1. Forum
  2. 25-jähriges Jubiläum
    1. Einleitung
    2. Entstehungsgeschichte
    3. Interviews 1996
    4. Drehorte
    5. Titelmusik
    6. Faktencheck
  3. Episodenguide
    1. Staffel 01 (Frühjahr 1996)
      1. 001 Bomben bei Kilometer 92
      2. 002 Rote Rosen, schwarzer Tod
      3. 003 Der neue Partner
      4. 004 Mord und Totschlag
      5. 005 Tod bei Tempo 100
      6. 006 Der Alte und der Junge
      7. 007 Falsches Blaulicht
      8. 008 Der Samurai
      9. 009 Endstation für alle
    2. Staffel 02 (Frühjahr 1997)
      1. 010 Ausgesetzt
      2. 011 Kaltblütig
      3. 012 Shotgun
      4. 013 Notlandung
      5. 014 Das Attentat
      6. 015 Die verlorene Tochter
    3. Staffel 03 (Herbst 1997)
      1. 016 Crash
      2. 017 Generalprobe
      3. 018 Kindersorgen
      4. 019 Bremsversagen
      5. 020 Rache ist süß
      6. 021 Raubritter
    4. Staffel 04 (Frühjahr 1998)
      1. 022 Sonnenkinder
      2. 023 Tödlicher Ruhm
      3. 024 Volley Stop
      4. 025 Kurze Rast
      5. 026 Leichenwagen
      6. 027 Gift
      7. 028 Zwischen den Fronten
      8. 029 Schnäppchenjäger
      9. 030 Faule Äpfel
      10. 031 Schlag zu!
    5. Staffel 05 (Herbst 1998)
      1. 032 Ein Leopard läuft Amok
      2. 033 Die letzte Chance
      3. 034 Tödlicher Sand
      4. 035 Im Fadenkreuz
      5. 036 Im Nebel verschwunden
      6. 037 Die Anhalterin
      7. 038 Der tote Zeuge
      8. 039 Der Joker
    6. Staffel 06 (Frühjahr 1999)
      1. 040 Treibstoff
      2. 041 Tödliche Ladung
      3. 042 Brennender Ehrgeiz
      4. 043 Schattenkrieger
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  • 25. Oktober 2015 um 22:41
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    • 22. Januar 2016 um 00:25
    • #41

    Arztpraxis - 17:00 Uhr


    War dieser Boden noch real? War dieser Boden noch fest unter Jennys Füßen? Oder verwandelte er sich gerade zu Lava, zu Pudding oder zu irgendwelchem anderen, wackeligen, unsicheren Untergrund. So kam es der jungen Polizistin vor, als sie das mehrstöckige Gebäude in Kölns Innenstadt verließ und langsam in Richtung ihres Kleinwagens ging. Die Geräusche der Autos um sie herum kamen ihr dumpf und unwirklich vor, die Menschen die ihr in der Abenddämmerung begegneten waren nichts als dunkle Schemen ohne Gesichter. Ziel war nur das Auto, der Schlüssel in der Hand, dem Blicken der orangenen Lichter folgend, den Türgriff suchend. Als sei der Innenraum des Fahrzeugs ein sicherer Zuflucht, der sie schützen könnte, vor den drohenden Gefahren. Doch das schlechte Gefühl nahm sie, wortwörtlich, mit ins Auto hinein.
    Ihr ging es nicht gut... der Unfall auf der Autobahn hatte sie aus den Gedanken gerissen. Arbeit, zu tun... doch kein Schreibtischdienst. Es war auf den ersten Blick furchtbar, als sich auf schneebedeckter Fahrbahn mehrere Autos und zwei LKW verhakt hatten. Zum Glück gab es nur Leichtverletzte und Blechschaden, aber eine Vollsperrung während der letzten Zuckungen des Berufsverkehrs am Morgen waren Streß pur. Jenny hielt durch, vergass währenddessen auch mal ihr Unwohlsein und ihre Sorgen.


    Der Abschleppdienst verspätete sich, der Feuerwehr ging das Bindemittel aus... er schien, als hätte sich alles gegen die Autobahnpolizisten, die zu sechst und tapfer in Eiseskälte den Verkehr regelten und Protokolle schrieben. Jennys Schrift sah, vor Zittern ob der Kälte, furchtbar aus. Es dauerte fast 4 Stunden, bis man die Autobahn teilweise wieder freigeben konnte, erst gegen 14:30 Uhr waren sie wieder in der warmen Dienststelle. Dort sah Jenny auf ihr Handy, das auf dem Schreibtisch lag und las 5 Anrufe in Abwesenheit, jedes Mal Kevins Nummer. "Oh nein...", flüsterte sie leise und wählte sofort die Rückruftaste, doch Kevins Handy schien ausgeschaltet, denn sofort meldete sich die Mailbox. Auch ein Anruf auf Jennys Privattelefon in der Wohnung blieb ohne Antwort.
    Auf dem Weg zum Frauenarzt probierte sie es noch zweimal mit dem gleichen Ergebnis. Sie wollte so gern mit ihm reden, wollte wissen, was er von ihr wollte... und wollte ihm von der Vorahnung erzählen, die sie hatte seit Andrea mit ihr geredet hatte. So gern hatte er sich gewünscht, dass ihr Freund an ihrer Seite saß, sollte sie jetzt gerade die unmöglichste Nachricht bekommen. Sie hatte Angst... Angst davor, dass es wirklich wahr ist... dass sie wirklich schwanger sein könnte. Sie fühlte sich nicht bereit, sie stand gerade vor der schwierigsten Entscheidung ihres Lebens, wenn Kevin wirklich nach Kolumbien fliegen würde. War die Beziehung überhaupt noch zu retten? Und nun ein Kind, was für Jenny zu früh kam, für Kevin zu früh kam und allgemein für ihre Beziehung, selbst wenn alles okay war, zu früh kam?


    Die Zeit im Wartezimmer fühlte sich elend lange an, bis Jenny von der Arzthelferin endlich ins Untersuchungszimmer gebracht wurde. Ihrer Ärztin des Vertrauens schilderte sie dann, dass sie in den letzten Tagen oft unter Übelkeit leide, und eine gute Freundin sie dann mit der Theorie der Schwangerschaft konfrontierte. "Na, haben sie denn ihre Periode nicht bekommen?", fragte die Frauenärztin, und Jenny rieb nervös die Hände aufeinander. "Ich nehme die Pille seit zweieinhalb Monaten durch." Ein Nicken der Ärztin, dann die Anweisung an Jenny den Bauch freizumachen und sich auf die Liege zu legen.
    Das Gel für die Ultraschalluntersuchung ließ sie kurz erschaudern, denn es war eiskalt als das eigenartige Gerät ihre sanfte Haut berührte. Die junge Frau starrte an die Decke und schien in Gedanken die Anzahl der Quadrate zu zählen, die Zeit in der die Frau neben ihr mit dem Gerät über ihren Bauch strich kam ihr elendig lange vor. Sie wollte nicht den Kopf drehen, sie wollte nicht auf den Monitor starren mit diesem komisch grau-schwarz-weißen Bildern, von denen sie nichts verstand, in denen sie selbst nie etwas erkennen konnte und aus denen Ärzte die wundersamsten Diagnosen herauslesen konnte. Doch aus einer Einstellung, die die Ärztin mit einem Druck auf die Tastatur als Foto festhielt, hätte auch Jenny etwas erkannt.


    "Herzlichen Glückwunsch, Frau Dorn...", sagte die Ärztin und lächelte, während es sich für Jenny wie ein Schubser vor einem Abgrund anfühlte. "Ich schätze, sie sind ungefähr in der 4 oder 5. Schwangerschaftswoche. Man kann schon einiges erkennen.", sagte sie und zeigte mit dem Finger auf einige Umrisse, die entfernt einem menschlichen Körper glichen. Nur langsam, mit zitternder Unterlippe, ohne Lächeln sah Jenny zu dem Monitor auf diese abstrakte unwirkliche Gesalt. Nur langsam schleppend war ein Kopfschütteln zu erkennen und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie wusste gar nicht, warum sie die Traurigkeit und das Entsetzen auf einmal befiel... weil das Kind völlig ungeplant und ihrer Lebensplanung zu früh kam, oder weil sie nur einige Stunden vorher Kevin vor eine fatale Wahl gestellt hatte.
    Die erfahrene Frauenärztin kannte so manche Reaktion auf eine Schwangerschaftsdiagnose. Unglaubliche Freude, aber auch Schock, Trauer und Entsetzen waren keine Seltenheit. Sie spürte sofort, dass die junge Frau auf der Liege weder glücklich mit dem Befund, noch wirklich darauf einstellt war. Sie nahm Papiertücher und rieb Jenny das Geld von ihrem, noch unbemerkt flachen Bauch weg. "Ziehen sie sich mal wieder an, und dann setzen sie sich zu mir.", sagte sie mit beruhigend wirkender Stimme.


    Einige der gesammelten Tränen kullerten Jennys Gesicht herunter, als sie sich von der Liege wieder aufrichtete, Top und Pullover wieder über den Kopf zog. Mit langsamen Schritten setzte sie sich in einen der Stühle gegenüber der Ärztin. "Wissen sie denn, wer der Vater ist?", fragte die Ärztin, denn aus Erfahrung wusste sie, dass die meisten Gründe für eine negative Reaktion auf eine Schwangerschaft meist die waren, dass die Schwangerschaft aus einem One-Night-Stand entsprangen, aus einer gerade gescheiterten Beziehung oder, noch schlimmer, aus einer Vergewaltigung. Aber Jenny nickte zunächst. "Und... sind sie mit dem Vater zusammen?" Was sollte sie antworten? Ja, nein, vielleicht? Sie hatte Kevin gesagt, dass sie so nicht weiter mit ihm leben könne. Er war ihr eine Antwort schuldig geblieben und ging seit zwei Stunden nicht ans Telefon. "Das ist schwierig zur Zeit.", sagte die junge Polizistin tonlos. "Haben sie denn gemeinsam ein Kind geplant, bevor die Beziehung... schwierig wurde?" Ein stummes Kopfschütteln von Jenny, nachdem sie ihren Blick zum Boden richtete.
    Die erfahrene Frauenärztin ist für psychologische Gespräche nicht ausgebildet. Sie möchte Jenny zu nichts im Bezug auf ihre zwischenmenschliche Beziehung raten, ausser dass ein gemeinsames Kind eine tolle Chance ist, eine vielleicht schlingernde Beziehung zu retten. Auf keinen Fall würde die Medizinerin das Wort "Abtreibung" auch nur in den Mund nehmen, stattdessen erklärte sie Jenny, wie die Behandlung weitergeht, mit was sie nun rechnen müsste und klärt Vorerkrankungen.


    An Jenny fliegt das Gespräch vorbei. Als sie das Ärztehaus verlässt, ist es draussen schon am Dunkeln, nur der Schnee macht den Abend heller als sonst. Die Geräusche sind dumpf um sie herum, als sie sich in ihren Wagen rettet... und dabei trägt sie vor sich den Verursacher des unguten Gefühls. In ihr drin wächst ein Kind... ihr Kind, Kevins Kind. Zu früh für ihre Planung, was ihr Leben anging, die Arbeit, die Beziehung mit Kevin. Na klar sollte irgendwann geheiratat werden, ein oder zwei Kinder kommen. Mit dem richtigen Mann, der durchaus auch Kevin hätte sein können. Aber gerade dessen Zustand, dessen Aktion von gestern seine Freunde zu hintergehen, stellte alles in Frage... und nun trug Jenny sein Kind im Bauch.
    Fast versöhnlich legte sie die Hände um ihren Bauch, legte sie auf die warme Winterjacke, die Jenny dicker erscheinen ließen, als sie eigentlich war. Als wollte sie das Kind schützen, dass sich nach aussen weder in Jennys Figur noch nach innen durch Bewegung bemerkbar machte. Als sie Kevins melanchonisch wirkende Stimme am Handy hörte, als sich erneut seine Mailbox-Nachricht meldete, rollten wieder Tränen über ihr Gesicht.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen

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    • 25. Januar 2016 um 10:03
    • #42

    Dienststelle - 17:45 Uhr


    Feierabend war angesagt - für Semir ein komisches Gefühl, so lange nachdem er das letzte Mal einen geregelten Tag erlebt hatte. "Hast dich gut geschlagen.", sagte Ben mit lustig spöttischem Unterton und klopfte seinem Partner auf die Schulter, als wäre der eim Kommissarsanwärter, den Ben ausbilden muss. Semir wiederrum streckte Ben die Zunge raus und grinste, er verstand den Spaß seines besten Freundes natürlich und war selbst unglaublich froh, den Tag so gut rumgebracht zu haben. Er hatte nur in kurzen Momenten, als sie auf der Autobahn unterwegs waren und mal nicht miteinander geredet oder gescherzt hatten, kurze Gedanken-Flashbacks, die er aber sofort wieder abschüttelte. Er hatte sich befreit, hatte sich selbst an den Haaren aus dem psychischen Morast gezogen, und darauf war er stolz. Natürlich unterschlug er nicht die Hilfe seiner Frau und Ben.
    "Was machst du heute abend noch?", fragte er seinen jungen Partner und der blickte dann etwas nachdenklicher drein. "Ich will noch zu Carina." Als er das sagte nahm er die dicke Jacke vom Stuhl, die er bei der Kälte auch wirklich brauchte.


    "Du magst sie sehr, hmm?", fragte Semir und die beiden Männer lehnten sich mit dem Gesäß an den Schreibtisch, weil Semir noch warten musste bis seine Frau eine Liste für die Chefin fertig hatte, dann würden sie heute ausnahmsweise zusammen Feierabend machen und, da die Mädels bei den Großeltern waren, einen gemeinsamen Abend allein verbringen. Ben zuckte ein wenig mit den Schultern, wog den Kopf hin und her und verschränkte die Arme vor der Brust. "Ja... also... ich weiß nicht recht. Ich finde sie sehr nett. Und sie hat momentan niemanden, der ihr hilft." Es klang fast wie ein Ausweichen einer unangenehmen Frage, oder es war tatsächliche Zerissenheit über seine Gefühle zu Carina.
    "Als was siehst du dich?" Ben schaute etwas verwundert zu seinem Partner, den er verstand die Frage nicht. "Als was siehst du dich? Siehst du dich als Pflegepersonal für ihre Mutter, weil du Mitleid mit ihr hast, was sie durchmacht? Oder siehst du dich als Freund, der sie unterstützt, weil du sie magst und sie dich auch mag?" Nun verstand der Polizist und sein Blick wandte sich langsam von Semir ab und blickte in Richtung Boden.


    Es war eine gute Frage... eine Frage, auf die sich so schnell keine Antwort finden ließ. Ja, irgendwie mochte er Carina... aber warum tat er das? Er kannte sie gar nicht. Er wusste weder etwas grundsätzlich über ihren Charakter, noch ihre Hobbys, ihre Vorlieben, oder sonst was. Als sie spazieren gingen war ihre Mutter so gut drauf und erzählte soviel, dass sie sich eigentlich gar nicht unterhielten. Der zweite Besuch war die Extremsituation, bei der Ben ihr geholfen hatte. Auch da hatten sie keine Gelegenheit, über sich selbst zu reden, sich kennen zu lernen. Vielleicht hatte Carina im alltäglichen Leben Charakterzüge, die Ben gar nicht mag?
    Aber was war es, was ihn jetzt heute schon zum dritten Mal zu Carina zog, obwohl er Angst davor hatte wieder mit einer unangenehmen Situation konfrontiert zu werden? Obwohl er, wenn er die Wahl hätte, die Mutter der jungen Frau einfach wegnegieren würde, um mit Carina allein zu sein... und das nicht, um intim zu werden, sondern weil die Anwesenheit der Mutter einfach bedrückend war, vor allem wenn sie schlechter Stimmung ist. Ben war der Typ, der sich vor Krankenhausbesuchen scheute, und er wusste noch, wie er sich drückte als er als Kind hin und wieder zu seiner Oma ins Altersheim gehen sollte, obwohl diese bei klarem Verstand war, aber eben krank und schwächlich. Er bewunderte Menschen, die in solchen Berufen arbeiteten...


    Er konnte die Frage nicht beantworten, die Semir ihm stellte und er schien minutenlang darüber nachzudenken, dabei war es nicht mal eine einzige, die er verharrte. "Nein, ich denke schon dass ich sie mag.", war letztlich seine Antwort, die für ihn selbst nicht überzeugend klang und auch Semir zwiespältig sah. "Ben, ich will dir nicht in deine Entscheidung reinreden. Aber ich will auch nicht, dass du dich in etwas verrennst und du Entscheidungen triffst, die du vielleicht nicht treffen möchtest. Wenn du Carina unterstützt, dann nimmst du damit eine Verantwortung auf dich, und das ist dann keine Beziehung, bei der du mal eben Schluss machen kannst."
    Jetzt bemerkte Ben endgültig, dass Semir wieder ganz der Alte war, und das freute ihn auf der einen Seite, doch brachten ihn seine Worte nicht zum Lächeln. Er hatte, wie so oft, recht. Es war eine Verpflichtung die er einging, und nicht einfach ein netter Flirt, aus dem vielleicht mehr wurde... und wenn nicht, dann halt nicht. Es würde sehr schwer sein, diese Verbindung einfach aufzulösen... schon alleine von Bens Gewissen her.


    So machte er sich mit zwiespältigen Gedanken zusammen mit Semir und Andrea auf, die Dienststelle zu verlassen. Semir hatte seinen Arm um Andrea's Hüfte gelegt und freute sich, zusammen mit ihr einkaufen zu gehen, zusammen zu kochen und dann einen Film zu schauen, denn sie schon lange zu Hause auf Blu-Ray liegen hatten. Doch kurz bevor sie am Auto ankamen, klingelte Andrea's Handy, und sie hob ab. "Sonst platzt der Abend immer wegen mir.", raunte Semir seinem Partner zu und hatte scheinbar schon eine Vorahnung. Das erste was Andrea am Handy vernehmen konnte, war ein leises Schluchzen. "Jenny, bist du das?", fragte sie, denn sie hatte die Nummer auf dem Display gesehen.
    "Er... er ist fort.", kam nur die von einer tränenerstickten Stimme durch die Leitung, so dass es Andrea das Herz zusammenkrampfte. "Wer ist fort? Kevin?" "Seine... seine Tasche ist weg und... und er geht nicht an sein Handy." Wieder kam das Geräusch eines Weinkrampfes durch den Hörer und die Frau von Semir konnte die richtigen Schlüsse ziehen. Offenbar war die Untersuchung für Jenny schlecht gelaufen, und führte in Verbindung mit der Gewissheit, dass Kevin tatsächlich nach Kolumbien geflogen war, nun für einen Zusammenbruch. "Soll ich vorbeikommen, Jenny?", fragte sie fürsorglich und hörte noch ein leises "Ja...". "Okay, ich bin in 15 Minuten da. Mach dir keine Sorgen." Dann legte Andrea auf und sah mit mitleidigem Blick zu ihrem Mann. "Heute lasse ich den Abend mal platzen..." "Hab ichs nicht gesagt?", meinte Semir sarkastisch zu Ben, der zuerst einmal wissen wollte, was denn passiert sei? "Frauensache... nichts Lebensbedrohliches.", wiegelte Andrea ab und bat ihren Mann, sie bei Jenny abzusetzen.

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    • 26. Januar 2016 um 17:10
    • #43

    Jenny's Wohnung - 18:30 Uhr


    Semir hatte es mit jedem erdenklichen und perfiden Fragetrick versucht, in den 15 Minuten, die er gebraucht hatte von der Dienststelle bis zu Jennys Wohnung. Doch trotz jahrelanger Verhörerfahrung war seine Frau stumm wie ein Eisblock. Natürlich wollte der Polizist wissen, was denn passiert sei. Nicht nur aus natürlicher Neugier, sondern vor allem, weil er sich Sorgen machte um Jenny. In erster Linie um Jenny... natürlich hatte er auch einen kurzen Gedanken aufgebracht, als er hörte, dass Kevin scheinbar tatsächlich nach Lateinamerika geflogen ist, aber er zwang sich beinahe dazu, darüber nicht nachzudenken. Er zwang sich dazu, dass Kevin ihm schnurzegal war und seine Sorge galt erstmal seiner jungen Kollegin.
    Aber bis vor die Haustür von Jennys Wohnung blieb Andrea standhaft und grinste ihren Mann danach an. "Ich hoffe, ich hab dich niemals zum Verhör da.", brummelte der erfahrene Ermittler, als seine Frau letztendlich ausstieg. "Jetzt hab doch mal Geduld. Vielleicht ist es ja okay, wenn ich es euch morgen sagen darf, oder sie erzählt es morgen selbst." Und bevor Andrea die Autotür schloß meinte sie noch zwinkernd grinsend: "Ausserdem weiß ich jetzt, dass du mich mit Befragung niemals soweit bringen kannst, dir meine Affären zu gestehen." Sie hörte noch das gespielt geschockte "AFFÄREN??" von ihrem Mann, bevor sie die Tür schloß und bei Jenny klingelte.


    Aus der Gegensprechanlage drang nur ein zartes "Hallo?", was der zweifachen Mutter sofort eine Klammer um die Brust legte und Andrea meldete sich sofort mit ihrer warmherzigen, beruhigenden Stimme. Das Geräusch des Summers meldete freien Eintritt. Andrea erinnerte sich zurück, als sie zum ersten Mal hier war vor einigen Monaten in einer ähnlich schwierigen Situation. Damals hatte Jenny Semirs Frau gebeten, sie zum Arzt zu begleiten nachdem sie nach einem Polizeiball von einem jungen Anwärter vergewaltigt worden ist. Ein perfides Komplott, in dem der Anwärter als Marionette und Jenny als Opfer herhalten musste, was letztendlich Kevin in den Knast brachte, da dieser in die Falle tappte und dem Täter einen Besuch abstattete, ihn zusammenschlug und später selbst nicht wusste, ob er ihn wirklich tot geschlagen hatte oder nicht.
    Jetzt hatte Andrea ähnliches Herzklopfen, als sie auf den Klingeltaster an Jennys Wohnungstür drückte, und sich die Tür langsam öffnete. Die junge Frau hatte noch ihre Alltagsklamotten an, die Augen waren leicht gerötet, offenbar hatte sie kurz nach dem Gespräch mit dem Weinen aufgehört, doch jetzt wo Andrea's allererste Reaktion war, die junge Frau nach Schließen der Tür erstmal in die Arme zu nehmen, konnte sich Jenny wieder nicht zurückhalten und ließ den Tränen freien Lauf.


    Und trotzdem fühlte es sich sofort besser an. Sie fühlte sich sofort etwas geborgen von einer guten Freundin, der sie seit der Vergewaltigung soviel näher gekommen war, dass die 15 Jahre Altersunterschied keinerlei Hürde darstellten. Sie verabredeten sich zum Shoppen, zum Bummeln, zum Kino oder auch mal zu einem Konzert in der Stadt, bei dem Semir nur genervt abwinkte. Seitdem war Jenny auch öfters zum Babysitting (wobei das bei Ayla und Lilly eher ein einfaches Aufpassen und Spielkamerad sein war) im Hause Gerkhan, was hin und wieder auch mal Ben übernahm. Ja, sie waren richtig gute Freundinnen geworden, und so war es für Andrea selbstverständlich die junge Beamtin nicht hängen zu lassen, als diese um Hilfe rief, auch wenn sie von Jennys Freund bitterböse enttäuscht war.
    Nach und nach wurde Jenny leiser und die beiden Frauenkörper trennten sich aus der Umarmung. "Bist du wirklich sicher, dass er weg ist?" Schluchzend nickte Jenny. "Die Tasche ist weg, seine Papiere, die er teilweise sonst hier zu Hause lässt sind weg und sein Handy hat er ausgeschaltet." Die beiden Frauen setzten sich aufs Sofa. "Er hat versucht mich ein paar Mal zu erreichen, aber ich hatte das Handy in der Dienststelle, als wir auf dem Einsatz waren." Immerhin, dachte Andrea etwas griesgrämig, hatte er versucht sich zu melden. Trotzdem konnte sie es nicht fassen, dass Kevin die arme Jenny einfach so sitzengelassen hatte, und sie brachte diesen Unmut auch zum Ausdruck.


    "Hat er gar keine Andeutung gemacht, dass er heute schon fliegen würde? Er kann doch nicht einfach abhauen...", sagte sie vorwurfsvoll. Jenny zog sich in ihrer Gestik ein wenig in ein Schneckenhaus zurück. "Ich glaube... ich bin daran schuld.", sagte sie kleinlaut und wischte sich mit einem Papiertaschentuch durch die Augen, so dass ihr dezenter Lidschatten ein wenig verschmierte. "Wie kommst du denn darauf?" Andrea wollte nicht, dass die junge Frau sich Vorwürfe machte, denn in ihren Augen war im Moment noch Kevin der Übeltäter. "Wir haben uns gestritten. Und... und ich hab ihn gestern abend quasi... vor die Wahl gestellt." Sie blickte zu ihrer Sitznachbarin auf. "Ich hab gesagt... dass ich vielleicht nicht hier auf ihn warten werde, wenn er nach Kolumbien fliegt."
    Andrea sah kurz zu Boden und versuchte sich in die Lage von Kevin hinein zu versetzen. Jemand, der fest entschlossen ist, seiner Ex-Freundin zu helfen, würde er sich durch diese "Drohung" umstimmen lassen? Oder erst recht fliegen, da hier niemand mehr auf ihn wartet, wenn der Zwang zu groß ist. "Es war so blöd von mir... ich hätte wissen müssen, dass sich auf so einer Drohung keine Zukunft aufbauen ließe, selbst wenn er hier geblieben wäre. Aber ich war so verzweifelt, weil er nichts gesagt hat. Er ist für mich, selbst nach ein paar Monaten Beziehung, immer noch wie ein Buch mit sieben Siegeln. Ich halte das nicht aus... ich will doch wissen, wie es ihm geht, und was ihn bedrückt, und will ihn nicht irgendwann...", schluchzte sie hemmungslos und Andrea sah zu Jenny hin. "Ihn irgendwann...?" Etwas erschrocken hielt die junge Beamtin inne, denn sie hatte vor sich das Bild vor sich, als sie die Waffe in der Dusche gefunden hatte... und sie wollte den Satz beenden mit "nicht irgendwann tot unter der Dusche finden.", und hatte den Satz gerade noch gestoppt. "Ich will ihn nicht verlieren.", wich sie geschickt aus und fiel Andrea wieder um den Hals. "Ich glaube, ich kann ihm noch nicht mal einen Vorwurf machen. Er ist so getrieben von dem Trauma mit seiner Schwester... ich glaube, er kann es einfach nicht ertragen einen Menschen, den er liebt oder mal geliebt hat, im Stich zu lassen. Deswegen muss er Annie helfen..." Andrea konnte diese Sichtweise zwar nachvollziehen, aber sie zu akzeptieren fiel ihr, gerade als Semirs Frau, der unter Annies Schweigen gelitten hatte, sehr schwer.


    Trotzdem brannte Andrea noch eine Frage auf der Seele. Sie fragte es leise, fürsorglich und vorsichtig. "Wie... wie ist die Untersuchung gelaufen?" Es wäre eigentlich noch ein weiterer Grund für Jenny gewesen, Tränen zu vergießen. Sie fand es unfair, dass sie diese Nachricht alleine empfangen musste, dass sie sich einfach nicht darüber freuen konnte, dass sie schwanger war. "Ich... bin wirklich schwanger." Ihre Tonlage verleitete Andrea gar nicht dazu, ihr zu gratulieren, denn die zweifache Mutter merkte, dass Jenny überhaupt nicht glücklich mit dieser Diagnose war. Beileid auszusprechen war bei einer Schwangerschaftsmeldung allerdings genauso unpassend. Andrea beließ es bei einem kurzen Streichen ihrer Finger über Jennys feuchte Wangenknochen und einem mutmachenden: "Sei nicht traurig. Gemeinsam schaffen wir das."
    Jenny seufzte: "Ich bin einfach noch nicht bereit für ein Kind. Generell... und jetzt noch die Unsicherheit mit Kevin." Andrea ergriff Jennys Hände. "Jenny, wenn ein Kind nicht Grund genug ist, sich wieder zusammen zu raufen... was dann? Und ich glaube, dass gerade Kevin als jemand, der beschützen möchte, alles vergessen wird, was du gesagt oder gedroht hat, wenn er davon hört, dass du schwanger bist. Da bin ich mir sicher. Aber du musst es ihm irgendwie sagen. Ruf ihn wieder an, schreib ihm, er muss es wissen." Andrea nickte ihr zu und fügte an: "Und dann wird er sicher so schnell wie möglich wieder zurückkommen." So sehr Andrea's Worte Jenny Mut machten, so sehr schüttelte sie die Angst, ließ ihr die Augen wieder voll Wasser laufen, und ließ sie wieder in die Arme ihrer Freundin fallen. "Ich habe solche Angst, dass ihm dort etwas passiert. Ich hab solche Angst, dass er nicht mehr zurück kommt..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    • 27. Januar 2016 um 23:14
    • #44

    Bogota Flughafen - 20:00 Uhr


    Nach 12 Stunden Flug in einer, nicht unbedingt bequemen Business-Class, lernt man erst die Komfortabilität eines Autos zu schätzen. Es war einer von vielen Gedanken, die Kevin durch den Kopf ging, als er mehrere Kilometer über dem Boden in Richtung Kolumbien schwebte. Ausserdem waren da einige Gesichter in seinem Kopf, die ihm immer abwechselnd mal mehr, mal weniger den versuchten Schlaf raubten, um die Flugzeit gedanklich zu verkürzen. Annie, für die er sich die schlimmsten Horrorszenarien ausmalte, Ben und Semir von dem jungen Polizisten bitter enttäuscht und wütend, die ihn an der Tür zur Autobahndienststelle abwiesen und am schlimmsten waren die Gedanken an Jenny. In Kevins Gedanken hatte Jenny seine Drohung wahr gemacht, und der Polizist fand die gemeinsame Wohnung bei seiner Rückkehr leer vor. Nur ein kahler Zettel lag am Fußboden, auf dem stand: "Du hast alles kaputt gemacht."
    Es versetzte ihm Stiche in die Brust, und er hatte in den 12 Stunden mehrmals den Entschluss gefasst, am Flughafen Jenny anzurufen, sich zu entschuldigen und mit der nächsten Maschine heimzufliegen. Doch es dauerte nur Minuten, und Annie meldete sich mit dem nächsten Schreckensszenario, sein alter Dämon schubste ihn auch nochmal an und erinnerte ihn an sein Versagen bei seiner Schwester Janine. Eine Option war es noch, die Tür des Fliegers aufzureißen, nochmal zu winken und herunter zu springen.


    Als der Flieger recht sanft auf der Landebahn aufsetzte und der Polizist aus dem kleinen Fenster blickte, fühlte er sich in eine andere Welt versetzt. Die Luft über der nahen Großstadt schien zu stehen, es war diesig und der dunkelblaue Himmel war fast nicht zu sehen, geschweige denn erste Sterne. Auf Urlauber machte der recht alt wirkende Flughafen auch nicht unbedingt den willkommensten Eindruck, doch Kevin achtete darauf nicht. Sofort traf ihn, etwas unerwartet wenn man schon drei Monate Kälte gewöhnt war, die warme Luft und er hatte sich seine Jacke unter die Arme geklemmt. Im Terminal war es recht ruhig, kein Vergleich mit Ferienorten wie Mallorca oder der Türkei, wo es wie auf dem Rummel zuging. Nur wenige Leute warteten am klappernden Laufband auf Gepäck und der Polizist nahm seine drei Taschen in Empfang. Eine Sporttasche mit Kleidung, und zwei kleinere Taschen, in denen er jeweils 25 000 Euro verpackt hatte.
    Er hoffte, hier am Flughafen Schließfächer zu finden, und wurde fündig. Sie waren zwar nicht modern wie in Frankfurt, aber sie würden ihren Zweck tun... hoffte Kevin zumindest, als er eine der beiden Taschen dort einschloß, und den Schlüssel in die Gesäßtasche seiner Jeans schob.


    Aus der kühlen, immerhin klimatisierten Halle trat er in Shirt und offenen kurzärmeligen Hemd an die warme, aber stickig wirkende Luft. Er war müde, war er doch jetzt durch den Jetlag schon 17 Stunden auf den Beinen, und es war erst 20 Uhr hier in Kolumbien. Rechts von ihm war ein Taxistand, und die Großzahl an Autos, die hier fuhren, stammten noch aus den 80ern und 90ern. Einige Anzugträger, mit dicken Brillis und noch dickeren Zigarren stiegen allerdings auch in moderne Mercedes und BMW.
    Der Polizist ließ den Blick herumreichen, bis ihm ein Mann auffiel, der gezielt auf ihn zusteuerte. Er hatte einen südamerikanischen Hautteint, pechschwarze schulterlange Haare zum Zopf gebunden und sein muskulöser Oberkörper steckte in einem dunkelgrünen Tanktop. Es war für Juan wohl nicht schwer, den deutschen Polizisten aus den gut 25 Mann, die gerade mit dem Flieger aus Deutschland ankamen, herauszufinden... denn er war der einzige, der nicht wie ein typischer Tourist sofort die wenigen Reisebusse ansteuerte, die in die Urlaubsregionen fuhren, und er ging nicht wie ein Geschäftsmann sofort Richtung Taxistand oder zur Autovermietung. Er kam aus dem Flughafengebäude, sah sich um und steckte sich erst mal eine Zigarette an.


    "Kevin? Kevin Peters?", fragte er mit unüberhörbaren spanischen Akzent, aber ansonsten perfekten Deutsch. Kevin nickte, nahm die Zigarette zwischen Zeige- und Mittelfinger und die beiden Männer schüttelten sich kurz die Hände. "Nenn mich Juan. Dann wollen wir mal, ab gehts." Es schien zuerst so, als sei sein kolumbianischer Reiseführer auch kein Freund vieler Worte. Doch sie waren noch nicht an dessen Auto angekommen, da zeigte der Mann mit dem Pferdeschwanz, dass er sich auch vielfältig auf Deutsch erklären konnte. "Du glaubst nicht, was mich diese Scheisse von meiner eigentlich Arbeit abhält. Pass auf, das ganze läuft hier genauso ab, wie ich es dir sage, alles klar? Ich weiß ja nicht, in welchen Kreisen du in Deutschland verkehrst... ich kann dir nur sagen: Hier ist es anders."
    Er steuerte auf einen ziemlich alten, verdreckten Jeep zu, in den Kevin mit seinen zwei Taschen auf der Beifahrerseite einstieg. Als Juan sich auch hinter das Steuer geklemmt hatte, legte er den linken Arm über das dünne Lenkrad und sah zu Kevin herüber. "Wo ist das Geld?" Kevin grinste: "Bist du so misstrauisch Freunden von Zack gegenüber?" "Weil ich ein Freund von Zack bin, weiß ich auch dass er so mit der größte Bescheisser östlich des Atlantiks ist. Also?" Mit einer Bewegung reichte der Polizist seinem Reiseführer die Tasche, und Juan machte in aller Ruhe den Reissverschluss auf, und sah hinein. Nachdem er ein paar Bündel auf Seite gelegt hatte, schien er sofort zu merken, dass es keine 50.000 waren. "Was soll das? Ich sagte, Zahlung im Voraus." "Auch wenn du hier in Kolumbien den Durchblick hast, heißt das nicht, dass ich ein Vollidiot bin. Ich geb dir das Geld, und du haust damit ab? Sobald wir Annie gefunden haben, kriegst du den Rest." Nun war es Juan, der grinste. Er mochte es, dass der Mann neben ihm scheinbar keine Angst hatte, und so versuchte er ihm, die Sorglosigkeit etwas zu nehmen: "Hör mal, mein Freund. Wenn du hier an den Falschen gerätst, schneidet der dir auch für ein Zehntel der Tasche die Brust auf, verlass dich drauf." Dann lehnte er sich wieder zurück und sah in Kevins unbeeindrucktes Gesicht. Er griff zum Zündschlüssel und meinte lächelnd: "Aber ich bin einverstanden."


    Die Straßen waren schlecht gepflastert, und die Gegend ein wenig trostlos. Die Häuser alt, verkommen, nur wenig Menschen waren auf der Straße unterwegs. "Falls du dich aufs Sightseeing gefreut hast, muss ich dich enttäuschen. Wir fahren in ein Vorviertel, einige Kilometer ausserhalb der Stadt. Deren Silhouette kannst du sehen, früh morgens, wenns einigermaßen klar ist.", erklärte Juan. "Welche Anhaltspunkte hast du für den Aufenthaltsort deiner Freundin?" Fast wie im Reflex wollte Kevin gegen den Ausdruck "Freundin" protestieren, doch Juan war nur eine Hilfe, und er überhörte es. "Ich weiß nur, dass ihr Handy im Bereich von Bogota eingeloggt war vor einigen Tagen. Und dass sie eventuell wegen Drogen hier ist." "Verdammte Scheisse...", fluchte Juan lachend auf Spanisch. "Das ist keine Nadel im Heuhafen, das ist ne beschissene Nadel in ganz Kolumbien..."
    Hinter dem Auto staubte es, und die Nacht brach herein. Viele Autos fuhren ohne Licht, und die Fahrt war nicht ungefährlich. Er hielt vor einem Haus, an dem ein Schild "Pension" angebracht war, um Kevin dort rauszulassen. "Hier hab ich dir ein Zimmer besorgt. Die Straße neben dem Haus weiter gibt es ein paar einheimische Kneipen. Ich hol dich morgen früh um 9 Uhr ab, dann zeig ich dir alle Orte, an denen du suchen kannst." "Alles klar.", meinte Kevin, nahm seine Tasche und zog sie mit aus dem Wagen, als er mit den Schuhen im Staub aufkam. "Und tu mir einen Gefallen...", sagte Juan noch, lehnte sich wieder herüber und schaffte es, dass Kevin sich nochmal umdrehte. "Geh heute abend nicht noch alleine in die Slums hier. Wir fahren morgen zusammen, okay?" Kevin hasste Bevormundung, aber er schluckte alles herunter. Er brauchte Juan, er brauchte ihn um Annie zu finden... und das war sein vorrangiges Ziel.

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    • 1. Februar 2016 um 09:20
    • #45

    Dienststelle - 9:00 Uhr


    Ben hatte es keine Ruhe gelassen. Das Gespräch mit Semir hatte sich tief in ihn gebrannt, die Frage danach, wie seine Gefühle um Carina wirklich standen. Das Aufbürden der Verantwortung, wenn er ihr wirklich mit ihrer Mutter half, er konnte wirklich sehr schlecht dann einfach sagen "Tschüss, auf Wiedersehen.", wenn es nicht zu einer Beziehung mit Carina kam, aus welchen Gründen auch immer. Und da sie immer noch in dem Mordfall ermittelten, war es sowieso nicht ratsam, jetzt eine Beziehung einzugehen. Semir hatte mit seinen Worten mal wieder ganze Arbeit geleistet, und Bens Kopfeinrichtung ordentlich umgestellt, und gestern ließ er sich bei Carina wegen Unwohlsein entschuldigen um abends mit einem schlechten Gewissen zu Hause zu sitzen.
    Morgens waren die Gedanken nicht weg, sie wurden nur verdrängt von anderen Gedanken... nämlich von dem des Fremden, der Ben in Carinas Haus entgegen gekommen ist. Der Gedanken kam heute morgen, als Ben mal wieder mindestens viermal sein Handywecker nach dem Klingeln um 5 Minuten nach hinten gestellt hatte, um sich im warmen Bett nochmal umzudrehen. Wer war er, was hatte er bei Carina zu suchen? Die Erklärung der Mutter, es kam Carina gerade recht... sie war beinahe erleichtert, als er und Semir das Fernsehprogramm und die Verwirrtheit der Mutter richtig definierten. Und Ben selbst war auch ganz froh darüber, denn zumindest hegte damit Semir keinen Verdacht gegen Carina, und nun schwoll der Verdacht ausgerechnet bei Ben?


    Der Gedanke ließ ihm keinerlei Ruhe, und so nutzte er die Zeit im Büro und seine IT-Hilfsmittel, um sich ein wenig seiner Gedanken zu entledigen. Dazu rief er die größte Datenbank von vorbestraften Bundesbürgern auf, die er im Polizeintranet finden konnte, kochte sich die zweite Tasse Kaffee und begann zu klicken. Zuerst hatte er die Rubrik auf "Alle" stehen, und wusste beim Blick auf die Zahl unter den Bildern, dass er das heute nicht mehr schaffen würde. Also setzte er den Filter auf "Organisierte Kriminalität", und die Arbeit verringerte sich von Tagen zu Stunden. Die rechte Hand auf der Maus, die linke unterm Kinn und den Ellbogen aufgestützt, die Augen konzentriert und fokussiert auf den Monitor gerichtet.
    "Ach, ist das schön wenn man einen eifrigen Kollegen hat, der einem hilft den Papierkram zu erledigen, damit man schneller fertig ist.", flötete Semir vom Tisch gegenüber in Bens Richtung und klang dabei höchst ironisch. Es half ihm nämlich gerade niemand und sein bester Freund schien mit anderen Dingen beschäftigt zu sein, zumindest konnte Semir beobachten, wie er höchst konzentriert auf den Monitor starrte. "Guckst du nen Porno?", fragte er grinsend und bekam zur Antwort nur ein "Hmm", das weder bejahend klang, noch verneinend.


    Spätestens da merkte Semir, dass Ben ihm nicht zuhörte. Für einen Moment hatte er das Bedürfnis aufzustehen, und mal zu sehen, was Ben da trieb. Natürlich sah er sich keinen Porno an, aber irgendwas schien ihn völlig seiner Konzentration zu benötigen. Aber der erfahrene Polizist widerstand dem Drang und der Neugier, er seufzte nur, und erledigte weiter den Papierkram, der sich in den letzten Wochen aufgetürmt hatte, als er im Krankenstand war. Das einzige Geräusch, das ihm Büro der beiden zu dieser Zeit zu hören war, war das Ticken ihrer Wanduhr und das regelmäßige Klicken von Bens Maus, bis er schließlich bei einem Foto stehen blieb, das sein Herz kurz in die Hose rutschen ließ.
    Die Gesichtszüge des Mannes kamen ihm sofort bekannt vor, als würde sich eine Schablone in seinem Kopf in Sekundenschnelle über das Gesicht legen, das er gerade anstarrte und die Formen passten sofort. Der Blick, die grünen Augen, sogar den Ohrring am linken Ohr hatte er auf dem Foto an. In Verdacht stehend, Mitglied einer straforganisierten Bande zu sein, die in der organisierten Kriminalität zu Hause war... spezialisiert auf Erpressung und Betrug. Seine Name war Konstantin Drager. Ben spürte, wie sein Mund trocken wurde... und er wusste sofort, dass dieser Kerl nicht das Haus verwechselt hatte, und Carinas Mutter doch nicht die Realität mit dem Fernseher verwechselte. Aber Carina kam diese Verwechslung gerade recht.


    Der Polizist schloß das Suchfenster an seinem PC und stand auf, mit einer Hand die Jacke vom Stuhl ziehend. "Was ist denn jetzt los?", fragte Semir, der von der überraschenden körperlichen Bewegung seines Partners kurz erstaunt aufblickte. "Ich muss kurz in die Stadt, was privates erledigen. Ich bin in ner Stunde wieder da.", sagte Ben kurz angebunden und war bereits auf dem Weg nach draussen, Semir mit erstauntem Gesichtsausdruck zurücklassend. Der seufzte kurz und ließ die, zuerst erstaunt in die Höhe gereckten Arme langsam wieder auf die Tastatur sinken. "Da hat Kevin in der kurzen Zeit ja ganz schön abgefärbt mit seinen Alleingängen...", murmelte der erfahrene Polizist. Aber er vertraute Ben genug, um ihn ziehen zu lassen und nicht wie ein Aufpasser hinterher zu rennen.
    Ben war dafür sehr dankbar... er wollte alleine mit Carina sprechen. Sie konfrontieren damit, dass sie ausgerechnet den Besuch eines, im organisierten Kriminalitäts-Milieu vorbestraften Mannes leugnete während die Spur von Björns Mörder in die selbe Richtung führte. Das war nun wirklich des Zufalls zuviel. Die Ausrede der Mutter kam ihr gerade recht, die sie auch dankend annahm, und somit die Krankheit der Mutter ausnutzte. Der junge Polizist konnte nicht glauben, dass Carina so eiskalt war und vermutete eher eine Art von Druck. Nur wirklich zusammensetzen ließ sich dieses Puzzle nicht.


    Sein Magen krampfte sich zusammen, als er in Carinas Straße einbog und den Mercedes langsam über den Asphalt rollen ließ auf der Suche nach einer freien Lücke am Straßenrand. Gerade als er eine entdeckt hatte, sah er ihn vor Carinas Haustür stehen. Offenbar klingelte er vergeblich, den die Tür öffnete sich nicht. Seine Schirmmütze hatte er diesmal nicht auf, den der Himmel war heute herrlich klar und es war bitterkalt, seine Haarsträhne konnte Ben aber trotzdem gut erkennen. Ohne merkbar zu verlangsamen oder beschleunigen fuhr er an der Adresse vorbei und drehte den Dienstwagen in einer Seitenstraße, um in der Fahrzeugkolonne dahinter zu parken. Unsichtbar für den Mann vor Carinas Haustür und trotzdem fähig, ihn zu beobachten.
    Nur wenige Momente später kam Carina, den Rollstuhl ihrer Mutter vor sich herschiebend, die darin saß und dick verpackt war, gegen die Kälte. Zum Glück kam sie von der anderen Seite, und ging so nicht an Bens geparktem Auto vorbei. Sie redeten, sie unterhielten sich und Ben versuchte über die Körpersprache zu lesen, denn verstehen konnte er die beiden nicht... zu weit weg war er, zu laut war der Autolärm. Drager nahm die Hände nicht aus den Manteltaschen, seine Miene war ernst, manchmal lächelte er überlegen, aber unsympathisch. Carinas Gesichtsausdruck dagegen war nicht verängstigt oder eingeschüchtert, aber ablehnend. Sie unterhielten sich nicht laut, aber angeregt, und offenbar schienen dem Mann Carinas Worte nicht zu passen, denn sein Gesichtsausdruck wurde immer ärgerlicher und die Überlegenheit fiel. Als er einen Schritt drohend auf Carina zuging, hatte Ben bereits den Hand am inneren Türgriff, doch es blieb bei einem Schritt, vor dem die junge Frau nicht zurückwich. Ben zückte sein Smartphone und schaffte es, zwar leicht verwackelte aber nah herangezoomte Bilder zu schießen.


    Die Unterredung blieb kurz, und es schien, als würde Carina Drager einfach stehen lassen, als sie die Tür aufschloß und im Haus verschwand, ihre Mutter voranschiebend, die scheinbar ständig etwas sagte, aber von Carina ignoriert wurde. Das Gesicht des Kerls, als er sich von dem Haus abwandt und in Bens Richtung ging, erschrak den Polizisten für einen Moment... feindseelig, wütend... der Mann kochte, bevor er sich in einen Wagen gleiten ließ, der einige Autos vor Ben am Straßenrand stand. Der Polizist entschied sich gegen eine Konfrontation mit Carina und hielt es für klüger, Drager unauffällig zu folgen. Mit einer schnelle Drehung am Schlüssel wurde der Dienstwagen gestartet und sich zwei Autos hinter dem dunkelblauen Audi in den laufenden Verkehr eingeordnet.

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    • 3. Februar 2016 um 11:41
    • #46

    Bens Dienstwagen - 10:30 Uhr


    Für einen geübten Fahrer wie Ben war es nicht schwer, Drager durch den Stadtverkehr zu folgen. Nur an Ampelanlagen war es manchmal ein Glücksspiel, wenn sein Zielobjekt knapp vor Rot durchbrauste, und die Autos, die Ben zur Abschirmung benutzte, stehen blieben. Dann musste Ben über mehrere Autos hinweg bis zur nächsten Ampel blicken und hin und wieder auf der Abbiegespur einige Autos überholen, um Drager nicht aus den Augen zu verlieren. Doch der hatte es zum Glück nicht eilig, blieb lieber mal schon bei Gelb stehen, statt noch darüber zu huschen und so war es für den Autobahnpolizisten eine leichte Übung, dem Mann zu folgen. Vor allem, als dieser dann die Innenstadt verließ und auf die Autobahn in Richtung Westen fuhr.
    Ben hatte das Lenkrad fest in der Hand und den Wagen vor ihm fest im Blick. Sein Handy in der Jeans schien zu glühen, so kam es ihm jedenfalls vor, und es schien ihn anzuschreien: "Ruf endlich Semir an und berichte ihm von deinen Beobachtungen." Der Polizist ignorierte das Rufen, er ignorierte sein Gewissen. Würde er Semir jetzt einweihen, würde der wahrscheinlich den normalen Dienstweg nehmen und Carina erstmal in die Mangel nehmen, denn Semir war Polizist durch und durch und würde versuchen, jeder erdenklichen Spur nach zu gehen. Ben war jetzt gerade persönlich involviert, denn auch wenn er sich über die Gefühle gegenüber Carina noch nicht ganz im Klaren war, so fühlte er sich jetzt doch eher mit ihr verbunden...


    Die Fahrt verlief nun eindeutig in Richtung holländische Grenze. Ben wurde mulmig im Bauch, denn im Ausland hatte er keinerlei Befugnis mehr, in irgendeiner Form einzugreifen, wenn es nötig war. Allerdings hatte Drager seinen Verfolger noch nicht bemerkt, er fuhr konstant gemütlich 130 und machte keine Anstalten, Ben abzuhängen. Die Kilometer bis zur Grenze zum Nachbarland wurde nach jedem Hinweisschild weniger, das Nummernschild, ein Deutsches, hatte sich Ben längst mit dem Handy notiert für später. 6km vor der Grenze fuhr der Audi ab auf einen größeren Rasthof mit Tankstelle, Restaurant und Übernachtungsmöglichkeit. Drager fuhr dort auf den Parkplatz und der Kommissar hielt gebührenden Abstand, bevor er auch auf einen der Parkplätze vor der Gaststätte fuhr.
    Nur wenige Minuten, nachdem Drager das Gebäude betreten hatte, schritt auch Ben an Pappaufstellern vorbei, die überteuerte Schnitzel mit einer unrealistischen Actionserie aus dem TV bewarben, und betrat den Gästeraum. Ein kurzes Umsehen, und er nahm an einem Zweiertisch Platz, ganz in der Nähe von Drager, der ebenfalls an einem Doppeltisch saß, und sich scheinbar bei der Selbstbedienung einen Kaffee genommen hatte, der dampfend vor ihm stand. Erst jetzt fiel Ben auf, dass es wohl auffällig war, wenn er da saß und nichts zu trinken oder essen hatte, also stand er nochmal auf und bewaffnete sich ebenfalls mit Kaffee und Schoko-Crossaints.


    Nur wenige Minuten später betrat ein Mann die Gaststätte und ließ sich an Dragers Tisch nieder. Die beiden Männer begrüßten sich mit Handschlag und begannen sich zu unterhalten... auf Holländisch. Ben konnte teilweise mithören, aber die Gesprächsfetzen die er mitbekam, ergaben für ihn keinen Sinn, auch wenn man sich Holländisch auch ohne Fremdsprachenkenntnisse manchmal auf Deutsch übersetzen, besser zusammenreimen konnte. Nur bei einem war er sich sicher... der Name "Carina" und "Björn" fielen hin und wieder, und somit war Ben sicher, auf der richtigen Spur zu sein. Er kaute langsam, trank langsam, damit er genügend Beschäftigung hatte, da er nicht wusste, wie lange das Gespräch dauerte.
    Der Tisch, an dem Drager und der fremde Mann saßen stand schräg von Ben entfernt. Scheinbar zufällig lehnte sich der Polizist leicht schräg an die Fensterfront, an der sein Tisch stand, zückte das Smartphone und begann, im Internet zu surfen... so sah es zumindest für jemanden aus, der Ben beobachtete und ihm keine bösen Absichten unterstellte. In Wahrheit schaltete der Kommissar den Signalton aus, damit er keine verdächtigen Geräusche von sich gab, wenn er die Kamera-App öffnete und mehrere Bilder vom Gesicht von Dragers Gesprächspartner machte. Er sah sich bereits im Büro wieder, und die nächsten Fahndungs- und Vorstrafenbilder durchklicken, während Semir immer noch verständnislos ihm gegenüber saß, und nicht wusste, was sein bester Freund da trieb.


    So langsam er auch aß und trank, die beiden Männer unterhielten sich länger als Ben Zeit herausschinden konnte. Als er noch 10 Minuten vor seiner leeren Tasse und dem nur noch verkrümelten Stück Serviette saß, beschloss er, die Gaststätte zu verlassen. Den kurzen Blick von Drager spürte er nicht, als er an dem Tisch vorbei nach draussen ging, und dort in seinen Dienstwagen einstieg. Sein Handy machte auf sich aufmerksam, und auf dem Display prangte groß: "Semir Büro". Ben seufzte und nahm ab. "Ja?" "Hier ist dein Partner. Sag mal, schreibt man Jäger eigentlich mit e oder ä? Ich brauch den Namen für aus Ausfüllen der Vermisstenanzeige.", witzelte sein Partner und ließ den ernsten Hintergrund seiner Frage trotzdem deutlich erkennen.
    "Ich bin hier grad an ner heißen Sache dran.", wiegelte Ben ab und behielt den Ausgang der Gaststätte im Auge. Der Anruf kam ihm irgendwie gerade doch recht, denn sollte Drager herauskommen, wäre es nicht so auffällig, wenn Ben im Auto saß und telefonierte, statt einfach da zu sitzen und den Eingang zu beobachten. Deshalb nahm er auch das Handy extra ans Ohr, statt die Freisprecheinrichtung zu bemühen.


    "Heiße Sache, aha... nunja, dann will ich dich nicht weiter stören, Partner. Meldest dich dann, wenn du wieder soweit bist, mit mir in diesem langweiligen Mordfall zu ermitteln, ja? Ich sprühe da gerade vor heißen Spuren.", krakelte der erfahrene Kommissar durchs Telefon. Er hätte auch sagen können: "Nun lass hören, wo du grade bist, und was du grade machst.", aber Semir sagte es durch die Blume des Sarkasmuses. "Gut, mach ich. Bis dann.", meinte Ben todernst und hörte sofort seinen Partner schnappatmen. "HEY! Jetzt rück raus mit der Sprache. Was geht ab??" Der Polizist im Auto grinste, weil ihm der Scherz gelungen war, und rückte nun, wie immer zu spät, mit der Sprache raus. "Ich observiere den Typ, der bei Carina war." "Hä? Ich dachte, der hat nichts mit der Sache zu tun und hat sich nur im Haus geirrt..." "Ich weiß nicht... hatte da so ne Ahnung. Ich erklärs dir, wenn ich wieder zurück bin, okay?" Semir seufzte, diese Vertröstungen kannte er. "Aber meld dich bitte, wenns Schwierigkeiten gibt, ja?", setzte er noch hinterher. "Ja, Papa!" Mit diesen Worten beendeten die beiden das Gespräch.
    Gerade rechtzeitig, denn Drager und sein Freund kamen aus der Gaststätte heraus. Sie verabschiedeten sich per Handschlag und stiegen beide in ihre Autos. In Windeseile notierte Ben auch das zweite Nummernschild, startete den Mercedes vor Drager und rollte auf die Autobahn. Es war weniger auffällig, sich auf der Autobahn dann überholen zu lassen, als zu warten, bis Drager losfährt und sich wieder dahinter zu setzen.


    Es dauerte nur wenige Kilometer, bis Drager auf der Überholspur an Ben vorbeifuhr. Gemächlich, mit wenig Überschuss dauerte der Vorgang einige Meter... Zeit genug für Ben, herüber zu schauen und zu bemerken, wie Dragers grüne Augen ihn fixierten... und scheinbar erkannten. Der Typ, der mit ihm an der Raststätte ankam, in seiner Nähe saß und nun zum gleichen Zeitpunkt wieder wegfuhr. Für normale Menschen eigentlich nichts aussergewöhnliches, dass Leute für ihr Frühstück an einer Autobahnraststätte die gleiche Zeit brauchen, wie man selbst. Doch Dragar war ein Verbrecher und deswegen misstrauisch. Er beschleunigte seinen Audi mehr, als er die ganze Zeit vorher fuhr...

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    • 7. Februar 2016 um 01:09
    • #47

    Bens Dienstwagen - 12:00 Uhr


    Ben trügte sein subjektives Gefühl nicht. Wo Drager vorher gemütlich 120 auf der Autobahn fuhr, hatte er es jetzt deutlich eiliger. Doch von einer Flucht war sein Fahrstil noch weit entfernt. Er drängelte nicht, er überholte nicht rechts und er versuchte auch kein wildes Hakenschlagen um Ben abzuhängen. Der hielt weiter geübt Abstand, und wenn Drager nicht bereits vorher Verdacht geschöpft hatte, würde er es jetzt auch nicht tun, denn der Autobahnpolizist hielt sich vornehm im Hintergrund, scherte immer wieder auf die rechte Spur nach einem Überholmanöver, ließ sich zurückfallen und holte, den PS seines Mercedes sei Dank, wieder mühelos auf. Einmal überholte er sogar zum Schein, als er wusste dass mehrere Kilometer keine Ausfahrt kam, und ließ sich einige Minuten später wieder zurückfallen.
    Kurz hinter der City von Köln fuhr Drager wieder raus in Richtung eines Industriegebietes. Ben folgte immer noch auf Abstand, hatte wieder einige Autos zwischen sich und den Audi kommen lassen. Doch Drager bog nun in eine weniger befahrende Straße ab, so dass Ben noch zwei Umdrehungen im Kreisel mehr fuhr, um Abstand zu gewinnen. Er konnte gerade noch erkennen, wie der Audi abbog, allerdings nicht in eine Seitenstraße, sondern auf eine Art Hof einer Industriehalle. Der Polizist rollte die Straße entlang und dachte nach. Seine Hand fuhr schon zur Taste für die Freisprecheinrichtung, um Semir anzurufen, doch er entschied sich dagegen.


    Als der Mercedes zur Einmündung fuhr, konnte er den Audi dort parken sehen. Ausserdem eine große Halle, eine Eingangstür mit Briefkasten, und ein verschlossenes Tor. Mit leicht schwitzigen Händen bog Ben ab und parkte nur unweit von dem Audi, als er sich durch einen Blick versicherte, dass Drager nicht mehr drinnen saß. Sein Herz klopfte. War das eine Falle? Sollte er nicht doch lieber Semir anrufen, oder die Observation hier beenden? Nein, erstmal umschauen, beschloß Ben. Er konnte immer noch sagen, dass er sich verlaufen hätte, wenn er erwischt werden würde.
    Die Eiseskälte begrüßte ihn mit einem Schlag, als er aus dem gut gewärmten Fahrzeug ausstieg und langsam in Richtung der Eingangstür ging. Kein Name am Briefkasten, kein Klingelschild, keinerlei Firmenname, der irgendwo an der Halle angebracht war. Er konnte durch die Glasscheibe in den Innenraum des Büros sehen, doch dort gähnte ihn Leere an. Nur ein Schreibtisch und ein Stuhl standen dort, keinerlei IT, keine Dokumente, kein Aktenschrank. Was war das hier? Eine verlassene Industriehalle? Was wollte Drager dort? Er trat einen Schritt von der Scheibe zurück, sein ungutes Gefühl verstärkte sich und die Kälte kroch ihm durch die dicke Lederjacke bis an die Haut, und ließ eine Gänsehaut entstehen. Irgendwas musste er hier doch wollen...


    Ben beschloß, um die Halle zu gehen... eine Feuertür, oder eine Feuerleiter, ein zweiter Ausgang musste es hier doch geben. Doch auch seitlich und hinter der Halle wurde er nicht enttäuscht. Dort war eine Feuerfluchttür nach hinten heraus, und die ließ sich öffnen, doch hier verließ Ben der Mut. Er würde mit Semir hierher kommen, und dann könnte man schauen, was hier verborgen lag. Er hatte gerade mal 10 Minuten hinter der Halle verbracht, doch das hatte anscheinend ausgereicht... und in dem Polizisten reifte die Erkenntnis, doch in eine Falle getappt zu sein, als er wieder in Richtung des Vorplatzes ging, und er plötzlich Stimmen hörte. Er ging langsamer, geräuschloser und wagte es nur, einmal kurz um die Ecke der Halle zu lugen. Die Fahrertür des Mercedes stand offen, Drager saß auf dem Fahrersitz und ein, Ben unbekannter Mann, stand daneben.
    "Was weiß ich, wie lange der schon hinter mir her fährt? Mir ist er erst auf dem Rastplatz aufgefallen.", knurrte Drager und schien in Bens Geldbörse zu blättern, die der Polizist immer auf der Mittelkonsole liegen hatte, weil sie ihn in der Gesäßtasche immer störte. "Na klasse... was will der von dir?", fragte der unbekannte Mann, von weitem waren nur seine kaltblauen Augen und seine makellos rasierte Glatze zu erkennen. Drager schien kurz zu ihm aufzublicken. "Das geht dich nichts an, Vesoski. Ich hab dich nur gebeten, das Auto zu knacken, nicht um Fragen zu stellen."


    Ben hätte sich in den Hintern beißen können... mein Gott, wie konnte man nur so dämlich sein wie er, und in diese, simple und gerade zu offensichtliche Falle tappen. Vermutlich hatte Drager selbst die hintere Tür geöffnet, und hoffte nun, Ben würde richtig viel Zeit in der Halle mit Suchen verbringen... und vermutlich nichts finden. In der Zeit konnte Drager sich hervorragend erkundigen, wer ihm da mindestens seit dem Rastplatz bereits auf den Fersen war. Er wollte gerade zur Hose greifen, um sein Handy zu zücken, als ihm heiß und kalt wurde... auch das lag im Wagen, angeklemmt ans Ladegerät. Verfluchte Tat, das konnte doch nicht wahr sein. Das würde einen schönen Einlauf von Semir geben, wenn er ihm das erzählte.
    Genau eben jenes gesuchte Handy hatte Drager jetzt in der Hand. Er drückte daran herum, ließ es aber wieder auf die Mittelkonsole sinken. Ein Zahlencode verhinderte, dass er es entsperren konnte, und Ben atmete ein wenig auf. Trotzdem hatte Drager natürlich Bens Ausweis, sowohl Personal- als auch Dienstausweis gefunden. "Unser Schnüffler heißt also Ben Jäger. Kripo Autobahn. Hmm...", sagte Drager, und Ben konnte nur die lautesten Worte deutlich verstehen. "Bist du zu schnell gefahren?", witzelte der Kahlköpfige von draussen. "Sehr witzig, Vesoski.", knurrte der Mann auf dem Fahrersitz und steckte den Ausweis zurück in den Geldbeutel, sah sich im Auto nochmal um, und stieg dann wieder aus. Leise, damit Ben es innerhalb der Halle nicht hören würde können, wo Drager vermutete, Ben würde sich aufhalten, schloß er die Fahrertür wieder. Der Polizis würde merken, dass nicht abgeschlossen war, und würde es vermutlich auf seine eigene Schusseligkeit schieben.


    "Was jetzt? Soll ich die Jungs rufen, und wir holen den Bullen aus der Halle raus? Wäre nicht der erste Kellenhalter, dem wir klarmachen, dass ihm seine Zähne und seine Familie wichtiger sein sollten, als seine Vaterlandspflichten.", fragte Vesoski und knackte mit zwei Fingergelenken. Drager sah auf die Halle, und Ben rückte nochmal einen Schritt zurück in seine Deckung. Einem Reflex nach wollte er sich verstecken, doch wo sollte er hin? In der Halle würde man ihn eh früher oder später finden, und hinsichtlich einer Übermacht mehrerer Leute, rutschte ihm das Herz kurz, trotz seiner Fähigkeit im waffenlosen Kampf und seiner Dienstwaffe, kurz in die Hose. Aber dann legte der Verbrecher einen Finger auf die Lippen und schüttelte entschlossen den Kopf. "Nein, mein Freund. Keine Lust die Bullen noch mehr aufzuscheuchen. Ich weiß jetzt, was ich wissen muss.", sagte er. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und wirkte beinahe enttäuscht. Der 500 Euroschein, dem Drager ihm in die Hände drückte für seinen kurzen Bruch schien ihn zumindest etwas zu trösten.
    Der Autoknacker trollte sich alsbald und Drager ging in Richtung seines Audis. Ben lugte wieder um die Ecke und beobachtete den Mann, der vor dem Mercedes des Polizisten einen Moment stehenblieb, und in Richtung der Frontscheibe blickte. Er grinste kalt, und formte seine Hände nach oben, als würde er ein Gewehr halten und durch ein Zielfernrohr blicken. Er bewegte sich mit einem leisen Ton zweimal, als würde er abdrücken, und sein Grinsen wurde breiter, als er die Hände wieder öffnete, in seinen Wagen stieg und von dem Vorplatz fuhr. Ben beobachtete den Mann dabei mit angehaltenem Atem...

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    • #48

    Motel - 7:00 Uhr


    Gut geschlafen hatte er wahrlich nicht... die Nacht kam ihm zu kurz vor, die Matratze viel zu hart und ständig knatterten Motorroller oder klapprige LKWs über die Straße direkt vor Kevins Motel. Mehr war diese Einrichtung wirklich nicht, er hatte aber auch kein Luxushotel erwartet. Im Erdgeschoss war so etwas wie ein Empfang, wo ein dicker Mann hinterm Tresen saß, neben ihm ein kleiner Fernseher, wo auf grieligem Bild irgendwelche Fussballspiele der kolumbianischen Liga liefen. Man konnte hier stundenweise "übernachten", oder mehrere Tage bleiben, und es kostete vermutlich soviel, wie man in einem anständigen Hotel für ein Glas Wasser bezahlen musste. Das Zimmer hatte auch nichts, bis auf ein Bett und einen, halb zusammengefallenen Schrank. Toiletten und Duschen waren Gemeinschaftsräume auf dem Flur. Doch für jemand wie Kevin, der auf der Straße aufwuchs und bereits mehrere Tage im Knast verbringen musste, konnte sowas nicht schocken.
    Als er aufgewacht war, hatte er sein Handy genommen. Er hatte das Bedürfnis, jemandem zu schreiben... mitzuteilen, dass er angekommen war, dass er im Gegensatz zu seinen Freunden, nicht böse mit ihnen auseinander gegangen ist. Auch auf die Gefahr hin, dass derjenige, der die Nachricht bekam, wohl genervt die Augen verdrehte und das Handy weglegte. Semir kam als Empfänger nicht in Frage, und bei Jenny hatte Kevin Bauchweh... immer noch hatten sich ihre Worte, dass sie nicht auf ihn warten würde, fest ins Gedächtnis gebrannt. Also schrieb er Ben kurz: "Hey. Bin angekommen. Schreibe hin und wieder, dass ihr wisst, dass alles okay ist. Grüße." Wirklich besser fühlte er sich nach Absenden der Nachricht nicht.


    Juan hatte sich früh angekündigt und hielt mit seinem alten Jeep, als es gerade vollständig hell war. Die Sonne lachte vom Himmel, und es war, wie sein kolumbianischer Guide gestern gesagt hatte, absolut klar. Doch schon gegen Mittag würde der Smog aufziehen, den Himmel diesig machen, vor allem wenn die Hitze anstieg. Der Mann begrüßte seinen "neuen Freund", als der in den Jeep stieg und krachend die Tür ins Schloß fiel. "Und, gut geschlafen?", fragte Juan, der eine recht große Sonnenbrille auf der Nase sitzen hatte. "Naja, geht so. Ist nicht grade ein Luxushotel, was du mit gebucht hast." "Du bist auch nicht hier um Urlaub zu machen, Amigo.", grinste der Fahrer und legte den ersten Gang ein. Das Auto holperte über die schlecht asphaltierte Straße und fuhr nun in Richtung eines Vorortes.
    Bereits von weitem konnte Kevin die eigenartige Bauweise der Häuser... oder eher Hütten, sehen. Aus Wellblechdächern und roten Backsteinen, dicht aneinander gedrängt, baute sich ein riesiges Slum vor den etwas größer und stabiler wirkenden Altbauten auf. Vereinzelt standen recht krumme Holzpfosten an denen Stromkabeln hingen und zu einigen der Häusschen führten. Die Wege zwischen den Häusern waren nicht asphaltiert, sondern krumm und sandig, so dass Juan den Jeep am Beginn des Slums anhielt. Vor den Hütten saßen Kinder, Frauen und ganz wenige Männer, die um diese Uhrzeit meistens arbeiteten... irgendwo im Vorort, im Industriegebiet in Fabriken, als Arbeiter.


    Kevin hatte sowas noch nie gesehen. Klar kannte er die Straße von Köln, die dunklen Ecken, aber da war nichts, was man als "Slum" bezeichnen konnte... oder "Ghetto." Das war hier eine ganz andere Nummer, und er blickte mit Respekt in die Häuserschluchten, die herrlich unangeordnet kreuz und quer standen, und Trampfelpfade einfach entlang der Häuser mit der Zeit entstanden sind. Einige der Häusschen stachen sogar mit bunt angemalten Fassaden heraus. "Wenn du in Kolumbien ganz unten bist, endest du hier. Oder, wenn du weißt, wo du Drogen kaufen willst, dann kommst du hierher. Wenn du den Nervenkitzel suchst, ob du als Tourist wieder heil hier rauskommst, gehst du hier spazieren.", erklärte Juan, als sie einen der Wege zwischen den Hütten nahmen. "Willkommen im Vorort zur Hölle, Amigo."
    Fauliger stechender Geruch stieg Kevin in die Nase, denn das Slum hatte keine funktionierende Kanalisation. Die Menschen, die hier lebten, schienen diesen Geruch längst vergessen zu haben. Viele Leute, die ihnen auf dem Weg begegneten, waren normal gekleidet, mit Jeans, Shirts und einfachen Turnschuhen. Auch sah Kevin keine halb verhungerten, oder in Lumpen herumlaufende Kinder, wie er es aus Horrorbildern der Armenländern in Afrika kannte. "Der Staat hat einiges bewegt für die Bewohner hier. Kleidersammlungen, es gibt direkt im Vorort einen Markt, wo der Staat die größten Landwirte quasi verdonnert hat, einen Teil ihrer Waren unterpreisig abzugeben. Viele der Bauern sind deswegen auf die Barrikaden gegangen, aber der Staat braucht das Ghetto." "Und wieso?", fragte Kevin knapp, und Juan grinste: "Weil der kolumbianische Verwaltungsapparat einer der korruptesten Lateinamerikas ist. Und auch vom Drogenhandel, der hier, wie im Vorort quasi seinen Hauptsitz hat, profitiert."


    Hin und wieder fielen Kevin auf dem Weg durchs Ghetto auch junge Frauen und Mädchen auf, die anders gekleidet waren. Mit kurzen Röcken und eher knappen Tops, müden Gesichtern und Ränder unter den Augen. Bei jeder Frau, die eine etwas auffälligere Frisur hatte, blickte der Polizist sofort auf. Doch die knallig roten Haare Annies würden hier sofort auffallen, denn naturgemäß waren viele der kolumbianischen Frauen dunkelhaarig. "Und du glaubst, Annie ist hier irgendwo?" "Wenn sie wirklich den Drogen in die Hände gefallen ist, hält sie sich im Vorort auf. Marktplatz, Plaza de Liberte, wo viele Drogensüchtigen den Tag verbringen, und es gibt noch ein paar... Treffpunkte. Ein paar Hütten, wo die Zuhälter ihre Arbeiterinnen leben lassen." "Gehört das auch zum Geschäft?", fragte Kevin, doch Juan winkte sofort ab: "Nicht zu meinem. Ich kümmere mich mit meinen Männern allein um Stoff, hauptsächlich für den deutschen und französischen Markt. Aber die Konkurrenz fährt oft mehrgleisig, wenn du verstehst."
    Juan vermutete in Kevin, als Freund von Zack, wohl ebenfalls einen Typ, der eher in zwielichtigen Geschäften unterwegs ist. Er hatte keinerlei Bedenken, dass Zack ihm einen Spitzel unterschieben würde... was sollte ein deutscher Beamter schon in Kolumbien ermitteln? Und dann auch noch allein? Und wenn doch, würde er hier früher oder später eh auf Nimmerwiedersehen verschwinden.


    Die beiden Männer gingen durch eine Art Tor, das das Slum von einem größeren Platz abgrenzte. Hier war der Marktplatz, auf dem einige Händler Holzstände aufgebaut hatten und gerade dabei waren, die Ware vorzubereiten. Ein großer und betagter Stromverteilungskasten schwitzte unter der Belastung einiger Kühltruhen von Fleischhändler und surrte. Auch gab es hier in einigen der, nun größeren Häusern auch Einrichtungen wie eine Kneipe, ein einheimisches Restaurant und Geschäfte, sowie eingesessene Straßenverkäufer. Engere Gassen zwischen den Häusern führten von dem Platz weg. "In diese Richtung liegen zwei Plätze, und hier durch die Gasse kommst du noch zu einigen zentralen Plätzen. Die werde ich dir jetzt zeigen, und dann kannst du den ganzen Tag damit verbringen zwischen diesen Punkten hin und her zu wandern und nach deinem Schnuckel Ausschau halten. Du redest nur mit Leuten, die ich dir zeige, klar?", sagte Juan und konnte es fast nicht verhindern, reflexartig den Zeigefinger zu heben.
    Am anderen Ende des Platzes fiel Kevin ein Mann auf. Er stand an einer Hausfassade und blickte eine Zeitlang auf eine Gruppe von Männern, die von einem LKW Kisten in ein Haus trugen. Kevin konnte nicht sagen, warum der Mann ihm auffiel, aber er strahlte eine sonderbare Art der Autorität aus. Er hatte eine Glatze, allerdings rund um den Kopf noch kurze, grau-schwarze Haare. Sein halbes Gesicht war von einem, ihn ähnlicher Farbe, grau-melierten Bart verdeckt, der zwar dicht, aber ebenfalls kurz und gepflegt war. Die muskulösen Arme hatte er vor der Brust verschränkt, und der Polizist schätzte ihn auf Mitte oder Ende 40. Nachdem er die Männer eine Zeitlang beobachtet hatte, blickte er nun zu Juan und Kevin, wobei er kurz nickte.


    Juan erwiederte den Gruß. "Mit dem redest du zum Beispiel nicht.", sagte der kolumbianische Drogenhändler sofort zu Kevin, und die beiden gingen weiter, allerdings nicht auf den Mann zu, sondern leicht versetzt in gebührenden Abstand an ihm vorbei. "Und warum nicht?", fragte Kevin keck. "Weil ich es sage, Amigo." "Vielleicht kann er uns helfen." "Nein, das kann er nicht." Als die beiden aus dem Sichtfeld des Mannes verschwunden waren, hielt Kevin Juan am Hemdsärmel fest. "Also, wenn ich eins nicht leiden kann, dann sind es Andeutungen. Wer ist das, und warum sollte ich mich nicht mit ihm unterhalten?", fragte er mit ruhiger, aber bestimmender Stimme. Juan blickte sein gegenüber fest an, die beiden Männer begegneten sich von der Größe auf Augenhöhe. "Ich bezahle dich, damit wir Annie finden, also für Informationen."
    Der Mann nickte. "Na schön. Carlos Salazar Santos ist der Anführer der mehrgleisigen Konkurrenz. Drogen, Prostitution, Entführung... die ganze Palette. Man sagt ihm sogar nach, dass er Kontakte zu einigen Splittergruppen der Rebellen haben soll, die gegen die Regierung kämpft. Das ist niemand, den man zum Feind haben möchte." "Und warum kann er uns nicht helfen? Er sollte doch dann auch eine ganze Menge Leute kennen." "Weil er keine Schnüffler mag.", antwortete Juan schnell. "Ich dachte, er sei noch nicht hier, sonst hätte ich einen anderen Weg genommen." Ein kurzes, beinahe schelmisches Grinsen huschte über Kevins Gesicht: "Du hast Schiss vor ihm." Juan lachte kurz sarkastisch auf und schüttelte mit dem Kopf: "Du hast überhaupt keine Ahnung von dem, wie die Dinge hier laufen. Ich und meine Männer sorgen für die Stoffversorgung von zwei Ländern in Europa. Carlos für die Stoffversorgung der USA und Mexiko. Jedes Kartell neben dem von Carlos ist geduldet." Dabei wurde die sonst immer etwas flapsig und fröhlich klingende Stimme von Juan plötzlich todernst, und auch Kevins Lächeln verschwand. "Ich habe keine Angst, aber ich weiß wo mein Platz ist. Halt dich von ihm und seinen Männern fern!" Dann drehte sich Juan von Kevin weg, und setzte sich wieder in Bewegung, bis er nach einigen Schritten nochmal stehen blieb. "Ausserdem...", meinte er und drehte sich nochmal um: "Habe ich auch weniger Angst um mich... sondern eher darum, dass ich den Schlüssel für meine restlichen 25 000 in den Klamotten einer Leiche suchen muss..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

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    • 9. Februar 2016 um 23:25
    • #49

    Dienststelle - 13:30 Uhr


    Jenny war später auf die Arbeit gekommen. Sie hatte heute morgen das Gefühl, dass es ihrem Magen noch schlechter ging, als die Tage zuvor. Doch je länger sie durch Wohnzimmer und Küche tigerte, desto besser wurde ihr, und so beschloss sie letztendlich doch zur Arbeit zu fahren. Anna Engelhardt betrachtete sie ein wenig besorgt, denn mittlerweile fiel es auch der Chefin ein wenig auf, dass mit Jenny etwas nicht stimmte. Sie war blasser als sonst, sie war stiller als sonst, und es war in den letzten Tagen nun wiederholt, dass sie anrief und sich später ankündigte oder krank machte, weil es ihr nicht gut ging. Vorsichtig fragte sie, als Jenny auf der Dienststelle auftauchte, ob alles in Ordnung sei, doch Jenny bejahte. "Sie wissen, dass meine Tür für sie immer offen steht, falls es Probleme gibt.", machte Anna Engelhardt klar, und die junge Beamtin nickte dankbar. Es sei aber alles okay, in letzter Zeit hätte sie nur etwas Probleme mit dem Magen.
    Natürlich konnte sich eine Frau wie Anna ebenfalls ausrechnen, was Übelkeit am Morgen zu bedeuten haben könnte, doch sie hasste nichts mehr als Gerüchte und Spekulationen und so hütete sie sich davor, selbst welche anzustellen. Sie nahm Jenny beim Wort und bohrte nicht weiter nach.


    Von halb elf bis halb eins war Jenny mit Dieter auf Streife und bemühte sich, so normal wie möglich zu wirken. Ein paar Verkehrskontrollen, ein überladener Brummifahrer und eine kurze Pannenhilfe, was Bonrath fachmännisch übernahm, waren in den zwei Stunden zu tun. Zurück in der Dienststelle heizen sich die beiden erstmal wieder auf, Bonrath mit einem heißen Kaffee, Jenny mit Tee. Sie saß auf ihrem Stuhl am PC, und schien konzentriert auf den Bildschirm zu blicken, neben ihr die dampfende Tasse. Doch sie war mit ihren Gedanken weit weg... irgendwo in Bogota, irgendwo in einem fremden Land, von dem sie nichts wusste, auf der Suche nach Kevin, dem Vater ihres Kindes, das in ihrem Bauch heranwuchs. "Jenny?", hörte sie auf einmal eine wohlbekannte Stimme neben sich und schreckte zusammen. "Oh, entschuldige. Ich wollte dich nicht erschrecken.", lachte Hotte Herzberger kurz auf. "Dieter und ich gehen in die Raststätte was essen. Willst du mitkommen, oder sollen wir dir was mitbringen?" Jennys Herz schlug bis zum Hals, weil Hotte sie mitten aus Tagträumen gerissen hatte, und sie schüttelte verlegen den Kopf. "Nein danke, Hotte. Ich... ich hab ein bisschen Joghurt im Kühlschrank, das reicht mir heute.", sagte sie lächelnd und versuchte sich erneut, nichts anmerken zu lassen. "Alles klar, Mahlzeit.", sagte Hotte und die beiden Beamten zogen sich die dicken Lederjacken über die Pullover, denn immer noch war es knackig kalt.


    Semir blickte auf die Wanduhr in seinem Büro. Es war nun schon fast halb zwei, und Ben war immer noch nicht zurück. "Hmpf... ich müsste ein Kindermädchen anstellen, um auf den aufzupassen.", grummelte er. Länger als eine halbe Stunde würde er nicht mehr warten, dann müsse er wohl anrufen oder sogar per GPS-Signal Bens Auto orten und nach ihm suchen. Seine Finger strichen über den Hörer des Telefons, die Sorge wollte ihn dazu treiben, Bens Nummer zu fällen und die Vernunft hielt ihn davon ab und warnte ihn vor Bens Meckerei, dass Semir ihn nicht immer wie einen kleinen Jungen behandeln sollte. Also beließ der Polizist es beim Streicheln und stand von seinem Stuhl auf um in das Großraumbüro zu seiner Frau zu gehen.
    "Mein Schatz, hast du die Antwort der französischen, belgischen und luxembourgischen Kollegen schon bezüglich Björn Bachmann?", fragte er mit zuckersüßer Stimme in Richtung seiner Frau. "Ähm, Jenny hat die Anfrage die Tage gestellt. Musst du sie fragen." Semir hob den Kopf um zu Jennys Schreibtisch zu blicken, die mit dem Rücken zu ihm saß und auf den Monitor starrte. "Jenny?" Keine Reaktion auf seinen Ruf, und der Polizist legte ein wenig die Stirn in Falten. Mit zwei Schritten war er bei der jungen Kollegin und legte ihr die Hand auf die Schulter, wobei ein kurzes Zucken durch den schlanken Rücken ging. "Huch... hast du mit offenen Augen geschlafen?" Wieder war sie erschrocken, weil sie sich in ihrer Gedankenwelt kurzzeitig verloren hatte. "Nein... ich.. ich hab da grade was gelesen.", wobei sie schnell mit der Maus das X anklickte und das Fenster schloß... denn in Wahrheit hatte sie ein leeres Word-Dokument offen, in dem es nichts zu lesen gab.


    "Ich wollte wissen...", begann er seine Frage erneut zu stellen, als gerade sein Partner Ben ins Büro gestiefelt kam. "Ach, mein hochgeschätzter Kollege ist auch wieder da.", sagte Semir laut und beugte sich an Jennys Ohr: "Da hat das Auslegen des Schoko-Crossaints im Büro als Köder ja doch funktioniert." Jenny rang sich beinahe zu einem Lächeln auf Semirs Witzelei durch, während Andrea einerseits tatsächlich lächeln musste, weil sie sah, wie gut es Semir mittlerweile wieder ging, aber auch gleichzeitig bemerkte, wie Jenny sich selbst quälte. "Schön, dass du dich amüsierst. Aber ich hab echt heiße Neuigkeiten für den Fall.", begann Ben und stockte für eine Sekunde. "Du hast Schoko-Crossaints?", fragte er dann total aus dem Zusammenhang und nahm sofort Kurs auf das kleine Büro.
    Semir folgte seinem Partner und schloß die Tür hinter sich. "Du weißt doch, wie sehr ich diese Alleingänge hasse... warum kannst du nicht vorher sagen, was du vor hast?", meckerte Semir, während Ben aufmerksam über den Schreibtisch linste, um irgendwo eine Bäckertüte zu erspähen, doch schnell reifte die Erkenntnis, dass Semir doch nur Spaß gemacht hatte. "Es hat sich aber... gelohnt, glaub ich.", meinte der junge Polizist, und sein bester Freund ließ sich in seinen Stuhl fallen und legte gemütlich die Füße auf den Tisch. "Ich bin ganz Ohr."


    Ben begann zu erzählen... und dabei begann er in der Erzählung mit der Verfolgung bis zum Rasthof, das Gespräch, das er nur in Bruchstücken verstehen konnte, die weitere Verfolgung sowie den Aufbruch seines Autos. Semir nickte hin und wieder, schüttelte dann ob Bens Leichtsinn, obwohl Semir selbst kein Kind von Traurigkeit war in dieser Hinsicht, den Kopf. Sein Partner ließ nichts aus, den Namen Drager, die Beschreibung des Holländers an der Raststätte sowie die Beschreibung Vesoskis, dem Autoknacker. Dass Drager wusste, dass Ben ein Bulle war, weil er in dessen Geldbörse herumschnüffeln konnte. "Mein Gott, Ben...", stöhnte Semir und schlug die Hände überm Kopf zusammen. "Wäre vielleicht ganz gut, wenn wir das der Chefin bei der nächsten Lagebesprechung NICHT auf die Nase binden.", meinte der dann etwas kleinlaut und Semir nickte: "Ja... wäre ganz gut."
    Der jüngere Polizist der beiden ließ sich nun auch, nachdem er seine Jacke ausgezogen hatte, auf den Drehstuhl fallen. "Wie bist du eigentlich darauf gekommen... und wo hast du dem Typen aufgelauert?", fragte Semir dann plötzlich. Das hatte Ben nämlich nicht erwähnt... und er hoffte, Semir würde nicht fragen. Doch jetzt musste er es wohl kleinlaut zugeben. "Bei Carina vorm Haus. Er hat dort auf sie gewartet, sie haben sich kurz unterhalten." Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Büro, bis Semir mit katzenfreundlicher, und deshalb gefährlicher Stimme fragte: "Hättest du mir das auch erzählt, wenn ich nicht gefragt hätte?" "Ich... hätte es vielleicht... vergessen." Semir nagelte seinen Freund mit seinen Blicken an die Wand. "Na gut, ich hätte es vielleicht absichtlich vergessen.", gab der nun kleinlaut zu. "Ich... ich hab die Befürchtung, dass du Carina vielleicht verdächtigst, da mit drin zu hängen." Der erfahrene Polizist seufzte: "Ben... das tust du doch selbst schon. Du willst es nur nicht wahrhaben." Da musste Ben ihm nun wirklich recht geben.


    Er zog sein Handy aus der Hosentasche und blickte drauf... eine Nachricht poppte auf, die er vorhin gar nicht bemerkt hatte... von Kevin. Er las sie und konnte sich im ersten Moment zwischen Ärger und etwas Beruhigung nicht entscheiden. Trotzdem entschied er sich zurück zu schreiben, was mit einem "Alles klar, pass auf dich auf", aber sehr kurz ausfiel. Natürlich herrschte in Ben noch ein wenig Groll, aber trotzdem wünschte er sich, dass sein Freund schnell und gesund wieder zurückkehrte. Dann blickte er zu seinem Partner auf. "Kevin hat mir geschrieben.", sagte er beinahe beiläufig und Semirs Gesichtsausdruck verfinsterte sich sofort. "Schön für ihn.", sagte er und er sagte es mit so einer Kälte und Härte, dass es Ben einen Stich ins Herz versetzte...

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    • 11. Februar 2016 um 10:04
    • #50

    Bogota - 9:00 Uhr


    In Carlos Salazar Santos' Kopf arbeitete es, nachdem Juan und der, für ihn unbekannte Mann den Marktplatz verlassen hatte. Der Kartellführer war ein sehr aufmerksamer Mensch, ein Beobachter, ein Stratege. Seinem Blick entging nichts, was für sein Geschäft wichtig, nützlich oder bedrohend war, und so groß war auch sein Misstrauen und seine Vorsicht. Nicht umsonst hatte er innerhalb von Jahren das Kartell seines Vaters übernommen, und ausgeweitet. Über den Drogenhandel und Prostitution bis hin zu Kontakten von Guerilla-Kämpfern, die gegen den korrupten Staat kämpften. Salazar half mit, die Kämpfer zu finanzieren und stellte somit sicher, dass die Widerstandskämpfer zwar weiterhin den Staat durch Anschläge unter Druck setzten, verhinderte aber auch gleichzeitig einen Putsch. Den eine korrupte Regierung half auch den Drogenkartellen.
    Ein unbekannter Mann bei Juan, dem Boss eines Kartells, das Carlos mehr als Konkurrenz als als Freunde sah, erschien ihm aber verdächtig. "Zico!", sagte er ohne, den Mann, der half den LKW abzuladen, anzusehen. Der kräftig gebaute langhaarige Kolumbianer wandte sich an seinen Boss. "Nimm dir mal ein paar Männer, und find heraus wer der Typ bei Juan ist.", sagte er in perfektem Spanisch. "Aber wartet, bis er alleine ist. Ich will keine Probleme mit Juan, alles klar?" Zico nickte, und setzte seine Arbeit am LKW fort für einen Moment fort um, trug eine weitere Kiste ins Haus um dann mit 4 Männern wieder heraus zu kommen. Das Kartell hatte ihre eigene Art und Weise heraus zu finden, ob unbekannte Leute arglose Touristen waren, oder doch vielleicht Leute, die ihnen gefährlich werden konnten. Arglose Touristen wehren sich nämlich für gewöhnlich nicht...


    Die Sonne stieg höher am wolkenlosen Himmel langsam höher und überstrahlte irgendwann auch die Häuser. Die Temperatur kletterte über den Punkt, dass man im Shirt keine Gänsehaut mehr bekam, denn im Winter war es auch in Kolumbien nachts nicht mal 10 Grad, über den Tag konnte es bis zu 25 Grad warm werden. Setzte man sich dann direkt in die Sonne, konnte einem schon mal recht heiß werden. Juan und Kevin gingen zusammen über die verschiedenen Plätze, wo sich allerlei Leute herumtrieben. Bettler an Straßenecken, Verkäufer die auf Holztischen allerlei Plunder anboten, denn scheinbar schienen sich hier doch hin und wieder auch mal Touristen aus Bogota zu verirren. Aber auch jede Menge Frauen, die ihre "Dienste" auch am frühen Morgen noch anboten, während die Nachtschicht schlief.
    Hin und wieder sprach Juan mit Männern, die ihm begegneten, ein paar Worte auf Spanisch was Kevin natürlich nicht verstehen konnte. Dabei zeigte er hin und wieder ein Bild, das der Polizist mitgebracht hatte, das ihn und Annie zeigte, auch wenn es schon fast 10 Jahre alt war. Aber Annie hatte sich nicht soviel verändert, sogar die Haarfarbe stimmte noch. Offenbar beauftragte Juan seine Männer, die Augen offen zu halten, denn nach einem Kopfschütteln und weiteren Worten kam meist ein gehorsames Nicken. Doch die Hoffnung schwand mit jedem Schritt den sie gingen. Eine Frau mit knallrot gefärbten Haaren musste doch hier auffallen, und niemand will sie gesehen haben? "Es gibt, wie gesagt, noch einige größere Häuser, wo die Frauen leben, die für die Zuhälter arbeiten. Aber da kommen wir nicht rein. Du musst also warten, falls sie dort ist, bis sie das Haus verlässt, entweder um zu arbeiten oder Drogen zu kaufen.", erklärte Juan.


    Sie kamen zum Marktplatz zurück, der LKW von Santos war nicht mehr zu sehen, und die Tür des Hauses, in das sie Kisten getragen haben, war verschlossen. "Ich glaube ehrlich gesagt nicht, dass Annie ihren Körper verkauft.", sagte Kevin und machte sich Hoffnung, dass sie sich vielleicht doch irgendwo anders aufhielt, als hier. Der kolumbianische Dealer drehte sich zu dem, in seinen Augen immer noch unwissenden Deutschen um. "Wenn deine Freundin wirklich hier ist, um Drogen zu kaufen und zu konsumieren, dann wird sie früher oder später hier landen. In Bogotas Innenstadt gibt es sowas nicht, in den touristischen Zentren auch nicht. Und selbst wenn sie dort fragt, und dort an Kontaktleute gerät, die auf Kundenfang im Inland sind, wird sie hierher kommen müssen." Der Kolumbianer fuhr sich einmal durch die langen Haare. "Und wenn sie nicht gerade nur mal was probieren will, sondern das exzessiv ausleben möchte, dann kommen sie nur schwer wieder von hier weg. Weil ihnen das Geld ausgeht, und sie trotzdem den nächsten Schuss haben müssen. Und du glaubst nicht, was man alles für den nächsten Schuss oder den nächsten Trip tun würde, wenn man auf Turkey ist." Damit deutete er an, dass man in so einer Situation auch leicht seine eigene Moral über Bord werfen würde, und seinen Körper verkaufen würde. Und da musste Kevin ihm recht geben, er hat das selbst getan... die Moral über Bord geworfen, zwar nicht seinen Körper, aber Internas verkauft, um sich damit die nächsten Pillen zu finanzieren. "Also Amigo, die Führung ist vorbei. Meine Männer wissen Bescheid, und kommen auf dich zu, falls du hier bist, wenn sie etwas wissen. Du kannst nichts tun, ausser beobachten und abzuwarten. Wenn du mich brauchst, rufst du mich an, aber ich hab jetzt auch noch etwas zu tun." Kevin nickte und bekam von Juan noch einen, beinahe freundschaftlichen Klaps auf die Schulter.


    Seine Hoffnung war etwas gesunken, als der Polizist gedankenverloren über den Marktplatz ging. Seine Augen glitten immer wieder über den Platz, und er hoffte so sehr irgendwo einen leuchtend roten Schopf zu erblicken, doch seine Hoffnung blieb unerfüllt. Gerade als er dicht an einem Gemüsestand vorbeischritt, wurde er angerempelt, ohne dass er den Aggressor kommen sah. Dieser war genauso groß wie Kevin, etwas breiter und hatte einen Schlagring übergestreift. Seine Absicht war, trotz des für Kevin unverständlichen Spanisch, was er dem Polizisten entgegen schleuderte, glasklar. Und er reagierte blitzschnell und wartete den ersten Schlag des Mannes gar nicht erst ab sondern schubste ihn mit einem kräftigen Stoß aus beiden Armen von sich weg.
    Der Angreifer aber verzichtete dann auf weitere Konversation. Nur das Wort "Hijo de Puta" konnte Kevin noch verstehen, bevor die Faust mit dem Schlagring auf ihn zu flog, den gewandten Kampfsportler aber verfehlte. Kevin zog als Reaktion darauf das Knie nach oben und traf den unbekannten Mann in der Magengrube, so dass dieser sich nach vorne überbeugte und danach durch Kevins Griff am Hinterkopf Bekanntschaft mit dem Gemüsestand machte, der daraufhin etwas wackelte, dem Angreifer aber die Lichter ausknipste.


    Kevin drehte sich um, denn ein Gefühl verriet ihm, dass der Kerl sicher nicht der Einzige war. Sein Gefühl sollte recht behalten, den zwei weitere, ebenfalls kräftig gebaute Männer liefen auf ihn zu. Einer hatte einen Knüppel dabei, und die unbeteiligten Leute, die solche Szenen in diesem Viertel offenbar kannte, gingen aus dem Weg oder machten um den Ort des Geschehens einen Bogen. Der Polizist griff auf den Marktstand und packte zwei Kokosnüsse. Die mit dem linken Arm geworfene Nuss verfehlte er Ziel, die beiden Männer waren aber im Laufen zu perplex auf die zweite Kokosnuss zu achten. Die kam, durch das Werfen mit dem rechten stärkeren Arm, mit mehr Wucht und deutlich gezielter, und schaltete durch einen Treffer am Kopf des Mannes einen der Angreifer ebenfalls aus. Hätten die drei Männer auch nur den Ansatz von Kampfgeschick gezeigt, wäre Kevin trotz seines Könnens hoffnungslos verloren gewesen, doch in ihnen regierte nur grobe Gewalt. Kevin kletterte auf den, ungefähr 1 Meter hohen Gemüsestand zwischen Obst und Gemüse, hörte das Geschrei des Verkäufers doch konzentrierte sich zur auf den Angreifer, der mit dem Knüppel auf Kevins Knie zielte, und mit einem Treffer ohne Probleme die Kniescheibe hätte zertrümmern können. Doch der Polizist vollführte rechtzeitig einen Hocksprung und zog dabei die Beine an den Körper, der Knüppel pfiff ins Leere, und er nutzte den Moment, um wie beim Fussball zu zu treten. Der Mann spuckte Blut auf den sandigen Boden, als er zurücktaumelte und bekam Kevins Schuh, bei dessen Karatesprung vom Gemüsestand herunter nochmals ins Gesicht.


    Der dritte Mann war noch bei Bewusstsein, krümmte sich aber stöhnend am Boden, während Zico, der die Szene eigentlich beobachten wollte, nun ebenfalls dazu kam. Kevin sah den Mann mit den längeren schwarzen Haaren nicht kommen und wurde von ihm nun wieder zum Gemüsestand gestoßen, so dass Kevin mit dem Rücken zur Verkaufsfläche stand. Zico legte seine Hände um Kevins Hals und drückte den Polizisten nach unten auf den Stand, wobei er ihm dazu ein Knie auf den Oberschenkel drückte. Kevin bekam keine Luft, er spürte den harten Griff um seinen Hals und versuchte, mit den Händen an den Schultern des Mannes, ihn von sich zu drücken. Doch nach bereits mehreren Sprüngen und Schlägen ging dem Kampfsportler die Kraft aus.
    Er griff nach rechts und links, tastete und versuchte mit den Fingern etwas möglichst Hartes zu ertasten. Als er es griff, wusste er für den Moment nicht, was es war, er wusste nur dass es, als er es Zico mit aller Wucht gegen die Schläfe schlug, hart genug war dass er von Kevin herunter taumelte und weich genug, dass es in viele Stücke zerbarst. Der Polizist zog wieder Luft durch den Mund und drückte sich vom Gemüsestand weg, gerade als Zico wieder klar sah und bemerkte, dass sein Gegner ihm direkt gegenüberstand. Die kurzen, schnellen und scharfen Schläge des Polizisten trafen erst den Unterleib, und dann nochmal das Gesicht, was auch Ziko zu Boden gehen ließ. Kevin atmete tief durch und zog es vor, den Platz so schnell es geht zu verlassen, bevor die Typen wieder auf die Beine kamen. Einige Leute gingen seinen schnellen Schritten aus dem Weg, denn sie kannten Santos Männer und hatten es selten erlebt, dass sich jemand, der von ihnen angegriffen wurde, so zur Wehr setzte.

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    • 12. Februar 2016 um 17:06
    • #51

    Dienststelle - 14:30 Uhr


    Ben hatte Semir die Ehre überlassen, nach Holland zu telefonieren um weitere Infos einzuholen. Der rollte sehr begeistert mit den Augen, fügte sich aber der Bitte seines Partners. Er wählte direkt die Handynummer des holländischen Polizisten Huub Bakker und wurde sogleich auf niederländisch begrüßt. "Hallo Herr Gerkhan. Ich hoffe, sie bringen mir gute Neuigkeiten.", sagte er mit einem leisen Seufzer in der Stimme. Semir wog den Kopf am Telefon hin und her. "Gute Neuigkeiten kann ich nicht versprechen." "Ich auch nicht... stellen sie sich vor. Mein Telefon wurde tatsächlich abgehört. Mehrere Apparate der Sonderkommission waren verwanzt. Deswegen wusste das Kartell, dass sie auf dem Weg zu mir waren wegen dem Anschlag. Wir haben natürlich sofort alle Handys überprüft, also es kann jetzt nichts passieren." Semir blieb die Sprache weg. "Also gibt es tatsächlich einen Maulwurf bei ihnen?" "Ich kann... nein, ich WILL es mir nicht vorstellen. Jetzt müssen wir, statt weiter zu ermitteln, erst alle Kollegen der Sonderkommission prüfen. Ich brauche ihnen wohl nicht zu sagen, was das für unseren Zeitplan heißt." Der erfahrene Polizist runzelte die Stirn, denn er wusste wie lange sich interne Verfahren hinziehen konnten. Und so lange dürften wohl viele der Kollegen nicht weiter in dem Fall ermitteln. Doch nicht nur das: "Wenn es überhaupt jemand der SK-Kollegen war. Vielleicht war es irgendjemand, der einfach Zugang zu den Büros hat. Irgendein Kollege, die Putzfrau...", gab er zu bedenken. "Das ist das Schlimmste was uns jetzt passieren konnte.", stöhnte Huub Bakker.


    "Aber sie riefen mich sicher mit einem Anliegen an, Herr Gerkhan. Was kann ich für sie tun?", kam er nun auf den eigentlich Grund des Telefonats zu sprechen. Semir schilderte mit knappen Worten die Vorkommnisse bezüglich der Schwester des Mordopfers, und des Verdächtigen Dragers. Ebenso gab er eine detaillierte Beschreibung des holländischen Gesprächpartners heraus. Bakkers Miene schien genauso aufzuhellen, wie seine Stimme: "Herr Gerkhan, das ist fantastisch. Die Beschreibung passt definitiv auf einen holländischen Kontakt nach Deutschland und Belgien. Warten sie einen Moment." Er schien sich durch einen Blätterwald zu wühlen, denn Semir konnte lautes Rascheln hören. "Die sind scheinbar im Zeitalter der Computer noch nicht angekommen.", dachte er lautlos für sich, bis er wieder Bakkers Stimme hörte.
    "Van Dyke, Jos van Dyke. Ich faxe ihnen sofort seine Akte. Und den Namen Drager haben wir in einzelnen Telefongesprächen mitgeschnitten, konnten ihn aber weder in den Akten finden, noch einen Aufenthaltsort. Er war ein wenig wie ein Phantom für uns. Und Anfragen nach Deutschland werden leider nur sehr langsam bearbeitet." Langsam fügte sich in Semirs Kopf ein Puzzleteil ans andere. "Scheinbar vertraut man dem Medium Telefon dort nicht so sehr, wenn man es vorzieht, sich zu treffen um Informationen auszutauschen." "Wundert sie das? Handys zu überwachen und abzuhören ist heute kein Akt mehr. Aber finden sie mal die Männer für eine dauerhafte Observation." sagte Bakker und in seiner Stimme schwang nun Missmut mit. Offenbar litt auch die holländische Polizei über Personalmangel.


    "Wir faxen ihnen die Akte Dragers natürlich umgehend ebenfalls zu. Der Mann ist bei uns kein Unbekannter. Es könnte Hinweise darauf geben, dass er der gesuchte Mörder ist, sowie dass er eventuell sogar den Anschlag auf meine Kollegen verursacht hat." "Vielen Dank, Herr Gerkhan. Bitte halten sie mich auf dem Laufenden, auch im Falle einer Festnahme. Vielleicht rechnet er sich Besserung seiner Chancen im Mordfall aus, wenn er ein wenig über das Kartell singt. Das wäre unsere Chance." Semir nickte am Apparat erneut: "Guter Gedanke." "Was haben sie jetzt vor?" Der Polizist dachte kurz nach. Ein Verhör von Drager würde jeder Anwalt bei der jetzigen Beweislast sofort kippen. Zuhause freundlich nachfragen wäre wohl eine Wand des Schweigens. Er blickte sich um und sah durch die Scheibe ins Großraumbüro und betrachtete einen Moment seinen besten Freund Ben, der bei Jenny saß und ihr sein Handy vor die Augen hielt. Ein wenig bedrückt kniff er die Lippen zusammen. "Wir werden es wohl nochmal bei der Schwester des Mordopfers versuchen müssen. Sie muss uns sagen, was Drager von ihr wollte."
    Bakker schien zufrieden. Nach dem Schock der Abhöraktion schien Semir ihm den Tag gerettet zu haben. "Herr Gerkhan, ich danke ihnen. Sie haben hervorragende Männer an ihrer Seite und sind ein guter Polizist. Ich würde mich wirklich freuen, öfters mit ihnen zusammen zu arbeiten." Der Kommissar hatte in 20 Jahren Autobahnpolizei schon oft Lob gehört, trotzdem wehrte er es immer wieder bescheiden ab. "Warten wir erst mal ab, dass wir den Fall gelöst bekommen. Auf Wiedersehen, Herr Bakker."


    Ben hatte sich zu Beginn des Telefonats ein wenig aus dem Büro geschlichen. Semir würde ihm sicher nachher erzählen, was er rausbekommen hatte, und ein wenig hatte er Magengrummeln aufgrund von Semirs Reaktion auf Kevins SMS. Natürlich konnte er verstehen, dass sein bester Freund noch mehr als sauer auf ihren dritten Kollegen war, aber sollte es ihn wirklich gar nicht interessieren, was er gerade tat? Dass es ihm zumindest gut ging? Es war, als könne Ben ein Unheil spüren über dem belasteten Verhältnis zwischen Semir und Kevin.
    Aber natürlich dachte er sofort an Jenny. Hatte er sich auch bei ihr gemeldet, oder war sie komplett im Unwissen darüber, dass Kevin abgereist war? Ben wusste ja nicht, was sich zwischen den beiden zugetragen hatte, ausser dass die junge Frau natürlich alles andere als begeistert darüber war, erst rein zufällig durch die hässliche Szene auf der Dienststelle von seinem geplanten Kolumbien-Trip erfahren zu haben. Als er sich leicht schräg versetzt von hinten an die Streifenbeamtin näherte und ihren Namen sagte, drehte sie ruckartig den Kopf herum. Auf dem Monitor war die Eingabemaske der Kennzeichenabfrage geöffnet, jedoch war in keins der Felder etwas eingetragen. "Na, ist alles klar bei dir?", fragte er mit einem Lächeln und setzte sich mit einer Pohälfte auf ihren Tisch.


    Jenny wollte ihm ersten Moment schützend die Hände auf ihren Bauch legen, als ob sie ihre Schwangerschaft verdecken wollte, was natürlich gar nicht nötig war. Erstens weil die Polizeihemden gar nicht besonders eng anlagen, schon gar nicht im Sitzen und zweitens, weil man ihr die Schwangerschaft noch in keinster Weise an ihrem schlanken Körper ansah. Sie versuchte ein Lächeln, was aber sehr gequält ausfiel. "Es geht so...", sagte sie. "Wann... wann ist er denn gefahren?", fragte Ben vorsichtig. "Scheinbar gestern mittag irgendwann. Ich konnte ihn nicht anrufen, weil ich im Einsatz war, und er hatte mich nicht erreicht. Vielleicht... wollte er sich verabschieden. Vielleicht wollte er mir aber auch nur sagen, dass es vorbei ist.", sagte sie mit leiser trauriger Stimme und Ben zog die Augenbrauen nach oben. "Vorbei? Wieso das denn?" Jenny seufzte und blickte für einen Moment auf die weiße Tischplatte. "Ich... ich hab ihn... im Streit vor die Wahl gestellt. Dass ich nicht auf ihn warte... wenn er fährt." Jennys Worte trafen Ben wie Donnerschläge. "Und er ist trotzdem gefahren?", fragte er etwas leiser, auch wenn gerade wenig Leute im Büro waren und Jenny nickte. Wie konnte Kevin das nur tun... wegen Annie seine Beziehung aufs Spiel setzen? "Es war nicht richtig, was ich getan habe..." Der Polizist konnte nicht direkt sagen, ob Jenny eine Aussage machte, oder eine Frage stellte. "Aber ich... ich wusste einfach nicht mehr weiter. Manchmal ist er so voll von Vertrauen zu mir. Er hat mir Sachen erzählt, das hätte ich nie von ihm erwartet. Und dann gibt es Tage, da ist er so verschlossen, und ich weiß überhaupt nicht was ihn beschäftigt. Das will ich nicht, Ben. Ich will wissen, was in meinem Freund vorgeht, verstehst du." Ben nickte und ergriff Jennys leicht zitternde Hand. "Ja, ich weiß was du meinst. Zu uns ist er ja nicht anders... uns hätte er gar nichts erzählt, wenn ich ihn nicht darauf angesprochen hätte. Semir wollte er es verheimlichen." Und dann sagte Jenny einen Satz, der ihr wehtat, der Ben wehtat, doch in gewissen Teilen war er richtig: "Ich denke manchmal: Ich kenne ihn überhaupt nicht. Ich weiß zwar was er getan hat und was er erlebt hat... aber manchmal ist er mir vollkommen fremd." Dann senkte sie die Lider, denn es drückte sich nun doch ein Tränchen aus ihrem Auge.


    Ben nahm sein Handy und öffnete Kevins Nachricht, um sie Jenny zu zeigen. Sie blickte auf und rieb sich mit dem Handballen einmal übers Auge, geschickt, ohne das wie immer dezente Make-Up zu verwischen. Sie las die Nachricht, was sie einerseits beruhigte, andererseits den Kummer aber nicht nahm. "Mir hat er nichts geschrieben." "Vermutlich denkt er, du wärst gestern absichtlich nicht ans Telefon gegangen, weil du deine Drohung wahrgemacht hast.", vermutete der Polizist und Jenny nickte. "Ich hab solche Angst, dass er nicht zurückkommt. Wenn er denkt, es wäre wirklich vorbei... dass er dann... mit Annie..." Sie verstummte und biss sich auf die Lippen. "Oder, dass ihm dort irgendetwas passiert."
    Der Polizist, der vor einem halben Jahr noch mit Jenny im Bett landete, schüttelte den Kopf und strich ihr dabei mit einem Daumen über ihren Handrücken. Die Berührung tat gut, im Sinne des Trostes. "Ach was... das weiß ich von ihm, dass er auf sich aufpassen kann. Und was Annie angeht... das wird er nicht tun. Er hilft ihr, weil er immer noch das Trauma um Janine hat, weil er ihr nicht helfen konnte. Aber er hat ihr das mit Semir noch nicht vergessen, dafür hat er sich zu sehr gesträubt zu Beginn, ihr überhaupt zu helfen, glaub mir.", versuchte Ben Jenny zu beruhigen. "Meinst du?" "Ganz sicher..." Jenny stand auf und umarmte Ben für die tröstenden Worte, obwohl dieser sich mit seinem "Ganz sicher" gar nicht so sicher war. Wenn Kevin wirklich in seinem Kopf hatte, dass die Beziehung zu Jenny gescheitert, das Verhältnis zu Semir gebrochen und die Freundschaft zu ihm selbst zumindest deswegen ebenfalls wackelte... was würde ihn dann noch nach Deutschland zurückziehen, falls die Liebe zu Annie doch nochmal aufflammte...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    • 14. Februar 2016 um 23:44
    • #52

    Bogota - 10:45 Uhr


    Kevin war nicht nervös oder ängstlich, doch trotzdem fuhr sein Kopf immer mal wieder herum. Nach der Attacke der vier Schlägertypen, von denen er weder wusste, zu wem sie gehörten, noch warum sie ihn angriffen, war er wachsam. Er wollte vorbereitet sein, falls im unbemerkten Moment sich wieder drei oder vier Kleiderschränke auf ihn stürzen wollten. Zeitweise dachte er auch an die Worte Juans, den er auf den Plätzen nicht mehr ausfindig machen konnte, auch wenn ihm hin und wieder einer seiner Männer begegnete. Dass dieser Typ, dieser Santos, über fremde Leute nicht besonders begeistert war, weil er sie vielleicht für Schnüffler hielt. Gehörten die Typen vielleicht zu ihm? Wollte er damit Kevin ultimativ klarmachen, dass er hier nichts verloren hatte?
    In dem jungen Polizisten stieg das Unbehagen und langsam wurde ihm tatsächlich klar, dass es in Kolumbien doch anders lief, als in Deutschland. Als wären die Menschen es gewohnt, schauten sie neugierig der Schlägerei zu. Niemand kam Kevin zur Hilfe, niemand versuchte die Polizei zu rufen. Er war überzeugt davon, dass die vier Männer ihn auch hätten töten können, ohne dass man sie daran gehindert hätte. Die Leiche hätte man weggeschafft, und die Polizei schaute weg. Das Slum war ein rechtsfreier Raum, das spürte der Polizist schon, als er merkte, dass niemand auch nur versuchte zu verheimlichen, dass gerade vom LKW Drogen abgeladen wurde.


    Kevin hielt sich nun an einem anderen Platz ein wenig im Schatten einiger Palmen und Palisaden an den Geschäften, die ebenfalls frisches Obst, Gewürze und Zeitschriften auf Spanisch verkauften. Seine hellblauen Augen überblickte das Gewusel auf den Plätzen, die mit zunehmender Zeit immer voller wurde. Doch nirgends blitzte ein roter Schopf auf, nirgends leuchteten Annies grüne Augen aus der Menge hinaus. Und je länger Kevin die Umgebung beobachtete, immer mal wieder den Platz durch die kleinen Gassen wechselte, so merkte er, dass sich die Menschen, die er sah, wiederholten. Immer und immer wieder sah er Frauen, Männern und Kindern ins Gesicht, die er schon mal dort gesehen hatte. Ein wenig verzweifelt streichte er sich mit der Hand durch die abstehenden Haare.
    Irgendwann hörte er eine Stimme neben sich. Er schaute hoffnungsvoll, denn er hatte die Stimme zwar gehört, aber nicht was sie sagte und war beinahe enttäuscht, dass nicht Annie neben ihm stand, sondern ein junges Mädchen mit leicht zotteligen schwarzen Haaren. Es hatte sich seitlich von Kevin genähert, trug einen kurzen Rock und ein Shirt mit langen Armen, das sie sich wohl selbst knapp unter der Brust abgeschnitten hatte, um möglichst viel von ihrem schlanken braun gebrannten Bauch zu zeigen. "Hola, mi dulce...", sagte sie mit zuckersüßen Lächeln und legte eine Hand an Kevins Hüfte, um sich dicht mit Körperkontakt vor ihm zu stellen, wobei der Polizist das Mädchen um mindestens einen Kopf überragte.


    "Sprichst du Englisch?", fragte er sofort, den mit Spanisch konnte er nicht viel anfangen. Das Lächeln des Mädchens brach nicht ab, und sie nickte, ein vom Akzent sehr verzerrtes "Ja.", kam ihr auf Englisch über die Lippen und sie verstand, dass der fremde Mann kein Spanisch konnte. "Darf ich dich ein wenig verwöhnen?", fragte sie dann und Kevin musste sich konzentrieren, das bruchstückhafte Englisch zu verstehen, wobei sie ihre Frage mit Gesten verdeutlichte, in dem sie mit ihrem Zeigefinger von Kevins Brust herab über seinen Bauch, seinen Gürtel bis zu seinem Schritt strich, bis Kevin ihr Handgelenk griff, um sie zu stoppen. Dabei zog er misstrauisch die Augenbrauen hoch. "Wie alt bist du denn?", worauf das Mädchen etwas verwirrt guckte. "Wie alt?", fragte er in noch einfacheren Englisch. "18 natürlich.", sagte sie.
    Der Vater des jungen Polizisten, Erik Peters, besaß seit einigen Jahren ein Bordell. Kevin kannte sich in diesem Milieu dank seiner Familie, auch seiner Bezugsperson Kalle etwas aus, und so konnte er auch zumeist das Alter ganz gut einschätzen. Selbst wenn man sagen würde, dass das Mädchen jünger aussah, als es war... 18 war sie nie im Leben. 14, vielleicht 15 würde der Polizist schätzen, als er ihr Handgelenk wieder losließ. "Für 50 000 Pesos hast du mich eine Stunde lang für dich allein.", flötete sie und schmiegte sich nochmal dicht an Kevin heran, wobei sie sich auf die Zehenspitzen stellte. 50 000 Pesos waren noch keine 15 Euro...


    Kevin sah sich um, doch scheinbar war es hier normal, dass es sowohl am hellichten Tag Prostitution gab, als auch dass die Mädchen extrem jung waren. Wobei man, trotz der aufreizenden Kleidung, auch vermuten konnte dass die beiden sich einfach kannten und miteinander rumalberten. Er sah zu dem Mädchen nach unten, das Strahlen ihres Lächelns passte nicht zu ihren stumpfen braunen Augen, die bereits jeglichen Glanz verloren hatten. "Okay.", willigte er ein und nickte, das Mädchen griff sofort seine Hand. Gemeinsam steuerten sie auf ein Haus zu, dass recht unscheinbar war, kein Laden befand sich darin, nur eine Holztür und ein Fenster, das aber von einem Vorhang geschützt war waren von aussen zu erkennen.
    Sie drückte die Tür auf, und Kevin folgte dem Mädchen in einen stickigen Flur, von dem aus eine knarrende Holztreppe nach oben führte. Er achtete auf jeden Schritt des jungen Mädchens, achtete auf jeden seiner Schritte, und sollte er ein drittes Knarren oder Knarzen hören, wäre er aufmerksam, denn er "roch" beinahe eine Falle. Doch warum er mit dem Mädchen mitging war nicht, um heraus zu finden, ob sie ihn in eine Falle locken wollte. Die Treppe ging zu Ende, Staub lag in der Luft und das Atmen fiel schwer. Mit einem Schlüssel schloß sie eine der Türen, die sich an der Flurwand aufreihten auf und ging vor ihm hinein. Sie nötigte ihn, nachdem sie die Tür geschlossen hatte, sich auf einen Stuhl zu setzen, und begann dann, sich zwischen Bett und Stuhl, aufreizend zu bewegen und zog sich langsam das eh kaum vorhandene Shirt aus.


    "Hey, hey... warte.", sagte Kevin sofort und stoppte das Treiben mit einer Handbewegung, bevor das Mädchen das Top komplett über den Kopf ziehen konnte. Langsam, wie in Zeitlupe ließ sie es wieder fallen und schaute verständnislos. "Warum?", fragte sie mit piepsiger Stimme, und Kevin zeigte auf das Bett. "Setz dich.", sagte er mit einfachem Englisch und griff in die Innentasche seines Hemdes, das er offen über seinem Shirt trug. Plötzlich hob das Mädchen mit einem kurzen Schrei abwehrend die Hände nach oben, ging einen Schritt zurück und plumpste dabei auf das Bett. "NEIN! NEEIN!!", schrie sie kurz auf und der junge Polizist erschrak, wobei er innehielt. "Hey... ganz ruhig! Keine Angst.", sagte er mit ruhiger Stimme und zog langsam das Bild, nach dem er gegriffen hatte, aus der Tasche. "Ich tu dir nichts, okay?" Das Mädchen hatte die Augen weit aufgerissen und schien eine Waffe zu befürchten, die Kevin ziehen wollte, doch er reichte ihr das Foto von Annie. "Hast du diese Frau gesehen?", fragte er in leicht verständlichem Englisch.
    Das junge Mädchen schien völlig verstört, als sie auf das Bild sah, das Kevin und Annie zusammen zeigte. Schließlich hatte sie auch da schon rote Haare, und eventuell wusste das Mädchen etwas. Allerdings musste er die Frage nochmal langsam wiederholen, bis das Mädchen langsam den Kopf schüttelte. "Nein. Ich weiß es nicht.", sagte sie leise und gab Kevin das Bild zurück. Der seufzte niedergeschlagen, als er das Bild wieder entgegennahm und in der Tasche verstaute. Verdammt... suchte er am richtigen Ort? War sie überhaupt noch hier?


    "Möchtest du... jetzt trotzdem?", fragte das junge Mädchen und öffnete im Sitzen auf dem Bett langsam ihre schlanken Schenkel für den Mann, der ihr gegenüber saß, wobei sie wieder ein wenig lächelte. Doch er griff ihr sanft an ihre nackten Knie und drückte die Beine wieder zusammen. "Nein... du bist viel zu jung. Warum machst du das hier? Brauchst du das Geld für Drogen?" Er versuchte in möglichst einfachen Englisch zu reden und langsam, damit das Mädchen ihn verstand. Sie schüttelte den Kopf und machte eine Bewegung mit der Hand zum Mund und sagte: "Zum Essen." Kevin nahm ihr Handgelenk und zog ihren rechten Arm etwas zu ihm heran, wobei sie wieder aufschreckte, aber nicht wehrte. Mit einer schnellen Bewegung hatte er den Ärmel des Shirts nach oben gezogen, wobei sie kurz schmerzhaft aufstöhnte.
    "Scheisse...", sagte der Polizist entsetzt, denn genau das hatte er befürchtet. Auf der Innenseite des Ellbogens, wo man die Adern auf der Haut mit bloßem Augen gut erkennen konnte, waren die letzten Einstiche noch frisch, ausserdem umrandet von großen bläulich-violetten Flecken. Im besten Falle nur ein Bluterguss unter der Haut wegen einer schlecht gesetzten Injektion, im schlechtesten Falle eine Entzündung von verunreinigten Spritzen. In der Gang gab es viele Heroinabhängige, und Kevin sah diese Art der Folgen nicht zum ersten Mal. Jetzt entriss das Mädchen sich dem Griff und krempelte den Ärmel schnell wieder runter. "Ich habe Hunger!", beharrte sie und schaute etwas traurig, weil sie realisierte, dass dieser Mann nicht ihr Kunde sein würde. Der wiederrum presste die Lippen zusammen... würde er sie jetzt einfach wegschicken, hätte sie weiter Hunger... gäbe sie ihm Geld, bestand die Gefahr, dass sie sich den nächsten Trip in die Adern drückte. Doch wenigstens konnte er verhindern, dass ein weiteres perverses Schwein sich an dem Kind verging. Er nahm aus seiner Gesäßtasche einige Bündel Geld, insgesamt 150 000 Pesos, was ungefähr 40 Euro entsprach. Die Augen des Mädchens wurden groß, als er ihr das Geld hinhielt, und als sie zugriff, zog er es zurück. "Zum Essen!", sagte er deutlich, und das Mädchen nickte. Dann ließ Kevin ihr das Geld da, und verließ mit einer unglaublich bedrückten Stimmung das Zimmer...

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    • 16. Februar 2016 um 10:41
    • #53

    Dienststelle - 17:00 Uhr


    Je später es wurde, desto nervöser wurde Ben. Je häufiger er auf die Uhr sah, und je mehr es dunkelte, desto unwohler fühlte er sich in seiner Haut. Semir hatte ihm vor zwei Stunden klipp und klar erklärt, dass man Carina unbedingt nochmal verhören musste, polizeilich und nicht freundschaftlich. Sie war der zentrale Anhaltspunkt, der Schlüssel um im Mordfall ihres Bruders endlich weiter zu kommen. "Bitte, lass mich alleine heute abend zu ihr gehen. Mir wird sie vielleicht mehr erzählen, wenn wir dort nicht als Polizisten auftauchen.", bat er seinen erfahrenen Partner und faltete die Hände dabei, als würde er flehen. Es fehlte nur noch, dass er vor Semir auf die Knie fiel, doch nicht mal das hätte etwas genutzt. "Nein Ben! Wir fahren dort zusammen hin.", beharrte der. Er war bereits von seinem Alleingang am Nachmittag nicht begeistert, und nochmal würde er das nicht zulassen.
    Ben seufzte... er mochte Carina, er wollte sie nicht so unter Druck setzen. Auf der anderen Seite brannte er darauf zu erfahren, was sie mit Drager zu tun hatte, und natürlich fühlte er sich ebenfalls ein wenig hintergangen, schließlich hatte Carina ihm ins Gesicht gelogen. Aber das schaffte er gerade zu verdrängen. "Traust du meiner Objektivität als Polizist nicht?", fragte er etwas gereizt und Semir lehnte sich in seinem Stuhl zurück. "Das gleiche könnte ich dich fragen, Ben.", sagte der seelenruhig, und hatte schon wieder seine souveräne Art und Weise von früher zurück. "Denkst du im Ernst, ich habe jetzt ein Interesse daran, Carina in die Pfanne zu hauen, nur weil du sie magst? Ich will den Mordfall lösen, Menschenskind." Dann stand er auf um zu Ben zu gehen, schenkte seinem Freund, der beinahe etwas beleidigt in seinem Stuhl saß, ein Lächeln und hielt ihm die Hand hin. "Also lass uns das jetzt wie Partner erledigen! Reiß dich zusammen." Mit leicht verkniffenem Gesicht sah der jüngere Polizist zu seinem Kollegen nach oben, dann schlug er ein und ließ sich von ihm aus dem Stuhl ziehen.


    Das Vertrauen in Semir war riesengroß. Er vertraute ihm, dass er sich Carina gegenüber neutral verhalten würde, er vertraute ihm dass er sie nicht mehr unter Druck setzen würde, als jeden anderen Verdächtigen auch wenn sie weiterhin abstritt, etwas mit Drager zu tun zu haben. Es dunkelte draussen bereits, und die Straßenlaternen in der Innenstadt wurden angeschaltet. Ihr Atem dampfte, als die beiden Männer vor Carinas Wohnung ausstiegen, denn es war immer noch knackig kalt und der Himmel sternenklar. Zumindest würde es heute keinen Schnee geben, denn davon lag noch genug aufgehäuft auf Gehwegen, an Straßenecken und Verkehrsinseln. Der automatische Summer, wenn Carina in der Wohnung den Türöffner drückte, kannte Ben mittlerweile.
    "Oh... hallo...", sagte Carina etwas überrascht, als sie erblickte dass Ben wieder Semir dabei hatte, und es klang ein wenig enttäuscht. "Hey Carina. Meinen Partner kennst du ja bereits." Semir schüttelte ihr die Hand während Ben und Carina sich mit einem Küsschen auf die Wange begrüßten, dann bat Carina die beiden Männer in die warme Wohnung. Sie sah müde aus, dachte Ben noch als die Tür hinter ihnen wieder ins Schloß fiel. Sie wollten ins Wohnzimmer grüßen, aber Carinas Mutter sah stumm und stur geradeaus auf den Fernseher und schien die beiden Männer gar nicht zu bemerken. "Sie ist heute nicht gut drauf.", meinte die junge Frau und bot den Polizisten Platz und etwas zu trinken an.


    Ben rieb sich die Hände, vor Nervosität. Sein Unwohlsein, ein drückendes Gefühl im Magen, nahm langsam seinen Höhepunkt, je dichter die Frage rückte, die sie jetzt zu stellen hatten. "Was kann ich denn für euch tun?" Ein wenig hilflos sah der Polizist mit der Wuschelfrisur zu seinem Partner und war auf einmal heilfroh, dass er darauf bestanden hat, mit zu kommen. "Du hast... ähm, du hast gestern gesagt, du würdest den Mann, der bei dir war, nicht kennen." Carina nickte, und log damit erneut: "Ja, das hatten wir doch schon geklärt." Ein kurzer Blick von Ben auf die Tischplatte, ein weiterer zu Semir, dann blickte er wieder Carina direkt ins Gesicht, doch sie hielt dem Blick nicht lange stand. "Und was wollte er dann heute morgen von dir?"
    Sofort schnellten Carinas Augen wieder nach oben und fixierten Ben. Als hätte er gerade etwas Abartiges oder zutiefst Beleidigendes gesagt. "Was sagst du da?" "Ich habe euch beide gesehen, wie ihr euch vor der Tür recht angeregt unterhalten habt." "Spionierst du mir etwa nach??", fragte sie mit erregter Stimme und der Polizist spürte, wie sich sein Unbehagen langsam in einen Brechreiz verwandelten. "Ich mache meine Arbeit, Carina. Ich will den Mörder deines Bruders fassen."


    Semir beobachtete den Disput, und sah sich erst genötigt, nach Carinas nächstem Satz einzugreifen. "Ach, deshalb warst du abends immer bei mir, um zu hoffen, mich aushorchen zu können." Es war ein unfairer Vorwurf an Ben, der Carina in einer schwierigen Situation zur Seite stand, aber er hörte auch eine große Portion an Hilflosigkeit in ihrer Stimme. Offenbar wusste sie sich, mit dem Rücken zur Wand, nicht anders zu verteidigen, vielleicht auch um von Drager abzulenken. "Nun aber mal langsam.", sagte der erfahrenere Beamte und hob beschwichtigend die Hände. "Frau Bachmann, wir haben sicherlich andere gesetzliche Methoden um von ihnen die Informationen zu bekommen. Dazu muss Ben sich sicherlich nicht ihre Freundschaft erschleichen.", verteidigte er seinen Partner, der etwas geknickt auf den Tisch blickte. Das Gespräch war, fast wie befürchtet, aus dem Ruder gelaufen.
    "Darüber hinaus halte ich es für sehr schäbig, dass sie gestern die Krankheit ihrer Mutter ausgenutzt haben, um zu verheimlichen dass sie eine Diskussion mit Herr Drager hatte." Nun erntete auch Semir einen giftigen Blick, der aber sofort von der Erkenntnis getrübt wurde, dass er Recht hatte. Carina hatte direkt danach bereits ein schlechtes Gewissen, aber der Zweck heiligte in diesem Fall die Mittel. "Wir wissen also, dass sie Drager kennen und gestern sowie heute morgen Unterredungen mit ihm hatten. Um was ging es dabei, und woher kennen sie ihn?"


    Carina seufzte, sie hatte die Hände auf dem Tisch gefaltet und streckte sie nun etwas aus, um kurzzeitig mehr Bedenkzeit zu haben. "Das war privat. Es hatte nichts mit Björn zu tun.", beharrte sie und sah weder Ben noch Semir an, sondern stur geradeaus. "Carina, bitte hör auf.", sagte Ben nun mit stärkerer und sicherer Stimme. "Ich habe Drager verfolgt. Er hat sich mit einem Holländer getroffen und über dich und Björn gesprochen. Danach hat er mich in eine Falle gelockt, um meinen Wagen aufzubrechen und zu durchsuchen." Carinas Lippen begannen zu zittern, ihr Wesen wurde unruhig, das spürten beide Polizisten. Semir fuhr fort: "Wir vermuten stark, dass Drager sowohl der Schütze eines Anschlags auf Ben und einen weiteren Polizisten ist, sowie auch als Mörder ihres Bruders in Frage kommt." Nun nahmen sie Carina doch in die psychologische Zange, sie wankte aber sie fiel noch nicht. "Der Typ ist gefährlich! Ich weiß nicht, was du mit ihm zu tun hast, aber wenn er deinen Bruder tötet und auf Polizisten schießt, dann bist du in höchster Gefahr! Bitte, erzähl uns was du weißt!", sagte nun wieder Semirs Partner und wollte Carinas Hände ergreifen, doch sie zog sie reflexartig zurück. "Bitte, lasst mich einfach in Ruhe!", sagte Carina nun mit kleinlauter Stimme, als es über ihnen plötzlich polterte...


    Beide Polizisten sahen gleichzeitig nach oben an die Decke, in Richtung der Wohnung des Bruders, wo sie gestern bereits waren. "Ist jemand oben? Putzfrau oder so?", fragte Semir sofort und bemerkte sofort, dass auch Carina etwas geschockt dreinsah, konnte aber nicht sagen ob das noch von dem Gespräch oder dem polternden Geräusch herrührte. "N... nein. Eigentlich ist niemand oben." Die zwei Freunde blickten sich an und Semir nickte. Sie verständigten sich ohne Worte und standen vom Tisch auf, ein kurzer Blick ins Wohnzimmer, dass auch die Mutter von Carina noch da war, und sich nicht vielleicht heimlich nach oben geschlichen hatte. Doch die alte Frau saß nach wie vor im Sessel und schaute scheinbar konzentriert Fernsehn. "Du bleibst hier unten, egal was passiert.", sagte Ben noch und folgte dann seinem Kollegen, der mit flüsterleisen Schritten die Treppe nach oben schritt...

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    • 17. Februar 2016 um 10:52
    • #54

    Innenstadt - 18:00 Uhr


    Semir hätte die Treppe am liebsten verflucht, denn sie knarrte leise bei jeder Stufe, die die beiden Polizisten nahmen. Würde in den Wohnungen geredet werden oder der Fernseher laufen, würde man nichts hören wenn jemand die Stockwerke runter oder hoch poltern würde. Aber jetzt, wo Carina in ihrer Wohnung den Atem anhielt, und der Eindringling dort oben vermutlich ebenso leise arbeitete, konnte jedes laute Geräusch verräterisch sein. Auch das leise Geräusch, als die beiden Polizisten ihre Dienstwaffen aus dem Holster nahmen und das metallische Klicken beim entsichern, schien durch den ganzen Flur zu hören zu sein. Draussen war es bereits stockfinster und Ben leuchtete mit seinem Smartphone zur Tür. Beide Männer konnten sofort das gesplitterte Schloß und die nur angelehnte Tür erkennen.
    Mit stummen Blicken verständigten sich die beiden Freunde, Ben lehnte sich mit dem Rücken an den Türrahmen und blieb aufrechtstehen, während der kleinere Semir in die Hocke ging und die Tür Stück für Stück ohne Knarren aufdrückte. Sofort fiel Licht aus dem Inneren der Wohnung in den Flur und der große Kommissare spürte, wie ihm die Hände um den Griff der Waffe feucht wurde. Erinnerungen kamen zurück an den Einsatz im Krankenhaus, als er angeschossen und schwer verletzt wurde, weswegen er zuletzt in Einsätzen manchmal mit Angstzuständen zu kämpfen hatte. Doch solange Semir bei ihm war, spürte er Vertrauen, atmete tief durch und umgriff den Griff der Waffe noch fester.


    Leise Geräusche drangen aus dem Inneren der Wohnung, es klang nach Rascheln und Kramen. Die Tür, die zum Büro führte, war ebenfalls nur angelehnt und darin brannte Licht, der Einbrecher ging doch lauter vor, als man es von draussen hätte vermuten können. Die Waffe nach vorne gerichtet mit leisen Schritten ging Semir langsam in Richtung der Tür, Ben folgte ihm. Mit einem Blick ins Wohnzimmer sahen sie, dass eine Bodenvase zerbrochen und verstreut herum lag, offenbar war der Einbrecher im Dunkeln dagegen gestoßen, was das Poltern ausgelöst hat. Das Herz des erfahrenen Polizisten pumpte gegen den Brustkorb, obwohl er solche Situationen schon tausende von Male erlebt hatte, war er doch immer noch aufgeregt, weil man bei solchen Typen mit allem rechnen konnte.
    Die beiden Polizisten hörten von drinnen ein wütendes Schnauben: "Wo ist der Krempel bloß?" Semir zeigte Ben mit den Fingern an, wann sie zuschlagen wollten, und der Polizist mit dem Wuschelkopf nickte. Mit einem lauten Krachen flog die Tür auf, als Semir sich dagegen stemmte und die beiden Polizisten richteten die Waffe auf den maskierten Mann, der am Schreibtisch stand und in mehreren Ordnern blätterte. Trotz der Überraschung und der Verdutztheit des Mannes reagierte der erstaunlich schnell und griff seine Waffe, die auf dem Schreibtisch lag. Die beiden Polizisten mussten sich entscheiden zwischen in Deckung gehen und selbst abdrücken.


    Man entschied sich für Zweiteres, was wohl die bessere Entscheidung gewesen war, denn der Einbrecher zögerte keine Sekunde und betätigte den Abzug. Holz des Rahmens splitterte, in die eine Kugel einschlug, in der Wand des Flures hinterließ eine weitere Kugel ein Loch. "Polizei, werfen sie die Waffe weg!", schrie Ben aus der Deckung heraus, die beiden waren links und rechts vom Türrahmen verschwunden. Sie konnten sich anblicken und warteten einen Moment, bevor sie wieder ins Büro lugten, vorsichtig um auf alles vorbereitet zu sein. Sie konnten gerade noch sehen, wie der Typ das Fenster öffnete, und sich auf den kleinen Fensterbrettvorsprung stellte, der durchgängig am kompletten Haus entlanglief.
    "Oh ne, das auch noch.", stöhnte Ben als die beiden zum Fenster liefen und hinausblickten. Die schwarze Gestalt hielt sich an der Dachrinne fest, in der anderen Hand noch die Waffe, mit der er Richtung Fenster feuerte wo Semir den Kopf zurück zog. "Los komm! Oder hast du neben Platzangst auch noch Höhenangst?", rief der erfahrene Kommissar und zog Ben hinter sich her. Beide Polizisten stiegen ebenfalls auf den kurzen Vorsprung, hielten sich mit einer Hand am Dachvorsprung fest und folgten dem Mann, der jetzt seine Waffe weggesteckt hatte und nach unten sah. "Hiergeblieben!!", schrie Semir noch, als er vielleicht einen Meter entfernt entsetzt sah, wie der Mann sich fallen ließ.


    Unten konnte er schwach erkennen, dass ein Kleintransporter mit offener Ladefläche stand, in den der Mann sich fallen ließ. Semir und Ben konnten nicht genau erkennen, was er geladen hatte, es schien aber etwas Weiches zu sein, in dem der Mann landete, denn er bewegte sich sofort wieder. "Schnell, komm! Sonst ist er weg.", sagte Semir, ging den Meter weiter und sprang gezielt ebenso herunter, als er sicher war, dass der Mann so schnell nicht in den Wagen springen konnte, denn er war gerade erst von der Ladefläche geklettert. Semir kam der freie Fall nur kurz vor, so hoch war das dreistöckige Haus auch nicht und der Untergrund, der sich als einige aufgestapelte Matratzen entpuppte dämpfte den Aufprall hervorragend. Der Einbrecher war offenbar gut vorbereitet.
    Semir kletterte vom Transporter, als der Einbrecher gerade einstieg, und rief noch ein lautes "Schnell!!", nach oben. Denn je länger Ben wartete, desto größer wurde die Gefahr, dass der Mann den Wagen anließ und Ben somit daneben sprang. Aber der Typ hatte gerade die Tür aufgerissen, als Ben sich vom Vorsprung wegdrückte, nachdem ihm schnell noch ein kurzes "Oh Fuck...", entfuhr. Er krachte gerade auf die Matratzen, als der Einbrecher den Wagen anließ und Semir den Türgriff ergreifen wollte.


    Mit einem Ruck setzte sich der kleine Transporter in Bewegung und Semir entglitt die Klinke, so dass er beinahe stolperte. Ben hatte keine Zeit mehr zum Absteigen und krallte sich an den Matratzen fest, als der Wagen anfuhr und aus der Gasse, in der er stand, steuerte. "BEEEN!!", rief Semir nochmal beim Hinterherrennen in Richtung Hauptstraße. Der Transporter bog links ab, Semir rechts in Richtung des BMWs, in den er sich schwang und sofort den Motor startete. Weil er in die verkehrte Richtung stand, haute er den Rückwärtsgang rein, ließ die Hinterreifen durchdrehen und zog dann bei einer gewissen Geschwindigkeit die Handbremse des Wagens, um ihn um 180 Grad herumschleudern zu lassen. Diese Kunststückcken wurden mit den modernen elektronischen Handbremsen immer schwieriger, aber Semir überlistete die Gesetze der Phsyik und nahm die Verfolgung des Transporters auf.
    Ben spürte jede Unebenheit und jede Kurve, die der Transporter nahm. Immer wenn der im Abendverkehr einem Wagen ausweichen musste, rutschten die Matratzen von links nach rechts, da sie nicht so breit waren wie die Ladefläche. Gehalten wurden sie nur von einigen Schnellspannern, die am Führerhaus befestigt waren und unter dem Druck ätzten, die Matratzen auf der Ladefläche zu halten, denn die hintere Ladeklappe stand offen. Stück für Stück zog sich Ben ans Führerhaus heran, bis er endlich den Metallrahmen der Ladefläche zum Führerhaus hin ergreifen konnte und durch das kleine Heckfenster des Führerhauses direkt in den Rückspiegel sah, wo sich die Blicke Bens und des Einbrechers trafen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    • 21. Februar 2016 um 03:10
    • #55

    12:00 Uhr - Bogota


    Den Platz wechseln, sich einen Sitzplatz sichern, und beobachten. So lief der komplette Vormittag von Kevin ab und mit jeder Minute schwandt die Hoffnung. Ob er nun am Rande eines Brunnens saß und die Menschen beobachtete oder im Schatten einer Palme... immer wieder konzentrierten sich seine Augen darauf, die grell-rote Kurzhaarfrisur von Annie zu erblicken. Doch nirgends war die Frau zu sehen, um die sich Ole und die restlichen Punks soviel Sorgen machten, und deren Handysignal zuletzt aus Bogota kam. Aufgeben wollte Kevin nicht, aber er fand auch keinen Lösungsansatz, keinen Schlüssel um weitere Gebiete zu erkunden, um seinen Suchradius zu vergrößern. Er hatte nur die Befürchtung, dass jede Stunde, in der er Annie nicht fand, sie noch weiter in Schwierigkeiten ziehen würde.
    Gerade jetzt ass er einen Mix aus nicht ganz vertrauenserweckenden Tortillas und schwarzen Bohnen in einer einheimisch aussehnden Kneipe. Er hatte nichts gefrühstückt und es fühlte sich an wie ein Loch im Magen. Er konnte nicht sagen, ob es wirklich Hunger war oder die immer stärker aufkommende Enttäuschung, das immer stärker aufkommende Gefühl, sich im Kreis zu drehen und keinen Ausweg zu finden. Obwohl Kevin erst gute 4 Stunden in diesem Vorort war, den Juan eben noch "Vorort zur Hölle" genannt hatte, war er resigniert. Das Gelände war einfach zu klein, um einer so auffällig aussehnden Person in so langer Zeit aus dem Weg zu gehen.


    Der junge Polizist war gerade in Gedanken versunken, als sich Juan zu ihm an den Tisch saß. "Hmm...", sagte er beinahe genießerisch und schnupperte. "Tortillas mit Bohnen... gute Wahl, mi Amigo." Er grinste und lehnte sich im Stuhl zurück, während er der Bardame winkte um das Gleiche zu bestellen. An Kevins Miene bemerkte er sofort den Misserfolg der Suche, fragte aber dennoch: "Na, wie siehts aus?" "Schlecht.", war nur die kurze Antwort. "Ich habe es dir ja gesagt. Du suchst eine Nadel auf einem ganzen umgepflügten Acker. Du sagst, dein Mädchen wäre irgendwo in Bogota... vielleicht macht sie doch Urlaub in einem der angesagtesten Hotels der Stadt. Wenn sie hier wäre...", sagte er und zeigte auf den Platz, an dem sie gerade saßen "...hättest du sie längst gesehen."
    Kevin hatte die Ellbogen auf den Tisch gestützt, den Kopf auf die Füße abgelegt. "Und was ist, wenn sie irgendwo hier in einem Haus festgehalten wird? Du hast doch selbst gesagt, dass es solche Häuser gibt.", gab er die Hoffnung noch nicht auf. Es war die einzige Erklärung, die er hatte. Juan sah auf seine Armbanduhr: "Um diese Zeit müsste sie das Haus längst einmal verlassen haben." Kevin seufzte und legte den Kopf in den Nacken. Er hatte nicht zum ersten Mal das Gefühl, dass Juan ihm nur widerwillig half...


    "Ich kann nicht aufgeben... noch nicht. Ich bin erst 4 Stunden in diesem verdammten Kaff, ich kann deshalb noch nicht alles hinwerfen." Der kolumbianische Drogendealer sah Kevin von der Seite an und schwieg einen Moment, bis die Bardame ihm einen Teller mit Tortillas und Bohnen auf den Tisch stellte. Nun seufzte Juan und begann zu essen. "Du bist ein verdammt sturer Kerl.", sagte er mit vollem Mund und sah Kevin dabei an. "Sag mir, warum tust du das? Was bedeutet dir das Mädchen, dass du das alles für sie tust?" Nun lenkte Kevin seine blauen Augen auf den essenden Mann neben ihm und zog die Mundwinkel etwas herunter. "Das würdest du nicht verstehen.", sagte er wahrheitsgemäß... niemand verstand es, warum er dies tat. Seine Freunde nicht, Jenny nicht...
    "Vielleicht verstehe ich es nicht... aber du kannst es mir ja erklären.", sagte Juan, nahm seinen Teller in die Hand und lehnte sich damit ihm Stuhl zurück, während er langsam weiter aß. "Warum willst du das wissen? Ich bezahle dich dafür, dass du mich unterstützt, du sollst kein Psychater für mich sein." Kevin war mal wieder in seiner Paradedisziplin, sich eine Mauer aus Ablehnung zum Schutze um seine Seele zu bauen. Diese Ablehnung bekam nun Juan zu spüren. "Warum ich das wissen will? Verdammt, weil ich noch nie einen Typen gesehen habe, der sein Leben riskiert für eine Frau, die er lapidar als "eine Freundin" bezeichnet." Er musste grinsen, beinahe auflachen und schob den halbleeren Teller zurück auf den Tisch. "Du lässt dich mit einem Drogenkartell ein, zahlst mir 50.000 für ein paar Informationen und leihst dir das Geld von einem Hai aus Deutschland dafür? Das macht man nicht nur aus reiner Nächstenliebe..."


    Kevin tat das, was er am besten konnte... er schwieg. Er sah weiter stur geradeaus auf den Platz, auf dem Menschen wuselten. Die meisten recht spärlich begleitet, hin und wieder mal ganz klar zu erkennende Touristen, grimmig schauende Männer mit Messern oder Macheten an den Gürteln. Einige trugen auch ihre Schusswaffen offen. "Also entweder, du bist ein Zuhälter aus Deutschland und das Mädchen deine beste Arbeiterin, die vor dir geflohen ist...", zählte Juan auf, der sich von Kevins Schweigen nicht abschrecken ließ. "Oder du bist ein Profikiller, der weit mehr als 50.000 bekommt, um sie zu erschiessen." Nun bekam er zumindest einen recht verständnislosen Blick von Kevin zugeworfen, was ihn wiederrum zum Schmunzeln brachte.
    "Oder aber, du bist gnadenlos in sie verliebt, und bist blind und blöd vor Liebe." Juan sah erwartungsvoll, als sich Kevin aus seiner Haltung löste und sich ein wenig zu ihm herüber drehte. "Ja... oder sie ist einfach nur eine gute Freundin, die ich nicht an die Drogen verlieren möchte, weil ich weiß, wie schwer es ist, davon wieder weg zu kommen." Er beließ die vierte Möglichkeit absichtlich als Möglichkeit, machte durch seinen Tonfall jedoch klar, dass das wohl die einzige Erklärung war. Juan sah den Mann von oben bis unten an, für einen Junkie hätte er ihn nicht gehalten. Er stand auf und klopfte Kevin auf die Schulter. "Ich weiß nur eins: Wer so etwas für einen anderen Menschen macht, der kann selbst kein schlechter Mensch sein." Dann ging er, ohne zu zahlen, von dem Tisch weg. "Ich komm dich gegen 17 Uhr wieder abholen... sei pünktlich."


    Das Gespräch hatte ihn nicht weitergebracht, eher noch mehr der Hoffnung gestohlen. Warum sagte er ihm nicht, wo die Häuser waren, in denen Frauen festgehalten wurden? Warum sträubte er sich so dagegen, dort rein zu gehen... war es wirklich die Angst vor der Konkurrenz? Der Polizist steckte sich eine Zigarette in den Mund und ließ sein Feuerzeug aufschnippen. Seine Augen wanderten über den Platz, zu einem Haus und deren halb offen stehenden Fenstern. Eins der Fenster schien seinen Blick magisch anzuziehen, als der blaue Dunst vor ihm von dem Glimmstengel aufstieg. Er war wie gelähmt von dem, was er sah, und er kniff einmal, zweimal die Augen zusammen. Der knallrote Schopf, der dort kurz am Fenster erschien, nach draussen zu gucken schien und wieder verschwand, ließ ihn fast versteinern.
    Gerade als er aufstehen wollte, sah er aus dem Augenwinkel, wie sich erneut eine Person an seinen Tisch saß. Zuerst dachte er, es wäre erneut Juan, doch diesmal war es jemand anderes. Er schien sich zufällig hinzusetzen, er sah Kevin nicht an, er grüßte ihn nicht und doch wusste der Polizist, dass dieser Besuch nicht zufällig war. Neben ihm saß Carlos Salazar Santos, und seine Augen ruhten geradeaus auf dem Platz gerichtet, ohne Kevin zu beachten... und doch wusste der, dass es jetzt wohl besser war, sitzen zu bleiben. Die roten Haare waren verschwunden, und der junge Polizist konnte nicht mehr sagen, ob es Realität oder Wunschtraum war...

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    • 23. Februar 2016 um 11:49
    • #56

    Innenstadt - 18:15 Uhr


    Ben pfiff der eiskalte Fahrtwind um die Ohren, doch in dem Moment als sich seine Blicke und die, des flüchtenden Einbrechers sich kreuzten, spürte er nichts von der Kälte. Eher war es so, dass es ihm gleichzeitig heiß und kalt den Rücken herunterlief, denn der Kerl zögerte keine Sekunde. Das Glas zerbarst von der ersten Kugel, die dicht neben Ben einschlug, doch zum Glück hatte der Typ nur einen begrenzten Winkel zum Zielen, und so genügte es, dass der Polizist sich bis zum linken Rand auf der Matratze wegrollte und sich an der Seitenstange der Ladefläche festklammerte. Das leise Ploppen als die Kugeln in die Matratze neben ihm einschlugen, war in Vermischung des Motorengeräusches zu hören, und er meinte auch, den Kerl fluchen zu hören, weil er den ungeliebten Fahrgast nicht los wurde.
    "Cobra 11 braucht Verstärkung, verfolge einen Matratzentransporter in der Innenstadt Richtung Ossendorf.", rief Semir in sein Funkgerät, während er dicht an dem Transporter dranblieb. "Wir brauchen eine Straßensperre, ich geb euch die Position durch." Über Funk gab Bonrath die Bestätigung, sich sofort mit Jenny auf den Weg zu machen. Semir konzentrierte sich im Dunkeln Ben im Auge zu behalten aber trotzdem sich durch den dichten Feierabendverkehr zu schlängeln. Der Einbrecher scherte sich nicht um rote Ampeln oder Vorfahrtsregelungen, und noch erschrockener war er, als noch einige Schüsse zu hören waren.


    Als jedoch nur noch ein leises Klicken aus der Waffe zu hören war, warf der Einbrecher diese in den Fahrgastraum. Er schleuderte mit dem Transporter quietschend über die nassglatte Straße an einer Kreuzung, wo zwei unbeteiligte PKWs beim Ausweichen aneinander stießen. "Scheisse...", fluchte Semir, bremste voll ab und erkundigte sich durchs offene Fenster, ob bei den Insassen alles in Ordnung sei. Ein Mann, der sofort ausstieg und der Frau aus dem Gegnerauto aus dem Wagen half, zeigte den Daumen nach oben, und der Polizist nahm die Verfolgung wieder auf. "Brauche eine Streife und Krankenwagen zur Kreuzung Erftstraße Spichernstraße!", gab der erfahrene Polizist sofort per Funk durch und wurde von Hotte bestätigt, der das Funkgerät von Bonrath übernommen hatte, und nun die Verstärkung koordinierte.
    Der Fahrer des Fluchtwagens versuchte nun, Ben anders loszuwerden und gleichzeitig das bewegende, im folgende Blaulicht aus zu schalten. Ein Hebel, angebracht unterhalb des Amaturenbretts wurde betätigt und damit die Kippfunktion der Ladefläche aktiviert. Ben spürte und sah, wie das Führerhaus vor ihm langsam verschwand, weil die Umrandung der Ladefläche sich immer weiter erhob und die oberste Schicht Matratzen ins Rutschen geriet. "Oooooh, fuck!!", rief er und versuchte sich mühsam aufzurichten, als die oberste Matratze nachgab. Trotz schnellen Krabbelns blieb er quasi auf der Stelle, wie bei einem Laufband, als seine Unterlage entglitt und auf die Straße fiel. Der dicht folgende Semir reagierte blitzartig und umkurvte das Hindernis.


    "Wollen doch mal sehen, wie lang du dich da halten kannst!", rief der Einbrecher aus dem Führerhaus und ließ den Hebel in Kippstellung. Wie in Zeitlupe bewegte sich die Ladefläche unnatürlich nach oben und immer mehr Matratzen rutschten durch die geöffnete Hinterklappe auf die Straße. Ben kletterte und krabbelte um sein Leben und blickte mittlerweile immer mehr in den mittlerweile sternenklaren Himmel. Er biss die Zähne zusammen und nahm die Halterung der Ladefläche, die nun weit nach oben stand, ins Blickfeld, als eine weitere Matratze sich endgültig verabschiedet hatte. Würde er noch länger warten, käme er nicht mehr heran, da er durch die fehlenden Matratzen zu tief stand und die Fläche immer steiler wurde.
    Also riskierte er es und brachte seine komplette Kraft in den Beinen auf, um vorwärts zu springen, die Arme ausgestreckt und einfach hoffend, die eckte Stange fassen zu können. Als er das eiskalte Metall an den Handflächen spürte, hätte er jubeln können, doch das Körpergewicht, das ihn nach unten zog, schien immer mehr zu werden, je steiler sich die Ladefläche aufstellte. Ben wusste, dass er das auf Dauer nicht halten könne, also wendete er nochmals Kraft auf, um sich an der Stange hochzuziehen, und schlang mit Schwung die Beine ebenfalls über die Stange. Langsam, sich mit den Händen immer noch festhaltend, versuchte er sich balancierend aufzurichten. Das Dach des Führerhauses kam ihm auf einmal recht klein und schwer zu treffen vor, wenn er jetzt runterspringen würde.


    Semir bekam im Auto beinahe einen Herzinfarkt, als er sah was Ben da fabrizierte. Als sein Partner oben gefährlich zu wanken begann, beinahe das Gleichgewicht verlor und nochmal nach der Strange greifen musste, auf der er jetzt stand, klammerte sich der erfahrene Polizist instinktiv fester an sein Lenkrad. Dabei konnte er einer fallenden Matratze nicht komplett ausweichen und streifte das, gerade landende Hindernis mit dem rechten Kotflügel. Glas splitterte, ein Ruck ging durch das Auto und Semir hatte nur noch halbes Licht nach vorne. Doch das kümmerte ihn gerade nicht, denn seine Augen weiteten sich als er hinter dem Transporter ausscherte, um sich zu orientieren und die nahende Fußgängerbrücke sah.
    So schnell er konnte, fuhr er das automatisch sich senkende Seitenfenster herunter, um Bens Namen zu rufen. Doch die Warnung war unnötig, Ben sah schließlich nach vorne und sah das drohende Unheil kommen. Mit hochgestellter Ladefläche war der Transporter zu hoch für die Brücke. "Scheisse, SCHEISSE!!", rief er und kraxelte langsam gebeugt, Füße auf der Stange und Hände rechts und links drum herum fassend, um das Gleichgewicht zu halten, nach rechts zum Rand. Er musste springen, bevor die Ladefläche gegen die Brücke krachte. Es wäre keine hohe Distanz, aber er musste sich weit genug abdrücken, um nicht vom der Ladefläche erschlagen zu werden, und im richtigen Moment, um nicht die Brücke zu verfehlen und auf dem Asphalt, weit unter ihm, zu landen. Eine andere Möglichkeit gab es nicht...


    Es war schrecklich für Semir mitanzusehen, völlig hilflos, wie sein Partner sich selbst retten musste. Er versuchte, den Flüchtenden zum Anhalten zu bewegen, in dem er hupte und Lichthupe gab. Ein Ausbremsen kam wegen des Gewichtsunterschied nicht in Frage, der Typ würde Semir leicht von der Straße schieben. Und offenbar war der Typ mit der Flucht so beschäftigt, dass er die Brücke einfach übersah oder nicht mehr daran dachte, dass sein Wagen nun viel höher war. Ben hatte die Fußgängerbrücke fest im Blick, die Muskeln angespannt. Innerlich zählte er die Sekunden bis zum Einschlag und wollte genau eine halbe Sekunde vorher abspringen, obwohl dies eigentlich Blödsinn war... denn er konnte die Zeit nicht messen.
    "Spring!", flüsterte Semir in dem Moment, als dem Fahrer dann wohl doch ein Licht aufging, und er in die Eisen ging... viel zu spät. Ben drückte sich von seiner Haltestange, schützte beim Flug seinen Bauch und Rippen mit den Armen und sah unter sich gerade noch das Brückengeländer, dass er verfehlte, vorbeiziehen bevor er auf dem Asphalt der Fußgängerbrücke aufschlug, sich zweimal, dreimal um die eigene Achse rollte und mit Wucht in das gegenüberliegende Brückengeländer... zum Glück mit Schulter und Rücken, nicht mit dem Kopf, einschlug. Noch währenddessen wurde das Reifenquietschen der Vollbremsung von einem lauten Knall unterbrochen, einem Dröhnen als sich schweres Metall verbog und Beton bröckelte.


    Der Transporter wurde rüde von der Fußgängerbrücke gestoppt, die Ladefläche verbog sich und die Brücke erzitterte. Das Fahrzeug wurde herumgerissen und auf 0 abgebremst, während der vordere Teil des Wagens durch die Phsyik des Haltens an der Brücke nach oben gezogen wurde, knickte sämtliche Mechanik im hinteren Teil ein. Durch das Herumreißen und dem Zurückkippen, weil die Ladefläche weder abriss noch die Brücke durchbohrte, krachte der vordere Teil Sekundenbruchteile später wieder auf den Asphalt. Dampf stieg auf von zerborstenen Wasserleitung und hinter dem Transporter kam der schleudernde BMW von Semir zum Stillstand. Die erste Aufmerksamkeit des Polizisten richtete sich nach oben auf die Brücke. "BEN?? Bist du okay?", schrie er aus einer Mischung aus Panik, Angst und Hoffnung. "Ja....", kam eine leisere, eindeutig schmerzhafte aber lebendige Antwort, und Semir atmete auf.
    Dann griff er zur Dienstwaffe, entsicherte diese und lief zur Fahrerseite des Transporters. Mit einem geübten Griff riss er diese auf, packte den stöhnenden und über dem Lenkrad hängenden maskierten Typen am Kragen und zog ihn grob aus dem Fahrzeug. Er schien, bis auf ein paar Schrammen im Gesicht, die Semir erst sah, als er ihm die Maske vom Kopf riss bemerkte, unverletzt doch in diesem Moment nicht mehr im Stande, Widerstand zu leisten. Der Polizist drückte ihn gegen das Fahrzeug, durchsuchte ihn schnell und legte ihm dann die Acht, seine Handschellen an. Als er ihn zum BMW führte sah der Polizist nochmal nach oben. Er konnte Ben bereits wieder auf den Beinen sehen, am Geländer stehend und sich über selbiges Beugen, um die Schäden an der Betonumantelung der Fußgängerbrücke zu sehen. Dann blickte er kopfschüttelnd zu seinem Partner nach unten. "Klasse... das kostet wieder teuer Geld...", brummte er nur und atmete schwer...

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    • 24. Februar 2016 um 01:00
    • #57

    12:30 - Bogota


    Carlos Salazar Santos war eine große Erscheinung. Wenn er stand, war er mindestens so groß wie Kevin, vielleicht noch wenige Centimeter größer. Kein Tropfen Schweiß war auf seinem glatten Schädel zu sehen, die kurz geschorenen Haare ringsherum waren deutlich angegraut, wie auch sein Bart um seinen Mund, der ebenfalls akkurat kurz geschnitten war. In seiner Fliegersonnenbrille spiegelte sich das Treiben auf dem Markt, und Kevin wusste genau, dass es kein Zufall war, dass der Führer des wohl größten Kartells Bogotas sich ausgerechnet an seinen Tisch niedergelassen hatte. Äusserlich völlig gelassen blieb der Polizist auch sitzen, beobachtete wie sein Nebenmann den Markt und nahm den letzten Schluck aus seinem Getränk.
    "Ein Mann, der mit vier meiner Leute fertig wird, macht hier keinen Urlaub.", sagte Carlos dann ohne Begrüßung, ohne Umschweife mit einer tiefen sonoren, auf der einen Seite dominanten und respekteinflößenden, auf der anderen Seite aber auch vertrauenserweckenden Stimme. Allerdings sagte er es auf Spanisch, und so zog Kevin nur ein wenig die Augenbrauen nach oben und zuckte mit den Schultern. Nun bewegte sich der Kopf und das Gesicht Santos' zum ersten Mal in Richtung Kevin, der ebenfalls den Blick ein wenig drehte und sich selbst in der Sonnenbrille des Kolumbianers betrachten konnte.


    "Englisch, deutsch?", fragte er dann erneut, in dem er beide Sprachen in ihrer Landessprache aussprach, das Deutsch mit erstaunlich wenig Akzent. "Deutsch." Der Polizist hatte, mit ein wenig Magengrummeln bemerkt, dass sich die Tische um ihn herum schnell geleert hatten, seit Carlos bei ihm am Tisch saß. Der saß entspannt, in seiner Khakibraunen Hose, die Füße ausgestreckt und gekreuzt, sein muskulöser Oberkörper, der allerdings nichts mit einem Bodybuilder zu tun hatte, in einem Tanktop. Es war schwer, ein Alter des Mannes zu schätzen, denn er schien unglaublich fit und durchtrainiert, aufgrund der kleineren Falten und grauen Haare würde Kevin ihn trotzdem auf Mitte oder Ende 40 tippen. "Ich sagte, wer vier von meinem Männern ausschaltet, der macht hier keinen Urlaub... ist es so?", erklang wieder die tiefe Stimme, und der Polizist nickte: "So ist es."
    Es war wie ein Gespräch zwischen einem Kartellboss, der sich seiner Stellung auch bewusst war, und einem kleinen unwissenden Neuling auf diesem Gebiet, der sich vor dem großen Boss aber keinerlei Blöße geben wollte. Kevin war nicht nervös oder ängstlich, aber er war gespannt was Carlos von ihm wollte. Äusserlich gab er sich aber möglichst gleichgültig und hatte sich seinen Schutzwall aus kalter Arroganz aufgebaut. Carlos hatte den Blick wieder von Kevin abgewendet, und sah auf den Marktplatz.


    "Wer bist du? Und was willst du hier?", waren die knallharten Fragen des Kartellbosses. Natürlich schöpfte der misstrauische Carlos Santos Verdacht, als der zwar unscheinbar aussehende Kevin mit Juan hier über die Plätze zog, und es dann auch noch schaffte, vier seiner gefährlicheren Männer im Kampf auszuschalten. Ein Urlauber, der Juan kennenlernt und dazu noch eine Kamfsportart perfekt beherrscht... nein, das war des Zufalls zuviel. Er vermutete, dass Juan, dessen Stellung innerhalb Bogotas zwar noch stark, aber immer schwächer wurde, seitdem auch Carlos begann, den deutschen Drogenmarkt zu beliefern, sich Verstärkung besorgt hatte. Es war sein Job, sonst hätte er es nie soweit gebracht, sich darum zu kümmern.
    "Ich suche eine Frau. Sie ist aus Deutschland abgehauen, und ich vermute dass sie sich hier den Drogen hingibt. Ich möchte sie zurückholen.", antwortete Kevin mit seiner prägnant, oftmals gelangweilt monoton klingenden Stimme. Ein kurzer, prüfender Blick durch das Plexiglas von Carlos zu seinem Nebenmann. "Eine Frau?", fragte er nicht ungläubig, eher überprüfend und der Polizist nickte. Ohne eine Miene seines haarumwachsenden Mundes zu verziehen, zog der Kartellbos ein Päkchen filterloser Zigaretten aus der Hosentasche, steckte sich selbst eine an und legte das Päkchen in die Mitte des Tisches. Eine stumme Aufforderung, ein stummes Angebot an den jungen Mann neben ihm. Dieser kam dem Angebot nach, nahm einen Glimmstengel und zündete ihn sich ebenfalls an.


    "Eine Frau, die hierher kommt um Drogen zu kaufen, die abhängig ist...", sagte er langsam und bedächtig, mit einer felsenfesten Sicherheit in der dunklen Stimme, die Kevin beeindruckend fand. "... landet früher oder später bei mir." Die Zigarette zischte, als Carlos daran zog. "Also kann ich dir vielleicht helfen." Mit der Zigarette im Mundwinkel griff Kevin in die Innentasche seines offenen Hemdes, das er über dem Shirt trug. Carlos flinke Augen flogen sofort nach rechts, ohne dass er den Kopf drehte, durch die Sonnenbrille konnte Kevin diese Reaktion nicht beobachten. Natürlich traute er dem jungen Burschen nicht, und natürlich hatte er sich durch seine Männer abgesichert. Sollte der unbekannte Mann aus irgendeinem Grund eine Waffe ziehen oder Dummheiten machen, hatte ein Scharfschütze unerkannt vom Dach eines Hauses am Markt Kevins hebende und senkende Brust immer Visier, und der Finger des Schützen zuckte kurz am Abzug, streichelte das dünne Metallteil, durch dessen Betätigen er ein Menschenleben auslöschen konnte, unbemerkt.
    Kevin jedoch zauberte keine Waffe zum Vorschein, sondern das Bild von ihm und Annie, auf dem sie auch 10 Jahre später fast noch genau so aussah wie heute. Wortlos schob er es dem Kartellboss herüber, denn auf einmal hatte er eine Hoffnung, ein unerklärliches Vertrauen dass dieser Mann Kevin helfen würde. Oder zumindest Hinweise geben konnte.


    Carlos griff das Bild und beobachtete es durch das getönte Plexiglas. Ein weiterer Zug an der Zigarette, den Stengel zwischen Zeige- und Mittelfinger haltend und den kalten Rauch inhalierend statt auszublasen, beobachtete er das junge Mädchen, und den Jungen mit den wilden Haaren und dem Stirnband. Dann legte er das Bild wieder auf den Tisch und schob es zu Kevin. "Du hast mir immer noch nicht gesagt, wer du bist. Ein Typ, der ein Mädchen sucht... warum tut er das?", verlangte Carlos weitere Informationen, und der Polizist hielt es für eine verdammt schlechte Idee, die Wahrheit zu sagen. "Ich bin Teil einer organisierten kriminellen Bande. Deswegen habe ich Kontakt zu Juans Kontaktmann in Deutschland. Deswegen weiß ich mich zu wehren..." Er hoffte, dass die Story glaubwürdig herüberkam, und fürs erste schien es Carlos zu genügen, denn er nickte leicht...
    "Ich kenne das Mädchen. Sie arbeitet für mich.", sagte er dann und schob das Bild endgültig zu Kevin rüber, dessen Herz für einen Moment nicht wusste, ob es hüpfen oder zerspringen sollte. Ob es froh sein sollte, dass Annie hier war, oder entsetzt darüber, dass sie sich wohl verkaufte für Stoff. "Als was arbeitet sie?", fragte der Polizist und kannte die Antwort, Juan hatte sie ihm quasi schon gegeben. Das überlegene, wirklich schmutzige Grinsen seines Nebenmannes am Tisch war jedoch eine noch deutlichere Antwort, ohne Worte... und der Polizist ballte die Fäuste zusammen.


    Für einen Moment schwiegen die Männer, und der Polizist war sich unschlüssig, wie er auf diese Nachricht reagieren sollte. Sollte er bestimmt sagen, dass Annie nun mit ihm nach Deutschland zurückkehren würde... sollte er ihn höflich fragen, wo sich Annie gerade aufhielt? Carlos kam ihm nach kurzer Schweigezeit zuvor: "Ich weiß zwar nicht, wer du bist... wirklich ein Freund von der Frau, oder vielleicht doch ein deutscher Zuhälter, der seine entflohene Nutte zurückhaben möchte...", sagte er wieder mit seiner sehr autoritär klingenden Stimme. "... aber gut. Du kannst das Mädchen haben." Sein Blick durch die Sonnenbrille war trügerisch, Kevin konnte keine Stimmung aus seinem Blick ablesen, er konnte nicht mal sehen, wo Santos gerade hinsah... sein Kopf war immer noch auf den Marktplatz gerichtet. "Allerdings nicht umsonst.", setzte er noch hinzu.
    Kevin hatte schon mit sowas gerechnet. Auch im deutschen Rotlicht-Milieu "verkauften" Zuhälter ihre Mitarbeiter untereinander. Was beim Profisport ein normaler Vorgang war, wurde bei Frauen im Milieu hart bestraft. "Wiviel?", fragte der Polizist. "200.000", war die knappe Antwort. Nun war es Kevin, der die coole Maske des Beobachtens der Menschen, statt dem Anblicken seines Gesprächspartners verlor. Sein Kopf drehte sich zu Carlos, und diesmal war seine Frage umso unglaubwürdiger: "Pesos?" "US-Dollar, mein Freund." Beinahe sarkastisch musste der junge Mann auflachen und lehnte sich wieder im Stuhl zurück. "Du hast das Geld nicht?" Carlos Satz war eher eine Feststellung als Frage, und nun wurde es für ihn interessant... was war der Mann bereit für das Mädchen zu tun, und wie abgebrüht war er wirklich. "Du könntest mir auch einen Gefallen tun." Als Kevin sich mit offenen Ohren wieder zu Santos wandte und sogar den Kopf auf dem Tisch bzw auf seiner Hand aufstützte, sah auch Carlos zu ihm herüber. Er hob sogar für einen Moment die Brille und offenbarte seine braunen, typisch südamerikanischen Augen. Seine Bitte, sein Gefallen allerdings verschlug Kevin für einen Moment die Sprache: "Töte Juan..."

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    • 25. Februar 2016 um 01:27
    • #58

    Innenstadt - 18:30 Uhr


    Es dauert nur wenige Minuten, und die komplette Hauptstraße von Köln war in flackerndes Blaulicht getaucht. Bonrath und Jenny bestaunten das Werk der beiden Kollegen, einen Transporter mit aufgestellter Ladefläche, die deformiert passend zur Brückenbeschädigung quer auf der Straße stand. Semir verfrachtete den Fahrer gerade in den BMW, nachdem er ihm die Maskierung vom Kopf gerissen hatte und kettete ihn mit Handschellen und beiden Händen sicher an die Vorrichtung im Streifenwagen. "Da habt ihr ja mal wieder ganze Arbeit geleistet.", meinte Bonrath und sah mit abgenommener Mütze nach oben, während weitere uniformierte Kollegen die Straße absperrten und einen Abschleppdienst benachrichtigten. "Tja, Dieter... ging mal wieder nicht anders.", sagte Semir und sah mit Erleichterung Ben über Treppen von der Fußgängerbrücke steigen.
    Der Polizist, dessen Frisur sich nun ein wenig der seines Freundes Kevin anglich, kam mit langsamen Schritten die Treppe herunter. In seinem Gesicht hatte der Sturz auf dem Asphalt Spuren hinterlassen, Kratzer und Abschürfungen an Wange, Stirn und Nasenbein. "Das Abrollen müssen wir scheinbar nochmal üben, hmm?", meinte Semir, als er bemerkte dass seinem Partner scheinbar nichts Schlimmeres passiert war.


    Auch Ben betrachtete kurz die Beschädigung der Brücke von unten, bevor er seinen Blick Richtung BMW lenkte, und durch die Scheibe den Fahrer des Transporters nun ohne Maske erkennen konnte. "Und?", fragte Semir erwartungsvoll, denn er merkte sofort den Blick seines Partners. Der nickte auch und meinte: "Vesoski. Der Kerl, der mein Auto für Drager geknackt hat." "Scheinbar ein kleiner Fisch für allerlei Jobs... hoffentlich packt er ein bisschen was für uns aus." Vor Ben tauchte der eigene Kondensrauch seines immer noch etwas schnelleren Ein- und Ausatmens auf. Er dachte sofort wieder an Carina... genauso wie sein Partner gerade.
    "Shit... hoffentlich ist Carina nicht abgehauen.", war sein erster Reflex. "Wo soll die so schnell abhauen? Glaubst du, die lässt ihre Mutter einfach daheim sitzen?", meinte Ben ein wenig arggewöhnisch auf Semirs spontane Reaktion der Fluchtbefürchtung, und der musste seinem besten Freund zustimmen. "Okay... Wir fahren jetzt nochmal zu Carina und nehmen sie mit aufs Revier. Sie muss einfach jetzt eine Aussage machen, sie ist der Schlüssel zu allem. Und den Kollegen nehmen wir erstmal mit." Ben seufzte: "Kann ich sie nicht anrufen, und sie morgen früh vorladen lassen? Wo soll sie denn um die Uhrzeit noch ihre Mutter hin tun, das geht nicht so einfach."


    Semir presste die Lippen zusammen. Man spürte ihm den Tatendrang jetzt deutlich an, denn die Puzzlestücke fügten sich langsam aber sicher zusammen und bei so einem Fall brannte der Polizist immer sofort. Aber hier spürte er, dass Ben Recht hatte. Für die junge Frau war es nicht so leicht, einfach für zwei Stunden mal das Haus zu verlassen, und so widerstand er seinem Tatendrang und stimmte Ben zu, der sich erleichtert bedankte. Er zog sein Telefon und wählte Carinas Nummer: "Hi Carina... wir haben den Typen." "Puh, Gott sei Dank... hat er was gesagt?", fragte sofort die wieder gefasste Frauenstimme. "Nein, wir werden ihn jetzt erstmal verhören." Plötzlich spürte er dieses zwickende Unsicherheitsgefühl, dieses nagende Misstrauen als wüsste er, dass Carina die Frage nicht ehrlich beantworten würde: "Fehlt etwas aus dem Büro deines Bruders? Hat er etwas Bestimmtes gesucht?" Auch die Pause bis zur Antwort kam dem Polizisten zu lange vor. "Nein, ich konnte da nichts erkennen. Er war in seinen Bankordnern. Es fehlt nichts, wenn ich richtig sehe." "Kannst du deine Mutter morgen vielleicht irgendwo unterbekommen? Für 2 Stunden vielleicht? Du musst unbedingt zur Dienststelle kommen, ich kann dich abholen kommen." Nun seufzte Carina kurz auf. "Es gibt Einrichtungen für Notfälle. Ich such da etwas raus, okay? Da müsste sie auch hin, wenn du mal ins Krankenhaus müsstest, oder so.", bot Ben an, und Carina spürte am Telefon sofort wieder seine Fürsorge und sagte zu.


    Dienststelle - 19:00 Uhr


    Semir und Ben hatten sich beeilt. Die Feierabendzeit war längst überschritten und es würden sich mal wieder jede Menge Überstunden anhäufen. Semir hatte zuletzt scherzhaft gemeint, dass er morgen aufhören könnte zu arbeiten, wenn er seine Überstunden abfeiern würde inklusive seiner jeweiligen Jahresurlaubstage und danach könnte er sofort in Rente gehen. Jetzt saßen sie im nur halbwegs gut beheizten Verhörraum, Vesoski mit Pflaster im Gesicht und einer verbundenen Hand am Tisch, Semir gegenüber und Ben mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Der erfahrene Ermittler war, unüblicherweise, ein wenig nervös. Es war sein erstes Verhör seit seinem Ausraster, was letztlich zu der kurzfristigen Suspendierung geführt hatte.
    "Also, dann mal Karten auf den Tisch, Vesoski. Was hast du in der Wohnung gesucht?", fragte Semir im bestimmten, aber noch freundlichen Tonfall. "Ich hab nach Bargeld gesucht. Das war ein ganz normaler Bruch.", beharrte der Mann ohne einem einzigen Haar auf dem Kopf, was Semir unangenehmerweise auch noch an die Neonazis erinnerte, und seine Innenhandflächen noch etwas feuchter erscheinen ließ. "Hören sie doch auf.", sagte Ben aus dem Hintergrund. "In Ordnern findet man normalerweise selten Bargeld. Was haben sie gesucht?" Vesoski verschränkte die Arme vor der Brust und presste die Lippen aufeinander.


    Ben kam von der Wand zum Tisch, stand kurz neben Semir und beugte sich über Vesoskis Akte: "Autodiebstahl, Einbrüche, Körperverletzung... ganz schönes Register. Damit gehst du in den Bau, Vesoski. Einbruch, Fahrerflucht und fahrlässige Körperverletzung, dazu Beamtenbeleidigung." "Beamtenbeleidigung?", schnappte Vesoski sofort nach Luft. "Ich hab gehört, wie du meinen Partner Arschloch genannt hast.", fuhr der junge Polizist den Verbrecher an, und Semir nickte sofort. Beinahe hilflos sah der Glatzkopf zwischen Semir und Ben hin und her... ein abgekartertes Spiel. "Na gut, ich sollte nach Dokumenten suchen.", sagte er dann verzweifelt. "Welche Dokumente?" "Kontoauszüge eines Schweizer Kontos. Und Abrechnungen... der Mann, der mich beauftragt hat, hat nur gesagt, ich sollte alle Abrechnungen mitnehmen, die ich finden kann."
    "Der Mann heißt...?", hakte Semir weiter. "Ich weiß es nicht. Er ruft mich immer an, wenn es kleinere Dinge zu erledigen gibt. Da helfe ich ihm. Aber ich weiß wirklich nicht, wie das alles zusammenhängt." Der Mann klopfte bei jedem Satz mit den Händen, die immer noch mit Handschellen gefesselt waren, auf den Tisch, dass es klimperte. "War das der gleiche Mann, für den du meinen Wagen aufgebrochen hast?", fragte Ben dann urplötzlich, und Vesoski sah ihn überrascht an. "Scheisse... warum..." "Ob das der gleiche Mann war, will ich wissen!", fragte der Polizist etwas lauter. "Ich kenne ihn nicht..." "Ach, hör doch auf uns zu verarschen! Du hast ihn geduzt, als würdet ihr euch ewig kennen!!", sagte Ben nun aufgebracht.


    Vesoski presste die Lippen zusammen. Dass Ben die beiden beobachtet hatte, hatten sie beide nicht gemerkt. Natürlich wussten die Bullen jetzt, dass er Drager kannte. "Wir wissen, dass der Mann Drager heißt, und dass du mit drinhängst. Wenn du uns hilfst, können wir was für dich tun.", sagte Semir nun wieder, als der ruhige Bulle. "Wer hat Björn Bachmann erschossen?" Das Erstaunen von Vesoski war echt, nicht gespielt, als seine Augen wieder zwischen den beiden Beamten hin und her flogen. "Hey hey... mit Mord hab ich nichts zu tun. Ja, ich hab dein Auto aufgebrochen und ich bin in die Bude eingestiegen um für Drager die Dokumente zu holen. Aber von einem Mord an Bachmann weiß ich nichts." "Aber Bachmann kennst du?" "Nein... Drager hat ihn nur erwähnt, dass ich bei ihm einbrechen soll."
    Semir und Ben sahen sich für einen Moment an, dann nahm Semir den Hörer in die Hand und bat Bonrath, den Mann in die Zelle zu bringen, während Ben sich zu Semir auf den Tisch setzte. Als Vesoski draussen war, seufzte der Polizist. "Also entweder hat dieser Typ mehr Schiss vor Drager als Vaterlandsliebe, oder..." "Oder er ist ein kleiner Helfershelfer und weiß wirklich nichts.", vollendete Semir den Satz. "Dabei hatte er jedenfalls nichts, weder im Auto noch in seinen Taschen." Der Polizist fuhr sich mit der Hand durch die wuscheligen Haare, denn er wusste, was jetzt folgen würde... Semir, der nach dem ersten gelungenen Verhör stolz auf sich selbst war, ließ sich aber nicht nehmen, ihm es nochmal zu sagen: "Carina ist der Schlüssel. Sie MUSS morgen aussagen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 25. Februar 2016 um 22:20
    • #59

    Bogota - 12:45 Uhr


    Kevin war sich nicht ganz sicher, ob er gerade richtig gehört hatte. Die beiden Männer sahen sich an, die braunen Augen von Carlos und die hellblauen von Kevin konnten gegensätzlicher nicht sein. Der Kolumbianer grinste nun etwas breiter und ließ langsam die Brille wieder auf die Nase sinken. "Ich soll was?", fragte der deutsche Polizist im ruhigen Ton, ohne ein Spur von Verwunderung zu zeigen. "Wenn du wirklich Teil einer kriminellen Gruppe bist...", hörte er die überlegene Stimme des Kartellchefs "...dann sollte das für dich doch kein Problem darstellen. Und dann kannst du deine kleine Freundin haben." Kevin kniff ein wenig die Augen zusammen, als versuchte er zu ergründen, ob Carlos es ernst meinte, oder ob das ein billiger Test war. Doch er merkte schnell, dass dieser Mann nicht erst seit gestern der Anführer einer wohl weitaus größeren Truppe war, mit der es Kevin jemals zu tun hatte und dementsprechend abgehärtet und undurchschaubar war.
    Er schaute kurz zur Seite und spitzte den Mund, bevor er fragte: "Wenn es so leicht sein soll für mich, einen Anführer des gegnerischen Kartells zu töten... warum haben deine Männer es nicht längst getan." Das Lächeln gefror auf dem braungebrannten Gesicht. Carlos Santos war es gewohnt, dass seine Männer in siezten. Dass sie Respekt vor ihm hatten. Der Mann, der ihm jetzt gegenüber saß, schien diese Art der Ansprache nicht bewusst getätigt zu haben, doch Santos fiel es sofort auf. Doch er belehrte ihn nicht... Kevin war in diesem Moment eher ein... Geschäftspartner. Ein billiges Werkzeug.


    "Ganz einfach... weil mir nicht der Sinn nach einem Kartellkrieg steht. Weil ich friedlebender Mensch bin." Es klang wie Sarkasmus, es war Sarkasmus... zumindest der letzte Satz. "Juans Männer und meine Männer kennen sich... alle. Jeder wüsste sofort, von wem das Attentat ausginge. Ein Ausländer jedoch, der aus irgendwelchem Grund auch immer, Juan tötet..." Der bullige Mann zuckte mit den Schultern, und Kevin verstand. Santos würde den Teil von Juans Kartell, seine Männer die ohne Führung waren, wohl leicht übernehmen können, denn meistens waren die "Mitarbeiter" eines Kartells Söldner, denen es egal war, von wem sie ihre Pesos bekamen... hauptsache, sie bekamen sie. Und sollte es tatsächlich eine Handvoll Leute geben, die Juan auch persönlich nahe standen, wären sie Kugelfutter für den Rest.
    "Und wenn ich Juan heute abend davon erzähle?", fragte Kevin in seiner provokativen Art und Weise und zog die Augenbrauen hoch. Doch dafür hatte Santos nur ein müdes Lächeln übrig: "Chico... du möchtest etwas von mir. Ich nenne dir nur den Preis." Er war in einer überlegenen Position, den er hatte etwas, was der junge unbekannte Mann wollte. "Woher soll ich wissen, dass das Mädchen wirklich für dich arbeitet?", fragte der Polizist dann und wieder erschien das überlegene Grinsen auf Santos Gesicht und er lehnte sich ein wenig zurück. "Ich mag euch Deutsche... diese Gründlichkeit, jede Eventualität berechnend. Eigentlich bin ich auch... ein bisschen... deutsch.", sagte er und schien Kevin damit zu verhöhnen, dessen Gesichtszüge scheinbar wie Eis verharrten, bis der Kartellchef sich erhob und einige Scheine Pesos auf den Tisch legte. "Das geht auf mich. Komm mit, Chico."


    Carlos Santos war auf alles vorbereitet. Der Scharfschütze, immer noch perfekt im Schatten des Daches versteckt, hatte sich auf der Position bezogen, um einen Großteil des Platzes zu überwachen... vor allem aber den Weg von der Kneipe zu dem Haus, auf das Kevin und Santos sich jetzt zu bewegten. Der Kolumbianer hatte vermutet, beinahe geahnt dass es für den Fall der Fälle nur einen Weg gäbe, den er mit dem unbekannten jungen Mann bestreiten würde... alles andere hätte keinen Sinn gemacht. "Wie heißt du?", fragte er, während sie über den Marktplatz gingen. "Kevin." "Carlos Santos... du kannst mich aber Carlos nennen, nachdem du bereits den Mut hattest, mich zu duzen." Der junge Polizist wusste nicht, was er von diesem Satz halten sollte. Kam sich dieser Typ nur so unantastbar, so überlegen in seiner Art vor? Spielte er das Spielchen bewusst, um Kevin Angst zu machen? Oder war die Dimension von Carlos' Macht für den Polizisten, der das Milieu nur in weitaus geringerer Größe aus Deutschland kannte, einfach nicht greifbar. Er beschloß, nur mit einem Nicken zu antworten, während das Fadenkreuz, durch das der Scharfschütze auf den Marktplatz blickte, unsichtbar an seinem Körper klebte. Mal zitterte es hoch zu seinem Kopf, dann ruhte es wieder auf seiner Brust und zuletzt, als sie an der Tür standen um in das Haus einzutreten, zielte der Mann Kevin auf den Rücken. Immer wieder konnte er beobachten, wie der junge Kerl mit der stacheligen Frisur nach rechts und links blickte, scheinbar aufmerksam war, aber niemals auf das Dach sah. Der erfahrene und geübte Scharfschütze erkannte am Gesichtsausdruck und an Kevins Körperhaltung, dass er Santos und seine Männer wohl gnadenlos unterschätzte. Als die beiden im Haus verschwanden, beruhigte sich sein Atem etwas, und er konnte beide Augen wieder öffnen.


    In dem Haus war es stickig. Sie betraten beide einen Flur mit vielen Türen, es sah beinahe genauso aus, wie das Haus, in das Kevin heute vormittag mit der jungen Prostituierten gegangen war. An den Wänden lehnten junge Mädchen, manche rauchten, manche saßen am Boden. Männer jeden Alters kamen mit Mädchen im Arm und verschwanden in einem der Zimmer, andere kamen heraus und grinsten. Ein Mädchen, an dem sie vorbeiging, schien völlig weggetreten zu sein, doch griff sie plötzlich nach Kevins Bein, der beinahe erschrak und einen Schritt von ihr wich. Mit weit aufgerissenen Augen und Pupillen klein wie Stecknadelköpfen blickte sie den jungen Polizisten an, eine Spirtze lag neben ihr und war dreiviertel leer. So oft hatte Kevin das auch in Deutschland gesehen, so oft waren es früher Freunde, die die Grenze zwischen Partydrogen und Sucht überschritten hatten, bis auch Kevin soweit war. Immerhin... von der Nadel hatte er es immer geschafft, sich fern zu halten.
    Bevor er selbst etwas tun konnte, reagierte Carlos Santos, diesmal in einer Stimmlage, die Kevin noch nicht kannte. Laut, brüllend und bestimmt fuhr er das Mädchen auf Spanisch an und trat ihr kräftig gegen den Körper, so dass sie aufheulte und spätestens jetzt losgelassen hätte. "Sanchez!!", rief der kräftige Mann dann laut, und ein langhaariger Mann mit offenem Hemd kam auf ihn zu. Auch er kassierte einen offenbar wütenden Anschiss auf Spanisch, den er beinahe Reue zeigend über sich ergehen ließ. Dann packte er das wimmernde Mädchen an den Armen und hob die dürre Gestalt mühelos über die Schulter, um sie in eins der Zimmer zu tragen. Beinahe entschuldigend zuckte Santos mit den Schultern in Kevins Richtung: "Es macht keinen guten Eindruck, wenn die Mädchen sich einen Schuss drücken vor der Kundschaft."


    Der Polizist konnte spüren, wie sein Herz gegen den Brustkorb schlug. In jeder Situation hätte er vermutlich jetzt eingegriffen, doch er wusste, dass es nicht ging. Er wusste, dass er vermutlich keine 2 Minuten überlebt hätte, weil Sanchez sicher nicht der einzige anwesende "Mitarbeiter" von Santos im Hause war. Und er wusste, dass dann jede Chance auf Annie verloren war. So unterdrückte er seine Wut, versuchte diese nicht nach aussen dringen zu lassen und nickte Santos zu, wobei er sagte: "Es macht auch keinen guten Eindruck, wenn das eigene Personal pennt." Nun war es wieder Santos, der ein wenig Verblüffung zeigte. Er fühlte sich dem jungen Mann zwar gnadenlos überlegen, musste aber zugeben, dass er kein Angsthase war. "Ganz richtig. Das kann manchmal... ungesund sein.", antwortete er, bevor die beiden weitergingen.
    Sie kamen zu einer zweiflügeligen Tür, die wohl in eine Art Aufenthaltsraum mündete. Die Tür war aus schmutzigem Glas, statt aus Holz und Santos hielt Kevin auf, in dem er seinen Arm auf Kevins Seite gegen die Wand stemmte. "Warte." Der Kartellchef riskierte zuerst einen Blick hinein, und nickte dann. "Schau hier durch. Wenn sie dich erkennt, ist der Deal geplatzt! Ich will nicht, dass sie dich sieht.", sagte er streng, denn scheinbar befürchtete er, dass Annie selbst dann Fluchtgedanken kommen würden, wenn sie wusste, dass Kevin draussen auf sie wartete. Dieser spürte sein Herz nun noch deutlicher, als er sich langsam nach vorne lehnte und einen Blick riskierte.


    Er brauchte nicht lange den Raum mit den Augen abzusuchen, bis er sie sah... eigentlich sprang sie ihm direkt ins Auge. Ihre knallroten Haare waren unübersehbar, und hatten doch ihr Leuchten verloren. Es war, wie ein Innenhof des Hauses, viele Mädchen saßen, lagen oder standen umher. Sie unterhielten sich, einige Kinder liefen durch die Reihen und Annie saß etwas abgeschieden bei einer etwas älter wirkenden Frau, die ein Baby im Arm hatte. Kevins Herz schlug jetzt nicht nur, es krampfte sich beinahe zusammen, als er Annie betrachtete. Sie lächelte nicht wie früher, ihre Verrücktheit schien einer seltsamen Melancholie gewichen zu sein... sie war hier nicht freiwillig, das spürte Kevin ganz deutlich. Ihr Blick ging auf das Baby und hin und wieder zurück an eine gegenüberliegende Wand, sie saß schräg zur Tür, so dass die Gefahr, Kevin in der schmutzigen Scheibe zu erkennen, sehr gering war.
    Eine kräftige Hand an seiner Schulter, die ihn von dem Fenster wegzog, riss ihn aus den Gedanken. "Überzeugt?", fragte Santos und fügte noch an: "Vergiss niemals: Ich halte mein Wort. Töte Juan, und sie kann mit dir hingehen, wohin ihr wollt. Oder bring mir 200.000 Dollar. Oder vergiss die Sache... dann würde ich dir aber raten, bis morgen mittag Kolumbien zu verlassen." Die beiden Männer sahen sich wieder an, Carlos hatte seine Sonnenbrille mittlerweile an den Kragen seines Tanktops gesteckt. Zwei Männer, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten... und doch hatten sie auf unterschiedliche Art ihr Gewissen längst verloren. "Na schön. Ich werde Juan töten, und du lässt sie dafür gehen." Er hielt Santos die Hand hin, der diese mit festem Händedruck ergriff. "Bis morgen mittag.", stellte er dann noch ein zeitliches Ultimatum und erklärte mit zwei Sätzen, wie Kevin sich auf dem Markt eine Waffe besorgen könne. "Alles klar...", war dessen Verabschiedung, als er sich umdrehte und alleine Richtung Ausgang ging.


    Langsam legte sich ein Grinsen auf Santos Gesicht, als er dem jungen Mann nachblickte. Sanchez, einer der Handlanger des Kartellchefs, kam aus dem Zimmer, in das er eben das Mädchen verfrachtet hatte und fragte auf Spanisch: "Und?" Mit kurzen Sätzen erzählte Santos, was er herausgefunden hatte, und endete mit: "Er tut es. Wir werden ja sehen." Er war noch zurückhaltend skeptisch. "Wenn er es wirklich schafft, kann er morgen mit dem Mädchen in aller Ruhe hier raus spazieren." Ein kühles und selbstzufriedenes Grinsen legte sich auf das Gesicht des Kolumbianers. "Du sorgst dafür, dass das Mädchen das Haus bis dahin nicht verlässt. Und sag Fernando Bescheid... wenn die beiden morgen das Haus verlassen, soll er den Jungen abknallen."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    • 28. Februar 2016 um 23:19
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    Bogota - 17:00 Uhr


    Juan war verdammt pünktlich, und Kevin war froh drum, denn so langsam begann ihm langweilig zu werden. Er hatte sich, nachdem er das ominöse Haus verlassen hatte, zu einem Gemüsestand zurück an den Marktplatz begeben, den Carlos ihm beschrieben hatte. Auf Spanisch sagte er den einstudierten Satz, dass Carlos ihn schicke etwas abzuholen, und legte dem Verkäufer zwei Silbermünzen in die Hand. Offenbar wusste der Verkäufer, dass nur der Kartellführer diese Art von Münzen besaß, und nickte. In einer Papiertüte umwickelt überreichte er dem jungen Polizisten einen kleinen Trommelrevolver und sechs Patronen. Kevin suchte sich eine Gasse zwischen den Häuserzeilen, warf das Papier weg und ließ die Trommel der Waffe aufschnappen. Geübt legte er die sechs Patronen in die sechs Kammern, ließ die Waffe zuschnappen und steckte sie sich hinters Hemd in den hinteren Hosenbund.
    Bevor er die Kasse verließ, hörte er ein Stöhnen. Er hatte die, im Schatten der Häuser und neben Mülltonnen zusammengekauerte Person gar nicht wahrgenommen. Es war das Mädchen, das ihn mit in das Zimmer genommen hatte. Sie lag gekrümmt am Boden, die Augen weit aufgerissen und schweißüberströmt. Kevin konnte nicht erkennen, ob sie Schmerzen hatte, sah jedoch die leere Spritze neben ihr und den Gürtel noch am Arm. "Hey...", sagte er leise, doch das Mädchen reagierte nicht. Betroffen, mit versteinertem Gesichtsausdruck blickte er sie an. Der Polizist wusste, dass er von den Passanten keine Hilfe zu erwarten hatte, er wusste nicht ob es eine Krankenstation hier gab und ausserdem lagen in jeder Gasse Drogenabhängige, die sich nicht in aller Öffentlichkeit den Schuss ansetzen wollten. Leise murmelte das Mädchen etwas auf Spanisch, und Kevin ließ sie schweren Herzens zurück. Doch der Anblick bestärkte seinen Willen, Annie hier raus zu holen.


    Den Rest der Zeit saß er unter einem Baum im Schatten, hatte immer einen Blick auf das Haus, hing seinen Gedanken nach um seine Entscheidung, die er getroffen hatte, abzuwägen, bis Juan ihn fand. "Wir wollten uns eigentlich am Marktplatz treffen.", war dessen missmutige Begrüßung, denn er hatte Kevin sicherlich 10 Minuten gesucht, und das auf einem ganz anderen Platz. Zögern stand Kevin von seinem Sitzplatz auf und folgte seinem Reiseführer, erst wieder durch die Gasse, den Marktplatz und letztendlich zurück durch das Slum. "Hast du noch was rausgefunden?", fragte Juan beim Gehen, und der Polizist schüttelte nur den Kopf, während er sich eine Kippe anzündete. Es war komisch, nun mit dem Mann zu reden, der vielleicht die Lösung seiner Probleme war. Er kannte Juan nicht, er hatte keine besondere Beziehung zu ihm... würde es ihm was ausmachen, ihn zu erschiessen?
    "Tja, meine Leute haben mir auch nichts gesagt... es sieht wohl schlecht aus, wie ich dir heute mittag schon gesagt habe.", meinte der Kolumbianer und sah Kevin zweifelnd von der Seite an, als sie den Geländwagen, mit dem sie heute morgen hergekommen waren, erreicht hatten. "Ja, das sieht es wohl.", meinte der junge Kommissar mit seiner gewohnt melanchonisch gleichgültig wirkenden Stimmlage. "Fliegst du morgen wieder?" Jetzt erst sah Kevin Juan zum ersten Mal am frühen Abend direkt an. "Vielleicht..."


    Während die kolumbianische Landschaft an Kevin vorbeizog, spürte er wie ihn der Revolver am unteren Rücken kitzelte. Er drückte sich in die Haut, er fühlte sich heiß an, er schien zu glühen. Er schien Kevin anzuschreien, Juan endlich umzulegen, um Annie zu retten. Die Straße führte an Büschen und Bäumen, an niedrigen Mauern und weiten Plantagen vorbei, sie war staubig und schlecht geteert. Es war eine einsame Gegend, nur ein Auto war hinter ihnen im Rückspiegel zu sehen. Kevin sah aus dem Fenster, vor seinem inneren Auge war Annie zu sehen, wie sie neben der Frau mit dem Baby saß, ihre stumpfen Augen, ihr verlorenes Lachen. Er hatte, mit Absicht, nicht auf ihre Arme geguckt, um Blutergüsse zu erkennen... Einstiche hätte er auf diese Entfernung sowieso nicht gesehen.
    "Ich kann dich vielleicht noch zu einem Bekannten von mir bringen.", sagte Juan irgendwann. "Er hat einen Nachtclub in Bogota, direkt in der City. Ein Umschlagplatz für Drogengeschäfte, allerdings eher für junge Touristen, die den Kick suchen, und genügend Geld haben." Das Auto sprang durch ein Schlagloch und das Lenkrad in seinen Händen vibrierte. "Willst du es da noch probieren?" Plötzlich klang er nicht mehr wie ein knallharter Geschäftsmann, der diesen "Job" nur wegen Kevins Geld machte, sondern beinahe wie ein fürsorglicher Freund.


    "Kannst du da mal in den Feldweg fahren? Ich muss mal...", sagte Kevin. Er hatte sich an den Feldweg erinnert, als sie heute morgen vorbeigefahren waren. Sein Herz klopfte fest gegen den Brustkorb, er spürte den kurz zweifelnden Blick seines Nebenmannes, als der jedoch den Blinker setzte und in den Feldweg einbog, der sich von der Straße entfernte, bis der Geländwagen schließlich anhielt. "Dann beeil dich, ich bin eh spät dran.", sagte Juan und drehte sich eine Zigarette, während Kevin aus dem Wagen stieg. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen, die sich wie ausgetrocknet anfühlten, er ging einige Schritte mit dem Rücken zum Auto, bis er stehenblieb. Er wusste nicht, ob Juan ihn beobachtete, oder weiter seine Zigarette drehte.
    Als sich Kevin umdrehte, wusste er es... natürlich beobachtete Juan ihn, und er beobachtete genau, wie Kevin seine Waffe aus der Hose zog und auf den Kolumbianer richtete. "Steig aus!", rief er und Juan schien beinahe nicht mal überrascht zu sein. Er nahm, wie in Zeitlupe, die bereits gedrehte Zigarette aus dem Mund und legte sie auf den Beifahrersitz, dann öffnete er die Tür und stieg aus dem Geländewagen aus. Ohne Misstrauen zu erwecken hob er leicht die Hände nach oben.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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