Zwischenwelten

  • Dump Dump... Dump Dump... irgendwie fühlte sich ein Herzschlag unnatürlich an, wenn man zittert. Irgendwie fühlt sich der Boden unter einem heiß und kalt gleichzeitig an, wenn man zittert. Irgendwie spürte man auch am Atmen, das man zittert. Man kann nicht einfach tief ein und ausatmen, der Atem stottert, zittert, man fühlt sich schwummrig, schwindelig, man hyperventiliert. Schweiß kühlt den Körper, sagt man. Jetzt fühlte er sich glühend heiß auf der Stirn an, und doch war er eiskalt, als sie ihn berührte. Er war auch nasser als sonst, er lief an der Schläfe aus ihren kurzen Haaren, über die Wange und tropfte in den staubigen Sand. Ihre nackten Knöchel rieben sich in dem Sand, der hier im Schatten der schäbigen Häuser erträglich war und doch heiß und kalt gleichzeitig.
    Sie hatte nie Drogen genommen, und doch taten sie jetzt gut. Gegen das Vergessen, für das Vergessen. Wollte sie eigentlich vergessen? Warum war sie hier? Vor einigen Wochen lief ihr Leben in einigermaßen geregelten Bahnen, doch innerhalb von Tagen hatte sie alles weggeworfen. Freunde, die ihre Familie waren. Ihren ganzen Lebenswandel hatte sie hinter sich gelassen, um zu vergessen. Feige war sie weggelaufen. Genauso feige, wie sie ihre große Liebe getötet hatte.



    Ja, sie hatte ihn getötet. Eiskalt und doch durch ihre Feigheit. Ihre Fußsohle kratzte über den steinigen und sandigen Untergrund, die Sonne brannte ausserhalb der kleinen Gasse unbarmherzig auf die Menschen nieder, die die Straße säumten. Die Geräusche jedoch drangen nicht bis zu ihr ins Gehirn, nicht bis in ihr Bewusstsein, sie wurden gefiltert und erklangen nur dumpf. Eigentlich hatte sie ihn zweimal getötet. Vor Jahren, einfach so. Dann hatte sie ihn wiederbelebt, um ihn noch einmal umzubringen. Es tat weh, so unendlich weh, wie er sich von ihr abwandte, ohne Worte, ohne einen Abschied. Warum so? Hätte er sie nicht anschreien können? Nein, er erschien ihr gefühlskalt und sie konnte es ihm nicht einmal verübeln.
    Sie hatte alles verloren, weggeworfen, sich abgewandt. Alles hinter sich gelassen und ausgebrochen. Von einem kleinen Chaos ins scheinbar unendliche Chaos gestürzt. Sie hatte nie Drogen genommen, und jetzt spürte sie ihre Schattenseiten. Ein Trip, eine Tablette... sie fühlte sich gut. Sie vergass ihn, sie vergass die Freunde. Sie wusste ausgerechnet von ihrer großen Liebe, wie gut Drogen taten, wenn man vergessen wollte, und wie gefährlich sie wurden, wenn man die Kontrolle verlor. Wie sie das Leben übernahmen, jeden Schritt, jedes Denken. Ihr Herz schlug schneller, ihre Hände gruben sich in den Sand, ihr Top hatte unter dem Ausschnitt einen Schweißfleck.



    Ihr passiere nichts, hatte sie gesagt, bevor sie ging. Sie wusste, wann man mit Drogen wie umging. So oft hatte sie es in ihrer Umgebung beobachtet bei ihren Freunden, ihrer Familie, so oft hatte sie davor gewarnt, und nun war sie dem Teufel doch ins Netz gegangen und es hatte nur einige Wochen gedauert. Der Gürtel an ihrem Arm schmerzte, und das Zittern in der freien Hand ließ sie nicht los, als die Metallspitze der Nadel ihre Wene suchte. Warum brannte die Nadel, obwohl sie vorher noch eiskalt war? Warum hatte man das Gefühl zu fliegen, wenn man gerade abstürzte? Und warum spürte sie Befriedigung in dem Moment als die Wirkung einsetzte, obwohl man gerade mit voller Wucht aufschlug.
    Sie betete manchmal darum, gerettet zu werden. Sie betete direkt danach, dass sie niemals jemand finden soll. Niemand von ihren Freunden, niemand sonst. Es war sowieso zu spät, und niemand würde sie mehr retten können... Die Struktur des Sandes verschwamm, ihr Kopf fiel erschöpft gegen die Hauswand und sie schloß ihre Augen. Sie flog und schwebte, es fühlte sich so gut an. Nichts war zu spüren von diesem Elend um sie herum, von den Menschenmassen, die durch die Straße ging. Sie war allein für sich, nur ihn hatte sie bei sich. Sie küssten sich, er streichelte ihre Haare, sie sah in seine Augen. Alles war friedlich...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Büro Polizei-Psychologin - 08:30 Uhr



    Tick tack, tick tack, tick tack... das Geräusch konnte einen wahnsinnig machen, dachte Semir. Im Zimmer von Frau Schneider roch es angenehm nach einer Mischung aus der neuen Ledercouch, auf der Semir mit gekreuzten Beinen saß, altem Holz der Wandtäfelung und dem Parfüm der Polizei-Psychologin, die ihm gegenüber saß, und zu der er nun seit einigen Wochen zweimal in der Woche zum Gespräch musste. Anweisung von ganz oben, nicht diskutierbar. So lange bis die "Therapie", so nannte es Anna Engelhardt, abgeschlossen war. Ach, Semir war es selbst schuld. Die Probleme, die er hatte, wollte er einfach zur Seite schieben. Er war 20 Jahre im Geschäft, es durfte ihn einfach nichts mehr schocken, egal was passiert. Er hatte Explosionen überlebt, seine Familie wurde entführt, er wurde angeschossen, zwei Freunde sind gestorben. Was sollte ihm da ein wenig Psychoterror eines Neo-Nazis schon ausmachen.
    Weitermachen, immer weitermachen. So tun, als sei nichts gewesen. Die erste Woche ging es noch gut, nur müde war er, weil er nachts nicht schlief. Die Müdigkeit drückte zusehends auf Semirs Gemüt, Semirs Stimmung drückte zusehends auf das Klima im Dienstwagen mit Ben, auf das Klima im Büro mit Ben und Kevin. Ständig fragte Ben: "Semir, ist alles klar?" "Semir, sollen wir mal darüber reden, was im Keller passiert ist?" "Semir, was ist eigentlich mit deinem Pflaster am Hals, so lange kann doch keine Wunde heilen...", bis der sonst so besonnene Polizist die Beherrschung verlor, und seinen besten Freund vor der versammelten Büroschaft anschrie, er solle ihn, verdammt nochmal, endlich in Frieden lassen. Ben war davon so geschockt, dass er den Rest des Tages kein Wort mehr redete. Erst nach Feierabend nahm Kevin ihn zur Seite und sagte vielsagend: "Irgendetwas stimmt nicht..."



    Tick tack, tick tack, tick tack... wie konnte man nur eine Uhr in einem Büro aufhängen, die so penetrant tickte. Dabei hatte sie nicht mal ein Pendel, es war eine stinknormale batteriebetriebene Uhr. Andrea hatte schnell gemerkt, dass etwas mit ihrem Mann nicht stimmte. Sie wusste ja, was passiert war und es war kein Wunder für sie, dass er diesmal nicht wie ein Stehauf-Männchen sofort ohne Probleme wieder seinen Dienst verrichtete. Als seine kleine Tochter Ayda im Koma lag, war Semir stark. Er hielt allem stand, er behielt einen kühlen Kopf. Doch jetzt war er der Schwache. Er brauchte Hilfe. Er schlief zu Hause nicht, er ass nur noch wenig, er saß nach Feierabend im Wohnzimmer und blickte nervös umher. Nein, das war nicht mehr ihr Mann. Das war ein kaputtes Spielzeug, ein Ding, dass innerlich zerbrochen war. Sie wandte sich an Anna Engelhardt.
    Auch die Chefin hatte den Wandel ihres Beamten gemerkt. Er war nicht mehr offen, er sprach weniger, er reagierte abweisend. Und er wurde zunehmend zu einem Problem auf der Dienststelle. Bei einem Verhör eines Rasers, der mit Joints und Pillen bei einer Verkehrskontrolle festgenommen wurde, wurde er von dem Typ als "Kanacke.", beleidigt. Eine Beleidigung, die er sich in den Jahren als Polizist so oft anhören musste, über die er mehr als nur drüber stand. Doch diesmal flippte der kleine Polizist aus, er packte den überraschten Dealer am Hinterkopf und schlug ihn mit dem Gesicht auf die Metallplatte des Tisches. Kevin und Ben, die sofort ins Zimmer geeilt waren, als sie den Krach hörten, konnten den tobenden Kollegen nur mit allergrößter Mühe aus dem Verhörzimmer ziehen. Danach wurde er umgehend von Frau Engelhardt krank geschrieben und zu einer Therapie bei der Polizei-Psychologin Tanja Schneider eingeschrieben. Und hier saß er nun...



    Tick tack, tick tack, tick tack... Wie lange saß er jetzt schon hier? 2 Minuten, 5 Minuten? Semir verschränkte die Arme vor seiner Brust, als wolle er sich schützen, als würde er der Frau, die ihm gegenüber saß, nicht weiter als 5 Centimeter trauen. "Wie schlafen sie, Herr Gerkhan?", fragte sie mit freundlicher Stimme, einen Block auf ihrem verschränkten Bein und einen Kugelschreiber in der Hand. Eine Posse voller Klischees, doch wie eine typische Psychologin, mit streng zurück gekämmten Haaren, Rock und Anzugoberteil und einer viel zu großen strengen Brille sah Frau Schneider nicht aus. Sie trug Jeans, eine Kapuzenweste und sah aus, als käme sie frisch von der Uni. Dabei war sie schon beinahe 40, und schon 7 Jahre die beste Polizei-Psychologin in ganz Nordrhein-Westfalen. "Gut, wirklich.", antwortete Semir.
    Klar schlief er gut... wenn er schlafen würde. Das tat er schon Wochen nicht, das viertelstündige Eindösen konnte man nicht als Schlafen bezeichnen. Semir lag auf dem Rücken im Bett, und blickte in die Dunkelheit. Er lauschte auf jedes Geräusch, was in seinem Schlafzimmer zu hören war. Das Gluckern der Heizung, das leise Rauschen der Bäume bei einem Windhauch. Zischte da was? Ständig hatte er das Gefühl, es würde irgendwo ein Zischen herkommen... wie ein Gasrohr, das ein Loch enthielt. Dann bekam er Atemnot, er begann zu schwitzen, er musste aufstehen. Er musste die Zimmertür öffnen, um wieder Luft zu bekommen. Dann wieder war alles still. Kein Zischen, keine Schritte, kein geflüsterter Führergruß, der ihn manchmal aus dem Halbschlaf nach oben fahren ließ.



    Tick tack, tick tack, tick tack... gleich würde Semir den kleinen Aschenbecher, der eh nur aus Deko-Gründen auf dem Tisch stand, als Wurfobjekt gegen diese unsägliche Wanduhr missbrauchen. Es schien, als würde dieses Geräusch jedes andere Geräusch im Raum übertönen. "Wann haben sie denn ihren Termin beim Hautarzt?", fragte Frau Schneider und blickte auf das weiße quadratische Pflaster an Semirs Hals. Unweigerlich strich er sich darüber... es brannte und seine Haut um das Pflaster war gerötet. Eine allergische Reaktion. Niemals war ihm das bei dieser Art Heftpflaster passiert, dass seine Haut darauf reagierte. Jetzt juckte es und brannte, und er musste eine weiße Creme darauf streichen, wenn er das Pflaster austauschte. Jedes Mal war es eine Qual dieses schreckliche Symbol, das noch sehr gut sichtbar in seiner Haut zu sehen war, erblickte.
    "In zwei Wochen.", meinte Semir knapp. "Na das ist doch super. Da haben sie doch wieder ein Ziel, auf das sie hinarbeiten können. Ein Fixpunkt, zu dem sie blicken können, um einen weiteren Schritt zu machen." Semir blickte vom Boden zu der Psychologin auf. Ein Fixpunkt? Wenn er sich endlich dieses scheussliche Ding vom Hals entfernen lassen würde? Glaubte diese Frau, man könnte die Erinnerung wie eine Narbe kosmetisch entfernen? Das einzige, was Semir ablenken würde, war sein Job, und der wurde ihm momentan genommen.



    Tick tack, tick tack, tick tack... Semir würde vermutlich in seinem Hause erst mal alle Uhren abhängen, sobald er wieder daheim war. Das war ja schrecklich. Auf Fragen der Psychologin antwortete er einsilbig, seine Worte und seine Haltung zeigten deutlich, dass er sich von diesen Gesprächen weder Besserung seines Zustandes noch sonstige positive Dinge versprach. Tanja Schneider seufzte: "Herr Gerkhan. Ich versuche ihnen zu helfen. Schauen sie, wenn sie mir nicht erzählen, was diese charakterliche Veränderung in ihnen ausgelöst hat, dann kann ich ihnen nicht die richtigen Fragen stellen. Und ohne die richtigen Fragen, bekomme ich von ihnen nicht die richtigen Antworten um ihnen zu helfen, verstehen sie?" Sie hatte den Block wieder auf ihr Bein gelegt und sich nach vorne gelehnt.
    Semir konnte nicht gut mit jungen Kolleginnen. Er fühlte sich überlegen durch seine Diensterfahrung, und jetzt kam es ihm so vor, als wolle eine Studentin (da er die Psychologin auch fälschlicherweise zu jung einschätzte) ihm weismachen, sie könne ihm helfen. "Hören sie, junge Frau... es geht hier nicht um Fragen oder Antworten. Es geht hier einzig und allein darum, dass ich meine Arbeit wieder brauche. Meinen Job! Ich bin Polizist und habe genug erlebt um auch damit fertig zu werden. Ich habe nichts zu erzählen." Während er das sagte, löste er seine verschränkten Beine und stützte sich mit den Ellbogen auf die Knie, um sich nach vorne zu beugen. Danach lehnte er sich wieder zurück und strich sich mit den Fingern über seinen kratzigen dünnen Bart. Tanja Schneider blieb davon unbeeindruckt, sah zuerst auf die Uhr an der Wand, und dann auf ihre Armbanduhr. "Na schön, wie sie möchten. Aber ich kann sie nicht wieder gesund schreiben, solange sie sich ausschweigen." Dann stand sie auf und hielt Semir die Hand hin. "Unsere nächste Sitzung ist dann übermorgen um 14 Uhr." Mit verstockter Miene sah Semir die Frau an, nickte kurz, stand wortlos auf um das Büro zu verlassen.
    Die Frau sah dem Beamten kurz nach und schüttelte den Kopf. Dann griff sie hinter sich zum Telefon, um den Hausmeisterdienst anzurufen. Sie brauchte endlich neue Batterien, schließlich funktionierte ihre Wanduhr jetzt schon über eine Woche nicht mehr...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 08:45 Uhr



    Schlafen war wie Medizin. Liebe war wie Medizin. Beides zusammen war das, was Kevin Peters jahrelang gefehlt hatte. Jetzt hatte er es und verdammt, er genoß es. Er hielt es mit seinen muskulösen Armen gefangen, als müsse er es mit seinem Leben beschützen. Jennys weicher Körper, ihre samtige Haut schmiegte sich unter der warmen Decke an diesem Januar-Morgen an ihn, sie konnte jeden Millimeter seiner nackten Haut erfühlen und ertasten. Sie hatte es geschafft, sie hatte den wilden unnahbaren Straßenkater gezähmt... domestiziert würde man bei Tieren wohl sagen, was sich bei Menschen eher klinisch anhörte. Es war ein langer steiniger Weg, denn die beiden beschritten hatten, denn Kevin war kein normaler Mann.
    Es war schwer für den Polizisten endgültig und blind zu vertrauen. Dass Jenny in seinen Karton geblickt hatte, einen tiefen Einblick in sein früheres Leben nahm, hatte er ihr übel genommen. Sie hatten sich gestritten deswegen, er war wieder geflohen deswegen. Gerade weil seine Vergangenheit so präsent war im Fall gegen die rechte Sturmfront, das Wiedersehen mit seiner damaligen großen Liebe Annie, und alle Erinnerungen, die damit verbunde waren... es war ein denkbar schlechter Zeitpunkt, deswegen einen Streit zu beginnen.



    Doch als der Fall vorbei war, Kevin mit Annie endgültig abgeschlossen hatte, hatten sie miteinander geredet. Kevin hatte seiner Lebensgefährtin alles gezeigt, was in der Kiste war, alles was Jenny bereits gesehen hatte noch einmal gezeigt, und seine Geschichte erzählt. Der Seelen-Striptease fiel dem jungen Mann schwer, aber er half auch. Es gab nicht mehr viel, was Jenny jetzt nicht von Kevin wusste, und sie bildete sich ein, nun genau zu wissen, wie er tickte, wie er reagierte. Sie wusste nun seine Jugend, seine kriminelle Vergangenheit, über die sie zugegebenermaßen sehr erschrocken war, sein schwieriges Elternhaus und seinen psychischen Absturz nach dem Tod seiner Schwester. Jenny wusste jetzt, warum er zur Polizei ging, wie es ihm in der Ausbildung und bei der Mordkommission erging, und warum es ihm so schwer fiel, Vertrauen zu haben.
    Doch jetzt spürte er Vertrauen... er spürte Vertrautheit, wenn er in Jennys Wohnung kam, er spürte Geborgenheit, wenn sie abends in seinen Armen einschlief, und er spürte eine Gefühl der Heimat, des Ankommens, wenn er im Büro der Autobahnpolizei Jennys Lächeln sah. All das, was er jetzt hatte, hatte er vorher nie in dieser Perfektion... er musste es nur noch zu schätzen wissen. Und Kevin musste seine Angst verlieren... Denn immer wenn ihm etwas Schönes passierte, hatte er sofort Angst, dass es ihm aus den Händen gleitet, dass er es verlieren würde.



    Es wurde nur langsam hell im Zimmer der beiden. Das Fenster war gekippt, die frostige Luft kam durch den kleinen Spalt ins Zimmer. Jenny war als erste wach geworden, ihre Arme waren noch um Kevins nackten Körper geschwungen, und ein wenig fröstelte sie trotz der dicken Decke. Doch nichts und niemand würde die junge Frau jetzt aus diesem Bett bekommen, solange ihr Freund noch neben ihm schlief. Wenn seine Gesichtszüge so entspannt waren und nichts von der Melanchonie zeigten, die Kevin sonst ausstrahlte, nichts von der Trauer und der Wut, die er so lange mit sich herum getragen hatte, und deren Gesichtsausdruck er wohl nie wieder ablegen würde. Wenn er aber schlief, sah er einfach nur glücklich und zufrieden aus.
    Zärtlich strich sie dem Polizisten über die, wie imme abstehenden Haare, ein Bein noch auf seinem Bauch, und einen Arm noch um seine Brust geschlungen. Immer wenn sie ihn betrachtete, fragte sich Jenny, wie der junge Kevin wohl auf sie als junges Mädchen gewirkt hätte, seit sie die Bilder von ihm sah. Mit seinem wilden Auftreten, seiner Unbeherrschtheit, seiner Unbekümmertheit. Hätte er die gleiche Faszination auf sie ausgewirkt, wie er es jetzt als ruhiger, unnahbarer und beinahe schon geheimnisvoller Polizist es getan hatte? Sie fragte sich, wie sein Charakter wohl heute wäre, wenn ihm nicht seine Schwester geraubt worden wäre, und er vielleicht einen völlig normalen Weg gegangen wäre. Wäre er vielleicht ein lustiger, oftmals gut gelaunter Quatschmacher wie Ben? Ein herzlicher, aber wenn es sein musste ernster Typ wie Semir?



    Mit leichten Kontakt ihrer Lippen auf Kevins Stirn, seiner Nase und seinen Lippen schaffte Jenny es, ihn auf die schönste Art zu wecken, wie ein Mann geweckt werden konnte. Leicht blinzelnd gab der Polizist die Sicht frei auf seine hellblauen Augen, die Jenny so gut gefielen und spitzte seine Lippen ebenfalls zum Kuss. Erst dann erhob Kevin seinen rechten Arm um Jenny zu umarmen und an sich zu drücken. "Na, gut geschlafen?", fragte sie grinsend. "Neben dir schlafe ich doch immer gut.", war die wahrheitsgemäße Antwort. Früher schaffte Kevin, wenn überhaupt, 2-3 Stunden Schlaf am Tag. In seiner schlimmsten Zeit brauchte er Drogen um überhaupt einzuschlafen, manchmal blieb er mehrere Tage am Stück wach.
    "Ich mach uns mal Frühstück.", sagte Jenny leise, stieg über Kevin hinweg nackt aus dem Bett und zog sich ihr Nachtshirt, das neben dem Bett lag und ihr fast bis zu den Knie reichte kurzerhand über, während Kevin sie spitzbübisch lächelnd beobachtete. "Und wieso stehst du dann auf. Ich bin zwar für Frühstück, aber auf was ich Lust hab, war gerade noch hier bei mir im Bett.", sagte der Polizist, als Jenny sich schon einige Schritte zur Tür bewegt hatte.
    Die junge Polizistin drehte sich um und stemmte die Hände in die Seiten. "Mein lieber Herr Kommissar, das ist aber gänzlich gegen die Dienstvorschriften.", meinte sie künstlich mit strenger Stimme und ging wieder zurück an die Bettkante. "Frau Dorn, sie wissen doch dass ich mich einen Scheiss um Dienstvorschriften kümmere.", war Kevins Antwort, und mit einem schnellen Griff hatte er die vergnügt quiekende Jenny wieder ins Bett gezogen, und die beiden begannen sich innig zu küssen, bis der Klingelton von Kevins Diensthandy sie unterbrach.



    Die Polizistin hob zuerst den Kopf, wurde aber von Kevin zurückgehalten. "Lass es klingeln, wir haben frei heute.", und wollte den Austausch von Zärtlichkeiten fortsetzen. Als das Telefon aber keinerlei Ruhe gab, sah Jenny erneut auf das Display. "Es ist Ben. Vielleicht ist es wichtig.", meinte sie, obwohl sie ungern jetzt gerade die Spielverderberin sein wollte. Seufzend ließ Kevin den Kopf ins Kissen zurückfallen. "Ja... wahrscheinlich hatte der Bäcker keine Schokocrossaints mehr." Jenny lachte und angelte das Handy vom Nachttisch, weil sie leichter herankam, und gab es Kevin. "Was isn, du Nerv... ich bin am frühstücken.", war seine Begrüßung, als er das Gespräch annahm. "Solltest früher frühstücken, dann wärst du jetzt schon fertig.", war Bens flapsige Antwort, die aus dem Handy schnarrte. Kevin konnte im Hintergrund Fahrgeräusche erkennen. "Was ist los? Ich hab frei heute." "Jetzt nicht mehr. Wir haben nen Leichenfund im Wald neben der Autobahn. Kilometer 55, in einer Viertelstunde." "Wie, in einer Vierstelstunde habt ihr erst den Leichenfund, oder was?", fragte Kevin und streckte Jenny grinsend die Zunge raus, die sich schüttelte vor Lachen. "Nein! In einer Viertelstunde treffen wir uns am Tatort, oder ich lasse Hotte und Bonrath zu dir nach Hause kommen, um dich aus dem Bett zu zerren. Also gib Fersengeld! Ciao." Die beiden beendeten das Gespräch und Kevin sah Jenny etwas mitleidvoll an. "Na komm... daran bist du doch von der Mordkommission gewohnt.", meinte Jenny... natürlich war es nervig, wenn ein freier Tag sich plötzlich in Luft auflöste, aber sie war selbst Polizistin und hatte Verständnis.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Wald - 09:15 Uhr



    Der Wald schien tot... genauso tot wie der Mann, zusammengesunken hinter dem Lenkrad seines VW Passats. Eine gespenstische Stille herrschte, nur unterbrochen von dem grummelnden Straßenlärm der Autobahn, die von dem kleinen Waldstück nur einen Steinwurf entfernt war. Gespenstische Stille, friedliche Stille. Der Nebel hatte sich vom Wald ferngehalten und hielt sich lieber auf den Feldern in der Nähe auf, deren Boden steif gefroren war. Im Wald selbst war es klar, der Boden weiß gezuckert von Frost und Flocken, die immer mal wieder den Weg nach unten fanden. Der angekündigte strenge Winter war pünktlich gekommen, und es war schon einige Tage her, als das Thermometer den Nullpunkt überschritten hatte.
    Plötzlich, wie von Geisterhand, wurde der Wald lebendig. Erst ein Mann mit vollem etwas längerem Haar, in Lederjacke und Motorradstiefel der sich Kondenzrauch in die eiskalten Hände pustete und diese aneinander rieb. Er guckte in das Auto, zog sich Einmalhandschuhe an und öffnete die Fahrertür. Nur wenige Minuten später tauchte ein halbes Dutzend Männer in weißen Ganzkörperanzügen auf und wuselten durch den Wald, angeführt von einem großgewachsenen Mann mit graumelierten Haaren und Wintermantel, der jetzt den Mann in Lederjacke begrüßte.



    "Morgen Ben... na, alles klar?", fragte ein, wie immer lächelnder Roland Meisner, Pathologe und gleichzeitig Chef der Spurensicherung. Ben lächelte ebenso und umklammerte seinen Körper mit den Händen, nachdem sie sich begrüßt hatten. "Wenns wärmer wäre, wäre mir wohler.", sagte er lachend. "Na, was haben wir denn da drin?" Meisner beugte sich durch die geöffnete Fahrertür um seine Arbeit aufzunehmen, während seine Mitarbeiter in einem gewissen Umkreis um das gefundene Auto jeden Stein umdrehten. Der Arzt beäugte die Schussverletzung in der Brust, die Spur des Blutes und kletterte dann auch in den hinteren Teil des Wagens, während Ben sich vor das Auto stellte und die kreisrunde Öffnung in der Scheibe begutachtete, von der Risse in mehrere Richtungen gingen.
    "Glatter Durchschuss...", hörte er die Stimme Meisners aus dem Auto. "Ja, die Scheiben halten sowas nicht aus.", war Bens Antwort, und er erntete einen schnippischen Blick von Roland Meisner, der den Kopf nochmal aus dem Auto streckte. "Ich meinte hier drin. Die Kugel trat zum Rücken wieder aus und durchschlug sogar noch den Sitz." Ebenfalls mit Handschuhen nahm der Profi eine recht große angespitzte und blutverschmierte Kugel, die im Rücksitz steckte, und verstaute sie in einem Plastikbeutel.



    Am Waldweg, wo mittlerweile Bens Dienstwagen, ein Bus der KTU, der Dienstwagen von Meisner und ein Streifenwagen, der als erstes zum Tatort gerufen wurde stand, hielt ein weiterer Wagen. Kevin stieg aus diesem aus, er hatte die Hände in seinen Manteltaschen vergraben und hinterließ, wie alle bei dieser Kälte, Rauchschwaden beim Atmen. Nur war es bei Kevin kein Kondensrauch, sondern Zigarettenrauch. Ben seufzte: "Mensch Kevin... in den Dienstautos ist doch Rauchverbot." "Wo steht das?", war die knappe Antwort als Frage formuliert von dem eigenwilligen Polizisten. "Guten Morgen übrigens.", setzte Ben noch hinzu, als Kevin die erste provisorische Tatortabsperrung durchschritten hatte. "Naja, das Gute am Morgen hast du mir ja schon versaut." Kevins Stimme klang keinesfalls schlecht gelaunt oder missmutig, es war die normale Kabbelei zwischen den beiden. Ben hatte es erfreut, das Kevin in seiner Arbeit immer mehr aufging, immer offener wurde, und ihr Verhältnis immer besser wurde. Es war schon wieder fast so gut, wie vor ihrem Streit im Krankenhaus vor einem halben Jahr.
    "Oh entschuldige bitte. Ich hoffe, ich habe dich nicht bei etwas ... Wichtigem... gestört.", meinte Kevins Partner gekünselt mitleidig, wobei er das "Wichtig" besonders betonte. Er wusste natürlich, dass sowohl Jenny als auch Kevin
    den heutigen Tag Überstunden abfeiern wollten. "Doch... beim Frühstück.", war die grinsende Antwort. "Ich unterbreche die Damen bei ihrer Frühzickerei ja nur ungern...", meldete sich Roland Meisner wieder zu Wort, der sich diesmal auf den Beifahrersitz gesessen hatte... "Aber ich hab hier den Personalausweis des Toten und im Geldbeutel ist auch Geld, EC-Karte und Kreditkarte. Kein Raubmord."



    Die beiden Autobahnpolizisten gingen um den Wagen herum zur Beifahrertür, und nahmen die Plastikbeutel mit dem Personalausweis und dem restlichen Geldbeutel entgegen. "Björn Bachmann, 51 Jahre alt.", las Ben vor. "Soll Andrea gleich mal checken." "Was ist eigentlich mit eurem Kollegen. Ich hab gehört, er sei... auf Urlaub?", fragte Meisner dann interessiert und besorgt, denn auch er kannte Semir schon seit Jahren und hatte nur Gerüchte im Präsidium gehört. "Semir ist momentan krank geschrieben. Mehr gibt es da nichts zu wissen, und das kannst du auch allen sagen, die anderen Unsinn verbreiten.", sagte Ben sofort und unmissverständlich ernst, so dass Meisner sofort entschuldigend die Hände hob.
    "Hey hey, keine Bange. Ich beteilige mich nicht an solchem Geschwätz, ich habe mir Sorgen gemacht." "Ich weiß... so war es auch nicht gemeint. Aber es sind genügend Gerüchte im Umlauf, die nicht wahr sind."
    Ben war zu Ohren gekommen, dass Gerüchte in der Kölner Polizei umhergingen, dass einer der besten Polizisten, Semir Gerkhan, an Depressionen leide, in Behandlung sei und seinen Job an den Nagel hängen wollte. Sein bester Freund hatte sich darüber furchtbar aufgeregt und konnte nur von Kevin und der Chefin zurückgehalten werden, dem Polizisten aufs Dach zu steigen, der diese Gerüchte wider besseren Wissens in Umlauf gebracht hatte. Jedenfalls verteidigte Ben seinen Partner sofort mit Herzblut, wenn ihn jemand darauf ansprach. Er war krankgeschrieben, und fertig. Ganz normal. Dass er allerdings nie den Grund der Krankschreibung nannte, ließ Unwissen aufkommen, und damit befeuerte Ben selbst die Gerüchte von Neuem.



    Kevin stellte sich nun seinerseits vor das Auto, in dem Björn Bachmanns Leiche saß, sah auf die Scheibe, und sah in die entgegen gesetzte Richtung. Das Auto stand paralell zur Autobahn. "Wir müssten Luftlinie mal den Weg abgehen, von wo die Kugel aus gekommen ist." "Das Kaliber ist recht groß. Könnte ein Jagdgewehr oder Präzisionsgewehr sein.", antwortete Ben und zeigte seinem Partner die tödliche Kugel. "Ein Schuss - ein Treffer. Da hat jemand kühl agiert, kein Streit, keine Auseinandersetzung... er ist scheinbar überrascht worden. Aber warum stand er hier?" Kevin blies Kondensrauch aus, als er laut ausatmete und sah sich um, während Ben wieder zum Auto auf die Fahrerseite ging, und den steckenden Zündschlüssel drehte. Die Tankuhr sprang auf "Voll". "Scheint vor kurzem getankt zu haben, der Tank ist scheinbar noch ganz voll. Sollen die Jungs in der KTU mal checken wieviel Sprit wirklich fehlt.", rief er Kevin zu, der die Reifenspuren abging, allerdings auf dem selben Weg endete, von wo aus auch die Beamten kamen.
    "Welchen Grund hat jemand, mit einem ganz normalen Auto so tief in den Wald zu fahren, hier dann zu sitzen und erschossen zu werden?", rätselte Kevin laut, als er wieder zurückkam. "Also ich weiß ja nicht wie du das siehst, aber ob er selbst wirklich nen Grund hatte, um erschossen zu werden?", witzelte Ben und grinste breit, so dass Kevin ihm die Zunge rausstreckte. Der junge Polizist öffnete die Beifahrertür nochmal und steckte den Kopf in den Fußraum. "Na, was haben wir denn da?", sagte er laut und beförderte einen lilanen Schein an die Helligkeit. Ben trat hinter ihm.



    "Geld...", war die eindeutige Antwort auf Kevins Frage, die von Meisner kam, der ebenfalls hinter ihnen stand. "Vielleicht auch Esspapier.", sagte Bens Freund flapsig und hielt den Schein gegen das Licht... er war echt, soviel war klar. "Ist da noch mehr?" "Wieso? Hast du Schulden?" Meisner lachte ob des Wortgeplänkels der beiden Polizisten und Kevin beugte sich nochmal in den Fußraum. Er beförderte noch einen lila und einen gelben Schein an die Oberfläche. "Wer hat denn 1200 Euro im Fußraum rumliegen?", meinte Ben nachdenklich. "Ja, normal ist das sicher nicht. Wird Zeit, dass wir mal erfahren, wer dieser Typ da wirklich ist."
    Ben steckte den Personalausweis in seine Jackentasche, und die beiden Polizisten machten sich auf den Weg zurück zu ihren Dienstautos. Sie verabschiedeten sich vorher bei Meisner. "Ich schick euch die Ergebnisse, wahrscheinlich bis heute abend." Als die beiden Männer den Weg zurück über den gefrorenen Boden gingen, beugte sich Kevin herüber zu Ben: "Was ist denn mit Semir? Weißt du etwas?" Ben seufzte... seine Fröhlichkeit und die Arbeit mit Kevin war die beste Verdrängung der Sorgen, die er sich um seinen besten Freund machte. Aber wenn ihn jemand darauf ansprach, konnte er sie nicht verbergen. "Andrea hat gesagt, er redet nicht in der Therapie. Solange er nicht redet, kann ihn niemand gesund schreiben. Mir sagt er nichts, und Andrea will mir auch nichts erzählen, solange Semir es nicht selbst tut." Der junge Mann zuckte mit den Schultern, als sie an den Wagen angekommen waren. "Es scheint, als wäre er in seiner eigenen Sturheit gefangen..." Kevin nickte und meinte: "Ja... oder er will einfach keine Schwäche zeigen."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Innenstadt - 10:00 Uhr



    Was für eine Benzinverschwendung, würde die Chefin jetzt wüten, wüsste sie dass die beiden Hauptkommissare nun die Ermittlungen mit zwei Dienstwagen begannen. Aber Ben und Kevin fuhren nicht nochmal zur Dienststelle zurück um einen der beiden Wagen dort abzustellen, sondern suchten sich auf den Anwohnerplätzen nun eben zwei, statt nur einen Parkplatz an der Adresse des Mordopfers. Die Straßen waren weiß vom Frost und vom Streusalz, die Bäume absolut kahl. Die Adresse des Toten war in einem Viertel der Stadt, in dem die gute Mittelschicht wohnte, Zwei bis Dreifamilienhäuser aus den 70er standen hier unweit vom Trubel der City. Ben drückte auf die Klingel, an der sie den Namen "Bachmann" gelesen hatten. Einen Seelsorger hatten sie auf Abruf bestellt, falls sie bei der Überbringung der Todesnachricht Hilfe brauchen würden.
    Andrea hatte sich über Funk gemeldet, bevor sie die Adresse erreicht hatten. Semirs Ehefrau hatte, mit etwas müder Stimme, die Information weitergegeben, dass Björn Bachmann mit seiner jüngeren Halbschwester und der gemeinsamen Mutter in dem Haus wohnen würde. Mit einem leisen Summen wurde den Polizisten signalisiert, dass sie eintreten könnten. Im Treppenhaus war es angenehm warm, und man konnte sofort erkennen, dass die Bachmanns das Haus scheinbar für ihre Bedürfnisse entsprechend umgebaut hatten. Es wirkte wie ein großes Einfamilienhaus, jedoch gab es drei eigene Wohnungen. Da bei Carina Bachmann, der Schwester, niemand öffnete, klopften die beiden Männer bei Hermine Bachmann, die im Erdgeschoss die erste Wohnung hatte.



    Es dauerte einen Moment, bis eine ältere Frau mit gräulichen Haaren, die sie zu einem strengen Zopf nach hinten gebunden hatte, die Tür öffnete. Ben schätzte sie auf ungefähr Mitte 70, was vom Alter des Mannes ja durchaus hinkommen könnte. "Guten Tag. Sind sie Hermine Bachmann?", fragte Ben höflich, bevor die beiden Polizisten sich auswiesen. Die Frau sah ein wenig unsicher von Kevin zu Ben. "Wieso?", fragte sie. "Wir würden uns gerne kurz mit ihnen unterhalten. Können wir vielleicht kurz reinkommen?" Frau Bachmann legte die Unsicherheit nicht ab, nickte jedoch und ging in kleinen Schritten ein wenig nach hinten um den beiden Männern den Weg frei zu machen. Ben und Kevin traten ein, und hatten sofort einen penetranten Geruch in der Nase, den sie nicht zuordnen konnten.
    Ihnen fiel sofort auf, dass ein Bett mit Gitter im Wohnzimmer stand... jedohc ein großes Bett, kein Gitterbett für kleine Kinder. Dazu ein altmodisches Sofa, Tisch und Fernseher, in dem eine Vormittagssendung lief. In der Küche stand ungewaschenes Geschirr in der Spüle, und Hermine Bachmann ging in kleinen und schnellen, aber unsicheren Schritten in Richtung der Couch, wo sie sich, festgehalten am Tisch, in Zeitlupe niederließ. Kevin erkannte sofort, dass die Frau Probleme mit der Fortbewegung hatte, und wohl mit einem Rollator besser bedient wäre. Er setzte sich selbst erstmal nicht, genauso wie Ben, der die Frau ansah. "Frau Bachmann... wir müssen ihnen leider eine traurige Nachricht überbringen..." Ben hatte diesen Satz schon so oft gesagt... nach Mord, nach tödlichen Autounfällen. Er hatte die Erfahrung gemacht, dass Menschen dabei ganz unterschiedlich reagierten, und er deswegen den Notfallseelsorger immer erst in der Hinterhand behielt, und nicht mit ihm in die Wohnung einfiel.



    Die Reaktion einer Mutter war oft ähnlich. Fassungslosigkeit, sofortiges Weinen und auch eine Schwächeanfall oder ungläubiges Lachen waren keine Seltenheit. Doch die Reaktion von Frau Bachmann hatten sowohl Ben als auch Kevin vorher noch nie erlebt. "Wir müssen ihnen leider mitteilen, dass wir heute morgen ihren Sohn tot aufgefunden haben." Frau Bachmann sah Ben aus grünen Augen an und schien nachzudenken. "Mein Sohn... hmm...", sagte sie, wobei sie nicht etwa den Blick von Ben ablenkte, sondern ihn starr ansah. "Mein Mann ist schon... schon lange nicht mehr da. Der ist schon tot.", setzte sie dann hinzu, und Kevin sah seinen Partner ein wenig verwirrt an. "Ähm, Frau Bachmann. Ihr Sohn heißt doch Björn Bachmann, oder?" Diesmal nickte die Frau etwas schneller. "Björn ist oben. Er arbeitet immer soviel, wissen sie?".
    Die Verwirrtheit im Blick der beiden Polizisten wich nicht. Das war ja eine ganz neue Information. Sollte da jemand einfach Bachmanns Pass dabei gehabt haben? Dann musste der Tote dem Passbesitzer verdammt ähnlich sehen. Oder aber, Frau Bachmann irrte sich. Aber das ließe sich ja leicht überprüfen. "Frau Bachmann, wir gehen kurz nach oben und klopfen mal bei ihrem Sohn.", sagte Kevin und deutete mit einem kurzen Blick in Richtung Ben an, dass sie doch mal oben klopfen sollten. "Machen sie das. Ich mache inzwischen einen Kaffee für sie.", meinte die alte Frau, bewegte sich von ihrem Sofa aber keinen Millimeter weg.



    Zwei Stockwerke nach oben mussten die Autobahnpolizisten, bis sie vor der Tür von Björn Bachmann standen. Sie klopften einmal, sie klopften zweimal. Sie drückten den Klingelknopf der Wohnungsklingel... nichts rührte sich. "Sollen wir mal reingehen?", meinte Kevin, der schräg hinter Ben an der Tür stand. "Nein... wenn du nicht irgendwo gegen die Vorschriften verstoßen kannst, dann fühlst du dich nicht gut, oder?", meinte er schnippisch und drückte ein drittes Mal auf den Knopf. "Ich glaube eher, die alte Frau hat nicht mitbekommen, dass ihr Sohn das Haus verlassen hat. Los, wir gehen wieder runter.", bestimmte er und stiegen die Holztreppen wieder hinab ins Erdgeschoss. Bevor sie die, nur angelehnte Tür der Wohnung wieder öffneten, die konnten die beiden die Stimme von Frau Bachmann hören.
    "Bernard!! Bernard!! Herrgott, jetzt komm doch mal raus, wir haben Gäste!", rief sie, und schien mit kleinen Schritten durch die Wohnung zu laufen. "Frau Bachmann? Ihr Sohn ist nicht oben.", sagte Ben, als sie die Wohnung wieder betraten. Sie mussten kurz durch die kleine Wohnung schauen, wo Hermine hingelaufen war, doch sie stand im Flur vor einer Tür, gegen die sie rief. "Frau Bachmann?" "Ja?" "Ihr Sohn ist nicht oben.", sagte der Polizist geduldig und erntete ein Lächeln von Frau Bachmann. "Mein Sohn arbeitet."



    "Nach wem haben sie da gerade gerufen?", fragte Kevin nun, denn in beiden Köpfen der Polizisten reifte so langsam ein Verdacht. "Na, nach meinem Mann. Der sitzt schon wieder auf der Toilette, nachher muss ich alles lüften. Das ist doch unhöflich, wenn Gäste im Haus sind." Dann klopfte sie wieder. "Darf ich mal?", sagte Kevin höflich und ging zur Tür, wo er eine Hand auf die Klinke legte. "Das mag Bernard gar nicht, wenn man ihn während seiner Sitzung stört.", lachte die Frau und gluckste. Kevin reichte es, die Tür nur einen Spalt zu öffnen, um dann den Kopf in Richtung Ben zu schütteln. In diesem Bad war niemand, weder in der Dusche, noch in der Badewanne, noch auf der Toilette. Die alte Frau schien verwirrt, und so schlurfte sie wieder langsam zu ihrem Sofa zurück...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Semir's Haus - gleiche Zeit



    Einen festen Tagesplan solle er sich zulegen. Nicht einfach in den Tag hereinleben und nichts tun... das wäre das Schlimmste, was er machen könnte. Das waren noch die letzten Worte der Psychologin, bevor Semir deren Büro beinahe fluchtartig verlassen hatte. Fester Tagesplan... wenn er endlich wieder arbeiten könnte, dann würde er seinen festen Plan haben. Mehr brauchte er nicht. Aber welchen Plan sollte er sich jetzt machen? Zuhause die Hecken schneiden? Das Haus frisch anstreichen? Der erfahrene Polizist wusste gar nicht genau, weshalb er sich aufregte, als er zurück in sein Haus fuhr. Er war einfach schlecht gelaunt, die Therapiesitzung überforderte ihn, denn er war der festen Überzeugung, sie nicht zu brauchen. Und dann auch noch dieses Ticken...
    Unterwegs hielt er in einer Bäckerei, kaufte sich zwei Brötchen und ein Glas Marmelade. Als er endlich zu Hause angekommen war, machte er sich Frühstück mit besonders starkem Kaffee und setzte sich mit Tasse und Teller auf die Wohnzimmercouch. Das Fernsehprogramm um diese Uhrzeit war eine reine Qual, er zappte mit der Fernbedienung durch die Sender, während er auf seinem Brötchen rumkaute, und er weder ein Hunger- noch ein Sättigungsgefühl verspürte. Es schien, als wäre es ein einfacher automatischer Reflex des Körpers, dass er das Brötchen kaute, und unterschluckte... so wie atmen. Er zappte von einer Verkaufssendung in eine Gerichtssendung zu einer Dokumentation über Neo-Nazis, als er den Kasten abschaltete, und die Fernbedienung hinter den Schrank warf.



    Schon wieder das Ticken... schon wieder dieses Zischen. Es setzte sich in seinem Kopf fest wie ein Geschwür, wie ein stechender Schmerz der gegen seine Schädeldecke schlug, wie ein Piepen als hätte er einen Tinitus. Semir saß stocksteif auf der Couch und sah sich um. Die Wanduhr! Er sprang auf, nahm die Uhr von der Wand und nahm die Batterien heraus. Auch der kleine Küchenwecker, der ausser einem Signalton, wenn man ihn auf eine bestimmte Uhrzeit einstellte, nichts von sich gab, musste dran glauben. Aber das Ticken hörte nicht auf. Semir riss eine Schublade auf und wühlte zwischen Krimskrams, Klebestiften, Pflaster und Gummiringen herum, bis er eine alte Armbanduhr fand, die er seit Jahren nicht mehr in der Hand hielt. Mit einem Schraubenzieher entfernte er die flache Batterie, damit dieses unsägliche Ticken endlich aufhörte...
    Und auch dieses Zischen war ein konstanter unbändiger Ton in Semirs Ohren, der einfach nicht weggehen wollte. Er drehte die Heizung im Wohnzimmer herunter, so dass das Zimmer nach nur wenigen Minuten auskühlte. Doch das Zischen war immer noch da. Auch an der Heizung in der Küche drehte er, er untersuchte jedes Fenster, dass vielleicht eines offen stehen könnte. Zu guter Letzt ging er herunter in den Keller, und drückte dort den Not-Aus-Schalter für die komplette Zentralheizung des Einfamilienhauses. Der Heizkessel gab einige Geräusche von sich, blieb dann aber still. Der Polizist atmete durch und fühlte sich gleich erleichtert, doch kaum war er wieder im Wohnzimmer, hörte er das Zischen erneut. Er ließ sich auf die Sofalehne fallen, stemmte die Ellbogen auf die Oberschenkel und hielt sich beide Ohren mit seinen Handflächen zu. Dabei wippte er ungeduldig nach vorne und hinten. "Seid still! Seid alle still!!", rief er laut, doch es war niemand da, der ihm Antwort geben konnte. Er musste hier raus...




    Dienststelle - 10:20 Uhr



    "Mensch Hotte, das gibts doch nicht. Du läufst ja immer noch in der grünen Uniform herum.", maulte Dieter Bonrath, baumlanger Polizeimeister und Streifenpolizist der Autobahnpolizei. Dabei hob er vorwurfsvoll die Hände, als er seinen dicken Partner Horst "Hotte" Herzberger am Schreibtisch sitzen sah. "Ja und?", meinte der unschuldig und verdrückte gerade eine Wurstsemmel. "Was, ja und? Wir hatten doch Anfang des Jahres die Mail bekommen, dass wir jetzt endgültig in den neuen blauen Uniformen auf Streife gehen sollen." Hotte winkte nur ab und meinte trotzig: "Die neue Uniform gibts nicht in meiner Größe. Die stellen doch nur noch halbe Portionen ein." Bonrath seufzte und verdrehte die Augen. Es bedurfte Engelszungen, um seinen Partner davon überzeugen, dass er jetzt nach 45 Jahren Dienst jetzt eine neue Uniformfarbe tragen müsse. Und jetzt weigerte er sich standhaft.
    "Hotte, willst du mich veräppeln? Deine neue Uniform, Größe XXXL, hängt schon seit Wochen in deinem Spind." Mit einer Schmollschnute begegnete der seinem besten Freund: "Bonrath, mit diesem Blau sehe ich aus wie von der Wasserschutzpolizei. Das ist doch völlig albern." "Es ist noch alberner, wenn wir einen Raser stoppen, und wir haben zwei verschiedene Uniformen am Leib. Ausserdem guckt die Chefin die ganze Zeit schon so grimmig. Jetzt geh dich doch bitte umziehen." "Grmpft... na schön", brummelte Herzberger und erhob sich gerade von seinem Tisch, als der kleine Kommissar mit türkischen Wurzeln in die Dienststelle kam.



    "Semir... was machst du denn hier?", fragte Hotte sofort und reichte dem erfahrenen Polizisten die Hand. "Ach... ähm... ich war zufällig in der Gegend, und dachte, ich schau mal vorbei." Er lächelte dabei, als würde es ihm tatsächlich gut gehen. "Wie gehts dir so?", fragte nun auch Bonrath, der dazu kam und ihm kurz die Hand auf die Schulter legte. Es sah immer lustig aus, denn Bonrath war mindestens zwei Köpfe größer als der kleine Kommissar. "Ja ja, alles gut. Ich komm bald wieder.", sagte er zuversichtlich und sah sich um. Seine Frau Andrea war zum Glück einen Moment nicht zu sehen, sie hätte ihren Mann wahrscheinlich postwendend und mit Pauken und Trompeten wieder nach Hause geschickt.
    "Wo sind die anderen?" "Andrea ist gerade in der Kaffeeküche, Jenny hat heute Urlaub und Ben und Kevin sind im Einsatz. Da gab es einen Leichenfund im Wald.", erklärte Hotte ohne Hintergedanke. "Leichenfund? Da brauchen die beiden doch sicherlich Hilfe, oder?", sagte er sofort eifrig. Er musste etwas tun, zu Hause würde er wahnsinnig werden. Auch wenn sein kritischer Blick sofort auf die Wanduhr im Großraumbüro fiel, die so laut tickte. "Naja, aber du hast doch noch Krankenschein, dachten wir ...", sagte Bonrath unsicher und sah seinen nickenden Kollegen an, doch Semir winkte ab: "Ach Papperlapapp. Ich bin fit und mir gehts gut, alles klar? Wo wurde die Leiche denn gefunden?" Die beiden ungleichen (nicht nur von ihrer momentanen Uniform-Farbe her) Polizisten sahen sich unsicher an und meinten: "Naja... also... ich weiß nicht...". Sie wollten Semir nicht einfach den Tatort verraten, weil sie wussten, dass er sich eigentlich noch ein paar Wochen schonen sollte.



    "Herr Gerkhan... was machen sie denn hier?", ließ Semir dann den Blick zum Büro der Chefin bewegen, die dort im Türrahmen stand. Hinter ihr auf dem Schreibtisch dampfte eine Zigarette. "Ach, Chefin... ich wollte mal fragen, ob ich hier vielleicht etwas helfen kann.", meinte er lächelnd. "Gehts ihnen denn schon wieder besser?" "Ja, natürlich. Bei mir ist alles okay, wirklich." Die unsicheren Gesichter und eine kopfschüttelnde Geste von Herzberger im Rücken Semirs zur Chefin gerichtet, ließ diese Worte doch etwas krotesk erscheinen. Mit einer kurzen Handbewegung bat Anna Engelhardt ihren wichtigsten Mitarbeiter ins Büro.
    "Semir... wieso sagen sie, dass es ihnen besser geht, wenn sie das Therapieangebot in keinster Weise nutzen?", fragte sie, nachdem beide Platz genommen hatten. "Wieso...", begann der Polizist vorsichtig, doch er wurde von seiner Chefin unterbrochen. "Frau Schneider hatte mich gerade eben angerufen und mir ihren Fortschritt mitgeteilt, wobei das Wort "Fortschritt" wohl eher fehl am Platz ist." Mit leicht schief angelegtem Kopf und tadelndem Blick sah Anna Engelhardt Semir an, dem das Lächeln langsam gefror. "Chefin, diese Therapie ist nichts für mich. Was ich brauche, ist meine Arbeit." "Semir, ich habe sie die letzten Wochen beobachtet. Sie sind in ihrem jetzigen Zustand keine Hilfe, eher eine Belastung, so leid es mir tut. Dass ich sie zur Therapie bitte, ist, wie ich schon sagte, eine Bitte. Wenn der Polizeipräsident von ihrem Zustand Wind bekommt, ist es keine Bitte mehr, sondern eine Anweisung. Und zwar eine Anweisung, bei der ihre Marke auf dem Spiel steht, auf die ich dann keinen Einfluss mehr habe." Semir verstand die Worte, doch der Wunsch, endlich zu Hause der Langeweile und der Erinnerungen entfliehen zu können, war größer als die Vernunft: "Aber Chefin... ich..." "Keine Widerworte, Semir. Bitte, gehen sie zur Therapiestunde, und erzählen sie dort alles, was sie Ben, Kevin und mir nicht erzählt haben. Erst dann kann ich sie wieder guten Gewissens in den Dienst lassen. Aber vorher auf keinen Fall, und das ist mein letztes Wort! Keiner draussen wird ihnen sagen, wo Ben und Kevin momentan ermitteln.



    Mit leicht gebückter Haltung und den Händen in den Taschen verließ Semir das Büro wieder. Andrea kam gerade aus der Kaffeeküche, als Semir die Dienststelle verlassen hatte, und sich in seinen BMW gleiten ließ. Da tickte doch schon wieder etwas, dachte er entsetzt, und sah sich im Auto um, als würde irgendwo an einer Scheibe, eine Wanduhr hängen. Doch den nächsten Gedanke, den er hatte, sagte er laut: "Du tickst nicht mehr ganz richtig, Semir. Du bist der Einzige, der hier nicht mehr ganz sauber tickt..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Innenstadt - 10:30 Uhr



    Mitten in das Gemurmel des Fernsehers hörten Kevin und Ben plötzlich das Geräusch eines, sich im Türschloß drehenden Schlüssel, und wie die Wohnungstür aufschwang, nachdem die alte Frau langsam wieder zu ihrem Sofa geschlurft ist. Eine junge Frau in Kevins Alter, mit schlanker Figur und blonden, zu einem Zopf zusammengebundenen Haaren kam hinein, stieß die Tür mit dem Knie auf, weil sie einen Einkaufskorb mit beiden Händen trug. Als sie aufblickte und die beiden fremden Männer im Flur bemerkte, erstarrte sie zur Salzsäule. "Wer... wer sind sie?", fragte sie sofort um direkt mit weit aufgerissenen Augen nach ihrer Mutter zu rufen. "Mama? Bist du da??" "Natürlich, mein Kind. Wo soll ich denn sonst sein?", kam sofort die Antwort aus dem Wohnzimmer.
    "Erschrecken sie nicht. Wir sind von der Polizei.", sagte Kevin sofort und beide zogen ihre Dienstausweise. Den ersten Schrecken schien die junge Frau jedoch nicht so schnell aus den Gliedern zu bekommen, und so betrat sie die langsam vorsichtig mit einem wachsamen Blick auf die beiden Polizeibeamten. Mit schlurfenden, langsamen Schritten kam auch Hermine Bachmann wieder aus dem Wohnzimmer in den Flur, und schien ob der Szene überrascht. "Wer sind sie denn, meine Herren?", fragte sie und blickte Kevin und Ben abwechselnd an. "Sind sie etwa hier eingedrungen? Carina, ruf die Polizei!" "Entschuldigen sie, wir sind die Polizei. Wir haben doch gerade mit ihnen gesprochen.", sagte Ben verständnislos und sah die ältere Frau an.



    Carina Bachmann dagegen sah klar und stellte den vollbepackten Einkaufskorb auf den Boden. "Mama, ist schon in Ordnung. Das sind Polizisten, es ist alles okay." Sie umarmte ihre Mutter liebevoll, nahm sie bei der Hand und führte sie mit langsamen Schritten wieder zurück zum Sofa, wo sich Hermine Bachmann wieder dem Fernsehen widmete. Die beiden Polizisten beobachteten diese Szene mit einem mulmigen Gefühl, und fühlten sich sehr unwohl ob der Tatsache, dass sie in diese schwierige Situation auch noch mit einer bedrückenden Nachricht herkamen. "Ich bin in der Küche, ja?", sagte Carina zu ihrer Mutter und kam zurück in den Flur. "Entschuldigen sie... aber meine Mutter leidet an Demenz. Ich nehme an, sie hat ihnen geöffnet?" Beide Männer bestätigten mit einem Nicken. "Komisch... mein Bruder sollte doch eigentlich auf sie aufpassen.", sagte die junge Frau nachdenklich und legte ihre Jacke ab, wobei ihr schlanker, beinahe zierlicher Körper zum Vorschein kam. Kurz kreuzten sich ihre tiefgrünen Augen mit denen von Ben.
    "Ähm... heißt ihr Bruder vielleicht Björn?", fragte Kevin vorsichtig mit ernster Miene, und Carina Bachmann nickte. "Ja... woher... woher wissen sie das? Sie sagten, sie sind von der Polizei. Ist was passiert?" Kevin leckte sich kurz verlegen über die Lippen, die Ben seinerseits zusammenpresste. "Nun reden sie schon." "Frau Bachmann, können wir uns kurz in die Küche setzen?"



    Den Seelsorger brauchten sie nicht, und doch war Carina Bachmanns Reaktion auf den Tod ihres älteren Bruders soviel "natürlicher", als die der kranken Mutter, die diese Botschaft vorhin wohl überhaupt nicht mitbekommen hatte. Fassungslosigkeit, ein kurzer Weinkrampf. Carina saß am Küchentisch, ein Arm auf dem Tisch aufgestützt mit der Hand vor den Augen, die andere Hand umklammerte ein Taschentuch und Ben erwischte sich bei dem Gedanken, diese Hand zu nehmen, zu drücken und Trost zu spenden. Er wusste nicht warum, aber diesen Gedanken hatte er bisher noch nie, wenn sie einem Menschen den Tod eines ihrer Liebsten überbringen mussten. Aber er saß mit am Tisch in der Nähe des Papiertuchspenders, um für Nachschub zu sorgen, während Kevin etwas abseits angelehnt an der Küchenarbeitsplatte stand.
    "Was... wie konnte das nur passieren?", fragte die junge Frau schniefend, nachdem Ben ihr möglichst schonend die Umstände des Todes ihres Bruders beigebracht hatte. "Bisher wissen wir leider selbst nicht viel. Sie sagten eben, dass er eigentlich hier sein sollte?", fragte Ben mit ruhiger und einfühlsamer Stimme. "Ja... wir können unsere Mutter nicht mehr alleine lassen. Deswegen wechseln wir uns größtenteils ab, ich gehe auch nicht mehr arbeiten deswegen." Sie schniefte und ließ sich von Ben noch ein Taschentuch reichen.



    "Sie wohnen hier alleine mit ihrem Bruder und ihrer Mutter?", fragte Ben. Wieder ein Nicken, ein Nasenschneuzen, bevor Carina sprach: "Wir sind beide nicht verheiratet. Das Haus hier hat unseren Eltern gehört, mein Vater ist vor 4 Jahren gestorben. Dann wurde es immer schlimmer mit meiner Mutter, weswegen wir beschlossen haben, beide hier zu bleiben, um uns um sie zu kümmern." Die junge Frau seufzte: "Wer hat das nur getan... und warum? Björn war der liebste Mensch, den man sich vorstellen kann. Nach Papas Tod hat er sich um alles gekümmert, auch als es mir sehr schlecht ging. Ich kann mir nicht vorstellen, warum ihn jemand hätte töten wollen..." Wieder wurde sie kurz von einem Weinkrampf erfasst und schlug die Hände vors Gesicht.
    Kevin wartete einige Minuten, bevor er die nächste Frage stellte: "Darf ich fragen, womit ihr Bruder sein Geld verdient hat?" "Mein Bruder war in leitender Position eines Versicherungsunternehmen. Er hat genug verdient, damit ich es mir leisten konnte, mit Unterstützung von Mamas Pflegeversicherung, meinen Job aufzugeben. Aber... warum fragen sie?" "Wir haben 1200 Euro in drei Scheinen in seinem Wagen gefunden. Hat er in seinem Beruf öfters soviel Bargeld bei sich mitgeführt?" Die Reaktion von Carina Bachmann war nun gut zu erkennen, und beide Polizisten waren sich einig, dass man eine solche Überraschung nicht schauspielern konnte. Nur zaghaft schüttelte sie den Kopf.



    "Wissen sie vielleicht, warum er soviel Geld brauchte, und mit sich führte? Hatte er etwas zu bezahlen, oder wollte er heute vielleicht noch etwas erledigen, was er vorziehen musste?", fragte Ben, und er hatte den Eindruck, dass seine Fragen wärmer und mitfühlender herüberkamen, als die kalte Stimmfarbe seines Partners. "Nein, er hatte heute frei. Deswegen konnte ich heute morgen endlich mal wieder in Ruhe einkaufen gehen. Wissen sie, wenn man den ganzen Tag hier ist, und sich um eine demenzkranke Frau kümmern muss, dann ist man für jeden Moment des Alleinseins, oder unter normalen Menschen zu sein, dankbar." Kevin und Ben konnten dazu nichts sagen, denn beide waren sie noch nie in der Situation, sich um eine kranke Person zu kümmern.
    Ben warf einen Blick auf Kevin, und machte eine eindeutige Handbewegung: Abbruch. Hier würden sie nicht mehr rausbekommen, und der Polizist hatte den Eindruck, die junge Frau mehr zu quälen, als dass es was bringen sollte. "Danke erstmal. Wir melden uns, wenn wir etwas Neues haben." Dann zog er eine Karte mit seiner Handynummer aus der Jacke und legte sie Carina Bachmann auf den Tisch. "Brauchen sie vielleicht professionelle Hilfe? Vielleicht, wenn sie die Sache ihrer Mutter sagen? Wir haben zwar eben, aber mir scheint, dass sie es nicht so recht verstanden hat." Carina Bachmann schüttelte nur den Kopf, wenn auch mit einem gequälten Lächeln. Kevin verabschiedete sich und ging schon aus der Küche, als Ben noch einmal bei Carina Bachmann stehenblieb. "Wenn sie mal Hilfe brauchen, jemanden zum Reden oder so... dann rufen sie mich an.", sagte er leise, und tat es nun doch. Für einen Sekundenbruchteil ergriff er die eiskalt wirkende Hand der jungen Frau, die sich leise bedankte.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Semir's Haus - 14:30 Uhr



    Beschäftigung... das tat ihm gut. Er musste etwas tun, rumsitzen würde ihn wahnsinnig machen, da hörte er Geräusche, da sah er Schatten an der Wand, wo keine waren. Um 12 ging er Lilly aus dem Kindergarten abholen, eine halbe Stunde später stand er vor der Schule seiner älteren Tochter Ayda, die nach ihrem Koma seit einigen Wochen wieder normal zur Schule ging. Die beiden Mädchen plapperten, Semir gab Antwort und niemandem würde es auffallen, was gerade in seinen Gedanken, in seinem Kopf los war. Er brachte seine Töchter nach Hause, sie setzten sich zu ihm an den Küchentisch, während er begann, Essen zu kochen. Ayda begann mit ihren Hausaufgaben und erzählte von der Schule, während Lilly ihrem Hobby, dem Malen nachging. Sie sagte oft, dass sie später Malerin werden wollte.
    Danach aß Semir mit seinen Töchtern zusammen zu Mittag... etwas, was er sehr vermisste wenn er keinen Urlaub hatte, weil er über Mittag dann immer im Einsatz war. Dreimal in der Woche arbeitete Andrea nur halbtags, zweimal in der Woche gingen die Mädchen in eine Nachmittagsbetreuung der Schule. Heute gab es Spaghetti mit Tomatensoße, ein Leibgericht der beiden Mädchen und für Semir verhältnismäßig unkompliziert zu kochen. Er lächelte vor sich hin und schien für einige Zeit alles zu vergessen.



    Doch dann war es wieder da. Lilly war bei einer Freundin, Ayda in die Ballettstunde, und Semir allein zu Hause. Er saß wie angestrengt einen Film guckend auf dem Sofa, als würde er mit seiner Mannschaft am Fernseher mitfiebern, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien und die Hände zusammengefaltet. Doch der Fernseher war aus, Semir wippte unruhig hin und her, und obwohl es im Haus ganz still war und man nur hin und wieder ein Auto vor der Tür vorbeifahren hörte, schien es als würde im Kopf des Polizisten allerlei Geräusche zu herrschen. Ein Zischen, ein Ticken, Schweiß stand ihm auf der Stirn und sein Atem beschleunigte sich. Es schien, als würde sich der Raum verengen, es schien, als würde ihm jemand den Hals zu drücken und Gewichte auf die Brust legen.
    Er erschrak selbst darüber, dass sein Atem immer schneller ging, dass er hechelte, als wäre er gerade einen Marathon gelaufen. Panisch stand er auf und öffnete die Terassentür, um an die eiskalte Luft zu treten, die draussen herrschte. Doch die Luft war nur unangenehm, nicht erfrischend, der Druck von seiner Brust, die ihn wie eine Zange umhielt, nahm nicht ab. "Fuck... Fuck...", murmelte er und drehte sich in seinem eigenen Garten um, als wäre ständig jemand hinter ihm.



    Er musste hier weg, schoß ihm plötzlich durch den Kopf. Semir war nicht klar in seinen Gedanken, als er durch das Gartentor hinaus auf die Straße lief, seinen Autoschlüssel zückte, in seinen BMW einstieg und mit quietschenden Reifen aus der Hauseinfahrt fuhr. Der Motor des PS-starken Dienstwagen röhrte auf, als er das Gaspedal drückte und die verkehrsberuhigte Straße herunter fuhr. Semir schaute gehetzt nach links und rechts, er übersah Vorfahrtsschilder und andere Verkehrsteilnehmer. Als eine junge Frau mit einem Kinderwagen gerade über die Straße wollte, konnte Semir nicht rechtzeitig ausweichen, die Frau nicht rechtzeitig stehen bleiben. Mit der linken Fahrzeugfront streifte er den Kinderwagen, der herumwirbelte und umkippte, während die Frau schrie und der Polizist nur kurz die Augen schloß. Nicht anhalten... nicht anhalten.
    Autos hinter ihm blinkten auf und hupten, überall witterte Semir eine Gefahr. Es hatte zur Folge, dass sein BMW immer schneller wurde und der Zeiger des Geschwindigkeitsmesser die 160 überschritt, als er von der Landstraße auf die Autobahn wechselte, wo er rechts an einem dunkelgrauen Mercedes vorbeizog. "Sag mal, spinn ich?", fragte der verdutzte Fahrer des Mercedes und strich sich eine dunkelbraune Strähne aus dem Gesicht, während sein Nebenmann mit den abstehenden Haaren ebenfalls überrascht aufblickte. "Das war Semir... was ist denn bei dem los?", fragte Kevin und schaltete sofort das Blaulicht an, während Ben ganz nach links auf die Überholspur wechselte und ebenfalls den Dienstwagen beschleunigte.



    Eine Funkmeldung über die Verfolgungsjagd unterließ der Polizist aus gutem Grund. Stattdessen wählte er die Nummer von Semirs Handy, während sein Partner nun direkt hinter seinem Freund fuhr und hupte, Semir damit aber noch mehr anspornte. Der erfahrene Beamte war in einem Tunnelblick gefangen und nahm gar nicht wahr, dass es seine Freunde waren, die hinter ihm fuhren und ihn zum Anhalten bewegen wollten. Stattdessen wich er gekonnt im letzten Moment einem LKW vor sich aus und fuhr links vorbei, während Ben eine Vollbremsung machen musste, so dass Kevin dass Handy aus der Hand fiel. "Mannomann!!", war dessen genervter Kommentar aus dem Fußraum, als er sich nach vorne bückte, um sein Mobilgerät wieder aufzuklauben.
    "Was macht der denn da?", fragte Ben gehetzt, denn Semir machte durch mehrere Haken wirklich den Anschein, flüchten zu wollen. "An sein Handy geht er nicht.", stellte Kevin fest, und drückte das Gerät wieder ab. "Was sollen wir tun? Ihn stoppen?" Ben schüttelte auf die Frage den Kopf, doch die Ausweichmanöver seines Freundes wurden immer waghalsiger und gefährlicher. Im stockte dann aber der Atem, als sein Partner einen Kleinwagen rammte, der die Kontrolle verlor und in die Leitplanke krachte. Auch Kevin zuckte zusammen und sah entsetzt aus dem Seitenfenster... Semir hatte gerade einen schweren Unfall verursacht... Als ein Stück Autobahn vor ihm frei war, gab Semir Gas und beschleunigte so sehr, dass der Zeiger über die 200 schritt. Kevin hielt sich an dem Griff über der Tür fest, als Ben mit der Geschwindigkeit mitzog.



    Semir überholte links einen Sattelschlepper um dann knapp vor diesem in eine Ausfahrt einzuscheren, um seine Verfolger, die er als gefährlich einstufte in seinem Panikanfall, abzuhängen. Doch zu spät sah er das Pannen-Fahrzeug, dass dort in der Ausfahrt mit geplatztem Reifen stand, und der Fahrer sich ob des heranrasenden BMWs gerade noch mit einem Sprung über die Leitplanke retten konnte. Ben trat wieder aufs Bremspedal, scherte hinter dem LKW ein auf die Ausfahrtsspur und sah gerade noch, mit erschrocken weit geöffneten Augen, wie Semir dem Pannenfahrzeug auswich und auf die ansteigende Leitplanke geriet, die die Abfahrt von der Autobahn trennte. "Das geht schief!", rief Kevin noch, und schon hob der BMW mit einem schleifenden Geräusch des Unterbodens über die Leitplanke ab.
    Es schien wie ein Zeitlupe zu laufen für Semir, der die Augen krampfhaft schloß und das Lenkrad fest umklammerte. Das Lenkrad stellte sich als seine eigene Hand heraus, sein Autositz als seine Couch. Er sah sich zögerlich um, seine Stirn war klatschnass, im Raum war es warm und die Terassentür war geschlossen. Er hatte sein Auto gesehen, den LKW, Kevin und Ben, den Kinderwagen, der Kleinwagen auf der Autobahn... Semirs Mund fühlte sich trocken an, als hätte er mit Mehl gegurgelt, und so langsam bekam er Angst vor sich selbst...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    2 Mal editiert, zuletzt von Campino ()

  • Dienststelle - 16:30 Uhr



    Früher hatte man den Kindern gesagt, sie würden viereckige Augen von zu vielen Fernsehgucken bekommen. Ben konnte sich lebhaft an die Worte seiner Mutter erinnern. Jetzt hatte er das Gefühl, sie hatte recht. Stundenlang saßen die beiden Polizisten jetzt in ihrem Büro an ihren Monitoren. Sie klickten, sie lasen, sie telefonierten. Ben hatte sich das Facebook-Profil des Toten angesehen, in dem aber nur wenige Informationen zu finden waren. Björn Bachmann schien nichts vom "gläsernen Menschen" zu halten, hatte nur wenige Bilder von sich und seiner Schwester in seinem Profil und gab weder seine Meinung zu politischen Themen ab, noch bloggte er irgendwelche Fussball-Ergebnisse. Likes hatte er lediglich bei einigen alten Rockbands und modernen Krimiromanen gesetzt.
    Das einzige, was öfters in seiner Timeline erschien, waren Spielemeldungen von Casino und Pokerspielen, in denen man in der Mittagspause um virtuelles Geld auf Facebook spielen konnte. Ansonsten gab es keinerlei Nachrichten, und auch keinerlei Auffälligkeiten in Björns Freundesliste, kein Name kam Ben im kriminellen Spektrum irgendwie bekannt vor. Nach einer Stunde intensiven Lesens und Klickens lehnte er sich zurück, rieb sich mit den Fingern durch die Augen und streckte sich.



    Kevin hatte sich mit einem Eilbeschluss die Einzelverbindungsnachweise des Toten besorgt und hatte jetzt den Kopf auf die Handfläche gestützt, während er diese studierte. Zahlen, Nummern, Gesprächsdauer der letzten 7 Tage waren dort aufgelistet, auffällige Nummern strich er sich mit einem Textmarker heraus. Einige Anrufe ins Ausland, niederländische Vorwahlen, genauso wie das letzte Gespräch... auffällig. Die Nummern sendete er sofort an die Bundesnetzagentur, um die Person zu ermitteln, der hinter diesen Nummern steckte.
    Gegen späten Nachmittag ratterte das Faxgerät und spuckte einige Seiten Papier aus. Kevin stand auf um den Bericht von Robert Meisner entgegen zu nehmen, wobei er sich gegen den kleinen Schrank, auf dem das Faxgerät stand, lehnte während Ben mit einem kurzen Nicken fragend in die Richtung seines Partners schaute. "Bericht von unserm Leichenschnippler.", war Kevins Antwort auf die stumme Frage, und seine Augen flitzten von links nach rechts. "Und?" "Nichts auffälliges, nichts was wir nicht schon wussten. Tod durch Herzschuss, große Entfernung, glatter Durchschuss, nichts im Magen, keine Vorerkrankung oder akute Erkrankung...", las Kevin vor und schüttelte dabei den Kopf. "Man kann quasi sagen: Kerngesund, ausser dass er tot ist." Ben legte den Kopf ein wenig schief und setzte eine etwas sarkastische Miene auf: "Ach nein..." "Den Namen hinter den Rufnummern bekommen wir wohl eh erst morgen. Lass uns Feierabend machen, morgen fahren wir dann zu Bachmanns Arbeitsplatz und fragen mal an, ob wir auf sein Bankkonto gucken können.", meinte Kevin, warf Ben den Zettel auf den Schreibtisch und nahm seine Jacke vom Stuhl. "Was machst du jetzt noch?", fragte Ben, der eigentlich gar keine Lust hatte, jetzt alleine nach Hause zu fahren. "Ich setze meine Frühstück fort...", meinte sein Partner mit frechem Grinsen und wünschte einen schönen Feierabend.



    Seine gute Laune verschwand, als der junge Polizist in seinem Dienstwagen in die Straße einbog, in der er und Jenny zusammen wohnten. Schon von weitem erblickte er die Gestalt, die dort vor seiner Tür auf der Treppe saß, und die sich scheinbar überhaupt nicht darum scherte, dass die Treppenstufen eiskalt waren. Sein zerisserner Parker und sein aufgestellter Iro waren von Weitem zu erkennen. Kevin parkte sein Auto und stieg aus, während Ole sich langsam von der Treppe erhob. Man konnte am Gesicht des Polizisten sehen, dass er sich selbst nicht einig war, wie er reagieren sollte... Freundschaftlich mit einem "Hallo, wie gehts", oder ablehnend mit einem "Verschwinde!". Ole gehörte zu der Jugendgruppe der Autonomen, zu der auch Kevins Ex-Freundin Annie gehörte, mit denen er bei seinem letzten Fall zu tun hatte.
    "Hi...", sagte Ole, als die beiden sich gegenüber standen. Der junge Polizist hatte damals die Punks nicht auffliegen lassen, obwohl Ole kurz zuvor versucht hatte, Kevin zusammen zu schlagen. "Was gibts?", war der sehr kurz angebunden und versenkte seine Hände in die Taschen seines dunklem Mantels, der ihn eher wie einen Gothicrocker als einen Polizisten wirken ließ. "Ich... wir bräuchten deine Hilfe." Kevin hob die Augenbrauen, als wäre er überrascht, doch auch Ole bemerkte, dass es eher sarkastisch war. "Meine Hilfe?", wiederholte er, um diesen Eindruck zu untermauern.



    Ole atmete einmal hörbar aus. "Annie ist verschwunden." Kevin erschrak, allerdings nur innerlich. Einerseits erschrak er bei dem Stich in seiner Brust, als Annies Name in Verbindung mit einem Verschwinden fiel, andererseits erschrak er ob seiner gleichzeitig aufkommenden absoluten Gleichgültigkeit dessen. "Und was habe ich damit zu tun?", war seine Antwort auf Ole's Äusserung... was wiederrum den Punk innerlich erschrecken ließ. "Was du damit zu tun hast? Ich dachte, du empfindest etwas für sie." Ein Umstand, bei dem Kevin gelogen hätte, wenn er es abgestritten hätte. Deswegen ließ er es unkommentiert und meinte stattdessen: "Ich habe mit Annie nichts mehr zu schaffen, okay." Dabei drehte er sich zur Treppe und wollte diese gerade hinauf.
    "Wir machen uns alle Sorgen. Sie wollte weg von hier, hat sich aber jeden zweiten Tag gemeldet. Jetzt haben wir schon seit anderthalb Wochen nichts mehr von ihr gehört.", hörte er die leicht näselnde Stimme des jungen Punks hinter sich und blieb an der Haustür kurz stehen. Er atmete einmal kurz tief ein und wieder aus, bevor er sich umdrehte. "Annie ist erwachsen. Sie braucht weder mich noch euch als Kindermädchen." "Wir haben aber Angst, dass ihr was passiert ist." Für einen kurzen Moment sahen die beiden Männer sich an, und Kevin überlegte, ob er denn Satz, der im Gerade auf der Zunge lag, wirklich sagen sollte. Er entschloß sich dafür: "Ole... es ist mir scheissegal, was mit Annie ist. Okay?"



    Danach drehte er sich wieder zur Tür und ließ den jungen Mann einfach an der Treppe stehen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Semir's Haus - 17:00 Uhr



    Es war bereits dunkel, als Bens Dienstwagen vor dem Haus seines besten Freundes hielt. Ben hatte den Kragen seiner Lederjacke hochgeschlagen, als er aus dem warmen Auto an die klirrende Kälte trat, und sein Atem hinterließ Kondensrauch. Es war verflucht kalt, sicher war die Temperatur wieder unter den Gefrierpunkt gefallen, nachdem sie über den Tag es nur mühsam darüber geschafft hatte. Semirs BMW stand in der Garageneinfahrt, und in der Küche konnte der Polizist ein schwaches Licht erkennen, das wohl vom dahinterliegenden Wohnzimmer her kam. Ben wollte seinen Freund besuchen, wollte sehen wie es ihm geht, mit ihm reden um ihm vielleicht doch mal ein paar Details zu entlocken, was vor einigen Wochen im Keller der Kneipe "Germania" passiert ist.
    Der Metallknopf der Klingel war so kalt, dass Ben das Gefühl hatte, sein Finger würde festfrieren, wenn er auch nur eine Sekunde zu lange drücken würde. Innen drin tat sich zuerst nichts, dann hörte der Polizist Schritte und sah durch das milchige Glas der Haustür, wie das Licht im Flur angeschaltet wurde, und ein dunkler Schatten immer größer wurde. Ein Schlüssel drehte sich im Schloß, scheinbar hatte Andrea heute morgen abgesperrt, und Semir das Haus noch nicht verlassen seitdem.



    Die Tür schwang auf, und ein freudiges, aber seltsam gequältes Lächeln zauberte sich auf Semirs Gesicht. "Ben!", sagte er überrascht und die beiden Freunde nahmen sich in den Arm. "Ich wollte mal sehen, was du so machst.", sagte er den Grund seines Besuches, und Semir zögerte für einen Moment, bevor er ihm den Vortritt ließ. "Ja... ähm... komm doch rein." Der junge Polizist mit dem Wuschelkopf gehörte quasi zur Familie, und als Ayda und Lilly in ihren Kinderzimmern Bens Stimme hörten, wuselten sie sofort die Treppe herunter und fielen ihrem "Onkel Ben" sofort um den Hals. Meistens brachte er irgendwelche Kleinigkeiten mit, doch da der Besuch heute spontan war, hatte er nichts dabei. Ayda war alt genug höflich zu sagen, dass das nicht schlimm sei, als er es bedauerte, nur Lilly verbarg ihre missmutige Schnute nicht, so dass Ben ihr liebevoll durchs Haar streichelte.
    Nach der Begrüßung verschwanden die beiden Mädchen bald wieder auf ihr Zimmer, um weiter zu spielen, während die beiden Männer ins Wohnzimmer gingen. Ben fröstelte es etwas, der Ofen brannte nicht wie sonst, trotz der Kälte. Auf dem Wohnzimmertisch lagen die Einzelteile einer Wanduhr und Batterien verstreut.



    "Bist du am Basteln?", fragte Ben halb interessiert, halb belustigt. "Was? Och, ja... ähm, die ging nicht mehr richtig. Hab versucht, sie wieder in Gang zu bringen, aber...", meinte Semir und zuckte beim Ende des Satzes mit den Schultern. Die beiden Männer setzten sich aufs Sofa. "Wie gehts dir so?", fragte Ben und schlug die Beine übereinander. Er behielt seine Jacke an, denn es war kalt im Haus und er wunderte sich, dass Semir nur in einem dünnen Oberteil da saß. "Mir gehts gut.", war dessen kurze, wenig überzeugende Antwort. Er lächelte zwar, aber die Falten wirkten wie Furchen in seinem Gesicht, sein Bart schien grauer als sonst und seine sonst blitzenden braunen Augen stumpf.
    "Ja, das sieht man. Also, wie gehts dir wirklich?" Semir seufzte... sein Blick senkte sich, und er spürte sofort, wie leicht er für seine Freunde durchschaubar war. Er hatte jetzt wochenlang jegliche Nachfrage abgeblockt, Ben sogar angeblafft und sich hinterher geschämt. Und trotzdem versuchte es sein Freund immer und immer wieder, einfach weil... weil er sein Freund war. Weil er sich Sorgen machte um Semir, der so anders war, als viele Jahre zuvor. Und der immer noch ein Pflaster auf dem Hals trug, obwohl die Wunde gar nicht so tief sein konnte, dass es so lange nötig gewesen wäre.



    Ben sah seinen Partner mit festem Blick an. Er ging bewusst das Risiko, wieder angefahren zu werden, aber er war geschockt über Semirs Zustand, über die Kälte in der Wohnung, und der Unordnung auf dem Tisch. Semir mochte es IMMER behaglich warm, er war der Erste der im Oktober den Ofen anfeuerte, wenn das Thermometer unter 10 Grad fiel, und der letzte, der im Frühling damit aufhörte, wenn man ohne Jacke nach draussen gehen konnte. Er schwärmte Ben immer wieder vor von der behaglichen Wärme des Kaminfeuers. Und das Zweite war, dass Semir kein Technik-Typ war, und es völlig untypisch war, dass er eine billige Wanduhr aufschrauben würde, nur weil sie nicht mehr funktionierte. Er würde sie wegwerfen, und sich eine neue kaufen... und wenn sie ihm wichtig wäre, würde er sie zu Hartmut bringen, aber niemals hätte sich der Semir, den Ben kannte, einen Schraubenzieher genommen und die Uhr zerlegt.
    Also stimmte etwas nicht... und das spürte Ben mehr denn je, weshalb er sich vornahm, jetzt standhaft und zur Not auch penetrant nervend zu sein. Und scheinbar hatte er Erfolg, denn Semir reagierte nicht abweisend, nicht aufbrausend, sondern er schien in sich zusammen zu sinken, als würde er einen inneren Widerstand aufgeben, sich nach aussen zu kehren.



    "Semir, wie lange kennen wir uns jetzt? 7, 8, 9 Jahre?", sagte Ben leise, während Semir neben ihm saß, nach vorne gebeugt, die Ellbogen auf den Knien und die Hände gefaltet. Er sah Ben nicht an, Ben konnte auch im Halbdunkeln Semirs Augen nicht sehen. "Wir haben so vieles durchgestanden und wir stehen uns gegenseitig unglaublich nahe. Und so oft hast du mir von Problemen erzählt, ich hab dir von Problemen erzählt. Du hast mir geholfen, ich habe dir geholfen." Semir antwortete nicht. Er sah in eine andere Richtung, und seine Hände zitterten. "Wir haben es sogar geschafft, einen Menschen der kurz vor dem Suizid stand, wieder ins Leben zurück zu holen. Wir beide! Zusammen!"
    Er blickte seitlich von etwas weiter hinten auf seinen Partner, der weiter stumm blieb, und Ben war sich nicht mal zu 100 % sicher, ob er ihm überhaupt zuhörte. "Und ich weiß, dass wir uns jedes Mal gegenseitig überreden müssen, endlich den Mund auf zu machen, wenn uns was betrügt. Aber Semir... glaubst du wirklich, es gibt auf dieser Welt noch irgendetwas, das so grausam, so schlimm, so traumatisch oder auch so peinlich ist, dass wir es uns gegenseitig verschweigen? Das uns quält, weil wir es verschweigen, obwohl der Andere neben einem sitzt?" Ben legte freundschaftlich den Arm um die Schulter seines Partners, und er spürte, wie diese bebten. Er hätte es ahnen können, er wusste es, bevor Semir das Gesicht zu ihm drehte. Die Tränen liefen ihm aus den Augen über die Wangen, und er wurde von seinem Partner, seinem besten Freund, in den Arm genommen. Sekunden, Minuten vergingen, und keiner der Männer merkte, dass Andrea das Wohnzimmer betreten hatte, und ebenfalls mit feuchten Augen die Szene beobachtete.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Semir's Haus - 17:30 Uhr



    Als Andrea das Wohnzimmer betrat, bot sich ihr eine bizarre Szene. Auf dem Tisch die Einzelteile ihrer Wanduhr, die nie kaputt war und auch jetzt ohne Probleme funktionierte... Semir hatte sie schlicht aus dem Grund auseinander gebaut, damit sie aufhörte zu ticken. Auf dem Sofa saß ihr Mann, leicht nach links zu dessen besten Freund Ben gedreht und seine Schultern zitterten, sein Gesicht war hinter Bens Kopf auf dessen Schultern vergraben und der junge Polizist hielt seinen Partner fest... ohne etwas zu sagen, seine Hand nur sanft über dessen Rücken streichend. Semir weinte, alle Anspannung der letzten Tage, Wochen, fielen von ihm ab. Die Anspannung seine Frau nicht spüren zu lassen, dass es etwas nicht mit ihm stimmt. Die Anspannung, zuhause zu sitzen, nichts zu tun, die Geräusche, der Druck in seinem Kopf.
    Ben ließ Semir Zeit, er ließ ihn weinen, er hielt ihn einfach nur fest. Sein Kopf drehte sich langsam zur Tür, wo Andrea stand, die Finger um ihre Tasche geklammert, die jetzt langsam zu Boden sank. Auch Andreas Lippen zitterten, als sie die Szene sah, ihre Augen füllten sich mit Tränen, die sie nicht zurückhalten konnte. Langsam, als würden sich ihre Beine wie Pudding anfühlen, ging sie auf das Sofa zu, setzte sich auf die andere Seite von Semir und schlang ihre Arme ebenfalls um ihn, nur von hinten und legte ihren Kopf an Semirs Rücken.



    Semirs Schluchzen verebbte langsam, er drehte sich zu seiner Frau und umarmte auch sie. Und Andrea flüsterte ihm hörbar ins Ohr: "Erzähl ihm, was dir passiert ist." Sie wusste genau, dass es ihm dann besser gehen würde, wenn noch jemand seine derzeitige Situation einschätzen konnte, wenn jemand wusste, was ihm passiert war. Ben wusste nichts, er merkte wie schlecht es Semir ging und er wusste, was der erfahrene Polizist alles schon erlebt, und weggesteckt hatte, ohne psychisch aus der Bahn zu fliegen. Er blickte seinen Partner an und nickte aufmunternd, signalisierend, dass er ganz Ohr für Semirs Erzählungen sei.
    Der Polizist musste durchatmen. Er löste sich von Andreas Umarmung und stemmte die Ellboden wieder auf seine Knie, nachdem er sich die letzten Tränen vom Gesicht gewischt hatte. Langsam, stockend begann er zu erzählen. "Nachdem... sie mich entführt hatten... musste ich mit ansehen, wie sie den jungen Punk getötet haben.", sagte er stockend mit einer fremden Stimme. Sie klang weit weg, sie klang wie hypnotisiert, als würde Semir alles nochmal durchleben. Doch das Erzählen war besser als jede Therapiestunde bei der Polizei-Psychologin, das spürte er direkt. "Der Anführer hat den Jungen gezwungen in den Bordstein zu beißen... und dann, dann hat er ihm einfach... den Kopf zertreten." Er schüttelte vor Grausen mit dem Kopf und Ben bekam eine Gänsehaut... es sollte nicht die Letzte sein. "So etwas habe ich noch nie erlebt. Wir haben schon Unfallopfer gesehen, Ben, die schlimmer aussahen. Aber dieses Geräusch, in dem Moment wo der Kerl zugetreten hat..." Er schluckte und verharrte kurz.



    Ben ließ ihm Zeit, er fragte nichts, er hatte nur seine Hand auf Semirs Schulter ruhen. Halt, Sicherheit, Berührung, wie bei einem Menschen, dem er erste Hilfe leistete. "Später... haben sie mich in einen Raum geführt. Er sah aus wie... wie ein Duschraum. Weiß gekachelt, Rohre, aber keine Armaturen." Die Stimme des Polizisten zitterte genauso wie seine Schultern, das spürte Ben und sein Griff wurde etwas fester, um seinen Freund zu beruhigen. "Ich wusste zuerst nicht, was passiert, als sie die Tür zugesperrt haben. Bis ich gemerkt hatte... das ist eine Gaskammer." Bens Herz setzte einen Moment aus, ihn überfiel eine zweite Gänsehaut vor Grauen und Abscheu. "Ich kann dir... gar nicht beschreiben, wie ich mich gefühlt habe. Man hat soviel über den zweiten Weltkrieg gelesen und konnte sich die Gräueltaten niemals vorstellen, wie man sich gefühlt haben muss, wenn man in diese Kammern geführt wurde. Man hat nichts gefühlt... gar nichts.", flüsterte er.
    Für einen Moment war es mucksmäuschenstill im Raum, nur im Obergeschoss konnte man die Kinder toben hören. Und Semirs Atem war zu vernehmen, der lauter war als sonst. "Ich hatte Todesangst, als es plötzlich überall gezischt hat, und etwas aus den Löchern der Rohre herausgekommen ist. Ich bekam Atemnot, obwohl es kein Gas war, sondern nur Wasserdampf." "Das war ja Psychoterror...", sagte Ben leise und entsetzt, während sein Partner stumm nickte. "Danach haben sie mich rausgeholt, und wollten mich genauso töten, wie den jungen Punk... bis ihr gekommen seid."



    Auch der junge Beamte musste für einen Moment durchatmen und blickte zu Andrea, die stumm ihren Mann betrachtete und seinen Oberschenkel tätschelte. Semir erfuhr in diesem Moment soviel Liebe und Zuneigung, die ihm half, zu reden. Und das Reden verhalf ihm zum Verarbeiten, das spürte er sofort. Er war dankbar, beide bei sich zu haben, beide Menschen in seinem Leben zu haben. Und er war sicher, dass seine Kinder ihn jetzt ebenfalls umarmen würden, wenn sie hier unten waren, und das Kevin in seiner, zwar distanzierten aber trotzdem durch eigene schlimme Erfahrungen verständnisvollen Art jetzt hier neben ihnen stehen würde, und stumm zuhören würde, und versuchen würde, den Kummer der anderen auf seine eigenen Schultern zu laden. Semir spürte, dass er ganz und gar nicht alleine war.
    "Was... was ist mit deinem Hals?", fragte Ben mit vorsichtiger Stimme, denn Semir hatte das Pflaster bisher nicht abgenommen, wenn jemand dabei war. Andrea hatte er es am Morgen, als er heimgekehrt war, gezeigt, seitdem hatte er das Pflaster immer nur gewechselt, wenn er alleine war. Jedes Mal danach war ihm übel. "Der Kerl hat mich mit einem Messer... verletzt.", wich Semir erst noch aus, aber Ben spürte, dass das nicht einfach eine Verletzung war, und der erfahrene Polizist spürte den Blick seines jungen Partners.



    Langsam, beinahe wie in Zeitlupe drehte Semir sich so zu Ben, dass er das Pflaster genau sehen konnte, und mit einem Finger knibbelte er eine Ecke das Pflasters von seiner rötlich entzündeten Haut, um es langsam abzuziehen. Die Striemen, die zuerst noch dunkelrot waren, waren mittlerweile verblasst zu einer schlecht verheilten Narbe, die in ihrer Anordnung eine Swastika zeigten. "Gott...", flüsterte Ben entsetzt, angewidert und erschrocken. Angewidert von der Grausamkeit dessen, was die Männer damit einem Mann antaten, der als Ausländer nach Deutschland kam und sich hier perfekt integriert hatte. Ihn mit einem rechtsradikalen, längst verbotenen Symbol zu brandmarken, das war an Grausamkeit schwer zu überbieten.
    Mehr konnte er dazu nicht sagen, er nickte stumm und Semir klebte das Pflaster wieder über die Stelle. Es hielt nicht mehr richtig, und er würde es nachher wechseln müssen. Die drei schwiegen für einige Minuten, denn Ben fielen nicht die richtigen Worte ein, wie er seinem Partner helfen könnte, und das brachte er auch zum Ausdruck. "Du brauchst nichts zu sagen, Ben... ich fühle mich schon besser, jetzt wo du alles weißt." Diese Worte taten dem jungen Beamten gut, und er war froh, Semir auf diese Art und Weise zu helfen.



    "Aber ich brauche wieder meine Arbeit. Ich werde hier zu Hause wahnsinnig. Ich weiß, dass ich überreagiert habe direkt danach... aber so geht es nicht weiter. Die Chefin will mich nicht arbeiten lassen, bevor ich in der Therapie keine Fortschritte erziele.", sagte der Polizist hilfesuchend. "Und wenn du dich in der Therapie einfach so öffnest wie hier. Erzähl der Psychologin, was sie wissen will, damit sie es als Fortschritt verbucht, und dann kommst du zurück. Und ich passe dann schon auf dich auf... das konnte ich bisher nicht, weil ich nicht wusste was los ist.", sagte Ben ermutigend. Er wünschte sich so sehr, dass sie wieder zu dritt ermitteln würden, gerade jetzt in diesem kompliziert wirkenden Mordfall. Semir nickte nachdenklich: "Ich glaube, es ist die einzige Möglichkeit..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Schlafzimmer - 02:00 Uhr



    Andrea's Atem war ganz leise und flach zu hören. Es war ein angenehmes Geräusch, es war Vertrautheit, ein Geräusch das er jede Nacht gerne bei sich hörte. Es zeigte an, dass alles in Ordnung war. Kein Zischen, kein Klopfen, kein Ticken, als Semir in dieser Nacht wach lag und nicht in den Schlaf fand. Stattdessen hing er seinen Gedanken nach, er dachte an den gestrigen Abend, als Ben und seine Frau bei ihm auf der Couch saßen, ihm halfen und ihn stützten. Wie Ben selbstsicher und aufmerksam seinen Schilderungen aus der Horror-Nacht berichtete, seine Hand auf Semirs Schulter und er dachte daran, wie gut ihm die bloße Anwesenheit seines Freundes tat. Er hatte ihn ermutigt wieder zur Therapie zu gehen, mit der Psychologin zu reden, auch wenn es schwer war, alleine mit einer fremdem Person darüber zu sprechen, wie Semir zugab.
    Jetzt im warmen Bett fühlte er sich wohl. Es war so still, wie er es schon lange nicht mehr vernommen hatte. Er dachte an sich, an sein Leben, an Gott. Er hat sich früher oft gefragt, ob es einen Gott gibt. Er hatte sich mit der Religion aus seinem Haus beschäftigt, er hatte sich mit der katholischen Religion beschäftigt, als er und Andrea geheiratet haben, auch wenn sie entschlossen hatten, nicht kirchlich sondern nur standesamtlich mit einem großen Fest zu heiraten. Und doch fragte er sich manchmal, ob es Gott gab, ein Schicksal, das alles bestimmte.



    Semir war ein rational denkender Mensch. Für alles gab es eine Erklärung, Zufälle waren selten, Glück und Pech gibt es nicht. Und doch gab es Momente in seinem Leben, in denen er diese Gedanken schon mal hatte. Hatte er ein gutes, oder ein schlechtes Leben? Er verfluchte Gott, als er André (scheinbar) verloren hatte, als er seinen Freund Tom und seinen Partner Chris verloren hatte. Er dankte Gott, als er Andrea kennenlernte und sie heiratete. Er dankte Gott für seine beiden Kinder, die gesund waren, vor allem dass Ayda sich wieder vollkommen erholt hatte. Er dankte Gott für seinen besten Freund, so wie gestern abend und er verfluchte Gott für diese Horror-Nacht und all das, was danach kam. Ihm stieß im Wechsel soviel Gutes und soviel Schlechtes zu, dass er daran zweifelte, ob es wirklich einen Gott gab. Und wenn, dann musste er Semir gegenüber eine ziemlich sadistische Ader haben.
    Der erfahrene Polizist drehte sich auf die linke Körperseite und zog die Decke bis ans Kinn. Er musste diese schlimme Nacht aus dem Kopf kriegen. Es ging ihm doch gut, es gab doch keinen Grund in Selbstmitleid zu versinken. Andere Menschen erlebten Traumata, und waren allein, wobei ihm sofort Kevin einfiel. Der musste hilflos mitansehen, wie seine kleine Schwester getötet wurde. Und Kevin hatte keine Frau, die ihn liebte, keinen Freund, der ihn stützte, keinen Halt im Leben. All das holte er jetzt nach, mit der Hilfe von Ben und Semir, und das machte den erfahrenen Beamten stolz.



    Auch Ben lag wach und dachte an den gestrigen Abend zurück. Semirs Horror-Erzählungen gingen dem Polizisten nicht mehr aus dem Kopf, und versuchte sich bildlich vorzustellen, was passiert sei... doch er bekam es nicht zusammen, er sah in sich nur verschwommene Bilder und schreckte einmal aus dem Kissen hoch, als sich Vorstellung mit einem leichten Schlaf zu einem Traum vermengt hatten. Er schlug die Decke weg und stand in Shorts und Shirt aus dem Bett auf, um irgendwie auf andere Gedanken zu kommen. Dabei ging er zum Fenster, schob die Gardinen ein wenig zur Seite und sah hinaus. Im Schein des orangenen Lichtes der Laternen tanzten dicke Schneeflocken und die Straße hatte bereits einen dünne weiße Schicht. Keinerlei Autospuren waren auf der Straße zu sehen, nur auf dem Fußgängerweg waren Fußspuren von einem Nachtschwärmer.
    Es fröstelte ihn und der Polizist schlüpfte zurück unter seine warme Decke. Er hatte eine Idee, wie er Semir helfen könnte um seine Rückkehr in den Polizeidienst zu beschleunigen. Er nickte für sich selbst... ja, die Idee war gut. Kevin müsste mitmachen, ihn zu überreden wäre wohl der schwierigste Teil. Es würde Semir auf jeden Fall helfen zu reden. Er dachte wieder an seine Schilderungen, wieder an die Narbe auf seinem Hals und den hilflosen Blick in Semirs, sonst so selbstsicheren Augen. Ausserdem würde er morgen zum Staatsschutz fahren um sich zu vergewissern, dass der Neo-Nazi, der Semir das angetan hatte, sicher hinter Gitter war und auf jeden Fall nach dem bestehenden Strafrecht auch verurteilt würde.



    Doch noch ein Gesicht kreuzte Bens Gedanken, als er wach im Bett lag... Carina Bachmann. Er konnte es sich nicht erklären, was ihn an dieser Frau so faszinierte, denn in ihrer Natürlichkeit war sie eigentlich weniger Bens Typ. Auch wirkte sie in ihrer gestrigen Gefühlslage, erst gestresst und dann voll Trauer, sicher nicht anziehend oder attraktiv auf einen Mann. War es nur Mitleid? Oder Bewunderung darüber, dass Carina ihren Job aufgab um sich um ihre kranke Mutter zu kümmern? Ben konnte es nicht sagen, doch die tiefgrünen Augen, die Carina definitiv von ihrer Mutter geerbt hatte, hatten ihn in ihren Bann gezogen, was vermutlich nicht mal Absicht der jungen Frau war in diesem Moment.
    Wie schwer musste es einem Kind fallen, den geistigen Verfall der eigenen Mutter zu zu schauen, ohne etwas tun zu können. Zu betrachten, wie es der Mutter immer schwerer fiel, alltägliche Aufgaben zu erledigen. Ben konnte sich das nur vorstellen, und selbst das fiel ihm schwer. Sein Vater war ein erfolgreicher Geschäftsmann, ein Mann der immer alles im Griff hatte, geschäftstüchtig, im Einzelfall auch mal eiskalt und knallhart, was Ben immer schon zuwider war. Trotzdem konnte er sich nur sehr schwer vorstellen wie es war, dass sein Vater am Tisch saß, nicht wusste wie er ein Kreuzworträtsel lösen sollte oder längere Zeit darüber nachdenken musste, was er eigentlich vor 10 Minuten erzählt hatte. Nein, es war schwer vorstellbar... und wenn Ben es schaffte, sich diesen Zustand seines Vaters vorzustellen, auch nur für eine paar Sekunden, dann wurde er unfassbar traurig darüber.



    Ein leises Atmen hatte auch Kevin vernommen, als er leise seine Jeans und Schuhe anzog, einen Pullover über den nackten Oberkörper zog und die Lederjacke von der Stuhllehne nahm. Jenny schlief seelenruhig wie ein schnurrendes Kätzchen in ihrem Bett, neben ihr ein Zettel mit Kevins Handschrift: "Kann nicht schlafen, bin mal draussen." Der junge Polizist wurde wahnsinnig, wenn er im Bett lag und nicht schlafen konnte. Er konnte zwar stundenlang irgendwo still sitzen und warten, hatte die Geduld eines Chamaeleons aber im warmen Bett, in liegender Position, das wurde für ihn zur Qual. Und die Gedanken, die er sich in dieser Nacht um Annie machten, hinderten ihn einfach am Einschlafen, so dass er beschloss, an die frische Luft zu gehen.
    Der Schnee knirschte angenehm unter seinen Schuhen, als er auf die Straße hinaus ging. Bis in die ersten Zeilen der Innenstadt waren es nur wenige Minuten, die Flocken blieben in seinen stacheligen Haaren hängen. An einer Tankstelle, die rund um die Uhr offen hatte, kaufte er sich zwei Dosen Bier, mit denen setzte er sich auf die Rückenlehne einer Parkbank... fast wie früher, wenn er mit der Gruppe unterwegs war. Dann wurde gelacht, geraucht und getrunken. Heute trank und rauchte Kevin nur, während er die Flocken im Schein der Laterne beobachtete, wie sie von leichten Brisen immer wieder aus der Bahn getrieben wurden.



    Was war falsch, und was war richtig? War es richtig, Annie und seine alte Gruppe mit Desinteresse zu strafen? Wäre es falsch, ihr zu helfen, wenn sie wirklich in Schwierigkeiten steckte, was ja überhaupt nicht bewiesen war? Wem gegenüber war es falsch? Dem eigenen Stolz gegenüber, weil Annie Kevin nicht geholfen hatte, weil Annie in ihrem ideologischen Wahn den Mann, den sie eigentlich im Herzen liebte, der Meute beinahe zum Fraß vorgeworfen hätte und an die Nazis verraten hatte? Oder Semir gegenüber, weil die junge Punkerin geschwiegen hatte über den Aufenthaltsort der Sturmfront und man somit Zeit verplemperte, was Semirs Horror-Nacht länger werden ließ. Kevin blies den kalten Rauch aus und nahm den letzten Schluck der ersten Bierdose.
    Wenn Annie sofort geredet hätte, vielleicht wäre die Sache mit Semir vielleicht gar nicht so schlimm gewesen. Kevin wusste ja noch nicht, was sie seinem Partner angetan hatten, aber zeitlich wären sie eine Stunde sicher früher da gewesen... eine Stunde weniger Zeit für die Nazis, ihn zu quälen. Und es war Annies Schuld... sie hatte es in der Hand. Ein Wort von ihr hätte gereicht... Nein. Sie hatte geschwiegen in ihrem Starrsinn, und jetzt würde Kevin schweigen. Die zerknautschte Dose flog in den nächsten Mülleimer, und die zweite wurde geöffnet. "Soll sie doch zur Hölle fahren.", murmelte Kevin leise mit kaltem Gesichtsausdruck und spürte zeitgleich wieder den Schmerz...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 08:00 Uhr



    Nein, sie sahen wirklich nicht gut aus. Bens Augen waren mit leichten Schatten belegt, und er gähnte immer wieder, während er der Kaffeemaschine dabei zusah, wie sie aus Pulver und Wasser eine bitter schmeckende Flüssigkeit machte, die wieder zu Leben verhelfen soll. Kevins Frisur sah an diesem Morgen, als er mit einem kurzen "Morgen" ins Büro kam irgendwie "geplättet" aus, weniger durcheinander als sonst, als hätte er an diesem Morgen das Styling einfach weggelassen. Auch seine Augen sahen müde aus. Beide mussten sich bereits Sprüche von Hotte und Dieter anhören, bevor die beiden zu einem Unfall auf der Autobahn gerufen wurden. Die Straßen waren an diesem Morgen weiß, der Streudienst kam nicht hinterher, und es würde wohl für alle Beamten an diesem Tag viel zu tun geben.
    "Ich glaube, wir hatten heute nacht den gleichen Alptraum, was?", meinte Ben sarkastisch, als er Kevins Zustand bemerkte. "Um zu träumen hätte ich erst einmal schlafen müssen.", war dessen Antwort, als er sich auf den Drehstuhl fallen ließ und ebenfalls gähnte. Nächte mit wenig Schlaf war Kevin seit Jahren gewohnt, weswegen sie ihn nicht so sehr mitnahmen wie andere, doch heute war es extrem und ein Kaffee bitter nötig, um aus der müden Lethargie zu entfliehen. Ben bemerkte das, sah das genauso und kochte für seinen Partner gleich eine Tasse mit.



    "Ich habe mir schon mal die Antworten von der BNetzA bezüglich der Handynummern angesehen, die du gestern abgefragt hast.", sagte der Polizist mit der Wuschelfrisur und stellte die dampfende Tasse auf Kevins Schreibtisch, der sich dafür bedankte und mit möglichst aufmerksamen Blick zu Ben herauf sah. "Also, die meisten der holländischen Nummern sind Wegwerf-Karten von irgendwelchen Supermarkt-Providern. Deswegen haben wir da keinen Namen dahinter." Ben hatte sich halb auf Kevins Schreibtisch gesetzt und mehrere Zettel in der Hand, die er nun hin und her tauschte, während sein Freund vorsichtig in den Kaffee blies und einen Schluck davon nahm. "Eine dagegen ist eine Festnetznummer, und gehört zu einem Sportartikelgeschäft in Maastrich." Dabei legte er seinem Partner ein Blatt Papier hin, auf dem er die Website eines kleinen lokalen Sportartikelgeschäftes abgedruckt hatte.
    Kevin nahm das Blatt Papier in die Hand und meinte nachdenklich: "Hier gibts doch auch Sportartikel. Sind die in Holland günstiger?" Dann sah er nach oben, und bevor Ben eine Antwort geben konnte, meinte er: "Ach, ich vergass... Sport ist für dich ja ein Fremdwort." Dann grinste er und Ben musste auch grinsen. "Bei den deutschen Nummern handelt es sich um Privathaushalte, die ich hier aufgelistet habe. Ich befürchte, die müssen wir alle abklappern." "Als Mitarbeiter einer Versicherung wird er wohl Kontakt zu Privatpersonen gehabt haben.", meinte der junge Polizist und sah Ben nach, wie der zurück an seinen Platz ging. "Ich weiß. Überprüfen müssen wir es trotzdem.", sagte der fast wie ein spießiger Beamter, übertrieb seine Tonlage jedoch wissentlich, und Kevin ließ den Kopf in den Nacken fallen.



    "Guten Morgen, meine Herren.", begrüßte Anna Engelhardt ihre beiden Beamten lächelnd und meinte etwas bissig: "Ich hoffe, ich muss ihnen keine Kaffeemaschine in den Dienstwagen einbauen lassen, wenn sie heute auf Streife fahren." Dabei spielte sie auf die dunklen Ränder unter den Augen ihrer beiden Mitarbeiter an. "Wir sollten uns heute nur mit Sonnenbrille fortbewegen.", meinte Ben, obwohl es draussen grau-weiß war, und es immer mal wieder zu schneien anfing. "Besser nicht, Herr Jäger. Bei diesem Wetter könnte das leicht arrogant herüber kommen.", witzelte die Chefin und erfragte dann den aktuellen Status der Ermittlungen, die Ben dann mit kurzen knackigen Sätzen vortrug... es war ja noch nicht besonders viel.
    "Und wie geht es Semir?", fragte sie nach dem dienstlichen Teil. Ben wollte natürlich nicht soviel verraten, schon gar nicht den vertraulichen Teil des gestrigen Abends. "Ähm... ja, also er machte auf mich eigentlich einen recht okayen Eindruck. Er will es jetzt auch nochmal mit dem Psychologen versuchen.", meinte Ben ein wenig ausweichend. "Das will ich hoffen. Solange der ihn nicht halbwegs gesund bescheinigt, oder zumindest den Willen auf Therapie, kann Semir nicht im Polizeidienst arbeiten. Und dass der Polizeipräsident einen, ich sage mal, leicht sturen Beamten...", wobei sie bei diesem Wort lächelte "... monatelang im Krankenschein lassen kann, dürfte ihnen auch klar sein. Also wirken sie vielleicht auf ihn ein, falls er den Mut wieder verliert." Ben nickte und zeigte den Daumen nach oben. "Alles klar, Chefin."



    "Was ist eigentlich mit Frau Dorn?", fragte sie noch, als sie sich bereits zum Gehen gewandt hatte. Jenny saß nicht auf ihrem Arbeitsplatz, und Kevin "erwachte" quasi wieder, nachdem sein Blick sich auf dem Zettel des Sportgeschäftes verloren hatte, und er im Begriff war, einzudösen. "Die hat sich wohl gestern abend den Magen verdorben und ist heute krank.", meinte er und blickte zur Chefin. "Sagen sie ihr gute Besserung von mir.", meinte Anna Engelhardt und verließ endgültig das Büro. Jenny hatte sich heute morgen, kurz nach dem Aufwachen, übergeben müssen und war vorsorglich zu Hause geblieben. Kevin schon es auf den Joghurt gestern abend, das Einzige vom dem nur Jenny gegessen hat und er nicht.
    "So, da du ja so toll vorgearbeitet hast, hast du doch sicher schon einen Termin bei der Versicherungsgesellschaft unseres Toten gemacht, oder?", sagte der junge Polizist und sah herüber zu seinem Partner Ben, doch der schüttelte den Kopf, sah auf die Uhr und stand von seinem Platz aus. "Nein, wir haben jetzt noch einen anderen Termin." Kevin blickte ein wenig verwirrt, als Ben seine Jacke überzog. "Anderer Termin?", fragte er und ging im Kopf alle möglichen Termine durch, die er sonst vergaß... Schießtraining, Autoinspektion... es fiel ihm nichts ein. "Erklär ich dir am Auto... los los!", kicherte Ben und klatschte in die Hände, um seinen Partner anzutreiben.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Büro Polizei-Psychologin - 9:00 Uhr



    Die Uhr tickte wieder - diesmal wirklich. Sie machte ein Geräusch im Takt des Sekundenzeigers, das Semir beinahe wahnsinnig machte. Er hatte die Polizei-Psychologin, Frau Schneider, früh morgens bereits angerufen und um schnellstmögliche Vorverlegung seines nächsten Termins gebeten. Er wollte es hinter sich bringen, ermutigt von seinem Partner Ben, bevor ihn bis morgen nachmittag wieder die Angst und die Sturheit einholte. Frau Schneider sagte zu, ein Patient von ihr sei kurzfristig erkrankt und sie hätte den Termin frei. Semir wurde heute morgen noch von Ben bestärkt und gelobt, nachdem er ihm geschrieben hatte, dass er heute nochmal hingeht. Sie freue sich, dass sich der eigenwillige Polizist nun doch bereit erklärt hat, über seine Probleme zu sprechen, obwohl sie, als sie sich nun gegenüber saßen, wieder Zweifel verspürte.
    Semir war nervös, er rieb die Hände aufeinander, leckte sich immer wieder mit der Zunge über die Lippen weil er das Gefühl hatte, sein Mund wäre ausgedörrt. Ein Blick auf die Uhr, ein Schluck aus dem Glas Wasser, das vor ihm stand und er hoffte, dass wie früher so oft, sein Diensthandy klingelte, er abheben konnte und sich entschuldigen müsse. Am liebsten wäre er jetzt einfach ganz woanders... auf der Autobahn, in seinem Wohnzimmer, in seinem Bett. Irgendwo, nur nicht hier.



    "Sie müssen nicht nervös sein, Herr Gerkhan. Erzählen sie mir doch einfach mal, warum sie heute Nacht schlecht geschlafen haben.", sagte die Psychologin. "Und ich höre ihnen einfach zu." Dabei legte sie demonstrativ Block und Stift auf den Tisch, um Semir das Gefühl eines "Verhörs" ein wenig zu vertreiben. Er solle einfach erzählen, als wäre Frau Schneider eine gute Freundin, doch das war sie nicht. Sie war Psychologin, dieses Gefühl konnte Semir nicht ausblenden. Bei Ben zu sitzen, bei Kevin zu sitzen, das war etwas komplett anderes, und einfach zu erzählen. Ben wusste genau, wie Semir tickte, wusste genau wie er bestimmte Sätze zu nehmen und zu interpretieren hatte. Vor Ben und Kevin musste Semir keine Stärke zeigen, konnte alle Fassaden fallen lassen. Aber vor einer fremden Person, ausgebildete Psychologin hin oder her... es fiel so schwer. Er wirkte so gehemmt, als wäre sein Mund mit Heftpflaster zu geklebt.
    "Ich... ich habe nachgedacht.", war die zögerliche Antwort des Polizisten. "Und über was haben sie nachgedacht?" Die Psychologin machte ihre Sache gut. Sie fragte einfühlsam, mit der nötigen Empathie. Aber manche Personen wollten oder konnten vor Fremden einfach nicht frei reden, und der erfahrene Beamte gehörte wohl zu dieser Spezies. "Ich... weiß nicht recht. Über heute... über diese Sitzung.", meinte er und schaute vom Boden kurz auf. Ach, wenn nur...



    Es klopfte. Semir war dankbar darum, ganz egal was das Klopfen zu bedeuten hatte. Frau Schneider eher nicht, sie hasste es in einer Sitzung gestört zu werden. Nicht auszudenken, wenn ein Patient sich gerade erst dazu durchgerungen hatte, zu erzählen und sich zu öffnen, und würde dann von irgendjemandem dadurch unterbrochen. Die Psychologin stand missmutig auf um die Tür zu öffnen, und ihr Patient konnte von seinem Sitzplatz aus nicht sehen, wer vor der Tür stand. "Wie kommen sie darauf, mitten in eine Sitzung zu platzen.", sagte sie vorwurfsvoll, und die antwortgebende Stimme ließ Semir aufhorchen. "Ich habe um 9 Uhr einen Termin mit ihnen." "Das kann gar nicht sein... ich habe bereits eine Sitzung.", sagte die Psychologin ungeduldig. "Ich weiß".
    "Lassen sie ihn herein.", sagte Semir nun hastig, denn sie hatte Angst, dass die Psychologin seinen Partner Ben abwimmeln würde. Natürlich hatte Ben keinen Termin mit Frau Schneider... natürlich kam er nur hierher, um Semir beizustehen, damit es ihm leichter fiel, zu reden. Ein wenig spitzbübisch war sein Grinsen, als er seine Winterjacke an den Haken hing und sich einen zweiten Sessel beistellen ließ, um sich direkt neben Semir zu sitzen. Beide lächelten und der ältere Polizist fühlte sich sofort wohler.



    Gerade wollte Frau Schneider beginnen, sie wollte Ben fragen, mit welchen psychischen Problemen er denn zu ihr kommen würde, als es erneut an der Tür klopfte. Durchdringend sah sie die beiden Polizisten an, die einerseits Ben eine gespielte Unschuldsmiene aufsetzen, andererseits Semir auch wirklich unwissend war. Obwohl er sich denken konnte, wer nun an der Tür klopfte. Als Frau Schneider nochmal aufstand um zur Tür zu gehen, kopfschüttelnd ob dieses Schauspiels, lächelten sich Ben und Semir gegenseitig an, und der Kommissar ergriff kurz die Hand seines Partners. "Haben sie auch einen Termin mit mir um diese Uhrzeit?", fragte die Psychologin sofort nach dem Öffnen der Tür den jungen Mann mit Stachelfrisur, der dort stand und nickte.
    Seufzend ließ die junge Frau Kevin den Vortritt in das Büro, und nahm einen weiteren Stuhl, während Kevin mit einem gespielten: "Was macht ihr denn hier?", in Richtung Ben und Semir zu den beiden trat. "Ihr seid echt verrückt...", murmelte Semir und war voll Dankbarkeit und Stolz über seine Freunde. Sie ließen ihn nicht im Stich und selbst der manchmal etwas unterkühlte Kevin ließ sich auf dieses Spielchen ein. Doch es sollte nicht nur ein Spiel sein, sondern es wurde sogar für seine beiden Freunde auch zu einer Art Therapie.



    Als wollten sie Semir zeigen, wie es geht, offenbarten sie sich vor der Psychologin zuerst. Ben erzählte von seiner enormen Platzangst seit der Begegnung mit einem Sarg, etwas was Semir noch gar nicht richtig wahrgenommen hatte. Und er erzählte, was er Kevin erzählt hatte... seine Angst, das Glück in seinem Leben bereits komplett ausgenutzt zu haben, seit der Schiesserei in dem alten Krankenhaus, bei der er schwer verletzt wurde. Er erzählte, wie sehr es ihn belastete, dass er Angst vor Einsätzen gehabt hatte, und vor allem durch die Unterstützung Kevins bei dem Einsatz in der Kneipe, als man Semir befreite, ein bisschen von dieser Angst wieder ablegen konnte. Die Psychologin hörte genau zu und empfahl eine Konfrontations-Therapie bezüglich seiner Platzangst. Genauso, wie die Konfrontation mit seiner Angst ihm auch bei der Unsicherheit seines Berufs geholfen hatte.
    Kevin fiel es schwerer zu reden... was Ben nicht wunderte. Er hatte sich auch vor einer halben Stunde noch gegen Bens Idee, sich zu Semir in die Therapiestunde zu setzen, selbst über Probleme reden um Semir so zu helfen, gewehrt. Er wollte keinen Seelen-Striptease vor einem Fremden abhalten, etwas was ihm schon vor Freunden und Vertrauten mehr als schwer fiel. So war es, dass Kevin nur von einem Trauma erzählte aus seiner Jugend, einem Tod einer nahestehenden Person, den er miterlebt hatte. Er nannte keine Einzelheiten, er erwähnte nichts von seiner Sucht, den Drogen, dem Alkohol. Er erzählte nur, wie sehr er unter dem Verlust litt.



    Danach hatte Semir es viel leichter, als er an der Reihe war, zu erzählen. Während Ben den Schrecken ja schon kannte (und trotzdem wieder von einer Gänsehaut befallen wurde) hörte Kevin die Gräueltaten der Neo-Nazis zum ersten Mal. Sein alter Hass auf die Rechtsradikalen, der ihn damals schon befallen hatte, flammte erneut auf. Und irgendetwas bestärkte ihn in seiner Verbundenheit zur alten Clique... und damit fatalerweise auch zu Annie...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Versicherungsgebäude - 11:30 Uhr



    Ben war stolz auf sich selbst. Die Idee, einfach in Semirs Therapiesitzung zu marschieren und sich an seiner Therapie zu beteiligen, war voll aufgegangen. Semir war nun offener, er hatte von seinem Problemen geredet, er bekam Hilfe von der Therapeutin. Dass er sich einen klaren Plan über den Tag machen sollte, dass er bei Ärger nicht an den Vorfall denken solle. Sie zeigte Entspannungsübungen, weil er im Dienst nach dem Vorfall immer wieder auffällig geworden ist und vor allem deshalb erst mal aus dem Verkehr gezogen wurde. Kevin musste sich erst mühsam überzeugen lassen von der Idee, aber wenn es Semir half, wollte er über seinen Schatten springen. Und auch auf ihn war Ben sehr stolz, dafür dass er seinen inneren Schweinehund überwunden hatte.
    Semir versprach den beiden, auch die nächste Therapiesitzung zu besuchen, und war seinen beiden Freunden unendlich dankbar für ihre Hilfe. Im Gegenzug versprach Ben, heute nachmittag mal mit Anna Engelhardt zu reden, und sie zu überzeugen, dass Arbeit momentan das Beste für ihren besten Mitarbeiter wäre. Zur Not auch nur im Büro, ohne Kontakt zu Verdächtigen oder Verhören, damit es nicht wieder zu Auseinandersetzungen kam, zumindest vorläufig, bis er dieses Trauma, das er aus dem Keller der Germania mitgenommen hatte, verarbeitet hat.



    Jetzt hielt Ben den Dienstwagen auf dem Besucherparkplatz der großen Versicherung an einem Hochhausgebäude. Einzelne Flocken tanzten im eiskalten Wind, und Kevin schlug den Kragen seines dunklen Mantels nach oben, als sie ausstiegen. Nachdem sie ihrem Partner geholfen hatten, mussten sie sich jetzt wieder um ihren Fall, den Mordfall Björn Bachmann, kümmern. Die Empfangshalle glich beinahe einem Hotel, es gab eine Informationsstelle, viele Grünpflanzen und ein aufwendig gestalteter Springbrunnen, der auch auf einer Kunstausstellung hätte stehen können. "Hier ist es Geld noch zu Hause.", meinte Kevin ob der gezeigten Protzigkeit, dass das Versicherungsgeschäft offenbar gut laufen musste, wenn man sich in der Empfangshalle einen solchen Luxus leistete.
    Die beiden Polizisten gingen zur jungen Dame hinter dem Tresen der Information, zeigten ihre Dienstausweise und fragten nach dem direkten Vorgesetzten von Björn Bachmann. "Ist etwas mit Herrn Bachmann?", fragte die höflich lächelnde Dame, was aber wohl mehr Fassade als Wirklichkeit war. Doch die Frau hatte ausschließlich Kundenkontakt, und konnte trotz schlechtester Laune ein Zahnpasta-Lächeln anknipsen, dass sich sofort jeder Kunde wohl fühlte. Ben wiegelte ab, die Todesnachricht sollte der Chef selbst überbringen. "Das dürfen wir ihnen nicht sagen.", meinte er kurz angebunden und ließ sich von der Frau den Weg zum Abteilungsleiter erklären.



    Als die beiden Beamten in Richtung des Treppenhauses und der Aufzüge gingen, um in den 4. Stock zu gelangen, begann Ben gleichermaßen nervös zu werden und Kevin zu lächeln. "Willst du mit der Konfrontationstherapie gleich hier und jetzt beginnen?", fragte er und sah seinen Freund herausfordernd an. Als wäre es ein giftiges Reptil blickte Ben zu den silber-glänzenden metallenen Aufzugstüren, und setzte eine skeptische Miene auf. "Ich weiß nicht... muss das unbedingt heute und Jetzt sein?" Kevin zuckte nur mit den Schultern: "Pff, ich bin nicht dein Therapeut." Nein, jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, entschied der Polizist und nahm den Weg in Richtung Treppenhaus. Ein wenig grinste Kevin hinter Ben und dachte für sich, dass da noch ein wenig freundliche Neckerei von Nöten ist, um ihn zur Konfrontation zu bewegen.
    Der 4. Stock war für die beiden sportlichen Polizisten schnell erreicht, und sie klopften an der Bürotür von Herrn Hambrecht an, der bereits von der Empfangsdame über den Besuch informiert war. Er bat die beiden Polizisten herein, bot ihnen Platz und Kaffee an, wobei beide das Letztere dankend ablehnten. Bernd Hambrecht war ein älterer Mann mit kugelrunder Plauze unter seinem straffen Hemd, die Hemdsärmel trotz der Kälte aufgekrempelt, und nur einen Haarkranz um den Kopf, der bereits weiß gefärbt war. Er sprach mit einer sonoren Stimme perfektes Hochdeutsch, und die beiden Polizisten waren sich sicher, dass dieser Mann jedem eine Versicherung andrehen konnte, wenn er nur genug redete.



    Als die beiden Polizisten die Todesnachricht seines Mitarbeiters überbrachten war er allerdings einen Moment still. Er drehte sich auf dem Bürostuhl zum Fenster und sah für einen Moment hinaus auf die Hauptstraße von Köln. "Meine Güte...", murmelte er und biss auf die Lippen. "Weiß seine Schwester schon Bescheid?" "Selbstverständlich, sie haben wir als Erstes informiert.", antwortete Ben und sah, wie der Abteilungsleiter samt Stuhl wieder zurück zum Schreibtisch rollte. "Ich werde sofort veranlassen, dass ihr jede Unterstützung zukommt. Ich weiß über die Familienverhältnisse von Herrn Bachmann Bescheid." Offenbar spielte er auf die kranke Mutter an, und der Tatsache dass Carina Bachmann ihren Job für die Pflege ihrer Mutter aufgegeben hat.
    "Herr Hambert, wie lange hat Herr Bachmann für sie gearbeitet?", fragte Ben und lehnte sich im Stuhl zurück. Der dickliche Leiter strich sich über die Krawatte. "Das dürften jetzt schon 16 oder 17 Jahre sein. Einer meiner besten Mitarbeiter, sehr loyal auch in schlechten Zeiten. Ausgezeichneter Sachbearbeiter und angenehmer Mensch." "Kannten sie sich näher?" "Was heißt näher? Ich pflege ein gutes Verhältnis zu meinen 10...", er verstummte kurz... "9 Mitarbeiter. Wir veranstalten zwei Gemeinschaftstage im Jahr, wir essen meistens zusammen zu Mittag. Jeder soll sich hier wohlfühlen. Deswegen habe ich immer mal mitbekommen, was im Hause Bachmann passiert, wie es um die Familie stand. Aber ich war niemand, der dort Ein- und ausging."



    Ben nickte ob der Ausführungen und machte sich Notizen. "Wissen sie, ob Herr Bachmann Feinde hatte? Neider, unzufriedene Geschäftskunden?", fragte Kevin interessiert. "Junger Mann, wir verkaufen hier Versicherungen und keine Kriegswaffen. Natürlich gibt es hin und wieder unzufriedene Kunden, aber das beläuft sich dann auf wütende Telefonate und Androhung von Gerichtsverfahren. Aber mir ist nichts von konkreten Drohungen bekannt." Ben und Kevin sahen sich einen Moment lang gegenseitig an, und als ob der Abteilungsleiter befürchtete, sich selbst ins schlechte Licht zu rücken, setzte er schnell hinzu: "Ausserdem war Herr Bachmann ein guter Verkäufer. Immer höflich und kundenfreundlich. Ich kann mir nicht vorstellen, dass da jemand nicht zufrieden war."
    "Ich nehme an, sie handeln keine Bargeschäfte mit Kunden?", fragte der junge Polizist mit seiner monoton wirkenden Stimme, und Bernd Hambrecht schüttelte den Kopf: "Wieso fragen sie?" "Weil wir 1200 Euro in bar am Tatort gefunden haben... und nicht genau wissen, woher sie stammen." Hambrecht schien diese Frage ebenfalls nicht beantworten zu können. "Nein, wir machen keine Bargeschäfte. Dazu kann ich ihnen leider nichts sagen." Kevin lehnte sich im Stuhl zurück, während Ben sich nach vorne lehnte, um seinem Gegenüber einen Zettel auf den Tisch zu legen. "Kennen sie dieses Sportgeschäft? Oder den Besitzer?" Auf dem Zettel stand sowohl Namen des Geschäftes, als auch der niederländische Besitzer. "Ein Kunde, vielleicht?" Bernd Hambrecht wog den Kopf hin und her. "Wir haben viele ausländische Kunden. Ich müsste das prüfen lassen, und gebe ihnen Bescheid." Beide nickten dankend. "Wir werden in der Zwischenzeit noch einige Kollegen befragen.", meinte Ben und beide standen von ihren Stühlen auf.

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  • Versicherungsgebäude - 12:30 Uhr



    Jeder Mitarbeiter wurde von Ben und Kevin befragt. Die beiden Polizisten teilten sich auf und streiften durch die verschiedenen Büroräume. Ben klopfte an einer Tür an und trat ins Büro, wo sich eine ältere Frau und ein jüngerer Mann gegenüber saßen. Der Beamte wies sich aus und begann seine Fragen zu stellen. "Kannten sie Herr Bachmann näher?" Der junge Mann wog den Kopf hin und her und stoppte seine Tipperei für einen Moment. "Nicht so sehr... wir haben uns einige Male unterhalten. Er hat mir einiges beigebracht, war immer ein Ansprechpartner gerade für die jüngeren Kollegen." "Hat er mal etwas von Schwierigkeiten erwähnt? Gab es hier mal Streit?", hakte Ben genauer nach und steckte beide Hände in die Gesäßtasche, während er mitten im Raum stand, doch der junge Mann schüttelte nach kurzem Nachdenken nur den Kopf. "Nicht, dass ich wüsste."
    Die etwas ältere Frau war kurz geschockt von der Todesnachricht des Kollegen, und dass es sich um Mord handelte. "Um Gottes Willen... wer tut denn sowas?" "Das versuchen wir ja raus zu finden. Können sie mir vielleicht mehr über Herrn Bachmann sagen?" "Das war ein sehr netter Mann. Björn hatte immer ein offenes Ohr in der Gruppe, und konnte am besten irgendetwas für die Mitarbeiter bei unserem Chef durchsetzen. Er konnte andere Leute gut von sich überzeugen, er war der geborene Verkäufer.", sagte sie.



    Ihre Aussage unterschied sich nicht Besonderes von der ihres Vorgesetzten. "Wissen sie vielleicht etwas, über Schwierigkeiten, die er hatte... hat er mal was erwähnt?" Auch die Frau dachte nach und hatte auch eine Antwort: "Ach, er hatte manchmal etwas Kummer zu Hause. Er lebt mit seiner Schwester zusammen, und ihre Mutter ist schwer demenzkrank. Das hat ihn, und vor allem seine Schwester sehr mitgenommen, weil es nicht einfach ist.", sagte sie voller Mitleid, und Ben erinnerte sich an die Begegnung mit Carina und ihrer kranken Mutter. Sofort regte sich wieder ein Gefühl in ihm, eine Art Mitleid, eine Art Beschützerinstinkt, den er in sich trug. Sollte er sie vielleicht mal besuchen... einfach so? Seine Hilfe anbieten?
    "Zu wem hatte er hier in der Abteilung den engsten Kontakt?", fragte Ben dann, als er wieder aus seiner Gedankenwelt zurückgekehrt war. "Vielleicht mit seinem Zimmerkollegen. Aber Rainer Zoller hat momentan Urlaub.", antwortete die Frau, doch so ganz sicher klang ihre Antwort nicht. Ben kam es so vor, dass das Klima in dieser Abteilung vielleicht doch nicht so eng und kollegial war, wie es ihnen der Abteilungsleiter Hambert ihnen eben vorspielen wollte. Doch warum sollte er lügen? Er musste seine Abteilung vor der Polizei ja nicht besser darstehen lassen, als es in Wirklichkeit war.



    Nachdem Ben sich bedankte und auf den Flur trat, um das Gebäude zu verlassen, wurde er von Herrn Hambert aufgehalten. Kevin war bereits nach unten gegangen um vor dem Gebäude noch eine Zigarette zu rauchen. "Herr Jäger! Ich habe mir das mit diesem Sportgeschäft mal angesehen.", sagte er und hielt ein Blatt Papier in der Hand, eine Art Auflistung, wie Ben sofort feststellte. "Dieses Geschäft hatten wir tatsächlich mal unter Versicherungsschutz. Gebäude- und Brandschutzversicherung. Als es dort aber innerhalb von 4 Monaten dreimal gebrannt hatte, und wir dreimal bezahlen mussten, bekamen wir Zweifel, dass dort etwas nicht mit rechten Dingen zugeht. Wir haben dort eine Überprüfung angekündigt, danach wurde die Versicherung seitens der Betreiber aufgekündigt.", erklärte er die Auflistung.
    "Wie lange ist das her?", fragte Ben interessiert. "Das müsste jetzt....hmm... so ungefähr vier Monate her sein. Anfang Herbst, ja." Er schaute auf das Blatt und tippe auf ein Datum im September. Warum sollte Björn Bachmann jetzt noch mit dem Geschäft telefonieren, wenn die Versicherung seit Monaten nichts mehr mit ihnen zu tun hatte. "Danke für die Info.", sagte der Polizist und nahm den Ausdruck, bevor er sich auf den Weg machte. Vor dem Aufzug blieb er kurz stehen, dachte nach. Sollte er... sollte er nicht? Alleine der Gedanke an den beengenden Fahrstuhl ließ seine Hände feucht werden. Unauffällig rieb er sie am Hosenbein ab, bevor er sich über die Treppen nach unten machte.



    Kevin stand in dieser Zeit an der eiskalten Luft und zog an seinem Glimmstengel. Er dachte an letzte Nacht, als er im Schnee auf der Bank saß, und über Annie nachdachte, gerade als auf der gegenüberliegenden Straßenseite Ole auftauchte. Er erblickte den Polizisten, der sofort genervt zur Seite sah. "Läufst du mir hinterher?", fragte Kevin, als Ole mit seinem Punkfreund die Straße überquerte, bis er bei Kevin stand. "Hast du es dir überlegt?", fragte der junge Punk sofort und bekam prompt Antwort: "Da gibt es nichts zu überlegen." Ole schüttelte den Kopf. "Die kann Annie nicht so egal sein, dass du dir keine Gedanken über sie machst." Er sagte es, als würde er Kevin seit Jahren kennen und genau wissen, was in seinem Kopf vorgeht. Und obwohl Ersteres nicht der Fall war, hatte er doch recht. "Du weißt einen Scheißdreck über meine Gedanken.", sagte der Polizist gereizt.
    "Komm, der Bulle macht eh nichts.", meinte der Typ neben Ole, der mit bläulich gefärbten Haaren sogar unter einer Gruppe Punks auffallen würde. Doch Ole schüttelte die Hand an seiner Jacke ab und nahm aus seiner Tasche einen Zettel mit einer Handynummer. "Wir wollen sie selbst suchen, wissen aber nicht, wo wir anfangen sollen. Wir haben Angst, dass sie mit Drogen in Verbindung gekommen ist, so verzweifelt wie sie war." Kevin schüttelte den Kopf: "Annie hatte nie Drogen genommen, und das würde sie auch nicht tun."



    "Wir wissen es nicht. Aber wir wollen wissen, wo sie ist und warum sie sich nicht mehr meldet.", sagte er mit Überzeugung. "Dann wünsch ich euch viel Glück.", meinte der Polizist halb sarkastisch, halb ernsthaft, als Ben hinter Kevin in einiger Entfernung auftauchte. "Ich bitte dich nur um eins: Du kannst doch rausfinden, wo Annies Handy eingebucht ist. Wir wollen nur wissen, wo wir suchen müssen. Danach werde ich dich um nichts mehr bitten." Kevin blickte mit seinen eisblauen Augen abwechselnd zu Ole, und auf den Zettel mit den 8 Ziffern. Ben kam näher und konnte die Stimmen leise im Lärm der Hauptstraße vernehmen, und sehen wie Ole Kevin einen Zettel hinhielt. Er hörte den Namen "Annie", er hörte das Wort "bitten".
    Erst als er näher kam, wurde er von Ole bemerkt. "Was ist denn hier los?", fragte Ben und der junge Punk ignorierte den Polizisten, in dem er in Kevins Richtung nochmal ein vestärktes "BITTE!", hinterher schob und den Zettel näher an Kevin heranbrachte. Um eine Diskussion zu verhindern, oder zu verhindern, dass Ben einfach nach dem Zettel greifen würde, nahm Kevin die Nummer mit verkniffenen Gesichtsausdruck. Es war eine stumme Zustimmung. "Und jetzt verpisst euch.", raunte er mit seiner prägnanten Stimme. Ole nickte, halb dankbar, halb verständisvoll und die beiden Punks gingen ihres Weges. Kevin steckte die Nummer in seine Lederjacke und schnippte die Zigarette zu Boden, bevor er sich umdrehte und direkt zu Ben sah. In seinen Augen konnte er die stumme Aufforderung ablesen, sofort zu erklären, was das zu bedeuten habe.

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  • Dienstauto - 13:00 Uhr



    Ben ließ Kevin zumindest noch die Zeit, wieder ins Auto einzusteigen, bevor er ihn mit seinen Blicken löcherte. "Also, was war das jetzt?", fragte er ihn nochmal mit Nachdruck. Natürlich ging es Ben eigentlich nichts an, was Kevin mit den Punks und mit Annie zu schaffen hatte... eigentlich. Und eigentlich eben doch. Erstmal waren private Nachforschungen natürlich strengstens verboten, aber wann hatten sich die Polizisten jemals an irgendwelche Spielregeln gehalten. Nein, darauf wollte Ben nicht hinaus. Sein Magenweh war eher in Richtung Semir gemünzt, als er ahnte, dass Kevin Annie in irgendeiner, ihm noch nicht bekannten Form, helfen möchte. Denn Annie ist mitverantwortlich für Semirs jetzigen, psychischen Zustand.
    Kevin seufzte, und sah zu seinem Nebenmann, der keinerlei Anstalten machte, das Fahrzeug zu starten, sondern den Arm aufs Lenkrad gelegt hatte und stur in Richtung Kevin herüberblickte. Der dachte noch einen Moment daran, in seiner typischen Manier abzuwiegeln. Nichts großes, geht dich doch gar nichts an, Mann fahr jetzt, wir haben zu arbeiten. So hätte er sich wahrscheinlich noch vor einem halben Jahr verhalten. Doch Kevin hatte aus der Erfahrung gelehrt, dass es letztendlich immer besser gewesen wäre, mit Semir und Ben über solche Sachen zu reden, als zu schweigen. Und so entschied er sich diesmal gegen seine Angewohnheit, wenn auch seine Stimme und seine Stimmlage recht genervt und widerwillig erschienen.



    "Ach herrje... Annie ist verschwunden, taucht nicht mehr auf und Ole wollte wissen, ob ich sie suchen könnte." Dabei hob er gestikulierend kurz die Hände, ließ sie aber im Anschluss an den gesagten Satz wieder auf die Knie fallen. "Verschwunden? Wie verschwunden?", fragte Ben etwas verwirrt und hob eine Augenbraue, während sein Freund kurz den Kopf schüttelte. "Ich hab keine Ahnung. Scheinbar hat sie das Ganze nicht so gut verkraftet..." "SIE hat das Ganze nicht gut verkraftet?", fiel ihm Ben erregt ins Wort, und musste sich für einen Moment zurückhalten, keinen Wutanfall zu bekommen. Sie hatte es nicht verkraftet, dass Kevin sich nicht Hals über Kopf aus seinem neuen Leben verabschiedet hatte, sie hatte es nicht gut verkraftet, dass der damalige wilde Punk nun ein Bulle war, während sein Partner nun bei einer Polizeipsychologin von grausamer Psychofolter erzählen musste.
    "Hey, ganz ruhig.", meinte Kevin, denn er konnte Bens Erregung durchaus verstehen und nachvollziehen. "Ich sag doch nur, wie es ist. Sie ist weg, und hatte sich bei Ole aber jeden zweiten Tag gemeldet. Seit zwei Wochen ist Funkstille, und jetzt machen die Jungs sich Sorgen." "Und du willst ihnen helfen?" Bens Frage klang beinahe schnippisch und Kevin fühlte sich angegriffen. "Nein!", rechtfertigte er sich sofort, denn er hatte jetzt zweimal Ole's Bitte um Hilfe ganz klar abgelehnt. Im Kopf wollte er ja selbst nicht helfen, er war wütend auf Annie wie sie ihn behandelt hatte, und vor allem, wie sie ihn im Stich gelassen hatte, als er sie brauchte. Nur sein Herz rebellierte gegen die Vernunft des Kopfes.



    "Wie nein? Und was ist das dann?", fragte Ben und deutete auf den Zettel in Kevins Hand, auf dem Annies Nummer stand. "Ich soll nur nachschauen, wo ungefähr sie sich aufhält und mehr nicht. Ich werd ganz bestimmt dann nicht hinfahren und sie in Handschellen wieder zu ihrer Clique bringen, also entspann dich mal. Ich hab mit Annie nichts mehr zu schaffen." Für einen Moment blieb es still im Auto, und die beiden Männer blickten sich an. Bens Blick war misstrauisch, er kannte Kevin mittlerweile. Er wusste, in welcher Rolle sich der junge Polizist oftmals sah... als Fels in der Brandung, als Typ, der alles schaffen konnte und an dem sich die anderen festhalten konnten. Wenn jemand seine Hilfe brauchen würde, wäre er da. Seit er seiner Schwester nicht helfen konnte, war diese Rolle noch ausgeprägter, und wenn er es nicht schaffte, wurde er von Selbstzweifel erdrückt. Ben konnte sich nicht vorstellen, dass er Annie einfach so ihrem Schicksal überlassen würde, wenn sie wirklich in Gefahr war.
    Kevin spürte den Blick von Ben, er spürte sein Misstrauen, was er ihm nicht mal übel nehmen konnte... er traute seinem Kopf ja selbst nicht. "Was ist? Glaubst du mir nicht? Du hast doch auch gehört, dass ich gesagt hab, dass er sich verziehen soll. Er war schon bei uns vor der Wohnung, und auch da hab ich ihn weggeschickt.", versuchte er sich zu rechtfertigen.



    "Ich kann dir eins sagen...", sagte Ben mit ruhiger Stimme, und er versuchte nicht drohend oder im Unterton böswillig zu wirken. "Aber wenn du Annie hilfst, dann hast du es dir bei Semir versaut. Semir würde dir helfen, er würde alles für dich und mich tun. Wenn du aber der Person hilfst, die mitverantwortlich ist für seinen jetzigen, absolut schlimmsten Zustand, den er psychisch und mental, jemals hatte... das würde er dir nicht verzeihen." Bens Worte waren eindrucksvoll, sie knallten durch Kevins Kopf wie Kugeln aus einer Pistole, während sich die beiden Männer nach wie vor fest ansahen. Kevin wusste, dass sein alter erfahrener Partner es wohl nicht akzeptieren würde, wenn er Annie half... und er hatte es auch nicht vor.
    "Mach dir keine Sorgen.", meinte Kevin und sah aus der Frontscheibe, als er sich wiederholte: "Ich habe mit Annie nichts mehr zu schaffen. Sie hat mich doch selbst enttäuscht mit ihrem eigenen Extremismus. Ich werde abprüfen, wo ihr Handy zuletzt eingebucht war, und das wars." Wieder Stille für einen Moment, bis Kevin den Kopf wieder zu Ben drehte, der ihn immer noch ansah. "Willst du es schriftlich haben? Oder können wir fahren?" "Ich hoffe, du meinst es ernst, Kevin. Es würde alles kaputtmachen...", sagte Ben mit belegter Stimme und startete endlich den Dienstwagen.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Supermarkt - 14:00 Uhr



    Nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen... nicht die Zeit totschlagen. Aufgaben suchen, Aufgaben erfüllen, irgendetwas tun. Das war es, was Semir aus dem ersten wirklich erfolgreichen Therapiegespräch mitgenommen hatte. Eigentlich hätte er auf diese Schlußfolgerung auch selbst kommen können. Wer nur rumsaß, und wartete, dass der Tag vorbeiging, der grübelte. Und wer grübelte, erinnerte sich, immer und immer wieder. Wer grübelte, der hörte Ticken im Raum, wo eigentlich keine Uhr hing, der hörte ein Zischen im Zimmer, wo keine Gasleitung war. Eigentlich alles völlig logisch, und für Semir doch so furchtbar fremd in den letzten Tagen. Keine Motivation, kein Antrieb, immer nur der Gedanke daran, was ihm passiert war. Er konnte nicht weg davon.
    Jetzt ging es. Er hatte zwei Stunden damit verbracht, die Garage aufzuräumen. Etwas, was er schon den ganzen Tag vor sich hergeschoben hatte. Alte Dinge wegwerfen, Platz für Neues schaffen, Ordnung schaffen. Irgendwie kam es ihm wie ein Spiegelbild seiner Seele vor, die er gerade auch versuchte, in Ordnung zu bringen. Ein Chaos zu richten, dass die Neo-Nazis in ihm hinterlassen hatten. Verdammt, das würde er nicht zu lassen. "Wieviele Einsätze sind sie schon gefahren? Wie oft waren sie in Gefahr?", hatte ihn die Psychologin gefragt. Da mussten Semir und Ben gleichzeitig kurz auflachen. Alleine in der Dienstzeit mit Ben würde es zu lange dauern um das alles auf zu zählen. "Glauben sie, sie waren schon mal näher am Tod, als jetzt in dieser Kammer?"



    Die Frage hatte Semir nachdenklich gemacht. Ja, eigentlich war er das. Eigentlich war er in der Kammer überhaupt nicht nahe am Tod, es bestand ja gar keine Gefahr. Warum machte ihn die Situation so fertig? Pure Angst und Verzweiflung, das Unwissende? Der Horror, die Gedanken an die deutsche Geschichte? Plötzlich konnte er sich seine Angst, seine Panik und seine Wut, die er im nachfolgenden Dienstalltag an anderen ausließ, nicht mehr erklären. Er stand so oft vor einer geladenen Waffe... er sprang aus brennenden Häusern, hatte furchtbare Autounfälle. Und trotzdem stieg er in ein Auto, trotzdem würde er, ohne mit der Wimper zu zucken, in ein Haus laufen um Ben, Kevin, seine Kinder, seine Frau oder seine Kollegen zu retten, egal ob eine Bombe in dem Haus tickte, oder nicht.
    Seine nächste Aufgabe des Tages war der Einkauf. Er hatte Andrea auf der Arbeit angerufen und gesagt, dass sie sich keine Gedanken machen bräuchte, die Kinder seien bei ihren Eltern heute abend und sie könnten sich einen ruhigen Abend machen. Sie sollte einfach nach Hause kommen, und sich überraschen lassen. Die Aussicht, seiner Frau eine Freude zu machen, hob seine Laune noch weiter, als er auf den Parkplatz des kleinen Supermarktes einbog, der nur wenige Kilometer seiner Wohnsiedlung lag.



    Es war, um diese Uhrzeit, nur wenig Betrieb. Einige Rentner, einige Halbtagsarbeitende schoben die Wagen durch die Gänge. Semir kaufte einen leckeren Wein, Zutaten für Nudelauflauf mit Waldpilzsauce, eins der wenigen Gerichte, die er selbst unfallfrei zubereiten konnte, und einige Knabbereien für später. Nichts war in ihm zu spüren von der Unruhe der letzten Tage, er fühlte sich nicht beobachtet, er hörte kein Ticken, kein Zischen, keine merkwürdigen Geräusche. Er würde sich nicht unterkriegen lassen, und er würde auch nicht zu irgendwelchen Tabletten greifen. Gerade sein Freund Kevin war ihm ein mahnendes Beispiel, wie man Traumata nicht lösen konnte. Er hatte sich nach dem Tod seiner Schwester in Drogen und Alkohol verloren, und kämpfte mit den Folgen noch heute.
    Plötzlich hörte er doch ein Geräusch, aber es war keine Einbildung, sondern lauter, realer Lärm. "Hey hey hey!", konnte Semir hören, und ein Kauderwelsch aus einer fremden Sprache. "Ganz ruhig, Freundchen. Los, mach die Tasche auf!", war eine zweite Stimme vernehmbar. Semir krallte die Hände in die Stange, an der er den Einkaufswagen schob. "Nicht einmischen, du bist nicht im Dienst." Doch sein Körper hörte nicht auf den Kopf, sondern auf den Bauch, und schon war der Polizist auf dem Weg zum Hauptgang, wo die Stimmen herkamen.



    Eine kleine Menschentraube hat sich gebildet um einen sehr dunkelhäutigen Mann, groß und kräftig, der entschuldigend die Hände hob, und den keifenden Typen, der ihn immer wieder an die Jacke greifen wollte, wegschob. Die zweite Stimme gehörte dem keifenden Typen. "Nun hören sie auf, sonst rufe ich die Polizei! Wir können das auch ganz unproblematisch lösen." "Was ist denn hier los?" "Was hat der Mann denn getan?" "Das sieht man dem doch an, dass er nur zum Klauen hierher kommt." Semir ignorierte das wilde Stimmemwirrwarr der wenigen Leute, die sich für die Szenerie interessierten. "Hey hey hey!", machte der fremdwirkende Mann, vermutlich ein Schwarzafrikaner oder Südamerikaner. Jedenfalls schien er kein Wort des Mannes zu verstehen, der ihn durchsuchen wollte. Semir drängelte sich durch zwei Reihen. "Hallo, was gibt es denn hier für ein Problem, bitte?", sagte er höflich. "Lassen sie mal den Mann in Ruhe, ja?" "Was wollen sie denn?", fragte der keifende Kerl, und sah Semir mit Stielaugen an.
    "Semir Gerkhan, ich bin Polizist.", sagte er sofort und zog aus seiner Tasche eine eingeschweißte Ausweiskopie hervor. Die hatte er sich selbst angefertigt, weil er mal eine Phase hatte, in der er ständig seinen Ausweis verlegt hatte. "Ich bin Kaufhausdetektiv und habe diesen Buschmann beim Klauen erwischt, aber er weigert sich, seine Taschen zu zeigen.", sagte er Mann aggressiv.



    Für einen Moment rutschte Semir das Herz in die Hose. Wie hatte er den Mann gerade genannt? Er betrachtete den Kerl, und stellte sich gerade vor, mit Rocky oder einem anderen der Neonazis zu reden. Oder mit einem seiner engstirnigen Nachbarn, die dachten, sie würden jahrelang neben einem Pseudo-Terroristen leben. Er erinnerte sich an den Kerl, den er in der Dienststelle zusammengeschlagen hatte, weil er ihn "Kanacke" genannt hatte... Jetzt ballte er die Hände zu Fäusten, doch er ließ sich nichts von seiner aufgestauten Wut anmerken. Es tickte leise in seinem Kopf. "Vielleicht versteht er nicht, was sie sagen.", meinte der Polizist katzenfreundlich und hinter ihm war nun wieder Gemurmel zu hören: "Dann muss er halt Deutsch lernen." "Was hat er denn überhaupt hier verloren?"
    Semir drehte sich kurz um, ein kurzes Durchatmen: "Ich darf nun alle bitten, weiter einzukaufen. Hier gibt es nichts umsonst." Phase 1 der Deeskalation hatte er abgeschlossen... in seinem Kopf. Das Ticken wurde leiser. Es war wohl für den Polizisten die wirksamste Therapiestunde, die er haben konnte. "Sprechen sie Englisch?", fragte Semir den Mann nun weitaus freundlicher an, als der Kaufhausdetektiv es getan hatte, und ebenfalls freundlicher, als die Tonlage, mit der er die anderen Kunden gerade verscheucht hatte. Der Afrikaner nickte und sagte in, leicht gebrochenen Englisch: "Ein wenig." "Sagen sie ihm, er soll die Taschen aufmachen.", krächzte der Kaufhausdetektiv hinter Semir, so dass der sich erneut, genervt um drehte. Deeskalationsphase 2... in Semirs Kopf: "Sie behalten jetzt mal bitte die Nerven, ja?" Der Polizist wusste nicht, ob er sich selbst den Rat ebenfalls gerade gegeben hatte.



    "Dieser Herr will gesehen haben, dass sie irgendetwas eingesteckt haben. Stimmt das?" Der Mann schüttelte mit Unschuldsmiene den Kopf. Einige Kunden blieben in ausreichender Entfernung immer noch auf Beobachtungsposition, um ja nichts zu verpassen. "Haben sie hier Überwachungskameras?", fragte Semir. "Überwachungskameras??" war die unverständliche Gegenfrage, und damit auch gleichzeitig die negative Antwort. Der Polizist wendete sich wieder an den dunkelhäutigen Mann. "Darf ich mir ihre Taschen ansehen? Das ist reine Routine." Die vertrauensvolle und ruhige Stimme Semirs verleitete den Mann dazu, den Inhalt seiner Taschen zu leeren. Ein Geldbeutel, ein Smartphone, Autoschlüssel. "Er hats in die Jackeninnentasche gesteckt.", sagte der Detektiv. Doch daraus kam nur eine angebrochene Packung Kaugummi. "Er versteckt es, ich habe mich nicht versehen." Semir seufzte und ihm kam der Gedanke, dass die Beleidigung des Mannes vorhin nicht nur rausgerutscht war. "Darf ich?", fragte er nochmal höflich und der Mann hielt seine Jacke offen. Semir griff in die Innentasche, rechts wie links... Leere.
    "Dann hat er es versteckt. Ich kenne doch diese...", begann der Detektiv und wurde nun energisch von Semir unterbrochen: "Es reicht jetzt. Der Mann hat nichts." "Paah. Kommt hierher mit dickem Smartphone, und klaut sich das Essen zusammen. Der kommt schon mehrere Tage hierher, um...", krächzte der Typ, und die Deeskalationsphase 3 in Semirs Kopf wäre beinahe gescheitert, denn nun machte er einen drohenden Schritt auf den Detektiv zu, als er von dem dunkelhäutigen Mann durch eine Geste gebremst wurde. Der hatte nämlich seinen Geldbeutel geöffnet, in dem beide Männer erkennen konnten, dass er mit braunen und grünen Euro-Scheinen gut gefüllt war. Doch das war nicht der Grund, der Mann nahm seinen Ausweis hervor, um ihn zu zeigen... vermutlich war er das von seinem Land bei Polizeikontrollen gewöhnt. Es war ein kenianischer Pass und das Passbild zeigte ihn im Anzug und Krawatte. "Holiday.", sagte er dabei lächelnd. Semir nickte dankbar, und sagte: "Sie dürfen gehen. Entschuldigen sie das Missverständniss."



    Der Kenianer lächelte, packte seine Sachen und ging in Richtung Ausgang. Verständlicherweise war ihm die Lust am Einkaufen nun vergangen. Das Einkaufszentrum lag verkehrstechnisch günstig in der Nähe der teuersten Hotels der Stadt Köln, aber auch dicht an Semirs Wohngebiet. "Glauben sie wirklich, ich vergreife mich ohne Grund an so einem..." "So einem... was?", fragte Semir überdeutlich in die Frage des Detektives, der die mentale Standfestigkeit Semirs offenbar bis aufs Äusserste testen wollte. Doch auch diesen Test gewann der Polizist. "An ihrer Stelle wäre ich jetzt vorsichtig. Ich könnte das als Beleidigung auffassen, gegenüber dem Mann, und SIE stattdessen mit aufs Revier nehmen. Ausserdem wird ihr Chef von ihrem Fehler und ihrem Verhalten gegenüber dem Mann erfahren, davon können sie ausgehen.", zischte er, bevor auch er den Supermarkt verließ. Stolz, mit pochendem Herzen und ohne Ticken im Kopf...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Dienststelle - 15:00 Uhr



    Obwohl sich Holländisch oft anhörte, wie eine betrunkene Mischung aus Deutsch, Englisch und Französisch war es für Ben enorm schwer, einen Kollegen ans Telefon zu bekommen, der halbwegs der deutschen Sprache mächtig war. Ausserdem war der Polizist ohnehin genervt... genervt von den eigenen Gedanken, die ihm im Kopf herumspukten. Und immer wieder fiel sein Blick dabei auf seinen Partner, der ihm gegenüber saß und scheinbar den Monitor hypnotisierte, als er auf eine Antwort auf die Anfrage nach dem Standort von Annies Handy wartete. Warum tat er das? Annie hatte Semir am langen Arm verhungern lassen, und war schuld an seinem Zustand. War das nicht Grund genug diese Person links liegen zu lassen, egal wieviel sie einem bedeutete? Semir war doch nicht irgendein Bekannter für Kevin. So dachte Ben, doch im gleichen Moment kam ihm fast der Verdacht, dass er sich mal wieder in Kevin selbst täuschen könnte. Freundschaft, Bekanntschaft... wie nahe lag das wirklich beieinander. Wie eng war die Beziehung zwischen dem schweigsamen Polizisten, und ihm sowie Semir?
    Endlich meldete sich am Hörer seines Telefons eine deutschklingende weibliche Stimme, die ihn nach seinem Anliegen fragte: "Na, Gott sei Dank, sie sind meine Rettung.", stöhnte Ben und raufte sich die Haare. Er erreichte mit diesem Ausruf sogar, dass Kevin seine hellblauen Augen kurz vom Monitor wegbewegte.



    "Ich bräuchte Informationen über Vorkommnisse in Verbindung mit einem Sportartikelhersteller.", erklärte Ben der jungen holländischen Kollegin und umriss kurz die Gründe für die Anfrage. Er nannte die Möglichkeiten des Versicherungsbetrugs in Verbindung mit einem mutmaßlichen Mord oder Todschlags. Die Kollegin notierte sich die Namen, Bens Name und Telefonnummer und versprach zurück zu rufen. Sie war von der Zentrale und musste erst im Präsidium für Finanzermittlungen, sowie der organisierten Kriminalität anfragen. Ben bedankte sich und legte auf, bevor er wieder herüber zu seinem Kollegen sah. "Und?", war seine kurzmöglichste Erkundungsfrage nach dem Stand der Anfrage, ein stummes Kopfschütteln war die minimalistischste aller Antworten, zu der Kevin fähig war.
    Der Polizist mit der Wuschelfrisur strich sich zwei Strähnen von der Stirn und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. So überzeugend Kevin eben auch im Auto war, als er abstritt, Annie suchen zu wollen, so sehr zweifelte Ben an seinen Worten. Der Ausdruck in seinen Augen, diese Verbissenheit... er kannte es. Er kannte Kevin mittlerweile und er wusste, dass sich der junge Polizist in jede Gefahr stürzen würde, um eine Person, die ihm mal nahe stand, zu helfen. Er würde nicht einfach zu den Punks gehen und sagen: "Annie ist da und da, und jetzt lasst mir meine Ruhe.", auch wenn er sich selbst dagegen wehrte.



    "Was würdest du denn tun, wenn das Ding ausspuckt, dass sie noch hier in Köln ist?", fragte Ben unvermittelt und drehte gedankenverloren mit seinem Stuhl ein wenig hin und her. Der Blick seines Partners glitt nur langsam vom Bildschirm herüber zu Ben, er hatte seinen Kopf auf seine Fäuste gestützt, die Ellbogen auf den Schreibtisch. "Nichts." Schmallippig, einsilbig... so wie Ben Kevin vor einem Jahr kennengelernt hatte. Ein verschlossener introvertierter Typ, der sich nicht hinter die Fassade blicken ließ, der sich einen Schutzwall aufbaute durch Arroganz. "Und wenn sie im Ausland ist?" Mit einem Klopfen fielen Kevins Fäuste unter seinem Kinn einfach nach vorne auf den Tisch, und der Polizist sah mit etwas weiter aufgerissenen Augen herüber.
    "Mensch, Ben... was willst du von mir? Willst du von mir hören, dass ich sie suchen gehe? Willst du von mir hören, dass ich damit Semir verrate? Was??", sagte er mit lauter, ungehaltener Stimme und Ben spürte, dass er einen wunden Punkt getroffen hatte. "Du weißt doch selbst nicht, was du willst. Du willst und auf der anderen Seite willst du nicht.", sagte der Polizist, als könne er in eine Seele blicken, die Kevin seit zwei Stunden wieder fest verschlossen hatte. Ben hatte zwar gelernt aber noch nicht verstanden, dass er damit bei Kevin nur auf Granit stoßen würde. "Ja, dann ist es halt so. Und jetzt? Ich hab dir gesagt, dass ich nicht nach ihr suche, und wenn dir das nicht passt..."



    Sein Satz wurde von einem Signalton aus seinem Rechner unterbrochen, ein Nachrichtenton für eine Antwort. Kevins Augen wanderten zurück auf den Monitor, zwei Klicks auf der Maus und ein wütender Stoß gegen die Tischkante. "Ach Fuck." Offenbar war die Antwort nicht zufriedenstellend. Ben war nicht unglücklich darum, machte es doch eine Suche Kevins weitaus unwahrscheinlicher, wenn er überhaupt keinen Anhaltspunkt hatte. Doch Kevin gab so schnell nicht auf, seine Hand fuhr zum Telefon und seine Finger wählten in Windeseile Hartmuts Nummer im Kriminallabor. Das rothaarige Genie hob auch sofort ab. "Hartmut, ich brauch deine Hilfe.", sagte Kevin sofort, eigentlich ein Standardsatz, wenn die Autobahnpolizisten ihren Kollegen in der KTU anriefen.
    "Wieder so eine Aktion, für die ich selbst einfahren kann?", raunte Hartmut. "Ja genau, so wie immer. Pass auf, du musst den letzten Standort von einer Handynummer für mich checken." "Ihr habt doch selbst so ein tolles Polizeiprogramm dafür." "Ja, aber das Popel-Programm spuckt mir keine Antwort aus. Bitte, probier du es mal, ich weiß dass auf dem Handy noch vor zwei Wochen Datenverkehr war." Hartmut kratzte sich am Kopf und nahm einen Zettel zur Hand. "Na gut, dann schieß mal los." Der Polizist nannte ihm die Handynummer, und Hartmut versprach, sich gleich wieder zurück zu melden.



    Gerade als Kevin aufgelegt hatte, klingelte Bens Apparat und eine holländische Nummer war eingeblendet. "Jäger, Kripo Autobahn?", meldete sich Ben und hörte nun nicht die liebliche weibliche Stimme am anderen Ende, sondern eine kernige Männerstimme, mit klarem Deutsch und leicht holländischen Akzent. "Herr Jäger, sie hatten angefragt wegen dem Sportartikelgeschäft van Stam? Es geht um Mord?" Ben nickte, was der Gesprächspartner freilich nicht sehen konnte, sagte zum Verständnis aber natürlich noch ein "Ja, das ist richtig." "Huub Bakker ist mein Name, Kriminalhauptkommisar. Ich denke am Telefon würde das alles zu sehr in die Weite führen. Es gibt umfassende Ermittlungen um dieses Geschäft. Was halten sie davon, wenn sie mich morgen ins Präsidium nach Eindhoven besuchen kommen. Dann können wir uns austauschen." Ben verabredete mit Herrn Bakker einen Termin für 11 Uhr, bedankte sich und legte auf.
    "Wir machen morgen einen Ausflug nach Holland.", meinte Ben mit kurzem Blick auf Kevin, bevor er aufstand um mal zur Toilette zu gehen. Als Ben an Kevins Tisch vorbeiging meinte der junge Polizist nur missmutig: "Super, dann kann ich mir endlich mal wieder was zu rauchen kaufen." Ben spürte die Kälte in der Stimme seines Partners und schüttelte nur den Kopf, als er das Büro verließ.
    In diesem Moment klingelte Kevins Telefon, und er hörte sofort Hartmuts Stimme am Apparat. "Hartmut, was hast du rausgefunden?" Er lauschte kurz, lauschte Hartmuts Informationen, dass das Handy nach wie vor aktiv ist. Dann nannte er die Örtlichkeit. Er konnte keine Straße nennen, nur die Stadt, in der es eingeloggt war. Der Name der Stadt klang völlig ungläubig in Kevins Ohren, so dass er nochmal nachfragte: "Wo ist das Handy eingeloggt??"

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    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Lagerhalle - 18:00 Uhr



    Das Wort hatte Kevin mitgenommen. Es klang so unglaublich, so unwirklich als Hartmut es ihm gesagt hatte, dieser Ort, an dem angeblich Annies Handy eingeloggt war. Zweimal hatte er nachgefragt, zweimal hatte Hartmut ihm zu 100% versichert, dass sein Programm sich nicht täuschte, dass er zum Gegenvergleich noch ein weiteres benutzt hatte, und dass er sicher sagen könne, dass sich zumindest das Handy an diesem Ort befindet. Ob Annie das Handy noch besaß konnte das Genie natürlich nicht sagen, aber von alleine würde das Handy auch nicht an diesen Ort gelangen. Und wenn Annie wirklich abgestürzt war, machte der Ort auch irgendwie Sinn... vor allem, bei den Gesprächen die die beiden in ihrer Vergangenheit geführt hatten... von Träumen, von Ausreissern, von Abenteuern.
    Als Kevin den Vorplatz der Lagerhalle jetzt betrat, pfiff ihm der eiskalte Wind um die abstehenden Haare und der Schnee knirschte unter seinen Schuhen bei jedem Schritt. Auf einmal war alles nicht mehr so klar... nicht mehr so klar für ihn, Annie nicht zu helfen. Nicht mehr so klar, einfach alles zu ignorieren und bei seinem Vorsatz zu bleiben. Denn er wusste nun, dass die Punks ihr vermutlich nicht helfen konnten, wenn Annie wirklich da war, wo sich ihr Handy befand. Der Stahlgriff am Tor zur Halle war so kalt, dass Kevins Haut den Eindruck machte, sie würde für einen Moment kleben bleiben, denn weißer Reif klebte am Stahl.



    "Ole? Bist du da?", rief er in das schimmernde Licht der Halle. Es war zugig, es war kalt, aber immer noch wärmer als draussen. Gasöfen brannten, viele Kerzen waren aufgestellt, es war immer eine gewisse Gefahr sich im Winter hier aufzuhalten. Aber darum hatte sich der junge Kevin damals keinerlei Gedanken gemacht, und genauso wenig Gedanken machten sich die Punks heute darüber. Lieber ein wenig Risiko, zu verbrennen als die Sicherheit, im Schlaf zu erfrieren. Anders wäre es in dieser Halle vermutlich nicht auszuhalten. Nachdem das gehallte Echo von Kevins Stimme verklungen war, und er langsam auf das schimmernde Licht zuging und die Wärme immer deutlicher spürte, schälte sich ein Schatten an der Wand hervor, und kam auf Kevin zu.
    "Hey. Was machst du denn hier?", fragte Ole den jungen Polizisten und die beiden Männer gaben sich die Hand. "Ich hab Annies Handy geortet.", war Kevins knappe Antwort, die jedoch noch keine Angabe des Ortes enthielt. Er spürte aber Oles gespannten, beinahe schon hoffnungsvollen Blick, auch wenn den wiederrum der ernste Ausdruck in Kevins blauen Augen verunsicherte. "Und?" "Zumindest das Handy befindet sich in... Kolumbien." Der Punk legte die Stirn in Falten, als hätte er sich gerade verhört. "Wo??" "In Kolumbien. Genauer gesagt, in Bogota." Die Hoffnung wich der Niedergeschlagenheit. "Ach du Scheisse... wie kommt sie dann da hin?"



    Für einen Moment standen sich die beiden Männer gegenüber und schwiegen. Ole sah zu Boden, er hatte sich solche Hoffnung gemacht, dass Annie sich irgendwo in einer deutschen Stadt aufhielt, oder zumindest im nahen Ausland. Holland, Frankreich, vielleicht Dänemark. Aber Kolumbien... das lag für Ole am anderen Ende der Welt. Unmöglich, sie dort auf eigene Faust zu suchen. "Tut mir leid, dass ich keine besseren Nachrichten habe. Ich hab mich auch gewundert.", meinte Kevin verständnisvoll. Sie hatten damals, als sie auf dem Dach der Lagerhalle saßen, oft darüber fantasiert, wo sie hinfahren würden, wohin sie sich absetzen würden. Süd- und Mittelamerika hatten sich die beiden immer mal zurecht gesponnen, vor allem als Kevin selbst noch abhängig war, war es für ihn reizvoll ins Herkunftsland der meisten Drogen zu reisen. War das auch ein Grund, warum Annie jetzt dort war? Es machte die ganze Situation nicht unbedingt beruhigender.
    "Was denkst du, warum sie dorthin ist?", fragte der Polizist und sah Ole an. Der seufzte nur und schüttelte den Kopf. "Sie hat mich hier nach Drogen gefragt. Ich wollte ihr nichts geben, weil ich wusste, dass sie nie was genommen hat. Am nächsten Tag hatte ich die Nachricht auf dem Handy, dass sie für eine Zeitlang weggeht, weil sie über alles, vor allem über dich, nachdenken muss. Sie ist kein kleines Kind, also haben wir nichts unternommen, bis jetzt, weil sie sich nicht mehr meldet."



    Wieder kurz Stille. "Glaubst du, sie ist wirklich da? Oder nur das Handy?" Kevin zuckte mit den Schultern: "Keine Ahnung. Aber dass ein funktionierendes Handy nach einem Diebstahl zum Beispiel nach Kolumbien verschifft wird, ist unwahrscheinlich." Wieder ein Seufzen von Ole, und ein Blick, der bittend wirkte. Er wirkte wie eine stumme Frage, eine Aufforderung, die auch Kevin sofort verstand, und gegen seine eigentlichen Zweifel sofort ablehnte. "Vergiss es. Ich fliege nicht nach Kolumbien." "Annie hatte ihr Geld noch aus den damaligen kriminellen Zeiten noch.", vermutete der junge Punk und Kevin konnte das bestätigen. Einbrüche, Drogenverkäufe... Annie hing, wie auch der junge Polizist, ganz tief mit drin, auch wenn sie selbst keine Drogen nahm.
    "Sie hat vermutet, dass du das Geld sicher auch noch hast." "Ja und? Das ändert doch nichts daran, dass ich nicht einfach mal so nach Kolumbien fliegen kann. Weißt du, wie groß Bogota ist? Eine einzelne Person dort zu suchen ist wie die Nadel im Heuhaufen.", meinte der Polizist und klang selbst nicht überzeugt. Nicht davon, dass es tatsächlich unglaublich schwierig sein würde, dort nach Annie zu suchen... nein, er war selbst nicht davon überzeugt, es nicht zu versuchen.



    Ole senkte den Kopf, ein kurzes Schütteln, ein kurzes Seufzen. Die Hoffnung, die aufgekeimt war, als Kevin mit der Nachricht kam, das Handy gefunden zu haben, war so greifbar, war so präsent, dass er jetzt einfach unglaublich enttäuscht war. "Du hast recht.", sagte er niedergeschlagen. "Wir können nichts tun." Ole tat Kevin leid, und er klopfte ihm auf die Schulter. "Annie wird wissen, was sie tut. Sie hat sich jahrelang hier auf der Straße durchgeschlagen, und sie wird bestimmt keine Dummheiten machen. Dass mit uns beiden wird sie sicher nicht aus der Bahn werfen, sie hat schon ganz andere Dinge überstanden." Oles Blick richtete sich vom Boden weg wieder auf Kevin, und ein kurzes, sarkastisches Lachen erklang, was in dem Polizisten ein ungutes Gefühl hervorrief. "Glaubst du das im Ernst? Glaubst du wirklich im Ernst, dass es sie nicht aus der Bahn geworfen hat, was passiert ist?"
    Der Polizist spürte, wie sein Herz gegen den Rippenbogen sprang, und immer wieder, mit jedem Versuch, daran abprallte. "Du tauchst wieder auf, und weckst alte Gefühle in ihr. Sie hat mir von dir erzählt... bevor du aufgetaucht bist, und nachdem du wieder aufgetaucht bist. Dass alles so wie früher wird. Dass sie ihren Fehler von damals wieder gutmachen wird. Dann stellt sich heraus, dass du ein Bulle bist, Sammy wird umgebracht und am Ende verzeihst du Annie nicht. Und du glaubst ernsthaft, dass sie das nicht aus der Bahn geworfen hat?"



    Oles Stimme zitterte leicht, und der Polizist fühlte sich wie vor den Kopf gestoßen. "Willst du es mir jetzt zum Vorwurf machen, dass ich ihr nicht verziehen habe, dass sie meinen Partner am langen Arm hätte verrecken lassen aufgrund ihrer Ideologie? Dass ich nicht sofort meinen Job gekündigt habe, oder mit meiner Freundin für sie Schluß gemacht habe?", fragte er provokant, und der Punk schüttelte den Kopf. "Nein, das mache ich dir nicht zum Vorwurf. Aber du kannst nicht einfach behaupten, dass es ihr nichts ausgemacht hat. Sie ist deswegen abgestürzt, es hat sie fertig gemacht. Auch, weil sie selbst dran schuld war." Obwohl Ole vielleicht gar nicht vor hatte, Kevin Schuldgefühle zu machen, hatte er es dennoch geschafft.
    "Danke für deine Hilfe.", meinte Ole noch, bevor er sich von Kevin wegdrehte und zurück in den hinteren Teil der Halle ging, wo die anderen auf ihn warteten, gespannt ob der Neuigkeiten über Annie. Kevin sah ihm noch für einen Augenblick hinterher, und spürte die Kälte in seinem Rücken mehr denn je. "Abgestürzt" war eins der Wörter, an die er immer dachte, wenn er an seine Zeit nach Janines Tod dachte. Alkohol, Drogen, Einsamkeit, Selbstmordgedanken... ein Extrem mündete ins Andere. Er hatte sich damals so sehr jemanden zu sich gewünscht, der ihn rettete, doch es war niemand da...

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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