft war kühl und feucht, die Straßen menschenleer. Kein Wunder, es war sicherlich schon nach Mitternacht. Er steckte die Hand in die Tasche seines Pullovers und tastete nach einem Schlüssel, den er wenig später herauszog. Sein Blick schweifte über die moderige Fassade des kleinen Hotels, ehe er die vier Treppenstufen zum Haupteingang hochstiefelte und den Schlüssel in das Schloss steckte. Der Teppich im Vorraum war ausgelatscht und es stank unangenehm nach Urin. Er wohnte im fünften Stock. Einen Fahrstuhl gab es natürlich in dieser Absteige nicht und so blieb ihm nichts anderes übrig, als sein Zimmer über eine Treppe zu erklimmen. Immer wieder musste er eine Pause einlegen um im Dunkeln nach einem Lichtschalter zu tasten, da die Gänge des Hotels mit Licht ausgestattet waren, welches nach einer bestimmten Zeit automatisch erlosch. Als er vor seinem Zimmer angekommen war, öffnete er die Tür und ließ sich auf das Bett fallen, verschränkte die Arme hinter den Kopf und betrachtete für einige Zeit stumm die Decke.


    Er musste Ben irgendwie los werden. Er konnte nicht zulassen, dass sich sein Freund ungestüm, wie er war, in Gefahr begab. Er zog den rechten Arm hinter seinem Schädel hervor und griff in seiner Hosentasche nach seiner Geldbörse. Seine Finger glitten in die Kreditkartenfächer und er zog eine 2-DM-Münze hervor, die in der Mitte ein Loch besaß. Er selbst war derjenige gewesen, der dafür verantwortlich war. Beim Schießtraining mit seinem Vater. Die Fingerkuppen glitten über die rauen Kanten. Noch immer war er sich nicht sicher, ob das alles stimmte, was Georg ihm erzählt hatte. Hatte sein Vater auf ihn geschossen, um ihn vor dem Tod zu bewahren? Hatte er wirklich ein Ereignis so genau berechnen können? Er erhob sich und stellte sich in der Mitte des Zimmers auf. Sein Blick fixierte den großen Spiegel, der vor ihm an der Wand hing. Er hob einen Arm, bildete mit Daumen und Zeigefinger eine Pistole, die er auf sein Spiegelbild richtete. Eilig ging er im Kopf einige mathematische Formeln und Berechnungen durch und füllte sie mit seinen Körpermaßen. Sein Arm senkte sich wieder und er ließ sich rücklings auf das Bett fallen. Er kam zu dem gleichen Ergebnis wie schon etliche Male zuvor, als er dieses Ereignis durchgegangen war: Es war möglich jemanden so exakt zu treffen, dass er nicht sterben würde, aber es erforderte wirklich vollkommene Treffsicherheit. Er stöhnte laut auf. „Warum kann in deinem Leben nicht einmal etwas einfach sein“, schimpfte er.


    Er drehte sich auf dem Bett nach links und kramte in der kleinen Reisetasche nach seinem Smartphone. Vier SMS, acht verpasste Anrufe, ein paar E-Mails, 20 WhatsApp. Einige waren von Antti und Veikko, die meisten Nachrichten aber von Ben. Nicht jetzt. Er schaltete das Gerät aus und schmiss es neben sich auf das Bett. Er wünschte, dass er es vermeiden hätte können, dass Ben ihn vor dem Haus sah, aber die Tatsache, dass sein Freund sich auf Georg Hansen eingeschossen hatte, hatte es unmöglich gemacht. Er schloss die Augen, öffnete sie jedoch wenig später wieder, griff abermals nach seinem Telefon und schaltete es wieder an. Er tippte eilig eine SMS an Eva, so dass sie sich keine Sorgen machte, wenn er sich nicht bei ihr meldete. Das Smartphone vibrierte leicht und kündigte an, dass Ben ihn abermals versuchte zu erreichen. Mikael drückte den grünen Hörer. „Du solltest nicht anrufen. Ich habe dir alles erklärt, was du wissen musst“, nahm er schließlich das Gespräch entgegen. „Einen Scheiß hast du, Mikael!“, schimpfte die Person am anderen Ende. „Ben bitte. Ich kann dir nicht mehr sagen … mach einfach das, was ich dir gesagt habe.“ Sein Daumen glitt auf das Feld zum Beenden des Gespräches und er schaltete das Smartphone wieder aus. Vermutlich würde Ben sonst auf die Idee kommen ihn auch noch zu orten.


    *


    Er starrte ungläubig auf sein Handy. Mikael hatte aufgelegt. Einfach so aufgelegt. Verärgert wählte er die Nummer erneut. Vergeblich, der Anschluss war vorübergehend nicht erreichbar. Ben spürte, wie sich die Wut in ihm aufstaute und fast hätte er das Gerät an die Wand geworfen. Wie in Trance lenkte ihn sein Körper auf das Sofa und er ließ sich fallen. Er lehnte sich zurück und atmete einige Male tief durch, um seinen aufgewühlten Körper zu beruhigen. Noch immer hoffte er, dass alles nur ein schlechter Traum war. Mikael war niemals in diesem Haus gewesen, er hatte ihm nie gesagt, dass er von dort verschwinden sollte. Vertraue mir. Alles was ich die nächsten Wochen tun werde, werde ich tun, um dich zu schützen. Bitte, Ben, zweifle nie daran. „Wie soll ich nicht daran zweifeln, du Idiot! Du gibst mir allen Grund dazu!“


    Vor zwei Wochen war alles in Ordnung gewesen. Mikael ging es gut. Er hatte ihm erzählt, dass er vielleicht nicht mehr als Polizist arbeiten wollte. Dass er erst einmal Urlaub nehmen musste, um sich über alles klar zu werden. Herausfinden wollte, wohin sein Weg führte. Aber, er hätte nie gedacht, dass er das damit gemeint hatte. Es war nicht einmal 14 Tage her, da hatte er Mikael zu Georg Hansen begleitet. Sein Freund hatte gesagt, dass er damit abgeschlossen hatte und seinem Großvater mitgeteilt hatte, dass er seine Familie in Ruhe lassen sollte. Und nun? Nun machte er ein großes Staatsgeheimnis daraus, dass er seinen Großvater doch besuchte. Das ergab alles keinen Sinn!


    Er raufte sich durch die Haare. Noch einmal ging er die letzten Stunden durch und suchte schon fast verzweifelt nach einem Hinweis, der das ganze Benehmen von Mikael erklären würde. Wollte er alleine mit Georg Hansen abrechnen oder hatten die Vorwürfe der Kollegen und der Mordverdacht mit U-Haft dafür gesorgt, dass er begann darüber nachzudenken, dass der Weg, den sein Vater für ihn vorbestimmt hatte immer der Richtige gewesen war?


    Ben war Mikael nach dem Gespräch unauffällig hinterhergegangen, hatte ihn dann allerdings aus den Augen verloren. Am Ende war er frustriert nach Hause gefahren und hatte gehofft, dass er Schlaf finden würde. Wie sich herausstellte ein naiver Versuch das Geschehene zu verdrängen. Er fand einfach keine Ruhe. Ben griff nach seinem Smartphone und wählte erneut die Nummer des Finnen, obwohl er wusste, dass er das Handy sicherlich weiterhin ausgeschaltet hatte. „Bitte schalte es doch wieder an“, flehte er das Gerät an. Er brauchte Antworten, er konnte ihn doch nicht so in der Luft hängen lassen! Er musste wissen, warum er das tat. Wieso er ihn nicht mit einschloss. Nein, warum er niemanden in sein Handeln einbezog. Er hatte seinen Freunden und seiner Familie in Finnland erzählt, dass er bei ihm war. Er scrollte durch die Kontakte, bis er bei ‚V‘ angekommen war. Er ließ das Handy eine Verbindung herstellen, unterbrach sie jedoch sofort wieder, ehe es überhaupt am anderen Ende klingeln konnte. Er hatte versprochen, mit niemanden über die Unterhaltung zu reden. „Schwachsinn, du hast überhaupt nichts versprochen“, korrigierte er sich, wählte die Nummer von Veikko aber dennoch nicht.

  • Er holte tief Luft und drückte auf den Klingelknopf. Ein Ton drang zu ihm durch und wenig später hatte ihm jemand geöffnet. Die Person wies ihn an zu warten und er ließ seine Reisetasche in dem Flur fallen. Es hatte nicht sehr lange gedauert und Georg Hansen stand vor ihm. Die Mundwinkel des Mannes zogen sich nach oben, als er die Reisetasche sah. Er zog ihn in eine Umarmung. „Ich freue mich, dass du hier einziehen möchtest“, ließ er verlauten und er nickte leicht. „Wir werden sehen, wie es funktioniert“, murmelte er und Georgs Griff löste sich etwas. „Ja … du hast natürlich Recht. Wir wollen es ja nicht übereilen. Du kannst dir all die Zeit nehmen, die du brauchst.“ Mikael beobachtete, wie eine Frau um die 50 in den Raum trat und ihn anlächelte. „Das ist Mia … erinnerst du dich, sie hat früher oft auf dich aufgepasst, wenn du mit deinem Vater bei mir warst.“ „Ja.“ Sein Großvater lächelte. „Sie wird dir zeigen, wo dein Zimmer ist. Wenn du etwas brauchst, dann zögere nicht und teile es Mia mit. Sie ist die gute Seele des Hauses.“


    Mikael folge der Frau über die imposante Treppe in den ersten Stock des Hauses. „Du machst Georg sehr glücklich“, sagte sie, während sie durch einen mit Porträts und Familienfotos behangenen Flur schritten. „Ich hoffe nur, er ist am Ende nicht enttäuscht von mir“, antwortete er. „Er liebt dich zu sehr, als dass du ihn enttäuschen könntest.“ Sie hielt an und öffnete eine Tür. „Hier ist es“, verkündete sie und er trat in das Zimmer. Der Raum war geräumig und edel eingerichtet. Unter der hohen Decke aus weißem Stuck stand ein großes Doppelbett an der holzgetäfelten Wand. Vor dem großen Fenster, das mit seidenen Vorhängen verhangen war, stand ein Flügel. „Der Steinway von damals?“, fragte er und ließ die Hand über das Musikinstrument gleiten. „Auf dem du früher immer gespielt hast“, bestätigte Mia, „spielst du noch?“ Er schüttelte den Kopf. „Nein eigentlich spiele ich schon seit einiger Zeit nicht mehr.“ Er öffnete den Deckel dennoch und schlug ein paar Akkorde an. „Vielleicht fange ich ja wieder an.“Sie lächelte und stellte seine Reisetasche, die sie ihm unten abgenommen hatte, neben dem Bett ab. „Wenn du etwas brauchst, dann melde dich einfach bei mir. Weißt du noch, wo du das Zimmer der Bediensteten findest?“ Er nickte. „Ja, danke Mia.“


    Die Tür schloss sich mit einem leisen Klicken und er war alleine. Sein Blick fiel prüfend aus dem Fenster. Das Auto von Ben stand nicht vor dem Haus, allerdings hatte sein Freund sicherlich Dienst und so würde er ohnehin nicht heimlich vor der Villa seines Onkels stehen können. Er blickte um die Ecke. Die Leute vom Drogendezernat standen noch da, verfolgten akribisch jeden Schritt der um dieses Haus gemacht wurde. Er pustete sich eine störrische Haarsträhne aus dem Gesicht und setzte sich an den Flügel. Dann strich er geistesabwesend mit einer Hand über die Tasten. Er erinnerte sich daran, wie er hier mit seinem Vater gesessen hatte. Es hatte ihn mit Stolz erfüllt, wie sehr sein Vater sein Klavierspiel geliebt hatte. Er sah ihn vor sich, wie seine Augen ihn voller Liebe anstrahlten. „Er hat auf dich geschossen“, erinnerte er sich selbst laut, „er hat Ben entführt und wollte ihn umbringen. Hör auf, ihn als den liebevollen Vater zu sehen!“ Mit einem lauten Knall klappte er den Deckel des Klaviers wieder herunter und setzte sich auf das Bett, wo er einige Minuten verharrte und sich das Zimmer ansah. Er hatte es genauso in Erinnerung gehabt, es hatte sich nie verändert.


    Mikael hörte, wie sich die Tür zum Raum mit einem leisen Quietschen öffnete. Er sah auf und blickte in die Augen von Georg Hansen. „Ich muss zu einem Geschäftstermin. Wenn du also etwas brauchst oder ähnliches, kannst du zu…“ Er winkte ab. „…Mia gehen, ich weiß. Was ist das für ein Termin?“ „Fürchterlich langweilig. Ein Bauprojekt.“ Sein Großvater sah ihn an, als würde er noch etwas erwarten. Eine weitere Frage oder eine Anmerkung. Mikael presste ein Lächeln heraus. „Bis später dann.“


    *


    Semir sah skeptisch zu seinem Partner rüber. Ben war seit dem Moment, als sie ihre Streife begonnen hatten, seltsam schweigsam und sah abwesend aus dem Fenster. „Ist bei dir alles okay?“, wollte er wissen. Der Braunhaarige sah kurz auf, richtete seinen Blick wenig später allerdings wieder aus dem Fenster. „Ja … ja mir geht’s gut. Ich bin nur etwas müde“, murmelte Ben leise die Antwort. Semir sah auf ein vorüberziehendes Schild. „Da kommt gleich eine Raststätte. Wie wäre es - wir holen uns einen Kaffee und du erzählst mir, was dich bedrückt.“ Der Jüngere wollte Widersprüche geben, doch ehe er den Mund öffnen konnte, hatte Semir bereits den Blinker gesetzt und fuhr auf den Parkplatz der Raststätte.


    Nur wenige Minuten später hielt Ben einen lauwarmen Automatenkaffee in seinen Händen. „Also was ist mit dir?“, fragte Semir. „Nichts, das sagte ich doch. Ich bin nur müde und…“ „…bist du immer noch die ganze Nacht vor dem Haus von Mikaels Großvater, diesem Georg Hansen?“, brachte es der Deutschtürke nun auf den Punkt. Ben sah ertappt zu Boden. „Also bist du es“, schlussfolgerte Semir. „Vielleicht solltest du dir langsam eingestehen, dass der Mann vielleicht doch sauber ist. Du hast nie etwas Verdächtiges gesehen.“ Der Kopf des Jungkommissars hob sich wieder. „Natürlich“, stieß er sarkastisch aus, „und wer hat dafür gesorgt, dass Tonteri vor einer Polizeidienststelle ermordet wird? Wer hat diesen Häpi als Mikaels Beschützer angeheuert, als er in U-Haft war? Die Zahnfee war das wohl kaum!“ Semir seufzte. „Hast du mit Mikael darüber geredet?“ Dem Jüngeren entfuhr ein leises Lachen und Semir zog skeptisch die Augenbraue hoch. „Habt ihr euch gestritten?“, mutmaßte er. „Nein.“„Natürlich … du benimmst dich immer so, wenn ihr Streit hattet. Hör mal, ich kann auch Antti anrufen und ihn fragen, ob Mikael sich auch so komisch benimmt, seit er wieder in Finn…“ „Er ist noch nicht wieder in Finnland. Er ist noch in Köln, denkt über die Sachen der letzten Wochen nach“, unterbrach Ben ihn hektisch. Semir schien sein unsicherer Blick nicht zu entgehen. „Hast du mir überhaupt nicht erzählt. Er war zwei Wochen hier und ich habe ihn nicht einmal gesehen … ist es so schlimm? Er zerfließt doch nicht im Selbstmitleid? Wenn du Hilfe brauchst Ben, dann kann ich vielleicht einmal mit ihm red…“ „…er kommt klar. Er braucht keine Hilfe, von Niemanden“, fauchte er wütend und trank eilig seinen Kaffeebecher aus. „Können wir weiter machen, Semir? Die Arbeit wartet ja schließlich nicht auf uns!“, schimpfte er leise und machte sich auf den Weg zum Auto. Semir hechtete ihm verdutzt hinterher. „Ich kann heute vorbeikommen…es scheint dicht zu bedrücken. Wenn es sich schon so sehr auf deine Laune auswirkt, dann…“ „Er WILL mit niemanden reden, okay! Würdest du jetzt aufhören mit diesem Thema!“, unterbrach Ben ihn abermals und riss die Autotür auf, um sich auf den Beifahrersitz niederzulassen. „Kommst du dann jetzt! Wir werden sicherlich nicht fürs rumstehen bezahlt!“


    Semir rollte die Augen. „Wirklich deine gute Laune ist geradezu ansteckend.“ Der Deutschtürke wollte gerade in den Wagen einsteigen, als ihm eine Person unweit von ihnen in die Augen fiel. „Ist das nicht dieser Georg Hansen?“, fragte er. „Soll das jetzt besonders witzig sein? Ich sagte doch, ich höre auf damit ihn zu beschatten!“, schimpfte der jüngere Kollege leise aus dem Auto. „Es ist mein Ernst Ben. Der steht da und unterhält sich mit ein paar Leuten.“ Ben richtete seinen Kopf nach oben. Tatsächlich, Semir hatte Recht. „Mit wem unterhält der Typ sich?“ Die beiden Männer, die neben Hansen standen hatte er schon einmal in seinem Haus gesehen. Die anderen Typen kannte er allerdings nichts. „Vielleicht sollten wir Hallo sagen“, kam es nun von Ben. Nichts würde er jetzt lieber tun, als die Party sprengen. Semir winkte ab. „Dann versaust du es, Ben, wir werden schauen, was der Typ treibt. Vielleicht ist es am Ende ganz anders, als wir denken.“ Ben stöhnte laut auf, fügte sich allerdings dem Willen seines Partners, der sich nun ebenfalls ins Auto gesetzt hatte. Gebannt verfolgten sie, wie Hansen noch etwa zehn Minuten mit den Männern redete, ehe sich die Wege wieder trennten. Sie hatten sich dazu entschieden dem alten Herrn zu folgen, doch wurden schließlich enttäuscht. Das Einzige was Hansen an diesem Tag noch tat, war zu einer Baustelle zu fahren und sich mit einem Mann zu unterhalten. Ben vermutete, dass es der Architekt war. Danach führte der Weg von Georg Hansen wieder nach Hause. „Lass uns fahren, hier passiert nichts mehr“, sagte Semir nachdenklich, nachdem sie zwei Stunden vor der Villa gestanden hatten. Der Deutschtürke löst seinen Blick von dem Anwesen und setzte das Auto in Bewegung.

  • Mikael sah aus dem Fenster, lehnte den Kopf gegen den Rahmen. Das Auto von der Drogenfahndung war vor einigen Stunden verschwunden und nicht wieder zurückgekommen. Vermutlich hatte man sie vom Fall abgezogen, weil sich in diesem Haus eh nichts tat. Zwischenzeitlich war noch ein silberner BMW aufgetaucht, Semirs Wagen. Aber auch der war nach wenigen Stunden wieder weggefahren. Er hörte, wie die Tür hinter ihm aufging, löste sich allerdings nicht aus seiner Beobachtungsstellung. „Georg bittet mich, dir auszurichten, dass das Abendessen bereit ist. Deine Cousine und ihr Sohn sind auch da.“ Er drehte sich um und bedankte sich bei Mia, ehe er die Treppe nach unten herab stiefelte und den großen Speisesaal des Hauses betrat.


    „Der verlorene Sohn kehrt zurück?“, wurde er von einer Frauenstimme spöttisch empfangen. „Sieht so aus“, antwortete er ihr und setzte sich auf einen der Stühle. Sein Blick blieb für einen Moment auf seiner Cousine haften. Sie hatte sich kaum verändert, trug das Haar immer noch in gleicher Weise wie vor vielen Jahren, als sie noch jünger waren. Ihr Sohn, Hannes, schien ihm 15 oder vielleicht schon 16 zu sein. Zumindest kam er in das Alter, wo man mitbekam, was um einen herum passierte. Man lief nicht mehr mit Scheuklappen durch die Gegend. Es war das Alter, als er herausgefunden hatte, wie sein Vater wirklich sein Spielzeug finanzierte. „Sei nicht so abweisend, Anna“, holte die Stimme von Georg ihn aus seinen Gedanken, „Mikael ist hier, weil er uns kennenlernen möchte.“ Die Frau lachte leise auf. „Sicher ist er das. Nunja“, sie hob ihr Weinglas an, „lasst uns anstoßen auf den großartigen Mikael Häkkinen und froh sein, dass er den Weg zurück in den Schoß der Familie gefunden hat.“


    Das Abendessen verlief in einer überraschend ruhigen und entspannten Atmosphäre. Er lauschte, wie der Sohn seiner Cousine von der Schule erzählte. Es schienen die letzten Arbeiten des Schuljahres anzustehen. Sehr zum Missfallen des Jungen. „Mikael war immer gut in der Schule, er hat einige Klassen übersprungen, vielleicht hilft er dir ja beim lernen“, munterte Georg den Jungen auf. Die braunen Augen des Jugendlichen musterten ihn kritisch. „Ich will ihm damit nicht nerven“, lehnte Hannes kleinlaut ab. „Papperlapapp, er macht das sicherlich gerne, oder Mikael?“ „Georg, Hannes muss das wirklich selbst wissen. Ich …“ Das Familienoberhaupt ließ ihn nicht ausreden. „Dann machen wir das so, ihr setzt euch am besten gleich morgen zusammen. Was schreibst du als nächstes Hannes? Mathe?“ Der Junge nickte verunsichert. „Perfekt. Mikael ist sehr gut in Mathe. Ich bin mir sicher, dass du dieses Mal eine gute Note schreiben wirst.“ Er wollte etwas erwidern, sah jedoch, wie Anna leicht den Kopf schüttelte. Er senkte seinen Kopf und stopfte leise das restliche Essen von seinem Teller in sich hinein.


    „Darf ich aufstehen und ein bisschen Fußball spielen?“, fragte Hannes nach einer Weile. Die Mutter nickte. Doch Georg bat seinen Urenkel, sitzen zu bleiben. Mikael beobachtete ihn dabei, wie er das restliche Abendessen stumm vor seinem Teller saß. Ab und an trafen sich ihre Blicke und er lächelte leicht, worauf jedoch Hannes wieder nach unten sah. Er wollte gerade seinem Großvater gut zureden, dass es sicherlich keinen Grund gab, warum der Junge diesem einschläfernden Dinner beisaß, als Georg Hansen ihm zuvorkam. „Erzähl Mikael, deine Familie … wie viele Kinder hast du?“ Er sah ihn fragend an. „Das weißt du doch“, antwortete er erstaunt. „Erzähl.“ Seine Stimme klang bestimmend und ließ keine Widerrede zu. „Zwei … ich habe zwei Kinder. Oskari und Viivi“, sagte er schließlich. „Ein Junge und ein Mädchen, wie reizend. Wann holst du sie her?“ „Ich möchte erst sehen, wie es mit uns läuft und sie nicht vorschnell aus ihrer gewohnten Umgebung reißen.“ Ein Nicken. „Wundervolle Namen oder Anna?“ Seine Cousine stimmte widerwillig zu. „Mia hat mir erzählt, dass du kein Klavier mehr spielst. Wirklich du vergeudest dein Talent, wie ist es dazu gekommen?“ Verdammt, war er hier im Kreuzverhör!, dachte er verärgert. „Ich habe einfach aufgehört, das Interesse verloren. Es gab keinen speziellen Grund.“ Sein Großvater lächelte und schien mit seiner Antwort zufrieden. „Wie verheilen die Verletzungen?“ Mikaels Hand fuhr unbewusst an die Stelle, wo jemand ihn eiskalt versucht hatte abzustechen und er blieb einige Zeit stumm. „Die Wunden…verheilen sie gut?“, wiederholte Georg seine Frage und machte mit seiner Stimmlage mehr als deutlich, dass es keine Option war zu schweigen. „Ja … ja, sie verheilen gut“, presste er hervor.


    Er verfolgte, wie Georg Hansen sich mit der Serviette den Mund abwischte. „Wieder ein vorzügliches Essen oder? Es tut mir leid, aber ich muss mich noch für geschäftliche Dinge zurückziehen. Ihr könnt euch ja derweil etwas draußen amüsieren.“ Hannes war eilig aufgestanden und griff sich seinen Fußball, der in der Ecke des Raumes deponiert war. Er wollte sich eigentlich in sein Zimmer zurückziehen, doch Anna griff nach seinem Arm. „Wenn er sagt, du gehst raus … dann gehst du raus“, flüsterte sie ihm leise zu.


    Also folgte er seiner Cousine an die frische Luft und verfolgte, wie Hannes mit seinem Ball gegen das Garagentor schoss. Vielleicht sollte er einfach mitspielen? Was war schon dabei. Der Junge schien ihm gefangen in diesem Gefängnis aus Regeln, vielleicht brauchte er jemanden, dem er sich anvertrauen konnte. „Ich hoffe für dich, dass du Georg nicht enttäuschen wirst“, ertönte eine Stimme neben ihm und zwang ihn dazu seinen ursprünglichen Gedanken zu verwerfen. „Wie kommst du darauf, dass ich das werde?“, antwortete er und lehnte sich an die Hauswand. „Du denkst ich nehme dir die Transformation ab? Was willst du wirklich hier?“ „Vielleicht ja das Gleiche wie du Anna? Geld um meinen teuren Lebensstil zu finanzieren … ist es schwer den treuen und liebevollen Enkel zu spielen? Sich diesen albernen Regeln zu fügen? Sprich nicht, bevor es der Großvater nicht erlaubt, tue was die Familie verlangt“, zischte er. Ihre Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. „Du hast doch das Erbe von Andreas, du brauchst Georgs Geld nicht!“ Er zuckte mit den Schultern. „Geld kann man doch nie genug haben.“ Anna zündete sich eine Zigarette an. „Ich werde nicht zulassen, dass du sein Erbe abfangen willst … ich war all die Jahre für ihn da, während du ihn immer und immer abgelehnt hast!“ Sie wirbelte herum und presste ihn mit ihrer Hand gegen die Wand. „Wie taff bist du wirklich Mikael? Du weißt, was er von dir verlangen wird, wenn du den Platz deines Vaters einnehmen möchtest.“ Er lächelte. „Du solltest dir um mich keine Sorgen machen, Anna.“


    Er sah über ihre Schulter auf den Jungen. „Vielleicht solltest du dankbar sein … das ist nicht der Weg, dem man einem Jungen in seinem Alter vorgeben sollte.“ Sie folgte seinen Augen. „Georg sorgt gut für uns und er zwingt Hannes zu nichts.“ Er lachte auf. „Du willst es nicht sehen, Anna, aber es ist der Weg, den Georg für ihn vorsieht. Es war der Weg, den er für mich vorgesehen hatte …“ „Und du bist Polizist geworden, also erzähl mir nichts!“ „Ich bin kein Polizist mehr!“, schrie er nun und löste ihren Griff von sich, wirbelte sie herum und drückte sie nun an die Wand. „Wage es nicht an meiner Entschlossenheit zu zweifeln, ich weiß genau was ich tue!“, flüsterte er ihr leise ins Ohr. Sie nickte und er löste seinen Griff wieder. Die beiden sahen Hannes für einige Minuten zu. „Hat er wirklich auf dich geschossen?“ Er wandte sich wieder zu Anna. „Wer?“ „Na dein Vater, du Idiot…“ Mikael schob die Hände in die Taschen von seinem Kapuzenpulli und sah in den wolkenverhangenen Himmel. „Ja.“ „Warum bist du wirklich hier?“, fragte sie nun. „Ich bin Polizist geworden, um die Welt zu verbessern … ein alberner Gedanke, wie sich herausgestellt hat“, murmelte er, „vielleicht ist mein Platz ja hier bei meiner Familie.“


    *


    Ben saß in seinem Auto und beobachtete seit Stunden das Haus. Er versuchte sein ungutes Gefühl zu beruhigen und redete sich ein, dass es sicherlich eine gute Erklärung dafür gab, dass Mikael sich schon wieder in diesem Haus aufhielt. Vor einer Stunde hatte er verfolgt, wie sein Freund mit einer Frau und einem Jungen, der nun auf dem Vorhof Fußball spielte, aus der Villa getreten war. Die Frau und den Jungen hatte er schon öfters gesehen. Mikael stritt zunächst mit ihr, dann wendete sich das Gespräch allerdings zu einer lockeren Unterhaltung. Vor gut einer halben Stunde war er dann in das Haus verschwunden und wenig später im Arbeitszimmer von Georg Hansen wieder aufgetaucht. Er war zu dem alten Mann ans Fenster getreten, hatte mit ihm geredet und sein Auto mit einem beißenden Blick beobachtet. Vor wenigen Minuten hatte er sich schließlich wieder vom Fenster gelöst und war vor das Haus getreten. Ben wusste, was sein Ziel war. Er.


    Die Autotür öffnete sich, Mikael stieg ein und zog die Tür hinter sich zu. „Was suchst du hier, Ben?“, fragte er und sah ihn eindringlich an. „Das sollte ich wohl eher dich fragen!“, stieß er wütend aus. „Was wird das hier? Was hast du vor?!“ Sein Beifahrer dachte nicht daran seine Frage zu beantworten. „Ich möchte, dass du endlich aufhörst meinen Großvater zu beobachten“, sagte Mikael nur. „Ich versteh das nicht! Du … wie du mit der Frau geredet hast und deinem Großvater … WAS IST LOS!“


    „Fahr Ben, hier gibt es nichts zu sehen, außer einer Familie. Hör auf uns zu belästigen!“ Der Finne machte die Autotür wieder auf und kühle Luft drang ein. „Wenn du jetzt gehst, Mikael … dann war es das mit unserer Freundschaft! Wenn du dich wirklich auf Georg Hansen einlässt, dann …“ Die Tür schlug wieder zu. Er hatte ihn nicht einmal ausreden lassen. Er verfolgte, wie Mikael wieder in das Haus trat. Ben ließ den Kopf auf das Lenkrad sinken. Vertraue mir. Alles was ich die nächsten Wochen tun werde, werde ich tun, um dich zu schützen. Bitte, Ben, zweifle nie daran. „Wie soll ich dir vertrauen, wenn du mir nichts erklärst?“, murmelte er leise zu sich selbst. Er verstand das alles nicht und umso öfter er darüber nachdachte, desto verwirrter wurde er. Desto weniger verstand er, was Mikael hier wollte, was sein Ziel war. Warum hatte er ihm nicht gesagt, dass ihm ihre Freundschaft wichtig ist? Warum war er einfach gegangen, als er ihm gesagt hatte, dass sie so keine Freunde sein konnten? Nicht einmal seine Augen hatten das Gegenteil gesagt. Sie waren eiskalt gewesen. Ohne irgendeine Gefühlsregung. „Arschloch!“, schrie er laut, startete den Motor und schaltete in den ersten Gang. Er wollte das Gesicht seines Freundes heute nicht mehr sehen!

  • Ben massierte sich die Schläfen. Dass er die letzten Nächte wach war und über Mikael nachgegrübelt hatte, machte sich langsam bemerkbar. Neben der Müdigkeit bekam er nun auch noch rasende Kopfschmerzen. Er hörte, wie die Tür zum Büro aufging und sah auf. „Es gibt Arbeit“, meldete Semir und lehnte sich an den Türrahmen. „Eine unbekannte männliche Leiche wurde auf der Raststätte Ville aufgefunden. Die KTU ist bereits vor Ort.“ Der Deutschtürke griff nach seinem Autoschlüssel. „Kommst du dann?“, fragte er mit einem leichten Grinsen, als sich Ben immer noch nicht erhoben hatte. „Jaja … ich hab nur fürchterliches Kopfweh, du hast nicht zufällig eine Tablette?“, murmelte er leise und stemmte sich von seinem Stuhl hoch, um Semir aus dem Zimmer in Richtung Auto zu folgen. „Du hast doch Mikael im Haus, frag ihn. Der hat doch immer Kopfschmerztablet…“ „Mikael ist keine Option“, unterbrach ihn Ben. „Ihr habt wohl immer noch Streit, nehme ich an. Soll ich immer noch nicht mit ihm reden?“ Der junge Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein. Er sagt, er braucht keine Hilfe.“ Semir zuckte mit den Schultern. Es war doch immer wieder das gleiche mit Mikael. Es fiel ihm einfach schwer, sich anderen Leuten anzuvertrauen. „Naja, wie dem auch sei. Lass uns zum Fundort der Leiche fahren, alles andere können wir später besprechen, nech?“ Ben nickte leicht und wartete darauf, dass Semir den BMW öffnete.


    Als sie wenige Minuten später an der Raststätte ankamen, sahen sie schon den Transporter der Spurensicherung, der vor dem rot-weißen Absperrband parkte. Semir stellte seinen Wagen gleich daneben ab. Als sie ausstiegen, grüßte sie Hartmut, der gerade einen Metallkoffer aus dem Van kramte. „Männliche Leiche, zwischen vierzig und fünfzig Jahren. Stichverletzung“, sagte er kurz, „alles Weitere wird euch aber sicherlich die Gerichtsmedizinerin sagen können.“ Ben und Semir nickten und schlüpften hinter dem Rotschopf unter der Absperrung durch. Bei der Leiche empfing sie bereits Jenny. „Es gibt keinen Ausweis, keine Anhaltspunkte zur Identität des Toten. Ein…“, sie warf einen Blick auf ihren Notizblock, „Max Hartmann hat ihn gefunden.“ Semir nickte und machte einige Schritte auf die Leiche zu. Der Tote lag hinter einem Strauch, etwas abseits der Sitzbänke. Die Gerichtsmedizinerin hatte ihn schon auf den Rücken gedreht. Gefunden wurde der Mann auf dem Bauch. Die Pupillen des Deutschtürken weiteten sich vor Unglauben. Er kannte doch den Mann. „Ben!“, rief er aufgeregt, „Ben, nun komm halt mal!“ Sein Partner trottete heran. „Was ist denn Semir, ich bin doch unterwe…Scheiße!“ Ben betrachtete den toten Mann vor ihnen. Er hatte ihn oft genug gesehen, um sich sicher zu sein, wer dieser Typ war. Das war der Mann gewesen, mit dem sich Hansen noch vor ein paar Tagen getroffen hatte. „Genau das waren auch meine Gedanken“, kommentierte Semir leise. „Was denken Sie, wie lange ist er schon tot?“ Die Ärztin lächelte. „Ich würde sagen etwa vier bis sieben Stunden, aber das ist eine sehr grobe Schätzung.“


    „Ich denke, wir sollten Herrn Hansen einen Besuch abstatten und ihn nach seinem toten Freund hier fragen“, sagte Semir und machte einige Schritte von der Leiche weg. „Das denke ich auch Partner“, meinte Ben.


    *


    Es hatte nicht länger als eine halbe Stunde gebraucht und sie waren vor der großen Villa von Georg Hansen angekommen. Ben folgte Semir mit langsamen Schritten. Je näher er dem Haus kam, desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Was sollte er tun, wenn Mikael auch hier war? Er hatte Semir nicht davon erzählt, dass er ihn hier gesehen hatte. Dass das der Grund für seine momentan schlechte Laune war. Der Deutschtürke drückte den Klingelknopf und nur wenig später öffnete ihnen eine Frau um die 50. „Gerkhan, Kripo Autobahn. Das ist mein Kollege Herr Jäger. Wir würden gerne mit Georg Hansen reden.“ Sie lächelte und bat sie herein. „Ich werde Herrn Hansen holen lassen. Gehen sie ruhig schon einmal durch in den Saal.“ Sie nickten und traten in ein großes Wohnzimmer, das unmittelbar an den Flur angrenzte.


    Semir sah sich um. „Der Typ muss eine Stange Geld haben. All diese Möbel und Gemälde“, murmelte er beeindruckt. Sein Blick blieb auf einigen Bildern hängen, die auf dem Kamin standen. Einige davon zeigten Mikael. Er erinnerte sich daran, wie Ben ihm erzählt hatte, dass Hansen Mikael überwachen ließ und aktuelle Bilder von ihm hatte. Der Deutschtürke sah auf, als Georg Hansen in den Raum trat und sie mit einem breiten Lächeln empfing. „Was kann ich für die Polizei tun?“, fragte er und gab ihnen die Hand. „Wir haben heute Morgen eine Leiche gefunden“, Semir hielt ihm ein Foto hin, „kennen sie diesen Mann?“ Georg Hansen griff nach dem Foto und sah es lange an, ehe er es ihm zurückgab. „Nur flüchtig, wir hatten vor einigen Tagen einen Geschäftstermin. Ein Bauprojekt in der Innenstadt.“ Semir nickte. „Können Sie uns seinen Namen nennen? Er hatte leider keine Papiere bei sich.“ „Olaf Fischer“, antwortete ihm Hansen monoton ohne Gefühl. „Wo waren sie in der heutigen Nacht, zwischen 24 und 3 Uhr?“, kam es nun von Ben. „Sie verdächtigen mich des Mordes?“, stellte Hansen zugleich die Gegenfrage. „Es ist reine Routine…“, stellte Semir klar. Hansen nickte. „Ich war hier. Habe das Haus die ganze Nacht über nicht verlassen.“


    „Kann das jemand bestätigen?“, wollte Semir nun wissen. „Ich“, ertönte es und der Deutschtürke fuhr herum. Seine Augen weiteten sich. Sein Gehör hatte ihn also nicht getäuscht. Vor ihm stand wahrhaftig Mikael. Der Finne lehnte an dem Türrahmen und schien ihr Gespräch wohl schon etwas länger angehört zu haben. „Mikael, was machst du denn hier?“, fragte er erstaunt. „Alte Familienbunde wieder aufleben lassen“, antwortete Ben mit bissigem Unterton für Mikael. Der Schwarzhaarige schien sich von Bens Aussage nicht beirren zu lassen. Er machte einige Schritte und stand nun direkt neben Georg Hansen. „Ich bestätigte, dass Georg den ganzen Abend hier war. Ich habe bis mindestens 24 Uhr mit ihm gesprochen, danach war ich oben in meinem Zimmer und habe keinen Schlaf gefunden. Ich hätte gehört, wenn er weggefahren wäre.“ „Du weißt, dass du dich mit einer Falschaussage strafbar machst?“, fragte Ben nun, ohne dass er seine Wut verstecken konnte. Mikael nickte. „Ich war Polizist, wie du Ben. Ich weiß das. Es ist die Wahrheit. Er war hier!“, sagte er mit harter und bestimmender Stimme. Ben lachte leise auf. „Natürlich ist es das!“ Semirs Blick wanderte zwischen den beiden Männern hin und her. Was war passiert, dass sie sich so benahmen? Und wie kam es überhaupt, dass Mikael hier übernachtete? Das ergab für ihn keinen Sinn.


    Mikaels Blick wandte sich von dem Braunhaarigen ab und er sah auf Semir. „War’s das dann oder habt ihr noch weitere Fragen?“ Der Deutschtürke schüttelte den Kopf. Selbst wenn er Fragen gehabt hätte, dann waren sie ihm in diesem Moment entfallen. Die Situation war so abstrus, dass er sie immer noch nicht ganz fassen konnte. „Natürlich, danke für die Antworten … Herr Hansen, Mikael.“ Er sah zu Ben und gab ihm zu verstehen, dass es Zeit war zu gehen. Sein Partner rührte sich nicht, starrte weiterhin auf Mikael. Semir sah, wie sich die Hand seines jungen Kollegen zur Faust ballte. „Ben!“, sagte eindringlich und endlich löste er sich. „Unglaublich, dass so jemand einmal mein Freund war“, zischte Ben leise und ging ohne sich noch einmal umzudrehen in Richtung Tür.


    Semir hatte Mühe den hastigen, fluchtartigen Schritten seines Partners zu folgen und holte ihn erst vor seinem Auto ein. „Was hat das zu bedeuten? Du sahst mir nicht sehr überrascht aus, ihn da zu sehen.“ Ben antwortete ihm nicht und setzte sich in das Auto. Der Deutschtürke rollte die Augen. Es war doch immer wieder das gleiche. Er musste seinem Partner jede Einzelheit aus der Nase ziehen. Er ließ sich auf den Fahrersitz gleiten und sah Ben eindringlich an. „Mikael war niemals bei dir oder? Er war die ganze Zeit hier bei Georg Hansen.“ Ben nickte. „Er ist nie zurück nach Finnland, stattdessen ist er zu Georg Hansen gegangen. Ich habe ihn vor ein paar Tagen zum ersten Mal dort gesehen. Er sagt mir nicht warum, faselt etwas von Vertrauen …“, Bens Kopf senkte sich und er vergrub die Hände im Stoff seiner Jeans, „aber ich habe kein Vertrauen mehr.“


    Semir legte Ben behutsam eine Hand auf die Schulter. „Was hat er genau zu dir gesagt?“, fragte er. Ben zuckte mit den Schultern. „Er hat mich gefragt, ob ich ihm vertraue … und danach irgendwas von wegen, egal was er in den nächsten Wochen tut … ich sollte nicht zweifeln.“ Der junge Kommissar lachte auf. „Was für ein Witz! Wie soll ich nicht zweifeln, wenn er bei diesem Mann wohnt? Wie soll ich ihm vertrauen, wenn er mir keinen Grund dafür gibt!“ Bens Blick fiel auf das Haus. „Es war so offensichtlich! Es war deutlich, dass er Georg Hansen ein falsches Alibi gegeben hat! Warum tut er das, Semir! Warum!?“, schrie er nun wütend. „Ich weiß es nicht, Ben“, gab Semir ehrlich zu, „aber wenn Mikael seinem Großvater mit einer Falschaussage hilft, dann bekommen wir das raus.“


    Mikael verfolgte aus dem Fenster, wie sich Ben und Semir angeregt unterhielten, vermutlich über ihn. „Was kannst du mir über Gerkhan sagen?“, wollte sein Großvater wissen. Er drehte sich vom Fenster weg und lehnte sich an die Heizung. „Er ist schon sehr lange bei der Autobahnpolizei … Er und Ben vertrauen sich blind und er macht seinen Job stets gewissenhaft.“ Georg Hansen nickte. „Danke übrigens für deine Hilfe. Dass ich nur geschlafen habe, alleine in meinem Bett, hätte mir die Polizei sicherlich nicht geglaubt.“ Er zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Es war kein großes Ding, wir sind doch schließlich eine Familie.“ Der Grauhaarige lächelte. „Schön, dass du das auch so siehst. Ich habe übrigens am morgigen Abend ein kleines Essen mit ein paar Partnern. Es wäre schön, wenn du mich unterstützen würdest.“ Mikael nickte und löste sich von dem Heizkörper. „Was ist schon dabei. Ich werde rauf in mein Zimmer gehen, wenn es dich nicht stört.“ Sein Gesprächspartner stimmte zu und er verließ mit langsamen Schritten den Saal.

  • Aus sicherer Entfernung beobachteten Ben, wie Mikael aus dem Haus trat und mit langsamen Laufschritten die Straße entlang lief. Zumindest das war an ihm noch dasselbe. Er konnte nur wenige Tage ohne ausgedehnte Joggingtour überstehen. Ben setzte sich ebenfalls in Bewegung und folgt dem jungen Mann. Es dauerte nicht lange und sie waren in einem kleinen Park angekommen. Er sah sich um. Keine Menschenseele war zu dieser Tageszeit hier unterwegs, sie waren alleine. Mikael stoppte, drehte sich aber nicht um. „Ben, was willst du?“ Er trat näher an den Finnen heran. „Woher wusstest du, dass ich es bin?“ Mikael wirbelte herum und sah ihn an. „Dein Laufschritt ist nicht besonders schwer zu erkennen. Was willst du?“ „Eine Erklärung, mehr nicht“, antwortete er nun. „Wozu? Es ist, wie es ist. Ich bin für einige Tage bei Georg, was ist dabei?“ Ben lachte auf. „Was dabei ist? Was wohl! Der Typ ist ein Verbrecher und du gibst ihm auch noch ein falsches Alibi!“ Mikael verschränkte die Arme vor der Brust. „Das sagst du. Dafür hast du keine Beweise.“
    „Mein Vater hat mir viel über Georg und Andreas Hansen erzählt! Und langsam scheint es mir, als hätte ich mich in dir getäuscht all die Jahre, wo ich dich verteidigt habe vor meinem Vater!“
    Der Schwarzhaarige machte einige Schritte auf ihn zu und stand nun vor ihm. „Ist Vertrauen für einen Jäger so schwer? Das war das Einzige, worum ich dich gebeten habe, aber Misstrauen liegt wohl bei euch in der Familie … vermutlich hast du auch zu denen gehört, die dachten ich bin ein Mörder“, murmelte er in einem giftigen Ton.


    Ben versuchte der plötzlich aufkommenden Wut Einhalt zu gebieten, doch es klappte nicht. Wie konnte Mikael nur so etwas behaupten! „DU ARSCH!“, fauchte er und warf Mikael mit einem kräftigen Schubser auf die Erde. Er hörte, wie sein Gegenüber laut aufstöhnte, doch ehe er sich berappeln konnte, stürzte er sich auf ihn. „Rede nicht so über meine Familie!“, schrie er. Mikael griff nach seinen Schultern und rammte ihm das Knie in die Magengrube. Der Tritt hatte sämtliche Luft aus seinen Lungen gedrückt. „Du bist Polizist“, presste Ben keuchend hervor, „was soll das Ganze!?“ Der Schwarzhaarige wirbelte ihn herum und nun war Ben derjenige der sich rücklings auf dem kalten Erdboden im Schwitzkasten wiederfand. „Du brauchst nicht von Moral zu sprechen Ben. Du warst derjenige, der in meinen Privatsachen gewühlt hat, während ich wegen Mordverdacht im Knast saß! So benimmt sich kein Freund!“ Ben gab Mikael einen gezielten Hieb in die Seite und stieß ihn von sich weg. „Weil du nie etwas erzählst! Dich interessiert Freundschaft überhaupt nicht! In deiner Kackwelt dreht sich alles um dich! Den großartigen Mikael!“, schrie er. Mikael taumelte einige Schritte rückwärts, sprang dann aber wieder auf ihn los und packte ihn am Pullover, um ihn ebenfalls wieder nach oben zu ziehen. „ACH! Du hast mir auch nie davon erzählt, dass du immer noch bei meinem Großvater vor der Tür Wachhund spielst! Es ist meine Familie, die geht dich nichts an. Kümmere dich um deinen geldgierigen Clan! Ärmere Familien aus ihren Häusern werfen, damit man sie neu renovieren und teuer verkaufen kann. Steht dafür nicht der Name Jäger AG?“ „Du hast kein Recht über mich zu urteilen!“, zeterte er, „DU nicht!“ Er schickte Mikael mit einem Kinnhaken zu Boden. Schwankend richtete sich dieser wieder auf. Blut rann über seine Unterlippe. Er fuhr mit den Fingern darüber und betrachte für einige Sekunden die rote Flüssigkeit. „Hast du jetzt genug, Hansen“, fauchte Ben. Zorn blitzte in Mikaels Augen auf. Gerade noch rechtzeitig fing er einen Schlag mit seinem Arm ab und rammte ihm seinerseits den Ellbogen in die Bauchgegend. Gekrümmt taumelte Mikael einige Schritte zurück und japste nach Luft. „Du hast alles kaputt gemacht“, schrie Ben ihn wütend an, „du kannst niemandem vertrauen außer dir selbst und erwartest dennoch Vertrauen von allen. Du bist kein Polizist, du bist nicht besser als dein Großvater oder dein Vater … Michael Hansen!“ „Fick dich!“, stieß sein Gegenüber aus. Ben setzte zum nächsten Schlag an, doch der Schwarzhaarige wich aus und revanchierte sich mit einem Treffer auf die Nase. Blut schoss hervor und er brüllte vor Schmerz und Wut auf. Mikael drehte sich um und ging davon. „Lass mich in Ruhe, Jäger. Du hast keine Ahnung, wozu ich fähig bin und glaub mir, du willst es nicht herausfinden!“, sagte er ein letztes Mal und war dann in der Dunkelheit verschwunden.


    Ben hielt sich die Hand unter die Nase und sah noch einige Zeit auf den Punkt, wo Mikael verschwunden war. Zwischen seinen Fingern tropfte das Blut hindurch. „Arsch“, schimpfe er leise und suchte in seinen Hosentaschen nach einem Taschentuch oder ähnlichem. Ohne Erfolg. Schließlich drückte er einfach den Ärmel von seinem Pullover dagegen. Das würde zumindest für einen Moment helfen, wenn er auch noch nicht wusste, wie er das ganze Blut wieder aus seiner Kleidung bekommen sollte. Er setzte sich langsam in Bewegung, worauf Schmerzen seinen Körper durchzogen. „Fuck“, murmelte er, „dieser Mistkerl.“


    Der Rückweg zu seiner Wohnung kam Ben wie eine halbe Ewigkeit vor. Vielleicht lag es daran, dass er immer noch versuchte einen Grund zu finden für Mikaels Benehmen. Aber er scheiterte gnadenlos. Mikael schien sich über die letzten Monate verloren zu haben. Die Geschehnisse hatten ihm den Glauben daran genommen, dass er auch als Polizist etwas ausrichten konnte. So musste es sein. Er war in die Rolle geschlüpft, die alle für ihn vorgeschrieben hatten und Ben hatte ihn nicht davor bewahrt. Er hatte nicht gemerkt, wie sich sein bester Freund immer weiter von ihm entfernt hatte.


    Ben öffnete die Haustür und stiefelte langsam die Treppen rauf. Nicht nur sein Gesicht schmerzte höllisch, Mikael schien ihm auch in der Rippengegend einiges mitgegeben zu haben. Verdammt, auf Grund der Körpergröße und Mikaels doch schmalen Körper, hatte er geglaubt mit Leichtigkeit gegen ihn anzukommen. Als er oben angekommen war, blickte er in ein bekanntes Gesicht. „Semir“, brachte er erstaunt raus, „was machst du denn hier?“ Sein Partner kam auf ihn zugehechtet. „Was ist passiert?“ Die Finger des Deutschtürken glitten an seine Nase. „Verdammt … nicht anfassen!“, stieß er aus und schlug den Arm seines Partners weg. „Was ist passiert, Ben?“, wiederholte Semir abermals. Schwerfällig nahm Ben die letzten Meter bis zu seiner Wohnung und steckte den Schlüssel in das Schloss. Er öffnete die Tür und hielt sie einige Zeit offen, so dass auch Semir hindurch schlüpfen konnte. Ben griff eilig nach einigen Taschentüchern und befeuchtete sie. Die Blutung hatte zwar inzwischen aufgehört, aber sein Gesicht war sicherlich voller Blut. Semir schneidend scharfe Stimme ertönte erneut. „Ben, wer war das?“ „Mikael“, antwortete er ihm schließlich, während er sich vor den Spiegel im Flur platzierte und an seinem Gesicht herumhantierte. Verdammt, er sah furchtbar aus. „Mikael?“ Semir stand nun hinter ihm und Ben konnte sehen, wie sich die Augen seines Partners vor Verwunderung weiteten. „Warum sollte er so etwas tun?“ Ben zuckte mit den Schultern. „Ich wollte nur wissen, warum er Georg Hansen ein falsches Alibi gibt, dann ist er auf mich los, dieser kleine Arsch“, stieß er wütend aus. „Mikael?“ „JA VERDAMMT!“, schrie Ben, doch dann wurde seine Stimme leise und brüchig. „Vielleicht habe ich auch zuerst zugeschlagen. Ich weiß es nicht mehr…“


    Er wusch sich das letzte Blut aus dem Gesicht und stöhnte auf. „Vermutlich hatte mein Vater die ganze Zeit über Recht. Vielleicht ist es nicht möglich mit einem Hansen befreundet zu sein.“ Er machte einige Schritte zum Kühlschrank. „Willst du auch ein Bier, Semir?“ Sein Partner nickte und so zog er zwei Bierflaschen hervor, die er öffnete und auf den Couchtisch stellte. Er ließ sich in sein Sofa fallen, während sich Semir gegenüber von ihm in einen Sessel setzte. „Hast du ihn so genannt … Hansen?“, wollte Semir nun wissen. „Vermutlich. Ich war stinksauer auf ihn.“ „Und Mikael? Was hat er gesagt?“ Nachdenklich nahm er einen Schluck aus der Bierflasche. „Um ehrlich zu sein, waren es ziemlich hässliche Dinge, die wir uns an den Kopf geworfen haben … er denkt, dass ich ihm immer misstraut habe, auch als er in der U-Haft saß.“ Ben fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Das schlimmste ist, ich habe keine Ahnung, ob er damit vielleicht Recht hatte.“ Semir lächelte. „Das ist Blödsinn Ben. Du warst immer auf seiner Seite. Du bist vielleicht kurz vom Weg abgekommen, aber du wusstest immer, dass Mikael unschuldig ist.“ Ben nickte und Semir fuhr fort: „Die Frage ist, bist du es jetzt auch?“ „Wie?“„Glaubst du Mikael steht noch auf unserer Seite?“ Er zog die Schultern nach oben. „Ich weiß es nicht. Ich…“„Du glaubst also wirklich, dass er vom Weg abgekommen ist“, führte der Deutschtürke seine Gedanken fort. Ben sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Du glaubst das also nicht?“ Semir lehnte sich in seinem Sessel zurück. „Damals, als du nach der Verletzung durch Tonteri im Krankenhaus warst“, begann er, „Mikael … ich habe ihn an einem Abend vor dem Spiegel gesehen. Er hat sich beschimpft, sich die Schuld gegeben, dass er dich nicht beschützen konnte und er hat sich Hansen genannt.“ „Siehst du!“, fuhr Ben dazwischen. Semir schüttelte seicht den Kopf. „Das ist es nicht, was ich sagen möchte, Ben. Er hat es mit einem solchen Hass getan, einer solchen Wut. Da fällt es mir schwer zu glauben, dass er sich so schnell verändert hat.“


    „Du denkst, dass er einen Alleingang gegen Georg Hansen macht?“, murmelte Ben. „Ich weiß es nicht, Ben … aber vielleicht solltest du ihn noch nicht verurteilen und an eurer Freundschaft zweifeln. Was Mikael zu dir gesagt hat. Er wollte dich nicht verlieren als Freund. Er hat dich um dein Vertrauen gebeten. Wieso sollte er es tun, wenn nicht deshalb?“ Ben ließ die Bierflasche vor seinen Augen kreisen. „Ich weiß es nicht … diese Sachen in den letzten Wochen. Dass er den Job hinwerfen will, dass ihm niemand vertraut … vielleicht ändert das die Menschen? Vielleicht habe ich es nur nicht gesehen, wie ich Mikael immer mehr an Georg Hansen verloren habe.“ Er seufzte. „Er hat diesen sehnlichen Wunsch herauszufinden, ob sein Vater ihn damals wirklich ermorden wollte oder ob er ihn womöglich schützen wollte. Was, wenn er herausgefunden hat, dass Andreas Hansen ihn anschoss, um ihn zu schützen … so dumm das klingt?“ Semir lächelte. „Wir werden das herausfinden“, beruhigte sein Partner ihn.

  • Mikael stand unter der Dusche und ließ das Wasser auf seinen Kopf prasseln. Seine Finger fuhren vorsichtig über das Hämatom an seiner Seite. Ben hatte ihn dort voll erwischt. Er sog die Luft zwischen den Zähnen ein, als sich ein stechender Schmerz den Weg durch seinen Körper bahnte. „Senkin idiootti!“, schimpfte er leise. Seine Hand suchte nach dem Temperaturregler und er stellte das Wasser auf kalt. Sein Kopf lehnte gegen die Duschwand und er ließ sich von dem kalten Wasser betäuben. Er wollte für einen Moment nichts denken, doch es misslang ihm. Er versuchte sich einzureden, dass ihr Zusammentreffen gestern Abend im Park auch etwas Gutes hatte, so würde Ben vielleicht endlich aufhören hinter ihm herzuschnüffeln. Aber das war Quatsch, er hatte seinen Freund verloren. Die Geschichte ihrer Väter hatte sich wiederholt und aus Freunden waren Feinde geworden. „Perkele“, fluchte er und schlug mit der Faust auf die nassen Fliesen, um seiner Wut über die Situation Luft zu machen. „Vittu tätä paskaa!“


    Seine Faust löste sich und er drückte die Hand noch einige Zeit gegen die Wand, ehe er das Wasser abdrehte und die Duschkabine öffnete. Er suchte nach einem Handtuch und schlang es sich um die Hüften. Mikael schaute in den Spiegel und betastete seinen Wangenknochen, der inzwischen geschwollen war und eine violette Färbung angenommen hatte. Seine Lippe war leicht aufgerissen, aber das war nicht wirklich der Rede wert. Er atmete ein letztes Mal tief durch. „Auf geht’s Mikael. Erobere das Herz von Georg Hansen“, sagte er zu seinem Spiegelbild und begab sich schließlich in Richtung seines Zimmers, um sich Klamotten überzuziehen. Sein Blick fiel für einen kurzen Moment auf sein Smartphone und er nahm das Gerät in die Hand. Die Anrufe und Nachrichten von Ben hatten nach der Prügelei aufgehört, nun herrschte zwischen ihnen nur noch Stille. Er seufzte und wählte die Nummer seiner Frau. „Ich habe dich vermisst“, beteuerte er und erfand eine Ausrede, weshalb er sich derzeit nicht regelmäßig meldete. Manchmal fragte er sich, ob sie wirklich so leichtgläubig war oder ob sie ihn die ganze Zeit durchschaute, aber nichts sagte. Sie erzählte von den Kindern, die ihr in letzter Zeit viel Mühe, aber auch viel Freude bereitet hatten. Er fragte nach dem neuen Hund. Sie hatten ihn gemeinsam im Tierheim ausgesucht, ehe er nach Deutschland geflogen war. „Er lebt sich gut ein und hat viel Energie. Sicherlich genau passend für deine langen Joggingtouren … Veikko nimmt ihn manchmal mit“, berichtete sie ihm. „Das ist schön zu hören.“ Es herrschte einen Moment Stille, ehe seine Frau erneut etwas sagte. „Weißt du schon, ob du weiterhin Polizist sein möchtest? Wann du zurück kommst? Ich vermisse dich.“ „Nein … ich bin mir noch nicht sicher. Ich habe den Urlaub bei Rautianen verlängert, aber mach dir keine Gedanken. Ben …“, er stockte. Konnte er ihr diese Lüge wirklich noch erzählen, nach dem was in der Nacht zwischen ihnen passiert war. „…er kümmert sich gut um mich. Ich hoffe, ich bin mir bald im Klaren…“ Sie redeten noch einige Minuten über belanglose Sachen, ehe er das Gespräch mit einer Ausrede beendete und sein Zimmer in Richtung des Speisesaals verließ.


    Georg Hansen sah von seiner Zeitung auf, als er durch die Tür kam. Sein kritischer Blick musterte ihn. „Was ist passiert? Die Verletzung in deinem Gesicht, wer war das?“, wollte er wissen. „Jäger“, antwortete er einsilbig und setzte sich auf seinen Platz. Die Teller gegenüber von ihm waren bereits weggeräumt. Anna und Hannes waren also bereits beim Frühstück gewesen. Sein Großvater nickte. „Du nennst ihn nicht mehr Ben“, stellte er fest. Er griff nach einem Brötchen, schnitt es auf und belegte es mit Käse. „Wir sind keine Freunde mehr. Das hat sich gestern Nacht erledigt.“ Mikael fixierte das Familienoberhaupt. Georg Hansen begann zu lächeln. Für ihn schien es eine frohe Botschaft zu sein. Endlich war er Ben Jäger los, der ihm die letzten Wochen so viel Ärger bereitet hatte. „Er wird sicherlich dennoch wieder hier auftauchen, die Leiche von Fischer … “, erinnerte er den alten Mann. Georg Hansen zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Darum mache ich mir keine Gedanken. Das wird sich sicher bald klären, immerhin habe ich ja ein Alibi, da können die nicht mehr viel wollen.“


    Es herrschte für einige Minuten Stille, ehe ihn sein Großvater erneut ansprach. „Wie sieht es aus mit heute Abend. Das Treffen mit meinen engsten Partnern. Wirst du dabei sein?“ „Wenn du mich dabei haben willst, gerne“, antwortete er. Georg zog zufrieden die Mundwinkel nach oben. „Ich lasse dir von Mia einen Anzug bringen. Ich denke, wir haben etwas Passendes da. So wie du aussiehst, kannst du unmöglich da erscheinen.“


    *


    Ben verschränkte die Arme hinter seinem Kopf und sah auf die Monitore vor ihnen. Susanne hatte ihnen alle Informationen, die es zu Olaf Fischer gab, zusammengesucht. Er schnaubte wütend. Es schien alles so, wie Georg Hansen es ihnen erzählt hatte. Fischer hatte in das gleiche Bauprojekt – ein Einkaufszentrum in der Innenstadt – investiert, ansonsten schien es zwischen den beiden keinen engeren Kontakt zu geben. „Der Knackpunkt ist Mikael“, äußerte Ben nach einer Weile, „und dieses bescheuerte, falsche Alibi!“ Semir sah kritisch auf. „Du verrennst dich da vielleicht in etwas. Ich denke nicht, dass Hansen der Mörder war“, gab er zu bedenken.


    „Jaja“, winkte der junge Kommissar ab, „dennoch, wir sollten Mikael überwachen!“ Er sah zu Semir rüber. Der Deutschtürke sah ihn ungläubig an. „Ist dir klar, was du da sagst?“, hakte er nach. „Natürlich ist mir das klar!“, schimpfte er. Semir seufzte. „Ben, hör mal, Mikael mag sich im Augenblick vielleicht komisch verha…“ „…komisch?! Er hat mich verprügelt, hängt bei Georg Hansen rum und verlangt von mir das ich für ihn lüge!“, fuhr der Braunhaarige dazwischen. „Ben wirklich, ich denke, dass du dich da in etwas reinsteigerst und wie du mir gestern erzählt hast, beruhte diese Prügelei auf Gegenseitigkeit“, versuchte Semir Ben zu beruhigen. Sein Partner schüttelte energisch den Kopf. „Er verheimlicht etwas und das sollten wir herausfinden!“ „Nein. Ich möchte nicht, dass wir Mikael beschatten. Ich sehe keine Notwendigkeit in dieser Maßnahme", wiederholte Semir abermals. „Er belügt uns."„ Er ist dein Freund, Ben“, äußerte der Deutschtürke besorgt. Ben funkelte ihn wütend an. „Nein! Mikael und ich, wir sind keine Freunde mehr, nicht nach dem was gestern Nacht passiert ist. Er legt keinen Wert auf meine Freundschaft, also werde ich es auch nicht.“„ Ben...“„ Nein! Ich möchte nichts mehr hören! Für mich ist Mikael Häkkinen gestorben." Semir fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „Ben...ihr seid doch schon so lange Freunde. Ihr habt so viel durchgem..."„ Ich sagte Nein", funkte sein junger Partner abermals dazwischen.


    „Gut, wie du möchtest, aber er wird trotzdem nicht beschattet. Dafür gibt es keinen Grund.“ „Das falsche Alibi... ist das kein Grund?“, schimpfte Ben leise. „Wir können nicht einmal zu hundert Prozent sagen, dass es falsch ist. Wir sollten uns darauf konzentrieren den Mörder von Fischer zu finden. Alles andere ergibt sich dann." Ben schnaufte wütend auf, stimmte seinem Partner schließlich aber dennoch zu. „Also welche Spuren haben wir, die nicht in Richtung Hansen führen?", fragte er und blätterte in der Akte, die vor ihm lag. „ Ich denke wir sollten uns in seiner Firma, Lindstein&Fischer, umhören“, schlug Semir vor. Der Deutschtürke griff nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. Er sah Ben gespannt an. „Kommst du, oder was?“ „Jaja … ich komm ja“, murrte der Braunhaarige leise und erhob sich ebenfalls.


    Auf dem Gelände der Firma herrschte reges Treiben und sie mussten aufpassen, dass sie, nachdem sie den Wagen geparkt hatten und sich zu Fuß auf die Suche nach Fischers Geschäftspartner machten, nicht von Gabelstaplern oder Transportern überfahren wurden. Fischer hatte eine gut laufende Spedition, die Waren überall in die Welt verschifft. Wie groß, das stellte sich erst jetzt heraus. Das Gelände war riesig und so hatte es fast 20 Minuten gedauert, bis sich die beiden zur Geschäftsführung durchgefragt hatten. Ein großgewachsener, schlanker Mann mit blonden Haaren trat auf sie zu, schüttelte ihnen die Hand und stellte sich als Knut Lindstein vor. „Furchtbar diese Sache mit Olaf. Wir waren alle erschüttert, als wir davon erfahren haben“, sagte er mit bedrückter Stimme. „Sie waren sein Partner?“, fragte Semir. Lindstein nickte. „Ja, wir haben das Unternehmen gemeinsam aufgebaut und zusammen geleitet.“ „Dann kennen sie ihn sicherlich gut, oder?“, hakte der Deutschtürke nach. „Ja, wir waren auch privat sehr gute Freunde, warum fragen Sie?“ Lindstein lächelte das ganze Gespräch über, dennoch konnte man dem Mann anmerken, dass ihm diese Situation mehr als unangenehm war. „Dann können Sie uns doch sicher sagen, ob er Feinde hatte. Jemand mit dem er Streit hatte.“ „Natürlich hatte er Feinde, aber auf die Art, wie jeder erfolgreiche Geschäftsmann sie hat. Olaf war ein beherrschender Mann.“ „Ist ihnen irgendetwas Besonderes aufgefallen? Wirkte Herr Fischer in letzter Zeit nervös oder dergleichen?“, kam es von Ben, der bisher das Gespräch stumm verfolgt hatte. „Nein“, antwortete er prompt, senkte dabei aber den Blickkontakt mit ihnen. Also wirkte er nervös. „Sicher?“, fragte nun wieder Semir. „Ja“, kam es genauso schnell. „Hören Sie Herr Lindstein, hier geht es um Mord. Wenn Sie etwas gesehen oder bemerkt haben, dass sich Herr Fischer komisch verhalten hat, dann müssen Sie uns das sagen“, versuchte der Deutschtürke es abermals. Der Mann schüttelte den Kopf. „Das habe ich nicht. Es tut mir Leid, ich muss jetzt auch weiter. Ich habe ein wichtiges Meeting.“


    Lindstein verabschiedete sich und die beiden Kommissare blickten ihm nachdenklich hinterher. „Irgendetwas stimmt nicht, der verheimlicht uns etwas“, murrte Ben leise. „Das denke ich auch“, stimmte ihm Semir zu, während er sich wegdrehte und in Richtung Auto lief. „Wir werden die Firma genauer unter die Lupe nehmen, ich werde Susanne darum bitten.“ Ben folgte ihm mit eiligen Schritten. „Vielleicht war er ja nervös, weil er mit Hansen Geschäfte mac…“, setzte er an, wurde jedoch zugleich unterbrochen. „…Ben! Können wir bitte für ein paar Stunden Georg Hansen vergessen? Der Mann hat nur in das gleiche Projekt investiert. Ich sehe da keinen Zusammenhang!“ Er stöhnte auf. „Gut, dann lass uns Mikael trotzdem überwachen. Es muss doch einen Grund geben, warum er seinem Großvater dieses Alibi gegeben hat. Wir sollten rausfinden welchen!“ Semir blieb stehen und sah ihn eindringlich an. „Auch wenn ich mich jetzt zum hundertsten Mal wiederhole. Wir werden Mikael nicht überwachen lassen! Wir haben keinen Beweis dafür, dass das Alibi von Hansen falsch ist … ein Gefühl ist nicht wissen. Vielleicht dachten wir das nur, weil es komisch war ihn dort zu sehen.“ „Du beschützt ihn“, schimpfte Ben, „obwohl es offensichtlich ist, dass da etwas faul ist!“ Der Deutschtürke antwortete nicht auf Bens Fragen und setzte sich in seinen Dienstwagen. „Kommst du dann jetzt, Ben? Ich will darüber nicht noch einmal diskutieren!“ Fluchend ließ sich Ben ebenfalls im Auto nieder. „Gut, dann werde ich halt zur Krüger gehen. Dann werden wir ja sehen, für wie dringlich sie eine Überwachung hält!“ Semir sah ihn entrüstet an. „Ist das dein voller Ernst?“ „Natürlich! Du willst ja offensichtlich nicht wissen, was er verheimlicht!“ „Ben…“, setzte Semir an. „Nichts Ben. Ich werde nicht zusehen, wie er sich in die Position von Hansens Nachfolge arbeitet!“ Der Deutschtürke lachte leise auf. „Wirklich? Hansens Nachfolger, du hast eine große Fantasie!“

  • Mikael strich mit geschlossenen Augen über die Tasten und atmete die kalte Winterluft ein, die durch das geöffnete Fenster hereintrat. Es war alles glatt gelaufen und er war über sich selbst erstaunt, wie gut er sich mitten unter den anzugtragenden Männern benommen hatte. Georg hatte ihm bestätigt, wie zufrieden er mit ihm gewesen war. Noch zufriedener war sein Großvater, als er sich den Männern mit Michael vorgestellt hatte. Michael, wie seltsam es geklungen hatte, diesen Namen aus seinem eigenen Mund zu hören. Er hatte ihn sicherlich mehr als zwölf Jahre nicht benutzt. „Ich kann nicht glauben, dass du seit Jahren nicht gespielt hast“, ertönte die Stimme von Georg. Du spielst das Stück von Chopin ohne Fehler.“ Der Grauhaarige kam näher und stand nun genau neben ihm, betrachte, wie seine Finger über die Tasten glitten. „Und das alles ohne die Noten zu verwenden.“ „Ich habe sie im Kopf abgespeichert, wenn man sich das Notenblatt nach einem mathematischen System merkt ist es nicht besonders schwierig“, murmelte er leise ohne zu seinem Großvater aufzusehen.


    „Michael. Du musst etwas für mich erledigen.“ Er stoppte sein Spiel und drehte sich zu Georg um. „Wofür brauchst du mich?“ „Es geht um Hannes.“ Mikael lächelte. „Ich sagte doch, dass ich mit ihm lernen werde.“ Der Blick seines Großvaters wurde ernst. Er hielt ihm einen Brief entgegen. „Anna hat das heute in seinem Zimmer gefunden", sagte er. Mikael nahm den Brief entgegen und überflog den Inhalt. Das war eine Mitteilung von der Schule. Hannes war versetzungsgefährdet. „Ich möchte, dass du dorthin fährst und diesen Lehrer umstimmst.“ „Vielleicht ist es ja nicht schlecht, wenn Hannes noch einmal den Stoff durchgeht und die Klasse noch einmal wiederholt“, gab er zu bedenken. „Noch nie hat ein Hansen eine Klasse wiederholen müssen. Sorge dafür, dass es nicht passieren wird. Heute noch!“ Georg Hansens Stimme war laut und bestimmend, ließ keine andere Meinung zu. Er schloss den Deckel von seinem Klavier und nickte. „Natürlich Georg, ich kümmere mich darum. Jetzt gleich.“


    Der Schulhof füllte sich zunehmend mit dick eingepackten Jugendlichen im Alter von 11 bis 18 Jahren. Mikael wirkte sicherlich mit seinem Kapuzenpulli eher grotesk. Anderseits sah er auch einige Mädchen, die den winterlichen Temperaturen trotzten und kurze Röcke trugen, nur um den Jungen zu gefallen. Er machte Hannes mit einer kleinen Gruppe aus, die sich um eine Bank versammelt hatten. Als der Junge ihn sah, kam er mit gesenktem Kopf auf ihn zu. „Mama hat das herausgefunden oder? Sie hat den Brief von der Schule in meinem Zimmer gesehen?“, murmelte er verlegen und steckte die Hände in seine Taschen. „Sie hat ihn Georg gezeigt“, bestätigte er. Hannes sah auf und er meinte so etwas wie Angst in den Augen des Jungen zu erkennen. „Er war sicherlich wütend … er hat dich geschickt um mit dem Lehrer zu reden?“ Die Betonung der Worte Lehrer und zu reden zeigte deutlich, dass Hannes wusste, das sein Großvater nicht redete, nicht wie normale Leute es tun, wenn ihre Kinder in der Schule nicht klarkamen. Er nickte. „Der Herr Rotenheim ist kein schlechter Lehrer … es ist meine Schuld. Ich bin einfach dumm!“, brach es nun aus dem braunhaarigen Jugendlichen heraus. „Georg versteht nicht, dass ich einfach nicht so schlau bin wie du. Ich bin dämlich und …“ „…du bist nicht dumm!“, unterbrach er ihn, „ich denke nicht, dass du dumm bist.“ Hannes hob den Kopf. „Du denkst das nicht?“ Mikael lächelte. „Sollte ich das? Ich wüsste nicht warum.“ Hannes lachte leise auf. „Dann hast du wohl keinen genauen Blick auf den Brief geworfen.“ Er zog das Stück Papier aus der Tasche seines Pullovers und faltete es auf, tat vor dem Jungen so, als würde er ihn noch einmal genauesten lesen, obwohl er längst jedes Wort in seinem Kopf gespeichert hatte. „Doch, aber was sagen Schulnoten schon über die Intelligenz eines Menschen aus.“ „Sagt der Typ der mehrere Klassen übersprungen hat“, murrte Hannes leise. „Man sollte sich nicht mit anderen vergleichen“, konterte er. „Georg macht es immer. Er will, dass ich so wie du bin oder dein Vater, aber das werde ich nie sein.“ Er lachte. „Das ist sicherlich auch besser so. Ich bin nicht wirklich das perfekte Vorbild, dafür mache ich zu viele Fehler.“ Er sah auf das Schulgebäude und atmete tief durch. „Es tut mir leid. Georg will, dass ich das hier übernehme. Du weißt, dass er ein Nein nicht zulassen wird“, sagte er schließlich und entfernte sich von Hannes.


    Es hatte nicht lange gebraucht und er hatte Lars Rotenheim ausgemacht. Er hatte sich im Internet über den Mann informiert, wenn auch außer einem Foto und grundlegenden Sachen nicht viel zu finden war. Der Lehrer stand in einer Gruppe mit einigen anderen Lehrern und schien sich angeregt zu unterhalten. Er räusperte sich, um auf sich aufmerksam zu machen. Die Personen blickten ihn an. „Entschuldigung, ich bin wegen Hannes Hansen hier. Herr Rotenheim, hätten Sie einige Minuten für mich?“ Der Mann nickte und führte ihn in Richtung eines kleinen Büros. Als er die Türe geschlossen hatte, bat er ihn, sich zu setzen. „Sie sind also wegen Hannes hier?“, fragte er, „seinen Vater habe ich noch nie hier gesehen.“ Er lächelte. „Ich bin nicht sein Vater … dann hätte ich doch schon sehr früh anfangen müssen. Georg Hansen schickt mich.“ Sein Gegenüber schluckte. „Er bittet mich, Ihnen zu raten die Empfehlung Hannes nicht zu versetzen noch einmal zu überdenken“, fuhr er fort. Der Lehrer sah unsicher nach unten, knetete seine Finger. „Das kann ich nicht. Die Schulnoten von Hannes sind besorgniserregend.“ Mikael lehnte sich etwas vor. „Dann ändern Sie etwas daran. Sie sind in zwei Fächern sein Lehrer oder etwa nicht?“ „Ich kann doch nicht…“, meinte der Mann mit stockender Stimme. „Es ist besser, wenn sie es könnten. Sie wollen doch nicht, dass ihre Frau von dem Verhältnis mit der netten Kunstlehrerin erfährt“, sagte er nun und lächelte. „Wie-wie kommen Sie darauf?“ „Ich habe die Blicke gesehen, die Sie ihr zugeworfen haben, als sie vorhin mit ihr dort standen. Hübsches Ding und so jung … weiß der Direktor der Schule davon?“ „Nein“, sagte er und sein Lächeln wurde wehmütig, gezwungen. „Ich würde es-es auch gerne dabei belassen…diese Sache, niemand darf davon erfahren“, murmelte Rotenheim und richtete den Blick auf die Füße. Mikael lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Dann sorgen Sie dafür, dass Hannes versetzt wird, ansonsten werde ich dafür sorgen, dass ihre Frau und der Schuldirektor von ihrer kleinen Affäre etwas erfahren und auch dass das Fräulein ein Kind von Ihnen erwartet.“ „Mo-moment woher wissen Sie davon … sie-sie hat es noch niemanden gesagt“, stammelte sein Gegenüber. „Dann sollte sie aufhören sich so auffällig den Bauch zu streicheln.“ Rotenheim nickte. „Ich werde dafür sorgen, dass Hannes … dass seine Noten besser werden und er versetzt wird.“ Mikael stand auf und gab dem Mann die Hand. „Ich werde Hannes heute Nachmittag mitnehmen. Ich zähle darauf, dass Sie ihm keine Fehlstunden aufschreiben.“ „Natürlich…kein Problem“, kam es kleinlaut von dem Lehrer und er verließ den Raum.


    „Hannes, komm!“, rief er zu dem Jungen, während er über den Schulhof in Richtung des Tores lief. Der Jugendliche hechtete hinter ihm her. „Ich … wenn ich noch einmal unentschuldigt fehle, dann war es das“, meinte er unsicher. Er lief weiter, ohne sich nach Hannes umzusehen. „Du fehlst nicht unentschuldigt. Ich habe das abgeklärt.“ „Du hast ihm doch keine reingehauen oder?“ Mikael drehte sich um und lachte. „Wie kommst du darauf? Sehe ich aus wie ein Schläger?“ Der Braunhaarige musterte ihn kritisch und seine Pupillen blieben auf der Verletzung in seinem Gesicht hängen. „Eigentlich … schon“, sagte er schließlich. „Das war ein Streit unter Freunden“, antwortete Mikael ihm, korrigierte sich gleich darauf allerdings selbst: „ehemaligen Freunden.“


    Er vergrub die Hände in den Taschen und ging weiter. „Ich dachte wir könnten den Nachmittag etwas machen, ohne dass deine Mutter oder Georg davon wissen.“ Hannes nickte und trottete schweigend hinter ihm her. „Auf was hast du Lust?“ Der Junge zog die Schultern hoch. „Weiß nicht … ist mir egal.“


    Am Ende landeten sie am Rodenkirchener Strand und blickten auf den Rhein. „Bist du wiedergekommen, um Urgroßvaters Geschäfte zu übernehmen“, hörte er nach einer Weile den Jungen neben sich fragen. „Wie viel weißt du über die Geschäfte?“, stellte er die Gegenfrage. Hannes seufzte. „Ich weiß einiges. Ich will sicher nicht wie er werden … aber Mama, sie sagt, dass es meine Pflicht ist … dass ich es für ihn tun muss, weil er sich immer um uns gekümmert hat“, murmelte der Junge unsicher. Mikael fühlte sich, als würde er mit seinem jüngeren Ich reden. „Niemand kann dich zwingen, diesen Weg zu gehen, den Georg für dich vorsieht. Man hat immer eine Wahl“, gab er Hannes zu verstehen. „Und doch bist du wieder in Deutschland. Mama hat erzählt, dass du die Familie im Stich gelassen hast und Polizist geworden bist. Was ist passiert, dass du wieder hier bist?“


    Mikael setzte sich auf eine Bank. „Ich war im Gefängnis … jemand hatte mir einen Mord angehängt. Viele meiner Kollegen haben mir nicht geglaubt, sie haben mir einen Mord zugetraut“, berichtete er dem Jungen, der sich neben ihm niedergelassen hatte. Hannes stützte die Ellenbogen auf die Knie und bettete den Kopf darauf. „Warum haben sie dir einen Mord zugetraut?“ „Wegen meinem Vater. Sie dachten, wenn er kriminell ist, wäre ich es auch…“ Hannes nickte. „Warum bist du damals zur Polizei gegangen?“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Den Grund kenne ich selbst nicht mehr“, antwortete er schließlich flapsig. In Wirklichkeit wusste er es natürlich noch. Es war die Hoffnung auf der Seite der Guten das Böse zu bekämpfen. Inzwischen wusste er es besser. Die Grenzen zwischen Gut und Böse verschwammen und nur weil man sich Polizist nannte, gehörte man nicht automatisch zu den Guten.


    Die nächsten Stunden lauschte er, wie Hannes von seiner Mutter und seinem Urgroßvater erzählte. Seinen Vater erwähnte der Jugendliche indes nie. Mikael wusste allerdings aus seinen Recherchen der letzten Woche, dass er wegen Drogengeschäften im Gefängnis saß. Sein Blick fiel immer wieder auf eine Bank, nur unweit von ihrer. Ein Mann saß darauf und beobachtete sie. Er hatte den gleichen Typen innerhalb der letzten Stunden schon einige Male in ihrer Nähe gesehen. Irgendjemand beschattete ihn und verfolgte jeden Schritt, den er machte.


    „Hörst du mir überhaupt noch zu?“, holte ihn Hannes wieder zurück ins Hier und Jetzt. „Ja, natürlich“, sagte er schnell und lenkte seinen Blick wieder auf den Jungen. „Sicher, ich habe dich schon zwei Mal etwas gefragt, aber du antwortest nicht.“ „Du hast Recht. Es tut mir Leid, ich war in Gedanken“, beichtete er nun, „was wolltest du wissen?“ „Ob das wahr ist mit deinem Vater? Ich habe Mama und Georg darüber reden gehört. Hat er wirklich auf dich geschossen?“ Er schluckte. Warum nur stellten immer alle diese eine Frage? „Ja, er hat auf mich geschossen“, bestätigte er Hannes. Der Junge nickte schüchtern. „Ich hasse Waffen“, murmelte Hannes leise. „Ich habe fürchterliche Angst, wenn ich sie in der Hand halte.“ Mikael lächelte. Diese Worte kamen ihm mehr als bekannt vor. Veikko benutzte sie oft. Sein Kollege hatte einmal auf dem Einsatz jemanden erschossen und kam darüber bis heute nicht hinweg. „Georg hat es dir beigebracht, das Schießen?“ „Ja, aber er ist nicht besonders begeistert von mir. Er schreit immer fürchterlich, wenn ich nicht treffe“, er blieb einige Zeit leise, „und ich treffe eigentlich fast nie.“ Mikael legt seine Hand auf die Schulter von Hannes. „Ich finde das nicht schlimm. Eine Waffe ist kein Spielzeug und wenn man sie nicht einsetzen möchte, dann ist das okay.“ „Georg sieht das sicherlich nicht so“, nuschelte der Junge leise. „Du kannst selbst entscheiden. Lass dir nicht von Georg das Leben vorbestimmen.“ Hannes stand auf. „Das sagst du so leicht!“, schimpfte er nun, „Was soll ich denn tun? Er wird nicht zulassen, dass ich selbst entscheide!“ Mikael wusste, dass der Junge Recht hatte. Er wusste, dass man sich nicht mit Georg Hansen anlegte. Vermutlich war es nur seinem Vater zu verdanken, dass er ihn niemals wirklich verprügelt hatte. Er erinnerte sich daran, wie er mit dem Fahrrad den Oldtimer seines Großvaters beschädigt hatte. Georg war außer sich vor Wut gewesen und hatte ihm eine solch starke Backpfeife gegeben, dass er auf dem Boden gefallen war. Er hatte erneut zuschlagen wollen, doch dann war sein Vater dazwischen gegangen. „Du wirst meinen Sohn nicht noch einmal schlagen Vater. Du weißt, dass ich dir inzwischen überlegen bin. Lass deine Finger von ihm“, hörte er die drohende Stimme seines Vaters in seiner Erinnerung.


    Er seufzte. Es war die Zeit gewesen, in der sein Vater ihn noch schützte, ein paar Jahre später würde er auf ihn schießen. „Lass uns nach Hause gehen, Hannes.“ Mikael steckte die Hände in seine Taschen und ging in Richtung des Autos, ohne darauf zu warten, ob der Junge ihm folgen würde oder nicht.

  • Ben saß an seinem Schreibtisch und grübelte über den Akten zum Mordfall ‚Olaf Fischer‘. Es waren nun schon fünf Tage vergangen und sie hatten immer noch nicht herausgefunden, wer ein Motiv hatte. Alle Leute, die sie befragt hatten, beteuerten immer wieder, dass Olaf Fischer keine Feinde hatte. Er hatte bei der Krüger tatsächlich durchsetzen können, dass jemand Mikael überwachte, aber nachdem er sich überhaupt nicht verdächtig benommen hatte, wurde die Aktion wieder abgeblasen. Sein Blick blieb auf der Uhr hängen. Es war bereits 22 Uhr und Semir war schon lange zu Hause. Vielleicht sollte er auch endlich ins Bett gehen? Aber was würde das helfen? Seit Mikael sich so komisch verhielt, fand er keinen Schlaf. Immer und immer wieder grübelte er darüber nach, was er übersehen hatte und ob er es hätte ändern können, dass Mikael vom Weg abkam.


    Er griff wie in Trance nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. Sein Weg führte allerdings nicht nach Hause, sondern zur Villa von Georg Hansen. Anders als die Male zuvor stellte er sein Auto heute etwas weiter weg ab und begab sich zu Fuß in Richtung der Villa. Er sah auf das weiße Gebäude vor sich und wartete darauf, dass sich endlich etwas tun würde. Irgendwann öffnete sich die Tür und ein Mann trat heraus. Seine Augen weiteten sich. Das war Knut Lindstein! Er verfolgte, wie Lindstein in ein Auto stieg und davon fuhr. Erst als er sich sicher war, dass der Mann ihn nicht mehr sehen konnte, bewegte er sich mit leisen und wachsamen Schritten in Richtung der Villa. Neugierig blickte er durch eins der Fenster im Untergeschoss in das Wohnzimmer. Georg Hansen saß auf einem großen Ohrensessel und lauschte klassischer Musik, die sogar bis nach draußen drang. „Mikael ist nicht bei ihm“, murmelte er enttäuscht zu sich selbst. „Weil er hinter dir steht“, ertönte eine Stimme. Ben fuhr erschrocken herum und sah in die eisblauen Augen des Finnen. „Was machst du da?“, fragte Mikael und verschränkte die Arme vor der Brust, „das ist privates Gelände, ich könnte die Polizei rufen.“ „Ich bin die Polizei“, konterte er mit giftigem Unterton. „Die Moralpolizei, ich weiß.“ Mikael lächelte ihn schief an. „Du solltest gehen und vergessen, was du gesehen hast“, fügte er nach einer Weile an. „Wie kommst du darauf, dass ich etwas gesehen habe?“ Mikael zog skeptisch die Augenbrauen hoch. „Ich kann dich nicht schützen, wenn du dich immer wieder hierher begibst.“ Ben lachte auf. „Mich beschützen? Du bist ja echt witzig! Ich bin alt genug, um auf mich selbst aufzupassen!“ „Offensichtlich nicht, sonst hätte ich dich hier nicht erwischt. Georg hat dich nicht gesehen, also solltest du einfach gehen und jetzt kein Fass aufmachen!“ „Warum diskutiere ich das überhaupt mit dir!“, fauchte Ben, „wir sind keine Freunde mehr!“ Wütend stampfte er davon. „Dummes Arschloch. Meint sich wichtig machen zu können!“ „Du weißt, dass ich dich höre?!“, schrie Mikael ihm zu. „Das weiß ich! Ich bin nicht ganz dämlich, auch wenn du das manchmal denkst“, schimpfte er und stieg in sein Auto.


    Mikael sah Ben noch eine Weile hinterher, ehe er wieder in das Haus trat. „Wo warst du?“, wollte Georg sofort von ihm wissen, als er in das Wohnzimmer trat. „Frische Luft schnappen. Muss ich mich dafür abmelden?“ Sein Großvater lächelte. „Nein, natürlich nicht.“ Er setzte sich auf eines der Sofas und lauschte für einige Zeit der Musik. Es war Stück von Mozart. „Danke übrigens für dein Vertrauen bei der Sache mit Lindstein“, sagte Mikael nach einer Weile. „Du hast dich in den letzten Tagen bewiesen. Es wird Zeit, dass du etwas über die Geschäfte erfährst und wie man sie führt“, Georg lachte leise auf, „ich werde schließlich auch nicht für immer leben.“ Hansen erhob sich. „Wie wäre es mit einer kleinen Schießübung. Ich bin ein alter Mann und sicherlich nicht mehr für einen gezielten Schuss zu gebrauchen, aber ich bin gespannt, wie du dich in den letzten Jahren ohne die Anleitung eines Hansen gemacht hast, Michael.“ Sein Großvater hatte sich bereits aus dem Raum begeben. Er ging also fest davon aus, dass er keine Widerrede leisten würde. Er stiefelte hinter ihm her in Richtung Keller. Sie traten in einen schalldichten Raum und Georg Hansen öffnete einige Schränke an der Seite und reichte ihm eine Walther P99. „Ich nehme an, du brauchst keine Einführung, wie du die Waffe verwenden musst.“ Mikaels Mundwinkel zogen sich nach oben. „Worauf soll ich schießen?“ Georg zeigte auf eine weiße Zielscheibe mit einem kleinen Punkt in der Mitte. „Aber wir wollen es dir natürlich nicht zu leicht machen … dreh dich vorher einige Male um die eigene Achse.“ Er nickte, zog das Magazin aus der Waffe und überprüfte, ob es voll war. Dann stieß er es wieder in die Pistole, lud sie mit einer energischen Handbewegung durch und drehte sich vier Mal um die eigene Achse. Er hielt den Atem an und nahm das kleine Ziel ins Visier. Der Schuss peitschte durch den Kellerraum und landete genau da, wo er ihn haben wollte. Georg klatschte anerkennenden Beifall. „Respekt, du bist sogar besser als dein Vater würde ich behaupten“, stellte er fest. „Das war nicht besonders schwer“, antwortete er ihm mit einem Lachen und sicherte die Waffe wieder.


    Georg Hansen nickte zufrieden. „Gut, ich habe da etwas, was du für mich erledigen musst.“ Mikael steckte die Waffe in seinen Hosenbund. „Die Lieferung von Lindstein nehme ich an?“, fragte er ins Blaue. „Ja genau. Kümmere dich darum, dass alles glatt geht. Und wenn die Bullen da aufkreuzen, werde sie los. Egal wie!“ Er nickte, um zu zeigen, dass er verstanden hatte. „Wann kommt die Lieferung?“ „Morgen um 23 Uhr.“


    *


    „Ich glaub es ja nicht. Dieser kleine arrogante Finnenarsch“, murmelte Ben laut vor sich hin, während er die Treppe zu seiner Wohnung hochstiefelte. „Moralpolizei … pah! Ich geb‘ dem bald Moralpolizei!“ Er steckte den Schlüssel in seine Wohnungstür und drückte sie mit einem starken Ruck auf. Er ließ sich auf das Sofa fallen und blickte an die Decke. Was war nur passiert? Wann hatten er und Mikael sich voneinander entfernt? Er musste herausfinden, was er plante. Was Georg Hansen plante. Unweigerlich dachte er an die Worte, die Mikael vor knapp einer Woche zu ihm gesagt hatte. Er sollte ihm vertrauen, egal wie schwer es sein würde. Ben hatte es versucht, aber er musste sich eingestehen, dass er seinem ehemals besten Freund in keiner Minute seit ihrem Zusammentreffen vor Hansens Haus vertraut hatte.


    Ben schreckte hoch, als sein Handy klingelte. Er tastete auf dem Couchtisch nach dem Gerät. Erstaunt sah er auf den Namen des Anrufers. „Eva, was ist?“, meldete er sich. „Es tut mir furchtbar Leid, dass ich mich so spät melde, aber ich … es geht um Mikael. Ich mache mir Sorgen um ihn. Geht es ihm gut?“ Ben verdrehte die Augen. Er könnte lügen oder ihr die Wahrheit sagen. Was kümmerte es ihn noch, ob Mikael Stress mit seiner Frau bekam? „Ben?“, ertönte Evas Stimme erneut. Er seufzte. „Warum fragst du? Meldet er sich nicht regelmäßig bei dir?“ Noch ehe seine Frage beendet war, ärgerte er sich bereits über seinen beißenden Ton. Eva hatte nichts damit zu tun. Sie war nett, aufopfernd. „Er ist komisch … er meldet sich oft Tage überhaupt nicht und dann erfindet er Ausreden. Er glaubt, ich merke das nicht … Antti ist das auch schon aufgefallen.“ Ben seufzte. „Du musst ihn das schon selbst fragen, Eva. Ich würde dir gerne helfen, aber ich verstehe Mikael im Augenblick selbst nicht.“ Die Anruferin blieb lange still, ehe sie erneut die Stimme erhob. „Denkst du … denkst du, dass er mich noch liebt? Oder interessieren wir ihn nicht mehr?“, fragte sie nun unsicher. „Das ist die einzige Sache, wo ich mir bei Mikael sicher bin. Er liebt dich mehr als alles andere und würde für dich alles tun.“ Er vernahm ein leises Ja. „Ist er bei dir? Meinst du ich kann ihn sprechen? Oder will er mit niemanden reden?“ Ben überlegte für einen Moment, was er tun sollte. Er könnte ihr die Wahrheit sagen. Er könnte ihr erzählen, dass Mikael und er getrennte Wege gingen. Ihr berichten, was in den letzten Tagen vorgefallen war. Letztendlich entschied er sich aber dennoch für eine Lüge: „Er ist noch ziemlich durch den Wind wegen der Sache mit Tonteri. Er ist joggen, um den Kopf freizubekommen. Soll ich ihm sagen, dass du angerufen hast.“ „Nein, aber danke Ben. Danke, dass du für ihn da bist. Sorg dafür, dass er bald zurückkommt.“ Ihre Stimme klang wie immer liebevoll und sorgte dafür, dass ihre Worte in Ben Gewissensbisse hinterließen. Er wünschte plötzlich, dass er Mikael in den letzten Tagen nicht all diese Worte an den Kopf geworfen hatte. Was, wenn er ihn damit noch mehr in die Arme von Georg Hansen getrieben hatte? Was sollte er tun, wenn es am Ende sein Misstrauen war, welches Mikael vom rechten Pfad abbrachte. Er bekam kaum noch mit, wie sich Eva von ihm verabschiedete und auflegte, zu vertieft war er in seine eigenen Gedanken. Er wusste nicht, wie lange er noch so da saß – mit dem Smartphone am Ohr. Irgendwann legte er das Gerät wieder auf den Tisch. Er stand auf und holte eine kleine Kiste aus dem obersten Regal über seinem Fernseher. Schwermütig setzte er sich wieder auf das Sofa, stellte die Kiste auf dem Tisch ab und hob vorsichtig den Deckel an. Er legte ihn direkt neben die Kiste. Seine Hand griff nach einigen Fotos, die ihn und Mikael als Kinder zeigten. Ben erinnerte sich daran, wie er Mikael gehasst hatte. Er war für ihn viele Monate nur ein kleiner Streber gewesen, doch dann hatte er sich auf dem Weg nach Hause schützend vor Julia gestellt, als sie einige ältere Jungs verprügeln wollten. Vermutlich war das der Moment gewesen, an dem Ben erkannte, dass sie sich im Grunde doch ähnlicher waren, als es auf den ersten Blick schien. Er blätterte die Bilder durch. Eines zeigte sie im Alter von 14 bzw. 15 Jahren mit einem Mädchen. Ihr Name war Amanda und Mikael war fürchterlich in sie verschossen gewesen. Was Amanda wohl heute machte? Er hatte sie nach der zehnten Klasse nicht wieder gesehen. Mit jedem Foto wurde der Kloß in Bens Hals dicker. Er wollte nichts mehr, als seinen alten Freund zurück. Diese Distanz, die sich zwischen ihnen entwickelte, war kaum noch zum Aushalten. So distanziert waren sie nicht einmal gewesen, als Mikael vor ein paar Jahren urplötzlich bei ihm auftauchte, nachdem er ihn all die Jahre für tot gehalten hatte.


    „Was machst du nur?“, murmelte er leise und ließ die Bilder wieder in die Kiste fallen und schloss den Deckel. Er musste jedoch feststellen, dass diese Maßnahme nicht im Geringsten die aufkommenden Schuldgefühle eindämmen konnte. Er musste unbedingt herausfinden, was Mikael vorhatte und was er bei Georg Hansen suchte. Ob er ihn dort sehen wollte oder nicht.

  • Er zog die Kapuze seines Pullovers über die Haare, obwohl er wusste, dass der Baumwollstoff wohl wenig gegen den starken Regen nutzen würde. Er war alleine, keine Menschenseele weit und breit. Er stand vor einem Grab, dem Grab eines Freundes. „Was machst du hier?“, fragte eine bekannte Stimme und er brauchte sich nicht umzusehen, um zu wissen, wer nun hinter ihm stand. Er seufzte. „Ich weiß es nicht, Ben.“ Eine Hand legte sich auf seine Schulter. „Du solltest nach Hause kommen, du stehst schon Stunden hier.“


    Er atmete tief durch und wandte sich um. Seine blauen Augen trafen ein braunes Augenpaar. „Ich habe viele Fehler gemacht Ben und ich werde weitere machen.“ Sein Gegenüber sah in fragend an. „Wie meinst du das nun wieder?“ Er zückte eine Waffe und zielte. „Es tut mir leid, Ben.“


    „Nein!" Mikael schreckte aus seinem Traum hoch. Er saß aufrecht im Bett, und sein Herz hämmerte in seiner Brust. Kalter Schweiß klebte an seinem Körper und er zitterte. „Es war nur ein Albtraum“, murmelte er, „nichts weiter als ein Albtraum.“ Er hob die Beine aus dem Bett und begab sich mit zittrigen Beinen zum Fenster, um es weit zu öffnen und die kalte Winterluft einzuatmen. Seine Hände umklammerten das Fensterbrett und er atmete einige Male ein und aus, ehe sich sein Körper langsam wieder beruhigte. Das alles war so real gewesen. Er hatte seine Waffe auf Ben gerichtet. Er schüttelte den Kopf, um die Bilder loszuwerden. „Nein, du würdest ihm nie etwas tun“, beruhigte er sich selbst. Seine Hand griff nach seinem Smartphone, was er am Tag zuvor auf die Fensterbank gelegt hatte. Es war 6 Uhr am Morgen, also würde er ohnehin keinen Schlaf mehr finden. Er tippte eine SMS, schlüpfte in eine graue Jogginghose und zog sich einen Pullover über. So leise wie möglich begab er sich in Richtung Haustür und begann seine morgendliche Joggingroute. Er konzentrierte sich nur auf seine Atmung und langsam begann der Traum aus seinem Kopf zu verschwinden. Nach etwa 30 Minuten schlug er den Weg in den Park ein und setzte sich auf eine der Bänke. Es vergingen weitere fünf Minuten, bis sich jemand neben ihn setzte. „Ein schöner Morgen, nicht wahr?“, kam es von einer Frauenstimme. Er nickte leicht und steckte die Hände in die Taschen. „Sie scheinen nicht zu frieren, Herr Häkkinen“, fuhr sie nach einer Weile fort. „Nun die Winter in Deutschland sind nicht besonders kalt.“ Die Dame neben ihm lachte leise. „Georg Hansen hat Ihnen ein wichtiges Geschäft anvertraut oder was ist der Grund für dieses Treffen?“ „Heute um 23 Uhr kommt eine Lieferung. Wie soll ich verfahren?“, fragte er. „Sie werden ruhig bleiben und die Lieferung entgegennehmen.“ Er nickte. „Ich hoffe Sie halten sich an ihren Teil des Deals. Ich möchte, dass Sie meinen Freund beschützen, wenn irgendwer aus Hansens Umfeld ihm etwas antun möchte …“ Er sah zum ersten Mal während des Gesprächs zu ihr rüber. Sie lächelte. Ein unheilvolles, überhebliches Lächeln. Er hasste diese Frau jetzt schon. „Und wenn Sie es sein werden?“ „Wie?“, hakte er nach, obwohl er die Frage ganz genau verstanden hatte. „Wenn ihr Großvater verlangt, dass sie ihrem Freund etwas antun?“ Er zog die Augenbrauen hoch und sah sie skeptisch an. „Dann werde ich meinen Einsatz beenden. Dann scheiße ich auf die Kooperation der SUPO mit dem Drogendezernat.“ Sie lächelte, doch er wusste, dass es nur aufgesetzt war. Sie gehörte zu den Polizisten, die sich nur um ihre eigene Karriereleiter kümmerten. Beziehungen und Gefühle gehörten für so jemanden nicht in den Dienst. „Gut, Herr Häkkinen. Erstatten Sie mir bitte in ein paar Tagen erneut einen Bericht.“ Er nickte, stand auf und joggte im langsamen Tempo zurück in Richtung der Villa von seinem Großvater.


    *


    Ben sah ungeduldig auf die Uhr. Es war kurz vor 18 Uhr. Er musste nur noch ein paar Minuten überstehen, dann war endlich Dienstschluss. Er hatte sich vorgenommen das Haus von Hansen weiter zu überwachen. Er musste einfach herausbekommen, was das sollte und was Mikael plante. Als der Zeiger endlich an der gewünschten Stelle angekommen war, griff er hastig nach seiner Jacke und verschwand unter einem dummen Kommentar von Semir aus dem Büro in Richtung Auto.


    Es hatte nicht lange gedauert und er hatte das Auto etwas entfernt von Hansens Anwesen abgestellt. Er wollte dieses Mal nicht auffallen. Mikael sollte nicht wissen, dass er ihn immer noch beobachtete. Je länger diese leidige Observation dauerte, ohne dass auch nur das Geringste geschah, desto müder wurde Ben. Er sackte immer tiefer in seinen Sitz, doch gerade als sich seine Augen schließen wollten, blendete ihn der Lichtkegel eines Autos. Ein silberner Audi R8. Hansens Fahrzeug. Schnell fuhr er wieder hoch, steckte den Schlüssel in das Zündschloss und folgte dem Wagen mit etwas Abstand. Die Fahrt dauerte fast 40 Minuten, dann blieb der Wagen vor einer Fabrikhalle stehen. Ben konnte sehen, wie Mikael ausstieg und in der Halle verschwand. „Was macht er da bloß“, fluchte er leise. Eilig griff er nach der Spiegelreflexkamera auf dem Rücksitz und hastete ebenfalls in Richtung der Fabrikhalle. Vorsichtig lugte er durch ein Fenster.


    Seine Augen weiteten sich. „Nein, dass kann nicht sein“, murmelte er leise, während er versuchte mit zittrigen Händen ein scharfes Foto zu schießen. Sein Freund hatte ein Päckchen mit weißem Pulver in der Hand. Vermutlich war es Kokain. Sein Blick fiel auf einen schwarzen Sprinter. Wahrscheinlich war da noch viel mehr von dem Zeug drin. Es dauerte nicht länger als zehn Minuten, dann war der Spuk vorbei. Mikael übergab dem Mann einen Koffer, dieser sah kurz rein und Ben konnte einige grüne Scheine erkennen. Danach trennten sich die Wege der beiden „Geschäftsmänner“ wieder. Er presste sich an die Wand und beobachte, wie Mikael die Halle wieder verließ. Der Finne sah sich um und Ben glaubte für einen Moment, dass er ihn gesehen hatte, doch dann war Mikael weitergelaufen und wenig später war das Auto im Schlepptau mit dem schwarzen Sprinter verschwunden. Ben atmete einige Male tief durch. „Das war knapp. Um ein Haar hätte er dich gesehen.“ Als er sich sicher war, dass niemand mehr auf dem Grundstück war, begab er sich zurück zu seinem Auto und griff eilig nach seinem Handy. Ungeduldig trommelten seine Finger auf seinem Oberschenkel. „Ja endlich Semir … du wirst nicht glauben, was ich gerade beobachtet habe!“ Mit aufgeregter Stimme berichtete er seinem Partner von der Geld- und Drogenübergabe, die er soeben verfolgt hatte und vor allem, wen er dabei gesehen hatte. „Verstehst du Semir. Wir müssen ihn sofort festsetzen. Am besten wir fahren jetzt gleich hin.“ „Ben … es ist mitten in der Nacht“, kam es schlaftrunken vom anderen Ende. „Gut, wenn du nicht mitkommen willst, dann werde ich alleine fahren!“ Der Deutschtürke seufzte. „Okay, hol mich zu Hause ab. Aber du fährst auf keinen Fall alleine zu Hansen!“, machte er ihm klar und er lenkte ein. „Ich bin in knapp 40 Minuten bei dir“, ließ er Semir wissen und gab Gas.


    Knapp 1 ½ Stunden später standen sie vor der Villa des Verdächtigen. „Die Polizei?“, fragte Georg Hansen erstaunt, als er den beiden Autobahnpolizisten die Tür öffnete. „Was kann ich diesmal für sie tun? Und vor allem um diese Zeit. Es ist gerade 1 Uhr in der Nacht.“ Er machte eine Armbewegung in Richtung des Wohnzimmers. „Kommen Sie rein“, forderte er sie mit einem Lächeln auf. Widerwillig folgten sie der ‚Einladung‘ von Georg Hansen. „Also was treibt Sie zu mir?“, fragte Hansen erneut, als sie im Wohnzimmer angekommen waren. „Wo ist Mikael Häkkinen?“, stellte Ben mit harter Stimme sofort die Gegenfrage. Die beiden Hauptkommissare vernahmen Schritte hinter sich und wandten sich um. Mikael stand hinter ihnen. „Was wollt ihr?“, wollte der Schwarzhaarige wissen, „ist euch entgangen, dass es Menschen gibt, die um diese Zeit schlafen?“ Die Mundwinkel des Finnen zogen sich zu einem schiefen Lächeln nach oben und Ben konnte sich nicht mehr beherrschen. Er preschte los und drückte ihn gegen die Wand. „Mikael Häkkinen. Sie sind festgenommen wegen Drogenhandel im großen Stil. Alles was sie sagen, kann und wird gegen sie verwendet werden“, zischte er und zog seinen ehemaligen Freund wieder von der Wand weg. „Das muss ein Irrtum sein!“, rief Georg Hansen dazwischen, „Ich bin mir sicher mein Enkel hat ein Alibi für die Zeit, wo sie ihn verdächtigen!“ Ben lachte. „Da bin ich mir sicher. Sie würden ihm sicherlich gerne eins geben, im Gegenzug zu seinem wegen dem Mord an Fischer!“ „Ben“, murmelte Semir leise, „beruhige dich. Wenn du jetzt ausrastest…“ „Es ist okay, Georg, es wird sich alles klären. Mach dir keine Gedanken“, erhob nun Mikael die Stimme. Ben stutzte. Warum wirkte er kein bisschen nervös? Er hatte ihn gesehen in der Lagerhalle. Er hatte das Geld gesehen und die Drogen. Er hatte alles gesehen! „Das können wir ja dann auf der Dienststelle bereden!“, sagte er und schob Mikael vor sich her zum Auto.

  • Ben legte einige Bilder auf den Tisch. „Ich hätte nie gedacht, dass du so weit sinkst!“, schrie er Mikael voller Hass an. Sein Gegenüber wirkte desinteressiert und nahm eines der Fotos in die Hand. „Ist das dein Ernst? Das soll ich sein?“, fragte Mikael und sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Das könnte jeder sein … ein Mann mit einer Kapuze so weit in das Gesicht geschoben, dass du ihn nicht erkennst. Noch dazu ist das Bild total verwackelt. Ihr solltet euren Beamten erklären, dass man in der Nacht den ISO der Kamera höher schalten muss, wenn man ein scharfes Bild will.“ „Ich habe das Bild gemacht!“, zischte er nun, „Du könntest einfach die Wahrheit sagen! Ich habe dich gesehen und ich bin mir sicher, dass du mich auch gesehen hast!“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Ist das dein persönlicher Rachefeldzug, Ben?“ Der Jüngere kippte den Stuhl leicht nach hinten. „Bist du dir sicher, dass du mich nicht unbedingt sehen wolltest?“ „Wie?“ „Vielleicht hast du dir gewünscht, dass ich es bin und dann hast du es dir eingebildet. Ich bin es auf jeden Fall nicht.“ Die Beine des Finnen landeten auf dem Tisch und er sah ihn belustigt an. „Was soll der Scheiß!“, schrie er und schob wütend die Beine von Mikael von der Tischplatte, worauf dessen Stuhl wieder nach vorne auf den Boden kippte. „Lernt man Verhörtechniken nicht beim LKA? Das hier ist ein Witz!“ „Du willst mich provozieren!“, murmelte Ben wütend, „aber das wird nicht klappen!“ „Nun, du hast mir nicht einmal erzählt, um was für einen Tatzeitraum es sich handelt. Wann soll ich denn deiner Meinung nach in einen Drogenschmuggel verwickelt gewesen sein?“ Mikael beugte sich zu ihm rüber. „Sag es mir, Ben Jäger, wann hast du mich zu sehen geglaubt?“ „Um 23 Uhr in der letzten Nacht“, zischte er. „Da war ich mit meiner Cousine und einem Freund aus“, stellte sein Gegenüber prompt klar. Ben lachte auf. „Und du denkst, ich glaube dir das?“ „Du hast keine andere Wahl. Du hast keinen Grund mich hier festzuhalten und das weißt du auch. Ich würde vorschlagen du lässt mich gehen!“ Mikael wandte den Kopf zum Spiegelfenster des Verhörraums. „Oder sei wenigstens du vernünftig, Semir. Ich habe nichts verbrochen.“


    Nur unmittelbar nach Mikaels Bitte, öffnete sich die Tür und Semir kam in den Verhörraum. Der Deutschtürke lehnte sich über den Tisch und betrachtete nun ebenfalls die Bilder. So sehr er es wollte, damit konnten sie Mikael nichts nachweisen. Er hatte Recht. Sie waren unscharf und verschwommen. Er erhob sich wieder und verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. Er sah Mikael mit zusammengekniffenen Augen an. „Der Name?“ „Anna Hansen“, gab Mikael Antwort und lächelte dabei Ben triumphierend an. „Und von dem Freund?“, fuhr Semir fort. „Patrick Schmidt.“ Semir nickte. „Ich werde das überprüfen, du wirst solange hier bleiben müssen.“ Der Schwarzhaarige zog die Schultern nach oben. Dann kippte er den Stuhl wieder nach hinten und legte die Füße abermals auf den Tisch des Verhörraumes. „Von mir aus“, stieß er schon fast gelangweilt aus.


    Ben funkelte ihn wütend an. „Was ist nur los mit dir? Warum benimmst du dich so? Warum lässt du dich auf deinen Großvater ein?!“, zischte er, als Semir den Raum verlassen hatte. „Du solltest endlich aufhören mir zu folgen Ben. Du bringst dich in Gefahr.“ „DAS REICHT!“ Sauer sprang er auf und griff nach Mikaels Pullover. Er zog ihn unsanft von seinem Stuhl und drückte ihn gegen die Wand des Zimmers. „Hör auf mir zu erzählen, dass du mich schützen willst und das ich mich in Gefahr begebe. Das ist nur eine dumme Ausrede. Ich hasse dich und dein falsches Spiel!“ „Du solltest mich loslassen“, gab ihm Mikael mit ruhiger Stimme zu verstehen, „und dich endlich auf das besinnen, was uns mal verbunden hat. Du hast mir mal vertraut, warum kannst du es jetzt nicht?“ Ben presste ihn härter gegen die Wand. „Ich werde schon noch herausfinden, was du mit Georg Hansen planst und dann bringe ich dich zur Strecke! Mein Vater hat mir genug über die Geschäfte von ihm und Andreas erzählt“, zischte er ihm ins Ohr.
    „Ja, hat er das? Und du glaubst alles, was er sagt? Was sagt er denn?“ Mikaels Augen blickten in seine. „Dein Vater ist kein Heiliger Ben. Und das weißt du auch!“
    Ben schnauft. „Lass mich!“ Er löste die Hände von Mikael und stampfte wütend aus dem Verhörraum.


    Sie hatten Mikael noch bis zum frühen Morgen festhalten können, doch dann waren seine Alibis bestätigt und sie mussten ihn gehen lassen. „Ich kann nicht fassen, dass wir ihn einfach gehen lassen haben! Das Alibi ist sicher gekauft!“, schimpfte Ben laut und lief im Raum auf und ab. Semir beachtete seinen Partner kaum. Seine Aufmerksamkeit richtete sich voll und ganz auf eine Szene vor der Dienststelle. Mikael stand dort und unterhielt sich mit einer Frau. „Sag mal Ben? Weißt du, ob Mikael schon einmal mit dem Drogendezernat von Köln zusammengearbeitet hat?“ Ben blieb stehen und sah ihn fragen an. „Wie meinst du das?“ Der Deutschtürke machte eine Kopfbewegung zur Fensterscheibe. „Er steht da und unterhält sich mit Frau Bergmann.“ Ben machte einige eilige Schritte und stand nun direkt neben Semir und beobachtete interessiert, wie Mikael mit der Chefin von der Drogenfahndung redete, ehe er wenig später weiterging und die PAST mit einem Taxi verließ. „Also, hatte er schon einmal was mit ihr zu tun?“ Der Braunhaarige zuckte mit den Schultern. „Nein, ich denke nicht.“ Semirs Blick war weiterhin aus dem Fenster gerichtet. Er hatte geglaubt Frau Bergmann würde in die Dienststelle kommen, aber es schien, dass die Frau nun keinen Grund mehr dazu hatte. Nur kurze Zeit nachdem Mikaels Taxi gefahren war, hatte sie sich wieder in ihr Auto gesetzt und war gefahren. „Da ist doch was faul“, murmelte er leise. „Hmm?“ „Na die Bergmann. Die kommt hier her, redet zwei oder drei Sätze mit Mikael und dann fährt die wieder“, äußerte Semir nun etwas lauter. „Du denkst, dass Mikael … dass er überhaupt nicht die Seiten gewechselt hat? Du glaubst, er führt uns die ganze Zeit an der Nase herum?“ Ben lehnte sich auf die Fensterbank und fuhr sich durch das Gesicht. „Jetzt ergibt alles Sinn. Seine Worte …“ Seine Hand umklammerte die Fensterbank fest. „Und ich?! Ich habe nicht auf ihn gehört. Ich habe wirklich gedacht, dass er mich nicht mehr schätzt! Ich bin blind dem Hass von meinem Vater gefolgt, habe gedacht, wirklich geglaubt, dass Mikael mich verraten hat, mit mir spielt …“ „Ben, du konntest nicht wissen, dass er vielleicht nur gegen seinen Großvater ermittelt“, versuchte Semir seinen Partner zu beruhigen, „er hat es darauf angelegt. Als du nicht nachgelassen hast, wusste er, dass es der einzige Ausweg ist, um dich loszuwerden.“ „Ich hätte es ahnen müssen! Ich habe ihm misstraut und das nur wegen seiner Verwandtschaft. Ich habe ihm all diese Dinge an den Kopf geworfen und nun? Nun könnte er die ganze Zeit mit der Drogenfahndung zusammengearbeitet haben!“ Semir legte seine rechte Hand auf Bens Schulter. „Wir werden Frau Bergmann gleich einmal einen Besuch abstatten. Sie kann uns sicher aufklären.“ Ben nickte leicht und löste sich von der Fensterbank. „Du hast Recht. Sie wird uns alles erklären können.“


    *


    „Die Herren von der Autobahnpolizei.“ Annemarie Bergmann erhob sich von ihrem Schreibtischstuhl und gab ihnen die Hand. „Was verschafft mir denn die Ehre?“ Sie wies auf zwei Stühle und Ben und Semir setzten sich. „Es geht um Mikael Häkkinen. Wir haben sie vor der Dienststelle gesehen“, brachte Semir die Sache gleich auf den Punkt. Ben zappelte angespannt mit den Füßen. „Sie haben sicherlich Eins und Eins zusammengezählt“, antwortete ihr Gegenüber und lächelte. „Der junge Kollege ist unsere einzige Chance an Hansen heranzukommen. Die SUPO und wir haben eine Vereinbarung auf Zusammenarbeit …“ „Mikael ist beim Mord! Er hat einen Scheiß mit der SUPO zu tun!“, unterbrach Ben sie. Sie nickte und fuhr unbeirrt fort. „Herr Taskinen hat ihren Freund vor einigen Wochen angesprochen, nachdem man keine Beweise für den Mord an Herrn Tonteri finden konnte. Herr Häkkinen hat abgelehnt und gesagt, dass er sich nicht sicher sei, ob er noch Polizist sein wolle.“ Ben sah sie fragend an. „Wie meinen Sie das? Er hat abgelehnt?“ „Ja … vor etwa 3 Wochen kam er allerdings auf mich zu. Er sagte, er habe seine Meinung geändert. Er wolle uns helfen Georg Hansen all diese Sachen nachzuweisen.“ „Warum sollte er das tun?“ Die Finger des jungen Kommissars trommelten ungeduldig auf der Armlehne seines Stuhls. Frau Bergmann lächelte ihn an. „Warum? Ich denke der Grund sind Sie, Jäger. Wie lange beobachten Sie schon Herrn Hansens Anwesen?“ „Ähm … seit Mikael … schon einige Wochen“, presste er leise hervor. „Er sagte nur, dass er jemand schützen müsse. Herr Hansen sei kein Mann, der so etwas lange dulde.“ Er schluckte. Vertraue mir. Alles was ich die nächsten Wochen tun werde, werde ich tun, um dich zu schützen. „Er hätte mit mir reden können?“, kam es leiser als gewollt aus Bens Mund. „Und dann? Sie waren die perfekte Tarnung. Sie und ihre Wut über den angeblichen Wandel ihres Freundes.“


    Frau Bergmann lächelte. „Und nun würde ich Sie Bitten zu gehen. Ich habe gleich eine wichtige Telefonkonferenz mit Finnland. Wir haben Fortschritte gemacht, wenn Sie beide sie mit ihrem Auftritt im Hause Hansen auch fast zerstört hätten.“ Semir erhob sich und zog Ben mit, ehe er der Frau einige Schimpfwörter an den Kopf werfen konnte. Als die Tür geschlossen war, warf er sich gegen die Wand und stöhnte auf. „Semir … ich-ich muss mit ihm reden. All diese Sachen, die ich ihm an den Kopf geworfen habe!“ Sein Partner legte die Hand auf seine Schulter und schüttelte den Kopf. „Wir werden einen Weg finden, aber wenn du jetzt … so emotionsgeladen dort auftauchst, dann bringst du vielleicht dich und ihn in Gefahr!“ „Bitte Semir“, versuchte es Ben abermals, doch sein Partner lenkte nicht ein. „Wir werden zurück zur PAST fahren und uns wieder mit dem Fall Fischer beschäftigen. Wir werden unser Glück nicht herausfordern!“
    „Aber Semir!“
    Semir sah ihn ernst an. „Mikael weiß, was er tut. Er ist so weit, du könntest das alles durch einen unüberlegten Schritt zerstören. Ihn in Gefahr bringen! Denn, wenn Hansen rausbekommt, was für ein Spiel er spielt, dann ist es ihm sicherlich egal, dass er sein Enkel ist!“

  • Ben sah auf das Haus von Hansen. Er schämte sich selbst dafür, dass er gegenüber Semir beteuert hatte, dass er nichts unternehmen würde, obwohl er es von Anfang an geplant hatte. Als er die Frühschicht beendet hatte, war er zunächst nach Hause gefahren, doch dann hatte ihn die Unruhe gepackt. Er musste einfach zu den Hansens fahren. Jetzt hoffte er darauf, dass Mikael, wie die Tage zuvor herauskam und ihn für seinen Großvater wegscheuchte. Er lehnte seinen Kopf gegen die Autoscheibe und versuchte sich die passenden Worte zurechtzulegen. Was sollte er sagen? Wie sagt man seinem besten Freund, dass man Scheiße gebaut hat? Anderseits, trotz allem war Mikael nicht ganz unschuldig an ihrem Streit. Er hatte ihn mit kryptischen Aussagen abgespeist und Ben keine andere Wahl gelassen. Schließlich war es Mikael gewesen, der mit voller Absicht in die Rolle des korrupten Polizisten wechselte! Und dann auch noch so perfekt gespielt hatte. Diese Kälte und Unnahbarkeit, die von seinem Freund ausging. Wie hätte Ben etwas anderes Denken sollen?


    Ben schreckte aus den Gedanken hoch, als er vom Hansen-Anwesen Schüsse hörte. Sofort warf er seinen ursprünglichen Plan über den Haufen und lief in die Richtung, aus der er die Schüsse vermutete. Als er um die Ecke bog, sah er auf Georg Hansen, der mit einem Grinsen auf etwas zielte. Bens Blick folgte dem von Hansen. Mikael stand, ebenfalls mit erhobener Waffe, schützend vor einem Jugendlichen. An seinem rechten Oberarm breitete sich ein roter Fleck nach Außen weiter aus. Hansen musste auf ihn geschossen haben. Ben kannte den Jungen. Er hatte ihn öfters mit Mikael gesehen und er hatte Nachforschungen angestellt. Er hieß Hannes und war gerade 16 geworden. Er wollte nach seiner Waffe greifen, musste jedoch feststellen, dass er sie überhaupt nicht dabei hatte, es war schließlich nach Dienstschluss. Georg Hansen schien sein panischer Gesichtsausdruck nicht entgangen zu sein. Er löste die Waffe von Mikael und hielt sie stattdessen in seine Richtung. Ben versuchte nicht in Panik zu verfallen, doch er verspürte Angst. „Du willst Hannes schützen, Michael? Dann schieße auf Ben Jäger. Knall ihn ab, hier vor meinen Augen“, verlange er mit gehässigem Unterton. Ben sah auf Mikael. In was war er nur reingeplatzt? Warum hatte Georg Hansen auf seinen Enkel geschossen. Warum stand Mikael vor dem Jungen? Mikaels blaue Augen funkelten den alten Mann wütend an. „Du weißt, dass ich das nicht tun werde! Er ist mein Freund! Nimm die Waffe runter. Du hast keine Chance gegen mich!“


    Mikael hielt den Finger auf dem Abzug, gefasst darauf jeden Augenblick abzudrücken. Er würde Ben schützen. Diesmal würde er nicht wegen seiner Familie in Gefahr geraten. „Was ist mit deiner Loyalität Michael?“, wollte sein Großvater wissen. „Du dachtest wirklich, dass ich zu dir zurückkommen würde? Du bist rachsüchtig, brutal und kennst keine Grenzen! Du hast das Gesetz gebeugt und Selbstjustiz verübt, du wolltest auf Hannes schießen, nur um zu testen, wie gut seine Reaktion ist! Du bist ein erbärmlicher alter Mann!“, schrie er und zog Hannes dichter hinter sich. „So sprichst du nicht mit mir, Michael!“, stieß Georg Hansen wütend aus. „Ich spreche mit dir, wie es mir passt! Du kannst mich nicht unterdrücken und das ist es was dich stört! Ich bin nicht schwach, ich kann dir etwas entgegensetzen und jetzt lass die Waffe fallen!“ Georg lachte unheilvoll auf und der Finger seines Großvaters näherte sich dem Abzug. „Du bist schwach. Deine Schwäche steht hier genau vor mir. Und es wird Zeit sie dir aufzuzeigen!“


    Ein Schuss zerriss die Luft, und alles erstarrte. Mikael kam dieser Moment wie Minuten, nein endlose Stunden vor. Er hörte, wie Bens Körper auf den vom vorherigen Regenschauer durchnässten Boden klatschte. Die Waffe glitt ihm aus der Hand und landete mit einem Scheppern auf der Erde. „BEN!“, brüllte Mikael mit weit aufgerissenen Augen. Er stürzte auf Ben zu und fiel neben ihm auf die Knie. Sein Freund lag mit starrem Blick da. Blut rann aus einer Wunde in der Brust. „Nein, nein, nein!“, stieß Mikael mit zittriger Stimme aus. Er presste die Hände fest auf die Schusswunde. „Es tut mir leid, Ben! Es tut mir leid“, stotterte er hervor. „Ein Hansen zeigt keine Gefühle, Michael. Du bist verweichlicht!“, hörte er weit entfernt die Stimme seines Großvaters. Er sah auf und verfolgte, wie Georg nach Hannes griff und ihn in Richtung Auto zerrte. Der Junge schrie um Hilfe, doch er war nicht fähig sich zu lösen. Er musste doch bei Ben sein, er musste die Blutung stoppen „Es tut mir leid, Hannes“, flüsterte er leise und ohne Stimme und sah, wie der Audi mit hoher Geschwindigkeit rückwärts fuhr und verschwand, als wäre ihm diese Szene vollkommen egal. Wäre er alleine, würde er ihm folgen und Hannes helfen, doch er war nicht alleine. Ben brauchte ihn!


    Sein Blick fiel wieder auf Ben. Das Blut sprudelte durch seine Finger. Während er versuchte irgendwie mit der rechten Hand die Blutung zu stoppen, zog er mit der linken Hand sein Mobiltelefon aus der Tasche und verständigte einen Notarzt. Als er das Gespräch beendet hatte, zog er eilig seinen Pullover aus und drückte ihn auf die Wunde. Er spürte einen leichten Druck um seinen Arm. Bens Hand hatte sein rechtes Handgelenk umgriffen. Sein Kopf hob sich und er sah in das schmerzverzerrte Gesicht seines Freundes. „Mikael“, presste Ben kaum hörbar hervor, „es tut mir leid, was ich zu dir gesagt habe … du-du bist nicht wie er …“ Mikael schüttelte energisch den Kopf, Tränen bahnten sich den Weg und tropften auf das Gesicht seines Freundes. „Nicht reden, Ben … nicht reden! Du musst durchhalten. Ich kann das nicht … nicht schon wieder!“ „Ich hätte auf dich hören sollen“, hauchte Ben leise und Mikael sah, wie aus seinen Mundwinkeln Blut rann. Er drückte seinen Pullover fester gegen die Wunde. „Du darfst nicht gehen Ben … du musst bei mir bleiben …!“


    Ben zog mühsam die Luft ein. „Es … ist zu spät. Ich bin müde.“ Mikael drückte weiter auf die Wunde. Sein Pullover war inzwischen von Blut durchtränkt. „Es ist nicht zu spät. Du schaffst das.“ Im nächsten Moment wurden die braunen Augen seines Freundes starr. Der Griff um seinen Arm lockerte sich abrupt. Bens Hand sank zu Boden. Mikael suchte panisch nach dem Puls, fand ihn jedoch nicht.


    „Nein!!“ Er beugte sich herunter, öffnete mit den Fingern seine Lippen und blies Luft in seinen Mund, der nach heißem, salzigem Blut schmeckte. Nach zwei Atemzügen erhob er sich wieder, legte die Hände flach übereinander auf seinen Brustkorb und drückte zu. „Bitte geh nicht Ben. Bitte, ich wollte das alles doch nicht!“ Tränen flossen über Mikaels Wangen und tropften auf die Brust seines Freundes. Immer wieder drückte er verzweifelt den Brustkorb zusammen, hoffte auf eine Veränderung. Warum nur hatte er das zugelassen? Warum hatte er es nicht geschafft auf seinen Großvater zu schießen? Er hätte nur schießen müssen. Nur schneller sein müssen. Er hätte es verhindern können. Wieso hatte er diesen dämlichen Undercover-Einsatz überhaupt angenommen. Seine Arme begannen zu zittern und Schweiß tränkte sein T-Shirt. „Bitte, komm zurück!“ Er führte ihm erneut Luft zu, ehe er wiederholt den Brustkorb zusammendrückte. Ohne Erfolg. „Du kannst nicht gehen …!“ Er ließ die geballte Faust auf seinen Brustkorb niedersausen. „Ich werde nicht zulassen, dass du stirbst!“, schrie er verzweifelt.

  • Mikael wiederholte die Prozeduren immer und immer wieder. „Komm schon, Ben“, feuerte er ihn an, während er auf den Brustkorb drückte. Er japste nach Luft und atmete sie dann in Bens Mund aus, während er ihm die Nase zuhielt. Die Brust hob und senkte sich unter seiner Maßnahme, aber es war kein Puls zu spüren. Es gab kein Zeichen, dass Bens Herz wieder zu schlagen begonnen hatte. Er wurde immer verzweifelter. Die Bilder vor ihm vermischten sich mit einem längst vergangenen Kampf. Er hatte diese Situation schon einmal durchlebt, doch damals hatte er verloren. Damals hatte man ihm einen Freund genommen. Neue Tränen tropften auf seinen Freund. „Bitte Ben … Bitte! Komm zurück!“ Er machte immer weiter. Er würde nicht aufgeben, Ben würde zu ihm zurückkommen. Heute würde er nicht wieder einen Freund verlieren.


    Ein Rettungswagen näherte sich mit heulender Sirene. Erst als jemand ihn am Arm fasste und sanft beiseite zog, überließ er ihnen das Feld. Mit zitternden Beinen trat er einige Schritte zurück und blickte auf das Bild vor ihm. „Sein Herz …“, stotterte er, „bitte lassen Sie ihn nicht sterben.“ Einer der Sanitäter sah auf und nickte ihm zu, während er Bens Pullover aufschnitt und die Elektroden des Defibrillators auf die Brust drückte. Mikaels Augen fixierten das Bild vor ihm. Ein Heulton signalisierte, dass die Defibrillation nun durchgeführt werden konnte. „Achtung!“, schrie der Notarzt und alle traten einen Schritt zurück. Er schickte einen Stromstoß durch den Mann vor ihm. Mikaels Augen betrachteten die Linie auf dem Monitor. Das Rettungsteam wiederholte den Vorgang ein weiteres Mal. Ohne Erfolg. Wieder löste der Arzt einen Elektroschock aus. „Okay! Er hat einen Rhythmus. Jetzt schnell in den Wagen mit ihm.“ Er versuchte den hektischen Bewegungen vor ihm zu folgen, doch es misslang ihm.


    Auch als sie Ben schon längst in den Rettungswagen geschoben hatten und das Fahrzeug die Straße runter verschwunden war, rührte sich Mikael nicht vom Fleck. Er blickte auf die Stelle im Gras hinab, wo Ben gelegen hatte. Das Blut klebte an den Grashalmen. Seine zittrigen Knie gaben unter ihm nach und er glitt auf die Erde. Die Finger bohrten sich in das nasse, vom Blut durchtränkte Gras. „Warum?! Warum schaffte ich es nicht die zu beschützen, die mir wichtig sind?!“ Seine Stimme versagte und er begann zu weinen.


    Er schreckte zusammen, als eine Hand seinen Rücken berührte. „Was ist passiert?“, frage eine Frauenstimme. Er war nicht fähig zu antworten. „Mikael, was ist passiert? Wo ist mein Sohn!“ Die Stimme wurde wütender und panischer. „Das Blut? Ist das von ihm?“ Er schüttelte den Kopf. Sie zog ihn hoch und drehte ihn zu sich. „MIKAEL! Wo ist Hannes!!?“, schrie sie nun. „Georg hat ihn“, brachte er schließlich heraus. „Wie meinst du das?“ Sie schien sofort zu erkennen, dass er keinen einfachen Ausflug meinte. „Was ist hier passiert?“, fragte sie erneut. „Er wollte auf ihn schießen … so wie auf uns damals … ich-ich konnte doch nicht zulassen, dass er … Hannes hat sich vor Angst nicht gerührt und ich-ich habe ihn runtergezogen.“ Seine Stimme versagte und neue Tränen verließen seine Augen. „Und dann? Hat er ihn getroffen. All das Blut! Auf dem Rasen, auf deiner Kleidung …“ Er schüttelte den Kopf. „Ben … er, er kam, weil er Schüsse gehört hatte. Georg hat ihn … er hat ihn … der Rettungswagen hat ihn weggebracht.“ Mehr brachte er nicht heraus. Er sank wieder auf die Knie. „Oh Gott!“, murmelte Anna leise und drückte ihn an sich. „Er-er hat Hannes mitgenommen. Ich weiß nicht wohin …“, flüsterte er. „Es ist okay Mikael. Es ist okay … er wird ihm nichts antun. Er wird ihm nichts tun. Da bin ich mir sicher!“ Sie drückte ihn etwas von sich und begutachtete ihn. „Du hast eine Verletzung. Ich werde sie verbinden. Weißt du in welches Krankenhaus sie deinen Freund gebracht haben?“ Er schüttelte den Kopf. „Ich weiß nicht … ich weiß nicht, ob sie es mir gesagt haben.“ „Das ist nicht schlimm. Ich werde das herausfinden.“ Sie zog ihn nach oben und lenkte ihn in Richtung des Hauses, wo sie ihn auf einem der Stühle niederließ. Sie verschwand und kehrte wenig später mit einem Verbandskasten zurück. „Es wird nur fürs Erste reichen. Du musst das unbedingt einen Arzt ansehen lassen“, ermahnte sie ihn, während sie den Verband notdürftig um seine Schulter band. „Warum tust du das?“, nuschelte er leise, „Warum hilfst du mir?“ Sie lächelte. „Weil du ein guter Mensch bist. Du hast in den wenigen Tagen so viel für Hannes getan. Du hast ihm gezeigt, dass es da draußen auch noch andere Möglichkeiten gibt. Er hat wieder Mut gefasst.“ „Aber du wolltest doch, dass er…“ „…ich dachte es wäre unsere einzige Wahl, aber das stimmt nicht. Ich denke ich weiß, warum du hier warst. Du wolltest ihm etwas nachweisen. Du warst nicht als Michael Hansen hier, sondern als Mikael Häkkinen.“ Anna schob das T-Shirt wieder nach oben und reichte ihm einen Pulli. „Ich denke Sie haben Ben ins Uni-Klinikum gebracht. Ich werde dich hinfahren und dann suche ich nach Georg und Hannes, okay?“ Er nickte und erhob sich mit zittrigen Beinen. „Danke“, brachte er leise hervor.


    *


    Nur knapp 20 Minuten später steuerte Mikael den Informationsschalter der Universitätsklinik an. „Ben Jäger, wurde der hier eingeliefert?“ Sie sah auf ihrem Computer und nickte. „Er befindet sich derzeit im OP.“ Sie sah ihn skeptisch an. „Brauchen Sie einen Arzt? Das ganze Blut, ist das ihr's?“, fragte sie unsicher. Er schüttelte den Kopf. „Nein … es-es geht mir gut“, murmelte er leise, „das ist das Blut von Herrn Jäger.“ Er löste sich langsam von dem Schalter und begab sich mit langsamen Schritten in Richtung des OP-Trakts. Er ließ sich auf einen der Stühle fallen und starrte seine blutigen Hände an. Er hatte vollkommen vergessen sich zu waschen und auch Anna schien das in der Aufregung nicht beachtet zu haben. Seine Hände zitterten. Er beugte sich nach vorn und vergrub sein Gesicht darin. Die Überforderung mit der Situation packte ihn erneut, verband sich mit seiner Verzweiflung und Angst und ließ seine Augen glasig werden. Er versuchte die Tränen zurückzuhalten, doch ohne Erfolg. Nur wenig später zogen sie warme Spuren über seine Wangen. Es erfüllte ihn mit Panik, dass nur wenige Meter von ihm entfernt sein Freund um sein Leben kämpfte. Was sollte er machen, wenn Ben es nicht schaffte? Er hatte schon Joshua verloren, er würde es nicht aushalten, wenn jetzt auch noch Ben aus seinem Leben verschwand. Vielleicht wäre das alles nicht passiert, wenn er von Beginn an mit offenen Karten gespielt hätte? Er hätte Ben die Wahrheit sagen müssen. Er hätte ihm erzählen müssen, dass er einen Undercovereinsatz plante, um ihn zu schützen. Er hätte ihm sagen müssen, dass er das tat, damit ihm nichts passierte. Er hatte die Männer von seinem Großvater vor Bens Haustür gesehen, er hatte ganz einfach etwas unternehmen müssen. Er hob den Kopf wieder aus seinen Händen und sah auf das Blut, welches durch die Feuchtigkeit seiner Tränen wieder nass geworden war. Die Szenen, die sich nur vor wenigen Minuten vor seinen Augen abgespielt hatte, tauchten wieder vor ihm auf. „Scheiße, Scheiße, Scheiße“, murmelte er leise. Er starrte auf die Uhr, verfolgte wie sich der Zeiger wie in Zeitlupe zu bewegen schien. Seit wann war er hier? Er wusste es nicht. Raum und Zeit schienen für ihn keine Bedeutung mehr zu haben. Immer wieder ging er den Moment durch, indem sein Großvater auf Ben geschossen hatte. Er versuchte zu verstehen, warum es passiert war, doch er verstand es nicht. Er schaffte es nicht, die Motive von Georg zu verstehen. Er hatte ihn bestrafen wollen, warum verflucht hatte er dann nicht einfach auf ihn geschossen? Warum musste Ben dafür büßen? Weil Georg glaubte, dass Ben seine Schwäche war? Hatte sein Großvater tatsächlich geglaubt, dass er auf seinen Freund schießen würde. Nein, das konnte er nicht geglaubt haben. Er hatte Ben von sich gestoßen, damit er ihn beschützen konnte. Warum hatte es nicht geklappt? Warum war Ben einfach so aufgetaucht? Warum hatte er sich bei ihm entschuldigen wollen, nachdem Georg auf ihn geschossen hatte? „Semir wird dich hierfür umbringen. Du hast seinen Partner in Gefahr gebracht“, flüsterte er leise und stellte im gleichen Augenblick fest, dass er Semir nicht benachrichtigt hatte.


    Er griff nach seinem Smartphone und starrte es lange an. Was sollte er sagen? Wie sollte er es sagen? Zitternd suchte er die Nummer raus und drückte den grünen Hörer. „Semir … ich bin es Mikael. Es geht um Ben…“

  • Mit eiligen und großen Schritten rannte Semir die Krankenhausflure entlang. Noch immer hoffte er, dass der Anruf von Mikael nur in einem schlechten Traum war, doch er wusste, dass dem nicht so war. Ben war angeschossen worden, schwebte in Lebensgefahr. Als er um die Ecke in Richtung OP stürmte, hielt er urplötzlich inne. Er erblickte Mikael, der auf einem der Stühle im Gang saß und starr auf seine zitternden Hände blickte. Sein Gesicht war blass, fast grau. Die blauen Augen schienen noch mehr herauszustechen, als ohnehin schon. Semir verringerte sein Tempo und trat langsam näher. Seine Augen fixierten Mikael. Verkrustetes Blut klebte an seinen Wangen, in seinen Haaren und auf seinen Händen. Er schluckte. Das alles war Bens Blut. Das Blut seines Partners. Er setzte sich neben Mikael auf einen Stuhl und sah auf die zitternden Hände des Finnen. „Gibt es etwas Neues?“ Der Schwarzhaarige hob seinen Kopf nicht und er war sich nicht sicher, ob er überhaupt mitbekommen hatte, dass er da war. „Mikael?“ Sein Nebenmann nickte nun seicht. „Eine Schwester war eben hier … sie operieren noch. Schwere innere Verletzungen.“ Die Stimme war leise und ohne die Stärke, die sie sonst besaß. „Es ist alles meine Schuld“, hauchte Mikael und krallte die blutigen Hände in seine Jeans. „Ich habe ihn nicht schützen können.“ Er sah auf und seine matten Augen sahen ihn an. „All das Blut … und dann … ich …“, seine Stimme brach ab und er blickte wieder nach unten. „Was war dann?“, fragte er unsicher. „Sein Herz … er-er … ich wollte das doch nicht … ich habe immer wieder auf seinen Brustkorb, aber es-es hat nicht geholfen … erst der Krankenwagen …“ Semir fixiert Mikael. Obwohl er nicht ausgesprochen hatte, was passiert war, war es ihm doch klar. Bens Herz hatte aufgehört zu schlagen. Sein Partner war tot gewesen. Ben war tot gewesen und Mikael war ganz alleine in dieser Situation gewesen. Er hätte wissen müssen, dass sein Partner plante zu der Hansen-Villa zu fahren. Diese Aktion war typisch für Ben und doch war er nicht dort, um Ben zu beschützen oder ihn davon abzuhalten. Er hätte es einfach wissen müssen! Schuld übermannte ihn. Hätte er nur besser Acht gegeben und nicht darauf vertraut, dass Ben auf ihn hören würde, wäre es nicht passiert. Du weißt doch, dass er nie auf dich hört, dachte er. Er war dumm gewesen, Ben nach der Frühschicht alleine zu lassen. Er hatte nur an sich gedacht und so schnell wie möglich zu den Kindern gewollt. Er hätte bemerken müssen, dass Ben wieder plante zu den Hansens zu fahren. „Ben wird es schaffen“, versuchte er Mikael, aber auch sich selbst, zu beruhigen. Mikael nickte, hob aber zu keiner Zeit den Blick von seinen Händen.


    Semir musterte Mikael aus dem Augenwinkel. Sie saßen jetzt nun fast eine halbe Stunde hier und er hatte nichts mehr gesagt. Er hatte überlegt, ob er ihn ansprechen sollte, wie es passiert war, doch er fand nicht die richtigen Worte. Alles was Mikael ihm am Telefon gesagt hatte, war, dass Georg Hansen auf Ben geschossen hatte. Das konnte alles bedeuten. War Mikael dabei gewesen? Vermutlich. Vielleicht war Mikael der Grund, weshalb Ben angeschossen wurde. Er blickt auf die Tür zum Operationssaal, als könnte er dadurch alles beschleunigen. Diese Warterei trieb ihn in den Wahnsinn. Er wollte nichts mehr, als endlich zu wissen, wie es Ben ging. Es herrschte gespenstische Stille. Das schwerfällige Ticken der Uhr, die gegenüber von ihnen hing, war das einzige Geräusch. Sein Blick fiel wieder auf Mikaels zitternde Hände. Übelkeit überfiel ihn, wenn er daran dachte, dass diese Hände noch vor kurzem seinen Partner am Leben gehalten hatten. Was musste er durchgemacht haben? Er wusste, dass Mikael Hilfe brauchte. Es war unverkennbar, dass es ihm nicht gut ging. Er musste einen Schock haben und doch war er zu gelähmt, als dass er sich darum kümmern konnte. Semir schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Mikael urplötzlich aufstand und den Gang hinaufblickte. Er folgte seinem Blick und sah, wie Konrad Jäger heranstürmte.





    Mikael versuchte seinen Körper irgendwie unter Kontrolle zu bringen. Das plötzliche Hochpreschen aus seinem Stuhl hatte dafür gesorgt, dass ihm für einen Moment schwarz vor Augen wurde. Er atmete einige Male schwer ein und aus. Waffnete sich für das, was nun kommen würde. Er konnte es in den Augen von Konrad Jäger sehen, dass er ihn hier nicht erwartet hatte, aber auch nicht vollends überrascht schien, ihn hier zu sehen. Als wäre er ein Fluch, der seinen Sohn immer und immer wieder ereilte. Verachtung spiegelte sich in Jägers Zügen wieder. „Was zum Teufel machst du hier?“, stieß der Mann vor ihm zwischen schweren Atemzügen heraus. „Bist du Schuld an all dem hier? … Ach, was frag ich das überhaupt. Natürlich bist du Schuld!“


    Er wünschte sich, dass er im Boden versinken könnte. Er konnte nicht klar denken und er war sich sicher, dass das Adrenalin derzeit das Einzige war, was ihn noch in der aufrechten Position hielt. Etwas zog an ihm, machte seinen Körper schwer wie Blei. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Eine Sperre in seinem Kopf sorgte dafür, dass ihm nichts Passendes einfiel. Die Gedanken drehten sich, aber er konnte sie nicht fassen. „Es tut mir leid“, flüsterte er schließlich. „Wirklich leid … ich wollte das nicht.“ Konrad Jägers Blick verfinsterte sich. „Du gibst also zu, dass du Schuld bist?! Ich möchte, dass du jetzt gehst. Ich möchte dich nicht in der Nähe meines Sohnes wissen!“ Er wusste, dass Konrad Jäger schrie, aber seine Vorwürfe kamen in seinem Kopf nur als ein dumpfes Flüstern an. „Bitte ich wollte Ben nicht … ich wollte …“ Bens Vater ließ ihm keine Chance und schrie bereits wieder, ehe er überhaupt den Versuch machen konnte, sich zu erklären. „GEH!“


    „Bitte … ich wollte wirklich nur Ben schützen … ich wusste ja nicht, dass …“, murmelte er leise. Zorn blitzte in Konrad Jägers Augen auf. Mit sehr viel mehr Kraft, als er es erwartet hatte, packte Jäger ihn vorn am Pullover und versetzte ihm gleichzeitig einen derben Stoß und drückte ihn hinter sich gegen die Wand. Schmerzen breiteten sich in ihm aus, zogen von seiner rechten Schulter, wie kleine Messerstiche, durch den ganzen Körper. Dennoch brüllte er nicht auf oder drückte Jäger von sich. Ihm würde zwar nicht die körperliche Kraft fehlen, um gegen jemanden wie Jäger anzukommen, doch er fühlte sich zu müde und erschöpft. Er war wie gelähmt, unfähig etwas zu tun, also ließ er es einfach geschehen. Vielleicht hatte er es ja verdient. Immerhin stimmte es, was Jäger sagte. Er war Schuld. Er hatte den Zustand von Ben zu verantworten. Er ganz alleine und niemand sonst. Er war zu sicher gewesen, dass er es alleine schaffen würde und Ben raushalten konnte. Und jetzt hatte das Leben ihn bestraft. Ihm gezeigt, wohin solche dummen Überzeugungen führen konnten. Ein schmerzhafter Druck an seiner Schulter holte ihn zurück aus seinen Gedanken ins Hier und Jetzt.


    Das Gesicht von Konrad Jäger war nur noch wenige Zentimeter von seinem entfernt. Das wütende Schnaufen hallte in seinen Ohren wieder. Weit entfernt vernahm er Semirs Stimme, die auf Jäger einredete, ihn loszulassen, doch Bens Vater schien ihn nicht hören zu wollen. „Ich will, dass du gehst Hansen! Ich werde mich nicht noch einmal wiederholen. Geh mir aus den Augen, DU weißt nicht einmal, wie das Wort Freundschaft buchstabiert wird, sonst müsste ich meinen Sohn nicht immer wieder im Krankenhaus besuchen, während du unverletzt daneben stehst!“ Er starrte den Mann vor sich nur an. Er wusste nicht, was er erwidern sollte. Er wollte sich wehren, ihm sagen, dass er nicht wie sein Vater war … Nein, er wollte sagen, dass sein Vater nicht der Mann war, für den er ihn hielt. Doch er sagte nichts, blieb stumm. „Setz dich endlich in Bewegung!!!“, knurrte Konrad Jäger erneut. Er zog ihn von der Wand weg und schubste ihn in den Gang. Ihm wurde von der ruckartigen Bewegung kurz schwindelig, so dass er stolperte und zu Boden fiel. „Herr Jäger, lassen Sie ihn doch endlich! Er kann doch nichts dafür“, ertönte Semirs Stimme. „ER kann nichts dafür?! Ein Hansen schießt meinen Sohn an und Sie erzählen mir, dass ausgerechnet Michael Hansen nichts damit zu tun hat!?“ „Häkkinen …“, flüsterte er leise, „es heißt Häkkinen …“ Jemand packte ihn an seiner Kapuze und zog ihn unsanft wieder nach oben. Konrad Jäger starrte ihn fassungslos an, als könnte er nicht glauben, dass er ihn in diesem Bezug korrigierte. „NEIN! Es heißt Hansen!“, schrie er ihn an, „ihr könnt euch nicht hinter einem anderen Familiennamen verstecken. Dein Vater war Abschaum und wie sich herausstellt, bist du nicht besser als er!“ Er schubste ihn erneut von sich, als wäre er ein Parasit, den man so schnell wie möglich loswerden musste, ehe er sich einnistet. „Und jetzt hau endlich ab! Du widerst mich an.“ Er wollte sich dem Befehl von Konrad Jäger nicht beugen, fand aber auch nicht die Kraft, ihm die Stirn zu bieten. Wie in Trance setzte er sich in Bewegung, folgte ohne Widerrede dem Wunsch von Bens Vater und entfernte sich Schritt um Schritt aus dem OP-Trakt des Krankenhauses. Er hörte, wie Jäger hinter ihm weiter wütete und wild mit Semir diskutierte, doch es kümmerte ihn nicht mehr. Er wollte nur weg, weit weg von Konrad Jäger. Weit weg von seinen abwertenden Blicken. Seinen Vorurteilen und der Wahrheit. Der Wahrheit, dass er Schuld war. Er allein.


    Erst als Regentropfen auf ihn herabfielen, merkte er, dass ihn seine Beine aus dem Krankenhaus heraus in den kleinen Park getragen hatten. Der kalte Februar-Wind umklammerte ihn und zum ersten Mal seit er in Deutschland war fror er. Doch es kümmerte ihn nicht. Nicht jetzt. Nicht heute. Erschöpft ließ er sich auf eine der Bänke fallen. Sie stand unter einem Baum und bot so zumindest etwas Schutz vor dem Regen. Sein Kopf senkte sich und er blickte auf die blutnassen Hände. Hatte er alles getan? Hatte er wirklich alles getan, um zu verhindern, dass Ben verblutete? Hatte er ihn überhaupt richtig am Leben erhalten? Was wenn er am Ende alles nur noch verschlimmert hatte? Was, wenn er nicht kräftig genug gedrückt hatte, vielleicht hätte er Bens Herz schon viel früher wieder in Bewegung setzen können. Er hob seine linke Hand, öffnete den Reißverschluss von seinem Pullover und zog sein T-Shirt leicht nach unten. Vorsichtig tasteten seine Finger über den inzwischen blutdurchtränkten Verband. Als er die Finger weg zog, klebte frisches Blut daran. Seine Hand schwang zitternd vor seinen Augen leicht auf und ab. Er krümmte die Finger langsam zu einer Faust, als könnte er dadurch das elende Zittern unterbinden, doch es gelang ihm nicht. Also ließ er sie wieder sinken.


    Er schloss die Augen. Er musste endlich seinen Verstand wieder in den Griff bekommen! Er brauchte einen klaren Kopf. Doch das Gegenteil traf ein. Bilder von den letzten Stunden tauchten vor seinem inneren Auge auf, um dann urplötzlich von längst verdrängten Szenen abgelöst zu werden. Es war, als würden die toten, fahlen Augen von Joshua ihn anstarren. Erschrocken riss er die schweren Lider wieder auf. Seine Atmung wurde hektischer. Er hatte Joshua damals nicht beschützen können und nun drohte er auch Ben zu verlieren. Er hatte doch nur Ben beschützen wollen, wieso war ihm alles aus den Händen geglitten? Warum hatte er all diese Dinge nicht bedacht? Er hätte damit rechnen müssen, dass Ben nicht locker lassen würde. Er hätte ganz einfach auf Georg schießen sollen! Warum war er in dem Moment, als es darauf ankam nur so unentschlossen gewesen? Mit Georg hatte ihn nie etwas verbunden. Nie! Es war wie damals, als er nicht bedacht hatte, dass auch Joshua in Gefahr war. Er hatte sich nur um sich gekümmert und seinen besten Freund vergessen. Er war getötet worden, wegen seiner Dummheit und Leichtsinnigkeit. Tränen rannen seine Wangen runter, tropften über sein Kinn auf die blutverschmierten Hände und vermischten sich dort mit den dicken Regentropfen, die von den Blättern des Baumes herabfielen, um sich wenig später vor seinen Füßen zu einer Pfütze aus hellrotem Blut zu sammeln. Ihm wurde übel. Das war Bens Blut! Das war das Blut seines Freundes, den er nicht hatte schützen können. Dessen Zustand er zu verantworten hatte.


    "Geht es Ihnen gut?" Eine Hand berührte ihn an der Schulter und er schreckte aus seinen Gedanken hoch. Eine junge Schwester stand vor ihm und betrachtete ihn mit sorgenvollen Augen. Er nickte. „Sind Sie sicher? Das ganze Blut. Brauchen Sie einen Arzt?“ „Es ist nicht mein Blut“, beteuerte er. Er hoffte sie würde gehen und ihn alleine lassen. Er wollte niemanden bei sich haben. Er wollte nicht, dass jemand ihn so sah. „Wollen Sie es nicht abwaschen?“, fragte sie nun. „Nein“, antwortete er einsilbig, als könnte er ihr dadurch zu verstehen geben, dass sie einfach nur verschwinden sollte. Sie konnte ihm nicht helfen. Niemand konnte das. „Sind Sie sicher? Ich kann sie zu einer Toilette bringen, wenn Sie wollen. Das sieht doch abscheulich aus … all das Blut. Was ist ihnen zugestoßen?“ „Ja, ich bin mir sicher, sonst hätte ich es Ihnen gesagt!“ Sie schreckte unter seinem bissigen Ton leicht zusammen und für einen kurzen Moment schämte er sich, sie so angegangen zu haben. Sie nickte und löste sich langsam von ihm. „Sagen Sie Bescheid, wenn Sie Hilfe benötigen.“ „Jaja“, schimpfte er leise.

  • „Sie waren zu hart zu ihm.“ Semir sah auf Konrad Jäger der gegenüber von ihm saß und noch immer wütend schnaufte. Der Kopf von Bens Vater hob sich. Unverständnis spiegelte sich in seinen Gesichtszügen wieder. „Er hat meinen Sohn in diese Situation gebracht. Ich will ihn nicht mehr in seiner Nähe sehen!“, schimpfte er. „Er ist Bens Freund“, versuchte es Semir abermals, bekam aber nur ein sarkastisches Lachen. „Nun, dann taugt er als Freund nicht viel mehr als sein Vater!“ Es herrschte lange Stille, ehe Semir etwas erwiderte. „Sie kennen Mikael nicht. Er würde Ben niemals bewusst in Gefahr bringen“, sagte er schließlich. Er wusste nicht warum, aber ein Gefühl sagte ihm, dass er ihn schützen musste. Das es nicht fair war, wie er von Bens Vater behandelt wurde. Etwas sagte ihm, dass der Hass von Konrad Jäger nicht gegen Mikael persönlich ging, sondern um einiges tiefer verankert war. „Er ist ein Hansen, dass sagt alles“, knurrte Jäger, „die sind alle gleich!“


    „Mikael ist einer der selbstlosesten Menschen, die ich kenne. Er würde alles für ihren Sohn tun“, konterte Semir nun und ärgerte sich über seinen bissigen Ton. Der Schwarzhaarige starrte ihn ungläubig an. „Das dachte ich von seinem Vater auch. Dann ist er mir in den Rücken gefallen!“ Da lag also der Hund begraben. Mikael war seinem Vater aus dem Gesicht geschnitten. Es war nicht Hass auf Mikael, es war Hass auf Andreas Hansen. „Was ist zwischen Ihnen und Andreas Hansen passiert?“ Er musterte Konrad Jäger ganz genau, wollte sehen, wie er auf die Frage reagiert. „Ben hat mir von Fotos erzählt, die er bei Mikael in Finnland gesehen hat. Sie zeigen Sie und Andreas Hansen. Sie waren jung und sehr eng befreundet.“ „Das geht Sie nichts an“, gab ihm Jäger mit harter Stimme zu verstehen. Er nickte nur. Er würde hier nicht weiter kommen. Vielleicht konnte er irgendwann Mikael fragen, ob er wusste, was zwischen den beiden Männern vorgefallen war. „Sie können Mikael nicht verwehren in dieser schweren Zeit für ihren Sohn da zu sein. Sie haben doch gesehen, in welchem Zustand er war. Er steht unter Schock und macht sich Vorwürfe.“ „Es interessiert mich wenig, was mit dem kleinen Hansen ist. Er ist Schuld am Zustand meines Sohnes. Ich werde ihn nicht in seine Nähe lassen, solange ich es verhindern kann!“, zeterte der Ältere und nun verstummte er endgültig. Er drehte sich im Kreis. Konrad Jäger würde vorerst nicht einlenken.


    Der Deutschtürke begann damit gedankenverloren die Uhr gegenüber von ihm anzustarren. Es war inzwischen fast Mittag. Er saß erst eine Stunde hier und dennoch kam es ihm bereits wie mehr als fünf Stunden vor. „Wie lange operieren sie ihn schon?“, wollte Konrad Jäger wissen. Semir zuckte mit den Schultern. „Mikael hat mich vor etwa einer Stunde angerufen … ich denke da war er gerade im OP.“ Sein Gegenüber nickte und verfiel dann wieder ins Schweigen. Semir hatte kurz überlegt, ob er aufstehen und nach Mikael suchen sollte. Er hatte angeschlagen gewirkt, als er mit Bens Vater aneinander geraten war. Schwach und erschöpft. Vielleicht hatte er Kopfschmerzen gehabt? Er hatte durch eine alte Kopfverletzung immer Kopfschmerzen, wenn er in Stresssituationen geriet. Am Ende entschied er sich dagegen. Er hatte Angst, dass ausgerechnet in dem Augenblick der Arzt aus dem OP kam. Er wollte nichts sehnlicher, als endlich zu wissen, was mit Ben war. Ben musste es einfach schaffen. Er konnte nicht noch einen Partner verlieren! Er würde es nicht schaffen, noch mehr Schuld auf seine Schultern zu laden. Also blieb er sitzen und verbrachte die Zeit damit auf die Uhr zu starren und zu verfolgen, wie der Zeiger nur langsam seine Position im Ziffernblatt veränderte. Es dauerte zwei weitere Stunden, bis eine Schwester den OP verließ. „Sind Sie die Angehörigen von Herrn Jäger?“ Konrad Jäger war aufgesprungen. „Ja. Wie ist die Operation gelaufen? Wie geht es meinen Sohn?“ Die Schwester lächelte. „Ihr Sohn hat die OP überstanden. Dr. Lindmann, der behandelnde Arzt, wird in ein paar Minuten hier sein und Ihnen alles erklären.“ Konrad Jäger murmelte einen leisen Dank und ließ sich wieder auf seinen Stuhl sinken.


    Es dauerte noch einmal zehn Minuten, bis der Arzt auf sie zutrat. Er gab ihnen die Hand und holte tief Luft, ehe er seine Ausführungen begann. „Herr Jäger hat ziemlich was abbekommen, aber er ist eine Kämpfernatur. Während der Operationen ist es zu einem Herzstillstand gekommen, aber wir konnten ihn wieder zurückholen.“ Semir spürte, wie er leicht zu zittern begann, als der Arzt mit ihnen sprach. Bens Herz war abermals stehen geblieben. Sein Kollege war dem Tod heute schon zwei Mal von der Schippe gesprungen. Der Doktor berichte ihnen, dass die Kugel mehrere innere Organe verletzt hatte und Ben im Zuge dessen sehr viel Blut verloren hatte. „Aber er wird doch durchkommen?“, hörte er Konrad Jäger ängstlich fragen. „Wir tun, was wir können.“ „Darf ich zu ihm? Darf ich zu meinem Sohn?“ Der Arzt nickte und lächelte ihm zu. „Natürlich. Kommen Sie mit, ich werde Sie hinführen.“ Der Mann sah kurz zu Semir. „Es tut mir leid. Es darf leider nur immer eine Person zu ihm.“ „Natürlich“, presste Semir leise heraus und verfolgte, wie der Arzt mit Herrn Jäger in Richtung Intensivstation verschwand. Er ließ sich wieder in den Stuhl fallen und versuchte mit einigen tiefen Atemzügen seine Nerven zu beruhigen, ehe er schließlich aufstand und sich in Richtung Foyer machte. Er musste Mikael informieren, denn er war sich sicher, dass der Finne noch irgendwo im Krankenhaus war.





    Semir lief aufmerksam durch das Krankenhausfoyer, konnte Mikael aber nirgendwo ausmachen. „Entschuldigung. Einen jungen Schwarzhaarigen Mann … Anfang 30, haben Sie den zufällig hier gesehen?“, fragte er eine Schwester, die ihm entgegenkam. Sie lächelte und zeigte in Richtung Ausgang. „Er sitzt auf einer der Bänke im Regen. Ich habe ihn gefragt, ob er Hilfe braucht. Er hat es verneint.“ Semir bedankte sich und machte sich auf den Weg in die Richtung, wohin die Krankenschwester gezeigt hatte. Schon nach wenigen Metern an der Luft, hatte der Regen seine Kleidung durchnässt. Mikael saß zwar auf einer Bank unter einem Baum, doch gegen den Regen nutzte selbst das nicht viel. Immer wieder blies eine Windböe die Tropfen unter die schützenden Blätter drunter her.


    Der Finne schien ihn nicht zu bemerken, als er näher kam. Er sah auf einen unsichtbaren Punkt in der Ferne. Semir sah auf Mikaels Hände. Einzelne Regentropfen vermengten sich mit dem getrockneten Blut und liefen über seine Hände, ehe sie schließlich zu Boden tropften. „Er hat die Operation überstanden“, begann er nach einer Weile und setzte sich neben Mikael auf die Bank. Es kam keine Reaktion, dass er ihn gehört hatte. „Mikael? Hast du mich verstanden?“, fragte er nach. „Konrad Jäger hat Recht … immer wenn ich in Bens Nähe bin, passiert ihm etwas“, presste der Schwarzhaarige schließlich hervor. „Ich habe Joshua Unglück gebracht und ich bringe Ben Unglück.“ Seine Stimme zitterte leicht, als er redete. „Das stimmt nicht Mikael. Ich bin mir sicher, dass du alles versucht hast, um Ben rauszuhalten.“ „Ich hab ihm all diese Dinge an den Kopf geworfen. Ich habe riskiert ihn zu verlieren und nun, nun verliere ich ihn dennoch!“, nuschelte Mikael. „Ich bin …“, er schluckte, „ich bin ein schlechter Freund.“ Die Hände des Finnen krallten sich in seine Oberschenkel. „So darfst du nicht denken, Mikael.“ Semir griff nach der rechten Hand des Finnen und drückte sie sanft. „Du hast alles getan, was in deiner Macht stand.“ Mikael erwiderte seinen Druck fast schmerzhaft. „Aber es war nicht genug, verstehst du?“, flüsterte er verzweifelt, „es war einfach nicht genug!“ „Es wird in Ordnung kommen Mikael, alles wird sich wieder zum Guten wenden.“


    Semir löste seine Hand vorsichtig aus Mikaels Umklammerung und stand auf. „Wir sollten reingehen. Du sitzt sicher schon viel zu lange im Regen.“ Er wartete darauf, dass Mikael es ihm gleichtat, doch er rührte sich nicht. „Mikael, bitte!“, sagte er noch einmal mit kräftigerer Stimme. Der Schwarzhaarige sah ihn nun an und nickte sanft, ehe er sich ebenfalls erhob. Noch ehe er stand, knickten seine Beine ein und Mikaels Augen rollten nach hinten. Der Deutschtürke konnte gerade noch zupacken und verhindern, dass Mikael hart auf den Boden aufschlug. Angst überkam ihn. Er hätte wissen müssen, dass es für ihn alles zu viel geworden war. Er kniete sich neben ihn und gab ihm ein paar Schläge auf die Wangen. „Mikael! Komm schon. Es reicht, wenn ich mir um einen von euch Sorgen machen muss.“ Semir wollte ihn sanft an den Schultern rütteln, hielt jedoch inne, als er in etwas Warmes packte. Er geriet in Panik und blickte auf den blutnassen Pullover. Bisher war er der festen Überzeugung gewesen, dass das alles Bens Blut war, doch nun überkam ihn das dumpfe Gefühl, dass das nicht stimmte. Mikael hatte nicht nur Kopfschmerzen gehabt, er war ernsthaft verletzt gewesen und er hatte es nicht gemerkt. Er hatte sich nur um Ben gesorgt und dabei den Zustand des Kollegen direkt neben ihm vollkommen übersehen. „Scheiße!“ Er zog den Reißverschluss herunter und schob ihn am Kragen etwas nach unten. „Du Idiot, warum hast du nichts gesagt!“, fluchte er leise, als er eine Wunde erblickte, die nur notdürftig mit einem Verband versorgt worden war und kräftig blutete. Er sah sich suchend um. „Hilfe! Ich brauche hier jemanden!“, schrie er. Sein Blick wechselte zwischen Mikael und dem Krankenhauseingang. Immer wieder tätschelte er sanft die Wangen des Mannes vor ihm. „Bitte Junge, komm wach auf.“ Wieder sah er zum Krankenhaus. „Bitte … ich brauche Hilfe!“ Nach einer gefühlten Ewigkeit wurden einige der rauchenden Patienten auf ihn aufmerksam. „Holen Sie einen Arzt. Mein Freund. Er ist zusammengebrochen!“ Ein dunkelhäutiger Mann löste sich und rannte in das Krankenhausgebäude. Semir öffnete vorsichtig den Verband und blickte auf eine tiefe Fleischwunde an seinem Oberarm – vermutlich ein Streifschuss. Blut quoll heraus und sammelte sich in einer kleinen Pfütze. „Verdammt“, fluchte er, „Verdammt, verdammt, verdammt!“


    Jemand berührte ihn an der Schulter und er sah sich um. Ein Arzt stand mit ein paar Pflegern hinter ihm und zog ihn sanft zur Seite. „Er ist zusammengeklappt. Er-er hat eine Schussverletzung am rechten Oberarm, direkt unterhalb der Schulter … sie blutet ziemlich heftig.“ Der Arzt nickte ihm zu und begutachtete die Verletzung. „Wann hat er sich das zugezogen?“, wollte er wissen. „Ich weiß nicht … vor drei bis vier Stunden vielleicht“, gab er unsicher Antwort. „Die Verletzung sieht auf den ersten Blick harmlos aus, ein Streifschuss. Vermutlich hat der Blutverlust für die Ohnmacht gesorgt. Wir werden ihn drinnen weiter versorgen und gründlich untersuchen.“ Der Arzt löste sich von dem bewusstlosen Finnen und gab dem Pflegepersonal die Anweisung Mikael auf einer Trage in das Krankenhaus zu bringen. „Gehen Sie am besten in den Wartesaal. Ich werde Ihnen dann Bescheid geben, wenn Sie zu ihm können.“ Er nickte und folgte mit etwas Abstand den Männern zurück in das Krankenhaus.

  • Semir lief nervös auf und ab. Erst die Sache mit Ben und jetzt das hier. Warum hatte er die Verletzung nicht bemerkt? Warum nur war ihm entgangen, wie schlecht der gesundheitliche Zustand von Mikael wirklich war? Er setzte sich hin und raufte sich durch die Haare. Warum nur war er so auf Ben fixiert gewesen, wo es im Nachhinein doch so offensichtlich war, dass es Mikael schlecht gegangen war. Es hätte ihm doch auffallen müssen, wie der Pullover sich immer mehr mit Blut vollsog, warum zur Hölle hatte er es einfach nicht gesehen?


    Was dauerte denn nur so lange? Er wartete nun schon über eine Stunde und noch hatte sich niemand bei ihm gemeldet. War die Verletzung doch schlimmer, als der Arzt auf den ersten Blick vermutet hatte? „Herr Gerkhan?“ Er sah auf und blickte in die Augen des Arztes von vorhin. Eilig sprang er auf. „Was ist mit ihm?“, schoss aus ihm heraus. Der Arzt lächelte. „Wie wir vermutet hatten, ein Streifschuss – wenn auch ein sehr tiefer. Der junge Mann hat viel Blut verloren und zeigt Symptome eines dadurch resultierenden Schockzustandes. Sein Blutdruck ist sehr niedrig und sein Puls sehr hoch. Die Wunde wurde genäht und verbunden.“ Er schien Semir's Sorge zu erkennen. „Er befindet sich nicht in Lebensgefahr. Er wird sich allerdings die nächsten Tage sehr schlapp fühlen und ich würde ihn gerne noch etwas länger hier behalten. Mit hohem Blutverlust ist nicht zu spaßen und wir wollen auf Nummer sicher gehen und schnell reagieren können.“ Er nickte und der Arzt fuhr fort: „Er bekommt derzeit Infusionen. Was er jetzt braucht ist viel Flüssigkeit. Bluttransfusionen waren Gott sei Dank noch nicht nötig.“ „Ich darf aber doch zu ihm“, fragte er jetzt. Wenn er schon nicht zu Ben konnte, wollte er zumindest zu Mikael. „Natürlich. Er liegt auf Zimmer 304.“ Er nickte und setzte sich langsam in Bewegung.


    Semir klopfte einige Male kräftig gegen die Tür und trat schließlich in das Krankenzimmer ein. Mikael lag in einem Bett und sah aus dem Fenster. Er wirkte immer noch blass, wenn auch durch das inzwischen weggewaschene Blut der krasse Kontrast zu vorher fehlte. In seiner rechten Armbeuge steckte der dünne Schlauch einer Infusion. „Ich hab mir Sorgen gemacht. Du bist einfach umgefallen“, entkam es dem Deutschtürken, während er einen Stuhl an das Bett zog. „Du hättest mir von der Verletzung erzählen sollen. Wie geht es dir? Besser?“ „Was ist mit Ben?“, kam sofort die Gegenfrage, ohne dass der Finne seine überhaupt beantwortete. „Sein Zustand ist kritisch. Sie wissen noch nicht, ob er durchkommt.“ Mikael nickte, lenkte seinen Blick allerdings immer noch nicht zu ihm. „Du weißt, dass du vorerst hier bleiben musst?“, fragte er nun. „Ja“, kam es einsilbig aus dem Bett. „Soll ich dir frische Klamotten holen? Du hast ja nichts hier. Eine Zahnbürste brauchst du sicherlich auch.“ Der Finne zuckte mit den Achseln. „Ist mir egal.“ Semir zwängte ein Lächeln heraus. „Dann werde ich jetzt kurz gehen, dir was besorgen. Hast du etwas bei Ben liegen?“ „Keine Ahnung.“ „Gut, ich werde nachschauen. Ansonsten kaufe ich dir etwas. Jeans, T-Shirt und Pullover oder willst du was Bequemeres? Eine Jogginghose vielleicht?“ „Ist nicht wichtig“, murmelte Mikael leise. Er nickte. „Gut, gut. Brauchst du sonst noch etwas?“ Er bekam nur ein Kopfschütteln als Antwort. Semir stand auf und drückte sanft Mikaels Hand. „Dann bin ich in einer Stunde zurück, okay?“ „Ja.“


    *


    Nur gut eine Stunde später, kehrte Semir mit einigen Kleidungsstücken zurück, die er feinsäuberlich in den kleinen Schrank des Zimmers faltete. Er hatte Glück, dass Mikael Ben in Schussligkeit und Unordnung nicht wirklich nachstand und so war es am Ende nicht besonders schwer ein paar Kleidungsstücke zu finden, die Mikael irgendwann einmal hier vergessen hatte. „Ich habe übrigens Eva angerufen. Sie wird mit den Kindern herkommen. Andrea wird sie abholen vom Flughafen.“ Er wartete auf eine Reaktion, doch sie kam nicht. „Mikael, hast du mich verstanden?“ „Ja“, flüsterte der Mann im Bett. Semir reichte ihm eine Jogginghose und ein T-Shirt, denn alles was er bisher am Leib trug, war ein Nachthemd, welches ihm das Krankenhaus zur Verfügung stellte. „Weißt du was Neues von Ben?“, murmelte Mikael, während er sich im Bett aufsetzte und die Beine in seine Jogginghose gleiten ließ. „Nein … sein Vater ist im Augenblick bei ihm.“ Er vernahm ein seichtes Nicken. Er setzte sich auf den Stuhl an Mikaels Bett und beobachtete den Finnen. Er schien unheimlich müde zu sein und wirkte weiterhin in seiner eigenen Gedankenwelt. Nachdem er im Park verzweifelt und am Ende gewirkt hatte, war er nun seltsam still und ruhig. Mehr als einsilbige Antworten, bekam er nicht mehr.


    Er knetete sich nervös die Finger. „Mikael? Magst du mir erzählen, wie es passiert ist?“ Der Schwarzhaarige blieb lange stumm und Semir war kurz davor seine Frage zu wiederholen, als sich der Mund des jungen Mannes doch noch öffnete. „Georg … er wollte auf Hannes schießen … er-er hat das immer gemacht, als ich klein war. Er wollte damit die Reaktion testen. Er hatte solche Angst, er hat sich nicht von der Stelle gerührt und dann habe ich ihn weggestoßen, als der Schuss fiel.“ Der Deutschtürke nickte. „Daher deine Verletzung?“ Er bekam ein leichtes Nicken als Antwort. „Ben, er … er muss vor dem Haus gestanden haben … plötzlich stand er im Garten und dann …“ Eine Träne lief über Mikaels Wange. „… dann hat Georg auf ihn geschossen … all das Blut und …“, die Stimme von Mikael versagte erneut. Semirs Hand griff nach seinem Arm. „Wo ist Georg Hansen jetzt?“


    Ohne dass Semir es verhindern konnte, zog sich Mikael die Infusionsnadel aus dem Arm und das Blut verteilte sich in Windeseile auf dem weißen Bettzeug. „Was zur …“, entkam es ihm überrascht, während der junge Mann vor ihm sich mit wackeligen Beinen aus dem Bett kämpfe. Semir schoss nun ebenfalls aus seinem Stuhl hoch und griff nach den Armen des Schwarzhaarigen, um ihn zu stabilisieren, da er bedrohlich schwankte. „Wo-wo ist mein Handy?“, murmelte Mikael und wühlte in den Schubladen seines Nachtschränkchens. „Mikael, bitte leg dich wieder hin.“ Er wollte ihn sanft wieder in Richtung Bett drücken, doch es gelang ihm nicht. Der Finne entwickelte ungeahnte Kräfte und wehrte sich gegen seine Umklammerung. „Lass mich … Ich muss Anna finden, sie wollte zu Georg … und verdammt, ich kann mir vorstellen wo sie sind!“ Mikael fischte sein Smartphone aus der Schublade und hielt es sich mit zittriger Hand ans Ohr. Wenig später redete er mit jemandem aufgeregt auf Finnisch, um nur Sekunden später wieder aufzulegen. „Ich brauche ein SEK-Team. Kannst du das veranlassen?“ Mikael wartete nicht auf Semirs Antwort und war bereits dabei sich das T-Shirt überzuziehen, welches Semir ihm vor wenigen Minuten gereicht hatte. „Mikael! Du kannst unmöglich das Krankenhaus verlassen. Du brauchst Ruhe, du hast viel Blut verloren.“ Seine Augen blieben auf dem rechten Arm hängen, wo er sich den Venenkatheter mutwillig aus der Armbeuge gerissen hatte. Blut tropfte von der kleinen Wunde in Richtung Boden. „Und du verlierst gerade noch mehr!“ „Das SEK-Team. Ich brauch es!“, wiederholte Mikael erneut. Er wartete nicht auf einen erneuten Protest von Semir und hielt sich stattdessen sein eigenes Handy ans Ohr und telefonierte mit Frau Bergmann vom Drogendezernat, ehe er nach kurzen Anweisungen auflegte. „Mikael! Ich verstehe ja, dass du aufgebracht bist, aber hier geht es um deine Gesundheit. Du musst dich wieder hinlegen“, versuchte es Semir abermals. „Es geht mir gut. Ich schaff das“, konterte Mikael, während er zum Schrank lief und nach einem Pullover griff. Ehe Semir erneut etwas erwidern konnte, war die Zimmertür aufgegangen und Mikael aus dem Zimmer gestürmt. „Scheiße!“, fluchte er leise und folgte dem starrköpfigen Mann.


    Als er aus dem Zimmer trat, stellte er fest, dass Mikael auf seinem Weg nach Draußen bereits aufgehalten wurde. Er schien dem behandelnden Arzt geradewegs in die Arme gelaufen zu sein. „Sie können unmöglich gehen Herr Häkkinen. Sie riskieren eine Verschlechterung Ihres Zustandes. Sie brauchen Ruhe und medizinische Behandlung!“ „Ihre beschissene Infusion war schon fast durchgelaufen!“, knurrte Mikael. „Mit einer Infusion ist es aber doch nicht getan, dass müssen Sie doch verstehen.“ Der Arzt sah hilfesuchend zu Semir. „Mikael, der Doc hat Recht. Du kannst nicht einfach so losstürmen. Du riskierst damit, dass du wieder umkippst oder dein Zustand sich vielleicht sogar noch verschlechtert.“ „Es geht mir gut!“, beteuerte der aufbrausende Finne abermals. „Sie haben kein Recht mich gegen meinen Willen festzuhalten!“ „Sie haben Recht, dass habe ich nicht. Aber ich kann an ihre Vernunft appellieren. Sie bekommen kreislaufstabilisierende Medikamente, dazu starke Schmerzmittel.“ „Wenn es Sie beruhigt, kann ich ja zurückkommen, wenn ich das erledigt habe!“ Mikael löste sich von dem Arzt, um das Krankenhaus zu verlassen. Der Mann sah dem flüchtenden Patienten perplex hinterher. „Sie sollten ihren Kollegen zur Vernunft bewegen. Seine Werte waren alles andere als gut“, richtete er in Richtung Semir. Er nickte. „Ich werde mein Bestes versuchen“, versicherte er und begab sich mit hastigen Schritten auf die Verfolgung von Mikael, der inzwischen vor dem Krankenhaus stehen geblieben war und verloren in die Ferne blickte. „Ich habe gar kein Auto“, nuschelte er jetzt. „Das sollte dir sagen, dass du wieder zurück in das Krankenhaus gehen könntest“, gab ihm Semir zu bedenken, doch Mikael schüttelte vehement den Kopf. „Ich werde nicht zurückgehen!“ Er seufzte. Er würde nicht weiterkommen. Es schien wirklich Leute zu geben, die noch verbohrter waren als Ben. „Gut, es scheint, als könnte ich dich zu nichts zwingen. Aber ich werde mitfahren und du wirst nicht am Einsatz teilnehmen!“ Mikael nickte leicht und reichte ihm sein Handy. „Das ist die Adresse, es ist ein alter Hof. Dort müssen sie sein.“

  • Es hatte nicht länger als eine Stunde gebraucht und der Einsatz auf Hansens Versteck war vorbereitet. Das Gehöft, auf das er geflüchtet war, lag in unmittelbarer Nähe von stillgelegten Bahngleisen und war umgeben von kleineren Erhebungen, die dem SEK Schutz boten. Etwa 30 Männer des Kölner Sondereinsatzkommandos waren bereits in Stellung gegangen. Semir stand gemeinsam mit Mikael und Annemarie Bergmann vor einer Karte und der Deutschtürke musste feststellen, dass sich der finnische Kollege natürlich mitnichten an sein Versprechen hielt. Mikael machte einige Bewegungen mit seinem Finger und erklärte, wie er den Zugriff am besten durchplanen würde. „Wir werden diese Wege nutzen. Ich stürme zusammen mit Team A, Semir mit Team B und Sie, Frau Bergmann, schließen sich Team C an.“ Sie nickten und der Schwarzhaarige löste sich vom Auto und zog sich die schusssichere Weste über. Semir musterte ihn kritisch. Er war weiterhin unheimlich blass und drückte die Augen immer wieder auf und zu. Schweiß stand auf der Stirn des Kollegen. Sanft zog er Mikael etwas von Frau Bergmann weg. „Du hast Schwindelanfälle“, sagte er mit bestimmter Stimme. „Wie kommst du darauf?“, erwiderte Mikael und wollte zurück zum Auto gehen, doch Semir hielt ihn zurück. „Ich kann dich inzwischen lesen wie ein Buch. So kannst du unmöglich beim Zugriff teilnehmen, Mikael, wenn du umkippst … ich kann das nicht verantworten. Du hast gesagt, du wirst nicht an diesem Einsatz teilnehmen, erinnerst du dich? Wenn du nicht von dir aus Frau Bergmann über deinen Zustand informierst, werde ich es tun!“ Endlich schien er die Aufmerksamkeit seines Freundes zu haben. „Das kannst du nicht machen“, murmelte er leise. „Siehst du verschwommen?“ Semir musterte ihn genau. Er wollte keine Reaktion von Mikael verpassen. „Nein.“ „Du lügst“, schimpfte er leise. Mikaels blaue Augen funkelten ihn wütend an. „Es ist mein Großvater. Es ist meine Aufgabe, ihn für das, was er Ben angetan hat …“ „Nein!“, unterbrach Semir ihn, „Es ist nicht deine Aufgabe. Ich werde nicht zulassen, dass du da in diesem Zustand reingehst! Es reicht, wenn ich um das Leben von einem Freund bangen muss.“ „Ich bin alt genug, um selbst zu entscheiden!“, antworte der Finne aufbrausend und wollte abermals an Semir vorbeistürmen, dann packte ihn jedoch der nächste Schwindelanfall. Der Schweiß lief in Bächen über die Stirn und Semir konnte gerade noch zupacken, ehe dessen Beine nachgaben. „Und damit ist meine Sorge bestätigt“, sagte der Deutschtürke mehr zu sich selbst, als zu Mikael. Er lehnte den jungen Kollegen gegen seinen BMW und machte sich anschließend auf den Weg zur Einsatzleiterin, um ihr die Situation zu erklären. Wenig später kniete er sich neben Mikael, der inzwischen die Handflächen gegen den Kopf drückte. „Der Zugriff wird bald anfangen. Ich werde hier bei dir bleiben.“ Mikaels Kopf hob sich ein Stück. „Du hast Angst, ich würde sonst davonlaufen?“, hauchte er kraftlos. Semir lächelte. „Um ehrlich mit dir zu sein, Ja.“


    Nur wenige Sekunden später ertönte das Wort „Zugriff“ aus dem kleinen Funkgerät in Semirs Händen. Aus dem Lautsprecher folgte in den nächsten Sekunden Gebrüll, Krachen und schließlich Schüsse. Der Schrei einer Frau. Dann war alles still. Semir wollte gerade etwas in das Funkgerät sagen, als Mikael sich neben ihm plötzlich hochzog und mit eiligen, wackeligen Schritten in Richtung Haus rannte. „Mikael! Verdammt, bleib sofort stehen!“, rief er ihm hinterher, doch Mikael nahm ihn nicht mehr wahr. „Hört die Jugend eigentlich irgendwann einmal zu“, schimpfte er leise und rannte hinter Mikael her in das Haus. Nur wenige Meter hinter der Eingangstür blieb der Finne abrupt stehen und blickte auf die Erde, wo eine Person in einer Blutlache lag.


    Mikael stierte wie hypnotisiert auf die Leiche seines Großvaters, unter der sich bereits eine Blutpfütze gebildet hatte. „Er wollte auf den Kollegen schießen“, hörte er jemanden hinter sich sagen. Nur unweit von ihm stand Anna und hatte Hannes an sich gedrückt. „Er wusste, dass sie ihn erschießen“, ließ ihn seine Cousine wissen, „er hat es darauf angelegt.“ Mikaels Augen verfolgten, wie das frische Blut aus der Wunde quoll und die Blutlache unter Georg Hansen immer größer wurde. Er war nicht fähig irgendetwas zu denken oder zu tun. In seinem Kopf summte es und die Bilder vor seinen Augen verschwammen zu einer Suppe aus Nichts. Ihm wurde übel und er fühlte sich unfähig etwas zu tun. Sein Körper fühlte sich so unglaublich schwer an und das obwohl ihn eine solche Leere umgab. Am Ende war sein Großvater einmal mehr der Justiz und der gerechten Strafe entkommen. Er spürte, wie ihn jemand sanft zur Seite und aus dem Haus zog, realisierte allerdings erst draußen, dass es Semir war. Er sah ihn mit Sorge an. „Mikael? Hörst du mich? Komm schon antworte mir.“ „Hmm“, war alles was er herausbrachte. „Ich habe dich jetzt schon drei Mal gefragt, ob es dir gut geht.“ Seine Stimme klang vorwurfsvoll, gleichzeitig aber auch voller Sorge und Mitleid. Er drückte die Augen für ein paar Sekunden zu und öffnete sie wieder, um den Schwindel zu vertreiben. „Ja. Ich denke schon“, sagte er nun. Er sah sich um und konnte etwas weiter Anna und Hannes erkennen. „Ich komme gleich wieder“, ließ er Semir wissen und begab sich mit einigen unsicheren Schritten in Richtung seiner Cousine.


    Sie sah auf, als sie ihn erblickte. „Es tut mir Leid, Anna. Ich-ich wusste nicht, dass das passieren würde, sonst wäre ich … alleine gekommen.“ Die Frau presste ein müdes Lächeln heraus. „Es ist nicht deine Schuld, Mikael.“ Er spürte, wie sie nach seiner Hand griff und sie leicht drückte. „Ich bin froh, dass du Hannes gerettet hast, als er auf ihn geschossen hat.“ Mikael machte einige Schritte auf sie zu und umarmte sie mit einem leichten, fast schüchternen Druck. „Es ist vorbei“, flüsterte sie ihm leise ins Ohr, „die Dynastie der Hansens endet hier. Jetzt sind nur noch wir zwei übrig.“ Der Schwarzhaarige löste sich langsam wieder von ihr und sah kurz auf Hannes. Der Junge zitterte am ganzen Leib und sah verstört auf das Gebäude. „Du solltest ihn hier wegbringen“, murmelte er leise. Anna nickte und zog ihren Sohn langsam zu ihrem Auto. Ehe sie fortfuhr, sah sie noch einmal zu ihm und lächelte schwach.„Du denkst, wir können ihr trauen?“ Semir stand inzwischen neben ihm und verfolgte, wie Anna Hansen den Hof mit ihrem Sohn verließ. „Ich denke schon“, flüsterte er, während er versuchte die Balance zu halten. Die Umgebung schien sich zu drehen, zum Teil nach rechts und zum Teil nach links. Noch dazu war er fürchterlich erschöpft. Sein Blick blieb auf der untergehenden Sonne haften. „Ich werde schon Mal zum Auto gehen. Ich bin müde.“ Semir nickte und ging seinerseits wieder in Richtung des Hauses. Die Spurensicherung war gerade am Werk und die Leiche von Georg Hansen wurde abtransportiert. „Das ist es wohl, das Ende der Hansen-Ära. Ein guter Tag würde ich behaupten“, sagte Annemarie Bergmann neben ihm. Er sah sie ungläubig an. „Wie soll das ein guter Tag sein? Mein Kollege liegt im Krankenhaus, der Zugriff ist komplett schief gelaufen und der Enkel von Herrn Hansen, übrigens ein fähiger junger Polizist, ist am Ende mit seinen Nerven!“, zischte er gehässig. Sie lächelte. „Herr Häkkinen wird sich schon wieder fangen. Ich bin mir sicher, er hat schon schlimmeres weggesteckt.“ Semir musste sich Mühe geben, sich nicht Hier und Jetzt zu verlieren. Diese Frau war wirklich eiskalt. Es schien ihr vollkommen egal zu sein, was dieser Erfolg gekostet hatte. „Ich werde jetzt fahren. Ich werde ja wohl nicht mehr gebraucht, um ihren tollen Erfolg zu feiern“, schimpfte er und drehte sich um. Mit eiligen Schritten ging er in Richtung seines BMW. Er wollte diesen Ort verlassen und endlich wieder zu Ben.

  • Semir zog die Stirn in Falten. Mikael saß nicht, wie er gesagt hatte, auf seinem Beifahrersitz. Stattdessen hatte er die Pistole hinterlassen, nichts weiter. Semir stöhnte auf und sah sich um, konnte Mikael allerdings nicht ausmachen. Er versuchte ihn über das Handy zu erreichen, doch Mikael schien nicht mit ihm reden zu wollen.


    Kurzerhand schloss er den BMW wieder ab und begab sich auf die Suche nach Mikael. Einer der Kollegen berichtete ihm nach wenigen Minuten, dass er gesehen hatte, wie Mikael eine Anhöhe raufgegangen war und tatsächlich, als Semir den kleinen Trampelpfad auf dem Hügel entlanglief erschien Mikael in seinem Blickfeld. Der Schwarzhaarige saß im Gras und sah auf den Hof, wo vor wenigen Minuten ein Zugriff nicht das gewünschte Ende nahm. „Du hättest es nicht ändern können“, sagte Semir und setzte sich neben den finnischen Kollegen. Er überlegte, wie er ihn zum Reden bewegen sollte. Mikael gehörte nicht zu den Menschen, die offen über Gefühle sprachen. Er war verschlossen und fraß Dinge gerne in sich hinein. Zu seinem erstaunen, schwieg er diesmal jedoch nicht: „Weißt du Semir, es gibt nur eine Sache, womit ich Ben in den letzten Wochen nicht belogen habe.“ Mikaels Stimme klang seltsam dünn und der Deutschtürke musste sich anstrengen ihn zu verstehen. „Du überlegst wirklich den Polizeidienst zu quittieren?“, riet Semir ins Blaue. „Ich bin kein besonders guter Polizist … meine Vergangenheit …“, murmelte Mikael leise. Semir schwieg einen Augenblick, ehe er etwas darauf erwiderte. „Du weißt, dass das nicht stimmt. Du bist gut in dem was du tust Mikael. Lass dir von deinem Großvater und deinem Vater deine Zukunft nicht zerstören.“ „Ich kann nicht mehr … ich spüre, wie jeder Fall mir mehr zusetzt, mich mehr daran zweifeln lässt, ob man das Böse überhaupt besiegen kann. Ich-ich …“ Er fuhr sich mit den Händen durch die Haare und umschlang danach seine Beine. „In den letzten Wochen, da hatte ich einige Male das Gefühl, als würde ich in Georgs Sumpf versinken … ich habe meine Zweifel verloren. Ich habe seine Aufgaben ohne ein schlechtes Gewissen erfüllt. Konrad hat Recht, ich bringe seinem Sohn nur Unheil. Meine Familie hat Ben töten wollen und das nicht nur einmal. Vielleicht sollte ich einfach für immer aus seinem Leben verschwinden.“


    „Nein, du wirst nicht noch einmal aus Bens Leben verschwinden! Er ist dein Freund und wird es immer bleiben“, versuchte er dem Mann neben sich klar zu machen. Doch die Traurigkeit, die sich in Mikaels Augen wiederspiegelte, zeigte, dass er nicht zu ihm durchgedrungen war. „Ich habe so viele Fehler gemacht. Das einzige Gute in meinem Leben sind Eva und die Kinder ... und Antti. Ich enttäusche sie immer wieder und sie verzeihen mir immerzu … ich versteh das nicht.“ „Weil du ein guter Mensch bist“, antwortete Semir, „weil sie dich lieben. Du bist ihre Familie. Ihr Freund. Genauso, wie du der von Ben und mir bist.“ Der Deutschtürke beobachtete, wie Mikael die Arme enger um seine Knie schlang. „Ich habe Angst mich zu verlieren“, er stockte, „Angst, dass diese Seite … diese dunkle Seite wieder die Überhand gewinnt. So wie in dem Kerker oder als ich Tonteri umbringen wollte … ich muss die Reißleine ziehen, sonst zerstört es mich. Ich möchte nicht, dass ich wie Georg werde …“ Semir schluckte unbehaglich. Mikael hatte über solche Dinge nie mit ihm gesprochen. Dafür war sein junger Freund nicht der Typ. Über seine Gefühle reden, schien für Mikael mit unheimlichen Stress und Unwohlsein verbunden. Davon zeugten sein starrer Blick und die Tatsache, dass seine Hände leicht zitterten. „Ich habe den anderen erzählt, dass ich mich nur freistellen lassen werde, aber in Wirklichkeit ist meine Entscheidung schon lange gefallen.“ Semir legte ihm seine Hand auf die Schulter. „Überleg es dir noch einmal. Ich denke, du solltest nicht sofort alles hinwerfen. Nimm dir ein paar Monate Zeit und schau, wie es läuft.“ Der Finne sah zum ersten Mal seit Beginn der Unterhaltung auf und ihm direkt in die Augen. Schließlich nickte er leicht. „Komm ich bringe dich zurück ins Krankenhaus. Ich sehe doch, dass es dir gesundheitlich nicht gut geht.“ Semir zog Mikael nach oben und führte ihn zurück zum BMW.


    Während der Autofahrt zum Krankenhaus, sah Semir immer wieder flüchtig zu Mikael herüber. Er sah stumm nach vorne und spielte an seinem Armband. Immer wieder glitten die Finger des Schwarzhaarigen über den Anhänger. Den Anhänger, den Ben seinerseits an seiner Kette trug. „Soll ich noch einmal mit Konrad Jäger reden? Wenn ich ihm alles erkläre, dann wird er dich vielleicht doch zu Ben lassen“, erhob der Deutschtürke nach einer Weile die Stimme. Mikael sah ihn nicht an, schüttelte jedoch den Kopf. „Ich will keinen Ärger machen. Er hat guten Grund, wenn er mich nicht bei seinem Sohn haben will“, flüsterte er leise.


    30 Minuten später saßen sie wieder in Mikaels Krankenzimmer. Semir beobachtete die Schwester dabei, wie sie einen neuen Venenkatheter anlegte und eine Infusion an den Infusionsständer neben dem Bett hängte. Der Ausflug hatte Mikaels Zustand zwar nicht verbessert, aber Gott sei Dank auch nicht verschlechtert. Das Adrenalin wich langsam aus dessen Körper und er schien es nicht länger zu schaffen, sich gegen seinen eigenen Körper aufzubäumen. Semir stellte mit Erleichterung fest, dass sich die Augen des finnischen Kommissars fast wie von selbst schlossen, als er sich auf das Bett gelegt hatte. Der Deutschtürke blieb noch einige Zeit sitzen, um sicher zu gehen, dass Mikael auch wirklich eingeschlafen war und verließ dann leise das Zimmer.


    Wie in Trance führte ihn sein Weg in Richtung der Intensivstation. Er atmete ein letztes Mal tief durch und betrat dann schließlich das Zimmer, wo Ben lag. Langsam näherte er sich dem Bett in der Mitte des Raumes. Er ließ sich auf den Besucherstuhl nieder und betrachtete seinen Partner. Diverse Kabel und Schläuche führten von Bens Körper und verbanden ihn mit den medizinischen Geräten. Aus dem Mundwinkel ragte ein Intubationsschlauch. Er griff nach Bens Hand und drückte sie sanft, während er Bens bleiches Gesicht betrachtete. „Es tut mir leid, dass ich es erst jetzt geschafft habe“, brachte er im leisen Flüsterton heraus, „aber es ist viel passiert über den heutigen Tag und ich-ich musste doch auch auf Mikael Acht geben.“ Er schluckte schwer. „Warum bist du Dummkopf nur zu den Hansens gefahren? Warum hast du nicht abwarten können?“ Er blieb einige Zeit stumm und wartete auf eine Antwort von Ben, doch es kam keine. Sein Partner lag genauso hilflos da, wie noch vor ein paar Minuten. „Du kannst nicht sterben Ben. Wenn du gehst, du weißt nicht, was du Mikael damit antust … was du mir damit antust.“


    Unweigerlich dachte er daran, wie er Mikael nach dem SEK-Zugriff vorgefunden hatte. Er war zerfressen von Schuldgefühlen und schien sich nur noch schwer unter Kontrolle zu haben. „Ich wünschte, dass du nicht deinen Schönheitsschlaf halten würdest. Ich habe nämlich keine Ahnung, wie ich Mikael dazu bringe nicht komplett abzustürzen.“ Er drückte Bens Hand fester und berichtete ihm von den letzten Stunden. Rekapitulierte vor seinem Kollegen den Zugriff auf Hansen und das Gespräch, was er mit Mikael geführt hatte. „Dein Vater ist sehr wütend auf ihn“, sagte er schließlich, „alleine deshalb musst du wach werden. Du musst wach werden, damit du deinem Vater sagen kannst, dass du Mikael in deiner Nähe haben willst.“ Er seufzte. „Ich habe selten eine solche Verachtung in den Augen von deinem Vater gesehen. Ich wünschte, die Beziehungen zwischen den Hansens und Jägers wären nicht so kompliziert. Versprich mir Ben, dass du und Mikael … dass ihr niemals so enden werdet, wie eure Väter.“

  • Er blieb abrupt stehen, sah auf den leblosen Körper hinab. Der Mensch vor ihm war blass, seine Augen geschlossen. Blut sickerte unter ihm in den Schnee, färbte ihn rot. Ihm wurde übel und für einen Augenblick war ihm schwarz vor Augen. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Knie. Mit zittrigen Händen suchte er nach dem Puls und fühlte … nichts. „Nein, nein, nein!“ Panik machte sich in ihm breit, unglaubliche Panik. Eisige, kalte Krallen griffen nach seinem Herz. Drückten es zusammen, wie einen Spielball.
    Er bracht ihn in Rückenlage und legte die Hände übereinander, drückte auf seinen Brustkorb. Eins, zwei, drei, vier, fünf … 30. Dann überstreckte er leicht den Kopf. Zwei Atemstöße. Eins, zwei, drei, vier, fünf … 30.


    Schweißgebadet schreckte er aus seinem Albtraum hoch und saß aufrecht im Bett. Einen Moment wusste er nicht, wo er sich befand, doch dann zogen die Schmerzen durch seinen rechten Arm und er erinnerte sich wieder, was in den letzten Stunden passiert war. Der Streifschuss. Ben. Die schiefgelaufene Festnahme von seinem Großvater. Sein Oberkörper fiel wieder in die Matratze und er starrte in Richtung Zimmerdecke. Er wünschte, er könnte die Zeit zurückdrehen. Seine Fehler ungeschehen machen. Er wünschte sich nichts mehr, als dass Joshua noch lebte und Ben niemals von seinem Großvater angeschossen wurde. Er schloss die Augen, doch als Joshuas Gesicht abermals auftauchte, öffnete er sie wieder. Er drückte seine zitternden Hände in die Decke und spürte, wie sich warme Tränen ihren Weg über sein Gesicht bahnten. Warum nur konnte er seine Freunde nicht an seiner Seite halten? Warum musste immer etwas passieren, was ihm den Halt unter den Füßen wegriss. Er war müde, er wollte nicht mehr kämpfen. Er war zu erschöpft sich gegen die immer neuen Hürden in seinem Leben zu wehren. Es fühlte sich an, als würde er in ein tiefes Loch gezogen. War es möglich, dass ihm selbst in der liegenden Position schwindelig war? In seinem Schädel schrien zahlreiche Gefühle, Erinnerungen und Gedanken gleichzeitig um Aufmerksamkeit und raubten ihm den Schlaf. Er wollte nur vergessen, nur für ein paar Minuten …


    Er hatte keinen Schlaf mehr finden können und so blieb er die ganze Nacht wach. Er fragte sich, ob die letzten Jahre anders verlaufen wären, wenn Joshua noch lebte. Wahrscheinlich wären sie das. Joshua hätte ihn gewarnt dieses Angebot anzunehmen und sich im Haus seines Großvaters einzuschleichen. Joshua hätte gewusst, dass er damit seine Freunde und Familie in Gefahr bringen würde. Wenn es um solche Dinge ging, hatte sein Freund immer weiter gedacht, als er. Er sah aus dem Fenster und beobachtete, wie sich die Sonne am Horizont hob. Zwischenzeitlich war eine Schwester im Zimmer gewesen, hatte die Infusion ausgetauscht und ihn gefragt, ob er Schmerzen hätte. Er hatte verneint, obwohl er Schmerzen hatte, aber es war ihm egal gewesen.


    Mikael vernahm ein zaghaftes Klopfen an der Tür. So klopfte nur eine Person, die er kannte. Wenig später öffnete sich die Tür und seine Frau trat herein. Hinter ihr folgte Semir. „Eva“, flüsterte er leise und wünschte sich noch tiefer zu versinken. Er konnte es in ihren Augen sehen, dass sie sich um ihn sorgte. Sie lächelte sanft und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Was machst du nur für Sachen, hm?“, meinte sie besorgt und griff nach seiner Hand. „Ich … es tut mir Leid, ich-ich habe dich wieder enttäuscht“, hauchte er und war selbst erstaunt darüber, wie kraftlos seine Stimme klang. „Nein, das hast du nicht“, begann sie und drückte seine Hand fester, „aber ich bin traurig. Traurig darüber, dass du dich immer noch nicht anderen Leuten anvertrauen kannst. Du heimlich diesen Auftrag angenommen hast, du mir erzählt hast du wärst bei Ben und dich in Gefahr gebracht hast.“ „Ich dachte … ich wollte euch schützen …“ Seine Stimme begann zu zittern. Eva setzte sich auf das Bett und umarmte ihn sanft. Als sie ihn in ihren Armen hielt, bröckelte seine Fassade vollkommen. Er drückte sie an sich, brachte keinen Laut heraus. Sein Mund öffnete sich zitternd, wie bei einem Fisch, der an den Strand gespült wurde und auf dem Trockenen langsam erstickte. „Es wird alles wieder in Ordnung kommen“, flüsterte sie leise, „alles wird sich zum Guten wenden.“ Sie strich durch seine Haare, während er weinte, schluchzte und abgerissene Worte stammelte. Er schaffte es nicht mehr vor dem wichtigsten Menschen in seinem Leben stark zu sein. Er drückte sie fester an sich, wollte sie nie wieder loslassen, aus Angst sie würde dann gehen - wie alles Gute in seinem Leben.


    Semir beobachtete still das Bild vor sich. Es zerriss ihm das Herz, wie Mikael seine Frau an sich drückte und bitterlich weinte. Er erinnerte sich an das Gespräch auf dem Hof und diese Szene ließ ihn erkennen, dass Mikael jedes Wort ernst gemeint hatte. Er war am Ende, erschöpft, müde und kraftlos. Er befand sich auf einem schmalen Grat, an dessen Abgrund der totale Zusammenbruch gierig auf ihn zu warten schien. Er wünschte sich, dass er ihm irgendwie helfen könnte, aber er konnte ihm in diesen Stunden kein Halt sein. Er war zu sehr mit seiner Sorge um Ben beschäftigt, als dass er noch Mikael auffangen konnte, bewahren konnte vor dem, was auf ihn wartete.


    Es dauerte lange bis Mikael sich wieder beruhigt hatte und seine Schluchzer abebbten. Er löste sich von Eva und sah in Semirs Augen. „Ben … gibt-gibt es etwas Neues?“ Er schüttelte den Kopf. Er war am frühen Morgen bereits bei Ben gewesen, aber die Ärzte hatten ihm nichts Neues sagen können. Der Zustand war weiterhin kritisch. Mikael nickte und sah aus dem Fenster. „Ich möchte gehen … ich möchte nach Ha …“ Seine Stimme brach ab und Semir erkannte warum. Früher hatte er bei Einsätzen in NRW oft bei Ben gewohnt und es dementsprechend auch Zuhause genannt, eine Möglichkeit, die für ihn nun nicht mehr in Frage zu kommen schien. „Wenn der Arzt sein okay gibt, kannst du gehen. Ihr könnt bei uns wohnen. Ich habe das schon mit Eva abgesprochen“, ließ er Mikael wissen, fügte aber zugleich hinzu, dass es nur passieren würde, wenn er wirklich in Ordnung sei. „Okay“, stimmte ihm Mikael mit seichter Stimme zu.


    Wenige Stunden später beobachtete Semir misstrauisch, wie Mikael die wenigen Sachen zusammenpackte, die er ihm gestern gebracht hatte. Eva war inzwischen gegangen, weil sie sich um die Kinder kümmern musste. Eine Situation, die der Schwarzhaarige schließlich für seine Zwecke ausgenutzt hatte. Semir war sich sicher, dass der junge Kollege das Krankenhaus auf eigenen Wunsch verließ und dass die Meinung des Arztes wenig damit zu tun hatte. Wie er da stand, kreidebleich, mit rot unterlaufenen Augen. Nein, so hätte ihn niemand gehen lassen! „Und du bist dir auch sicher, dass du das Krankenhaus schon verlassen solltest?“, hakte er abermals nach, bekam aber nur ein einsilbiges ‚Ja‘ als Antwort. „Was hat der Arzt genau gesagt?“, fragte er nun. Mikael sah kurz auf, ehe er schließlich nach seiner Tasche griff und das Zimmer verließ. „Das es keinen Grund mehr gibt, dass ich hier bleiben muss. Die Werte sind in keinem lebensgefährlichen Rahmen.“ Er hechtete dem Finnen hinterher. „Das waren sie nie. Er hat nicht sein okay gegeben. Du gehst auf eigenem Wunsch“, stellte er schließlich klar. Mikael blieb stehen und sah ihn an. „Und wenn? Du kannst es nicht verhindern. Ich werde nicht hierbleiben.“ Er seufzte. „Nein, du hast Recht. Ich kann das nicht verhindern, ich kann dich nur darum bitten.“ Er legte seine Hand auf Mikaels Schulter und sah ihn eindringlich an, studierte jede Regung im Gesicht des Jüngeren. „Ich weiß, wie du dich fühlst wegen Ben. Er ist auch mein Freund, mein Partner …“ Mikael drehte sich weg und Semirs Hand rutschte von der Schulter des Schwarzhaarigen. „Du hast keine Ahnung, Semir … ich bin Schuld an all dem hier.“ „Nein, so was darfst du nicht denken, Mikael. Niemand trägt Schuld!“, versuchte Semir mit eindringlicher Stimme. „Niemand?“, schrie Mikael nun und ließ die Tasche wütend auf den Boden knallen, so dass einige umherstehende Schwestern leicht zusammenzuckten. „Es war MEIN Großvater, der auf ihn geschossen hat … ich hätte nur selbst abdrücken müssen, um auf Georg zu schießen … aber ich habe es nicht!“ Semir sah, wie Mikaels Augen glasig wurden und sich abermals Tränen im bleichen Gesicht des jungen Kommissars abzeichneten. „Ich habe es nicht“, wiederholte er mit tonloser Stimme. Semir trat langsam an Mikael heran und drückte ihn leicht an sich. „Rede dir das nicht ein, es war eine Ausnahmesituation. Du hättest nichts ändern können“, redete er ihm mit sanfter Stimme gut zu und fuhr mit seiner rechten Hand durch die dichten schwarzen Haare. Er spürte den aufgeregten Herzschlag des Finnen gegen seine Brust, spürte jedes kleine Zittern seines Gegenübers. „Mikael, du solltest noch etwas hierbleiben. Ich werde den Arzt bitten, dass er dir etwas zum beruhige …“ Noch ehe er die Worte ausgesprochen hatte, schien er mit der Anmerkung die Lebensgeister in dessen Körper wieder geweckt zu haben. Mikael löste sich aus seiner Umklammerung und schüttelte energisch den Kopf. „Nein … ich werde nicht hierbleiben. Ich werde mich nicht wieder mit diesem Mistzeug vollpumpen lassen!“ „Gut, gut“, versuchte Semir schnell ihn zu beruhigen. „Wir gehen, aber du musst mir versprechen, dass du dich bei uns Zuhause wieder hinlegst. Du dir eine Pause gönnst.“ Mikael nickte leicht und hatte sich bereits wieder in Bewegung gesetzt. Semir schüttelte den Kopf und griff nach der kleinen Reisetasche, ehe er stumm Mikael zum Wagen folgte.


    Die ganze Fahrt zum Haus der Gerkhans wurde kein Wort gesprochen. Semir wusste einfach nicht, was er dem jungen Mann neben sich sagen sollte. Mikael sah die ganze Zeit über aus dem Fenster und schien tief in seine Gedanken versunken. Ihm war klar, worüber der Schwarzhaarige so angestrengt nachdachte. Ben. Seinen Freund, den er nicht hatte schützen können. Mikael hatte so viel Schuld auf sich geladen, dass Semir sich unfähig fühlte, sie irgendwie wieder von ihm zu nehmen. Alles war Semir nun hoffte war, dass diese Schuld sich in wenigen Tagen legen würde. Mikael war schon oft verzweifelt gewesen in der Vergangenheit und schnell wieder auf die Beine gekommen. Vielleicht würde es jetzt auch so sein.


    Als sie angekommen waren, blieben sie lange im Auto sitzen. Semir wollte, dass Mikael den ersten Schritt machte. Er wollte ihn nicht drängen und doch wurde er langsam ungeduldig. Nach endlosen Minuten des Wartens, öffnete sein Beifahrer schließlich die Tür und ging mit langsamen Schritten auf das Haus zu. Der deutsche Kommissar beobachte ihn dabei, wie er sich zu sammeln schien und schließlich eine emotionslose Maske aufzog. Sein Gesicht mit einem leichten Lächeln schmückte, welches im Grunde nichts aussagte. „Du brauchst vor Andrea und Eva nicht den starken Mann spielen“, sagte er vorsichtig, doch Mikael schien ihn nicht einmal zu hören und so sperrte er schlussendlich mit einem leichten Kopfschütteln die Türe auf.


    „Isi! Isi!“ Unmittelbar nachdem Semir und Mikael in das Haus getreten waren, waren die beiden kleinen Kinder des finnischen Kollegen auf sie zugestürmt und drückten sich an ihren Vater. Der Deutschtürke beobachtete, wie Mikael erneut mit der Fassung rang und ihm wurde urplötzlich klar, dass er diese Maske nicht für Eva und Andrea aufgezogen hatte, sondern für seine Kinder. Doch nun schien sein Vorhaben zu wanken. Mikael hatte wieder zu zittern begonnen und kämpfte damit die Fassade aufrecht zu halten. Eine Tatsache die wohl auch Eva, die nun aus dem Wohnzimmer trat, nicht entgangen war. „Oskari, Viivi … was haltet ihr von einem Film?“ Der Junge starrte seinen Vater mit großen Augen an. „Schaust du mit?“ „Ich … Papa ist müde“, nuschelte Mikael leise. „Bitte! Du warst doch so lange weg!“ Er presste ein Lächeln heraus. „Aber nur einen Film“, gab er schließlich klein bei. Die Kinder stürmten zurück in das Wohnzimmer, wo Ayda und Lilly bereits vor dem Fernseher auf dem Boden hockten. Mikael folgte den beiden mit langsamen Schritten und setzte sich auf das Sofa.


    „Er sieht schlecht aus.“ Semir löste seinen Blick von dem Kollegen und drehte sich um. Andrea stand hinter ihm und sah an ihm vorbei in das Wohnzimmer. „Er macht sich unheimliche Vorwürfe … ich komme nicht an ihn heran“, berichtete er ihr mit belegter Stimme. Seine Frau nickte und drückte sanft seine Hand. „Wie geht es Ben?“ „Heute Morgen gab es keine Veränderung. Ich werde gleich noch einmal hinfahren.“ Semir sah wieder auf Mikael und Andrea schien seine Gedanken lesen zu können. „Ich werde solange auf ihn achten. Eva ist ja auch noch hier … keine Sorge. Schau du nur nach Ben.“ „Gut, aber wenn es im schlechter geht – bitte rufe mich sofort an.“



    *


    Semir griff vorsichtig nach Bens Hand und drückte sie fest, ohne dass eine Reaktion von der Seite seines Partners kam. Er hatte mit dem Arzt gesprochen und zum ersten Mal waren die Details zu ihm durchgedrungen. Die Kugel hatte gleich mehrere Organe seines Partners schwer verletzt und über Nacht hatte er Fieber bekommen, welches man inzwischen allerdings wieder im Griff hatte. Das stetige Saugen des Beatmungsgerätes drang durch das Zimmer, welches seinen Partner am Leben hielt – zumindest für den Augenblick.


    „Es wird Zeit, dass du mal einen Schritt in die andere Richtung machst, Ben“, begann er nach einer Weile. „Du musst leben Ben. Für deinen Freund, für deine Familie … für Aida und Lilly. Du bist stark … ich weiß, dass du stark bist.“ Er beobachtete, wie sich Bens Brustkorb langsam hob und senkte. Immer im gleichen monotonen Modus, der vom Beatmungsgerät vorgegeben wurde. Wie oft hatte er schon in ähnlichen Situationen an Bens Bett gesessen? Zu oft. Im Grunde hatte Konrad Jäger Recht. Seit Mikael in Bens Leben getreten war, hatte sich sein Partner so oft ohne Nachzudenken in gefährliche Situationen gestürzt. Wenn es um Mikael ging, vergaß Ben alles um sich herum. „Aber so ist es bei echter Freundschaft“, murmelte er laut vor sich hin und strich dabei sanft über Bens Handrücken. Immerhin hatte Mikael das Gleiche oft für Ben getan. Und doch war sich Semir nicht sicher, ob diese Freundschaft auch diese Sache überleben würde. Er hatte gesehen, wie sein Partner und Mikael sich immer weiter voneinander entfernt hatten. Die Wut, die Ben auf den finnischen Kommissar gehabt hatte, saß tief. Konnte ein so kleiner Augenblick das alles wirklich vergessen lassen? Mikael hatte sein Versprechen gegenüber Ben gebrochen. Sein Versprechen ihn bei seinem nächsten Alleingang nicht auszuschließen und genau diese Tatsache war doch am Ende für dieses ganze Dilemma verantwortlich. Nein, so einfach konnte er es sich nicht machen. Es war kein Alleingang, Mikael war als Polizist dort gewesen. Als Beamter, der von der Drogenfahndung offiziell angefordert wurde. Langsam befürchtete er, dass es nicht der Alleingang war, der drohte die Freundschaft zu zerstören, sondern die Schuld, die Mikael empfand. Würde er sich von ihr lösen können, wenn es Ben besser ging? Wenn nicht, was wäre dann der nächste Schritt von Mikael?


    Eine kalte Hand berührte ihn an der Schulter. Semir fuhr aus seinen Gedanken hoch und wandte sich um. Eine Krankenschwester sah ihn an und lächelte nun. „Bitte gehen Sie jetzt. Die Besuchszeit ist um … ich werde auf ihren Kollegen aufpassen.“ Sie schob sich an Semir vorbei und überprüft routiniert die Gerätschaften und Werte seines Partners. Dann drehte sie sich wieder zu ihm. „Sie sollten nach Hause fahren. Sie sehen müde aus … haben Sie keine Angst. Sobald etwas passiert, werden Sie informiert. Der Vater hat das so verfügt.“ Semir nickte schwerfällig und erhob sich langsam von seinem Stuhl. Er drückte ein letztes Mal die Hand von Ben und verließ dann das karge, bedrückende Zimmer.

  • Es war später Abend, als Semir wieder nach Hause zurückkehrte. Nachdem er Ben besuchte hatte, war er noch einige Zeit ziellos umhergefahren, um seine Gedanken zu sortieren. Er musste sich beruhigen von dem Besuch auf der Intensivstation – für Mikael. Er hätte dem Finnen in diesem Zustand nicht unter die Augen treten können. Auch wenn Mikael momentan nicht Herr seiner Sinne war, hätte er dennoch bemerkt, dass er von Sorge zerfressen war und Eins und Eins zusammengezählt. Noch mehr Schuld konnte er dem Finnen unmöglich zumuten.


    Semir nahm einen letzten tiefen Atemzug, ehe er die Haustür aufschob und hineintrat. „Wie geht es Ben?“, fragte ihn Andrea, noch ehe er Zeit hatte seine Schuhe auszuziehen. Er schüttelte sanft den Kopf. „Keine Besserung. Sein Zustand ist weiterhin kritisch“, murmelte er. Sein Blick fiel an ihr vorbei in Richtung des Wohnzimmers. Mikael saß stumm auf dem Sofa und fixierte einen unsichtbaren Punkt an der Wand. „Er sitzt schon seit Stunden so da … will nichts essen, nichts trinken. Er starrt einfach vor sich hin“, sagte seine Frau leise. „Eva ist mit den Kindern im Gästezimmer. Oskari und Viivi ins Bett bringen.“ Er nickte und begab sich in Richtung des jungen Mannes. „Wie sieht es aus?“, flüsterte Mikael ohne Stimme. Er hatte also doch mitbekommen, dass er nach Hause gekommen war. „Sein Zustand ist unverändert.“ Semir setzte sich neben Mikael. „Ben wird es schaffen. Bald wird es gute Neuigkeiten geben“, versicherte er. Der Finne sah ihn nicht an und stand stattdessen auf. „Ich bin an der Luft. Macht euch keine Sorgen“, nuschelte er leise, ehe er in Richtung Haustür trat und verschwand. Semirs Blick blieb noch einige Zeit auf der Tür haften. Wie sollte er sich keine Sorgen machen, wenn er so verschwand, dachte er leise bei sich. Er nahm sich fest vor, dass er gleich morgen früh bei Antti anrufen würde. Er war sich sicher, dass er Rat wusste. Antti wusste immer, wie er mit Mikael reden musste, damit er verstand.


    *


    Es war kalt und sein Atem bildete vor ihm kleine Wölkchen. Er wusste nicht, wie weit er schon gelaufen war und es war ihm auch egal. Verzweiflung hatte ihn, wie eine plötzliche Flutwelle, übermannt und er hatte einfach weg gemusst. Er hatte nicht in der Wohnung bleiben können. Die Wände … es hatte sich angefühlt, als wären sie immer näher und näher gekommen. Als wollten sie ihn erdrücken, ihm keine Luft mehr zum Atmen lassen. Nun war sein Kopf leer. Zeit und Ort verschwanden. Er fühlte nichts. Er dachte nichts. Verletzt, hilflos, tot. Er fühlte eine Kraft in seinem Körper, die immer schwerer wurde, die ihn in den Boden zog. Er hatte das Gefühl, in ein tiefes, tiefes Loch zu fallen. Er ballte die Hände zu Fäusten, spürte wie sich die Nägel in den Handballen bohrten. Er fühlte sich immer müder und erschöpfter und es machte ihm Angst. Angst, weil er wusste, was es bedeutete. Er war dabei in den Abgrund zu stürzen, sich von den Dämonen seiner Vergangenheit mitreißen zu lassen. Er schüttelte den Kopf, doch es half nichts. Die Bilder verfolgten ihn, ließen ihn nicht mehr los. Sie zogen ihn mit sich, ließen ihm keine Wahl. Sein Körper wurde immer schwerer und schwerer. Er war so müde.


    Seine Beine wurden wackelig und er ließ sich achtlos irgendwo auf die Bordsteinkante fallen. Mit zittrigen Fingern griff er nach seinem Handy. Seine Augen fixierten das Gerät minutenlang, ohne dass er etwas tat. Schließlich überwand er sich und wählte eine ihm bekannte Nummer. „Kyllä, Antti Heikkinen“, meldete sich eine Stimme am anderen Ende. „Ich-ich bin es Mikael“, sagte er leise und zittrig. „Was ist passiert?“ Er konnte die Sorge in Anttis Stimme deutlich raushören. Sein Freund wusste ohne ihn überhaupt lange zu hören, dass er am Ende war. „Ich-ich habe Scheiße gebaut, Antti“, murmelte er und berichtete ihm, was geschehen war. Er erzählte ihm alles, angefangen von seiner dummen Idee einen Undercovereinsatz anzunehmen, niemandem etwas davon zu sagen und Ben nach und nach von sich zu stoßen, über den Schuss auf Ben bis hin zur schiefgelaufenen Festnahme von Georg Hansen. Sein Kollege hörte aufmerksam zu, unterbrach ihn zu keinem Zeitpunkt und verkniff sich jeden Kommentar. „Ich kann nicht mehr, ich schaffe es nicht … bitte hilf mir Antti“, stammelte er schließlich. „Es ist, als wäre mir ein Strick um den Hals gelegt und ständig zieht jemand daran, damit ich langsam ersticke.“ Mikael fühlte, wie die warmen Tränen sich bereits wieder ihren Weg bahnten. Er wusste, dass etwas in ihm passiert war, als Ben vor seinen Augen um sein Leben gekämpft hatte und er konnte es nicht aufhalten. Er konnte es nicht eindämmen. Er war nicht stark genug, die Dämonen davon abzuhalten ihn mitzuziehen. „Mikael, hör zu, du gehst jetzt zu Semir. Erzähl ihm, dass du seine Hilfe brauchst. Du wirst jetzt nicht alleine bleiben. Wo bist du?“, wollte sein älterer Kollege wissen. Er blieb stumm. „Mikael, bitte“, wiederholte er mit eindringlicher Stimme nach einer Weile.


    „Ich-ich schäme mich so“, nuschelte Mikael leise und verfiel in einen Weinkrampf. Die Erinnerungen an das Geschehene kamen hoch und damit auch die Angst und die Schuld. Er konnte einfach nicht mehr. Sein Körper zitterte und er ließ das Smartphone sinken. Er schlang die Knie an seinen Körper und vergrub den Kopf darin. Er hörte, wie Antti nach ihm rief, doch er fand nicht mehr die Kraft ihm auch zu antworten. Er wollte nur noch vergessen, nicht an seine Schuld erinnert werden. Schließlich stand er einfach auf und setzte sich in Bewegung, ohne überhaupt zu wissen wohin. Das einzige was er wusste, war, dass die Stimmen und Bilder in seinem Kopf endlich verschwinden sollten. Dass er diese Schuld nicht mehr ertragen konnte und die Dämonen in ihm die Oberhand in diesen Kampf gewonnen hatten. Er war zu schwach weiterhin zu kämpfen. Er hatte aufgehört stark zu sein, als Ben tot vor ihm gelegen hatte.


    *


    Semir saß am Küchentisch und sah gebannt auf die Haustür. Mikael war zwar erst knapp eine Stunde weg, doch irgendetwas an dem Benehmen des jungen Kollegen hatte dafür gesorgt, dass er sich unheimliche Sorgen machte. Sicher, er war erst vor wenigen Stunden selbst achtlos durch die Gegend gefahren, aber das hier war etwas anderes. Er hatte seltsam abwesend gewirkt und das noch mehr als sonst. Sein Blick blieb auf dem Gästezimmer haften. Vor einer halben Stunde war Eva bei ihm gewesen, hatte nach Mikael gefragt. Er hatte an ihrer Tonlage gehört, dass sie sich große Sorgen machte. Sie hatte ihm etwas erzählen wollen, doch dann hatte Viivi geschrien und sie war zurück in das Zimmer gegangen. Danach musste sie wohl wieder eingeschlafen sein. Zumindest war sie nicht wieder rausgekommen.


    Er schreckte hoch, als sein Handy klingelte. Verwundert sah er auf den Namen, der auf dem Display stand. Hatte Antti etwas geahnt von all dem hier oder hatte Eva ihn informiert? „Ja“, meldete er sich und hielt das Gerät ans Ohr. „Ist Mikael bei dir?“, wollte der stämmige Finne am anderen Ende der Leitung wissen. „Nein … er ist raus vor etwas mehr als einer Stunde.“ „Hör zu Semir, du musst ihn finden. Bitte finde ihn. Du darfst ihn jetzt nicht aus den Augen lassen!“, schrie ihn Antti schon fast entgegen. „Wie meinst du das?“, fragte er unsicher nach. „Ich habe mit ihm telefoniert. Er hat mir alles erzählt …“ „… aber das ist doch gut Antti. Das ist ein gutes Zeichen.“ „Er hat das Gespräch unterbrochen … naja nicht direkt unterbrochen, was mir noch mehr Sorgen macht. Er antwortete einfach nicht mehr, weinte und ich denke dann ist er einfach weggegangen und deswegen musst du ihn finden“, berichtete er ihm aufgelöst. „Semir, Mikael braucht jetzt Hilfe. Er war verzweifelt. Er hat um meine Hilfe gebettelt, aber ich bin jetzt nicht da. Versprich mir dass du ihn findest. Es ist wichtig, ich mache mir große Sorgen. Der Kleine braucht Hilfe. Er schafft das nicht alleine. Die Sache mit Ben … sie hat irgendetwas in ihm ausgelöst.“ Antti wurde immer verzweifelter und auch in Semir breitete sich langsam ein ungutes Gefühl aus. Mikael hatte labil gewirkt. Was, wenn er in diesem Zustand etwas anstellen würde. „Ich werde ihn finden, mach dir keine Gedanke. Ich finde ihn schon“, beruhigte er Antti und legte dann hastig auf.


    Als er das Gespräch beendet hatte, gab er kurz Andrea Bescheid und griff dann nach seiner Jacke, um sich in die kalte Nacht zu begeben. Es dauerte nicht lange und er fand das weiße Smartphone von Mikael auf dem Gehweg. „Mikael!“, rief er in die Dunkelheit, bekam jedoch keine Antwort. „Mikael, wo bist du Junge!?“ Wieder nichts. Umso öfter ihm nur die Stille antwortete, desto nervöser wurde er. Wo war Mikael nur? Er konnte sich doch nicht in Luft aufgelöst haben? Er griff nach dem Telefon und steckte es in seine Tasche, ehe er mit langsamen Schritten die Straße runter lief, um immer und immer wieder den Namen des Finnen zu rufen. Nach 30 Minuten gab er schließlich auf. Es hatte keinen Sinn mehr, Mikael hatte sich zu weit von dem Haus entfernt. Er ließ sich auf eine der Bänke fallen und überlegte fieberhaft, wo er ihn finden konnte. Er griff nach dem Smartphone von Mikael und entsicherte es, um es nach Anhaltspunkten zu durchsuchen.



    *


    Mikael setzte die Wodkaflasche an seine Lippen und nahm drei mächtige Schlucke. Es war ein billiger Fusel, den er irgendwo an einer Tankstelle gekauft hatte, aber die Angst und Verzweiflung in seinem Körper würde auch ein billiges Gesöff für einen Augenblick eindämmen. Er spürte, wie die Wärme des Getränks sich in ihm ausbreitete und nahm gierig noch einen Schluck. Danach ging er leicht in die Hocke und betrachtete das Türschloss vor sich. „Ein Scheißfreund bist du, brichst ein, während er im Krankenhaus ums Überleben kämpft“, murmelte er leise und zog einen dünnen und starren Draht aus seiner Jackentasche. Er hatte ihn irgendwo auf dem Weg hierher von der Straße aufgesammelt und erschien ihm für sein Vorhaben passend. Kaum mit dem Draht in dem Schloss tastend, drückte er die Klinke runter und zog die Tür auf. In den Raum eindringend, schaltete er das Licht des Flurs ein.


    Er ging weiter durch in das Wohnzimmer, die Flasche mit der rechten Hand fest umgriffen. Er scannte den Raum, hielt dann aber urplötzlich inne. In dem Regal stand ein Bild von Ben und ihm. Es war vor einem Jahr gemacht worden, bei einem gemeinsamen Urlaub etwas nördlich von Helsinki an einem See. Ben hatte seine Hand über seine Schulter gelegt und hatte die andere Hand zu einem Victory-Zeichen geformt. Er erinnerte sich noch genau daran, wie Ben ihn nach der Aufnahme rumgewirbelt hatte und er rückwärts in den See gefallen war. Er lachte leise auf. „Du hättest es wegwerfen sollen. Ich bin es nicht Wert Freund genannt zu werden!“ Wieder setzte er die Flasche an die Lippen, trank einen großen Schluck. Danach nahm er den Bilderrahmen in die Hand. „Ben … bitte geh nicht!“ Bilder vom gestrigen Tag tauchten vor seinem inneren Auge auf und er verfluchte sein fotografisches Gedächtnis. Sie wollten einfach nicht verschwinden! Es war eingebrannt, nicht mehr löschbar! Seine Hand begann zu zittern und die Aufnahme rutschte ihm aus der Hand und landete mit einem Klirren auf dem Boden. Er starrte noch einige Zeit stumm auf das zerbrochene Bild, ehe er den Blick wieder hob und wieder auf das Regal vor sich sah.


    Seine Augen blieben auf Bens Waffe haften. Er hatte wieder einmal vergessen, sie nach Dienstschluss wegzusperren. Er griff danach. Seine Hände glitten darüber und sein Finger krümmte sich am Abzug. Welche Macht du hast, dachte er. Ein kleiner Druck bedeutet den Unterschied zwischen Leben und Tod. Hastig nahm er noch ein paar große Schlucke aus der Wodkaflasche, während seine Augen die Waffe in seiner Hand fixierten. Vorhin hatte er den Alkohol gehabt und er hatte gefühlt, wie er in seinem Körper gebrannt hatte. Jetzt fühlte er nichts mehr. Sein Körper war wie betäubt, am Ende seiner Kräfte. Alles war ihm egal. Er hielt sich die Waffe an die Schläfe, sein Zeigefinger streichelte sanft, beinahe liebevoll den Abzug. In der Vergangenheit hatte er das Leben für etwas Wunderbares gehalten. Sorgen, Enttäuschungen, Unglück – all das hatte ihn zwar schon damals verfolgt, doch es ging immer vorüber und ließ sich aushalten. Er hatte nie lange gebraucht, um in einen Zustand zurückzukehren, der dem Glück nahestand. Doch jetzt schien es, als hole ihn alles auf einmal ein. Was für ein Unterschied würde das für die Welt machen, wenn er weg war? Würde ihn überhaupt irgendwer vermissen? „Wer schon? Nur wegen dir müssen Leute sterben!“, schrie er sich selbst an, ließ die Waffe aber dennoch aus der Hand gleiten. „Du bist ein Schwächling! Nicht einmal das bekommst du hin!“ Wütend schleuderte er Bücher und Kisten aus dem Regal, hielt dann jedoch inne, als sich Fotos vor ihm auf dem Fußboden ausbreiteten. Erschöpft fiel er auf die Erde und begann wieder zu weinen. Mit zitternden Händen griff er nach einigen der Bilder, betrachtete sie. „Ben“, schluchzte er. „Ich hätte tot bleiben sollen!“, presste er hervor, „tot!“ Die heißen Tränen brannten in seinem Gesicht und er fühlte, wie ihm der Rotz über die Oberlippe lief. Die Fotos fielen achtlos vor ihm auf die Füße und er führte einmal mehr die Flasche an die Lippen, um sich in einen Zustand der Gleichgültigkeit zu befördern, der einfach nicht eintreten wollte. Die schrecklichen Bilder in seinem Kopf ließen sich nicht verjagen, sondern blieben und hielten ihm sein Versagen immer und immer wieder vor.


    Er hob mit seiner rechten Hand die Flasche an und ließ sie vor seinem Kopf kreisen. „Ein Hansen zeigt keine Schwäche“, schrie er laut und setzte die Flasche einmal mehr an seinen Mund, um wenig später wieder nach der Waffe zu greifen, die nur einige Zentimeter von ihm entfernt lag. Er zog das Magazin heraus und zählte, wie viele Patronen er noch hatte, ehe er sich abermals einen großen Schluck Alkohol gönnte. Mit einer Handbewegung drückte er das Magazin wieder in die Waffe und schob den Lauf in seinen Mund. Der bittere Geschmack von Metall lag auf seiner Zunge. Mit zittrigem Finger berührte er den Abzug, während bittere Tränen über seine Wangen rannen. Er brauchte nur abzudrücken und er würde all dem entkommen.

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