Zwischenwelten

  • Dschungel - 12:30 Uhr



    Kevin war voll mit Adrenalin. André hatte ihn damals in der Karateschule "kaltes Blut" gelehrt, in einem Kampf niemals dem Bauch Entscheidungen überlassen, sondern dem Kopf. Obwohl André selbst das in seiner Polizistenlaufbahn eher seltener angewendet hat, versuchte er es dem damals noch ungestümen Jungen zu vermitteln. Manchmal schaffte es der schweigsame Polizist, vor allem wenn er in Wortgefechten seine Ruhe und Wortkargheit zur Provokation einsetzte. Doch jetzt überließ er seinem Bauch die Entscheidung, Santos von Annie und Juan weg zu locken, ihm zu entkommen und dann auf den Flughafen nach zu kommen. Gerade fuhr der Kolumbianer an ihm vorbei, Annie sah noch mit verängstigten Augen aus dem Seitenfenster, als Kevin sich in den kleinen, leichteren Jeep sprang, um ihn in Windeseile kurzzuschließen.
    Gerade als er den ersten Gang einlegte und beim Gas geben im Sand die Räder durchdrehen ließ, fuhr ein weiterer Wagen um die Kurve hinter ihm. Santos saß auf dem Beifahrersitz, seine markanten Gesichtszüge wie versteinert. "Da ist er.", sagte er nur zu seinem Fahrer, der alsbald die linke Gabelung nahm, in der Kevin verschwunden war. Beide Fahrzeuge sprangen und flogen über den Feldweg, kleinere Hügel und wirbelten jede Menge Staub auf, was es für Santos beinahe unmöglich machte, genau zu sehen, wo das Fahrzeug vor ihm sich befand.



    Der junge Polizist hatte klare Sicht und zischte mit dem Geländewagen den Feldweg zwischen Palmen und anderen Bäumen entlang. Der alte Jeep quietschte und ächzte, er konnte vor Staub im Rückspiegel nicht erkennen, ob er Santos langsam loswurde. Erst als der Weg fester wurde, und der Dreck sich legte konnte er erkennen, dass Santos Fahrzeug ein gutes Stück kleiner im Rückspiegel geworden ist. Ein kurzes Lächeln legte sich über Kevins Gesicht, er konnte bereits die Brücke über den Rio Cauca erkennen, und dass die Straße dahinter frei geradeaus ging, und einigermaßen befestigt war. Die Brücke selbst war vielleicht 50 oder 100 Meter lang, hatte nur einen kniehohen Absatz rechts und links als Begrenzung, sowie einigen, vielleicht einen Meter hohen Säulen auf diesem Absatz, bevor es viele Meter nach unten in den Rio Cauca ging, der wegen der Regenzeit laut und wild war.
    "Halt an.", sagte Santos zu seinem Fahrer, der sofort eine Vollbremsung machte, während sein Boss das Funkgerät griff. "Schalt ihn aus.", funkte er an seinen Scharfschützen, der Kevin eigentlich schon in Bogota auf dem Dach auflauern sollte. Jetzt saß er im Dickicht am Rande des Weges, unsichtbar für Kevin, der gerade an ihm vorbeifuhr. Der Drogenboss sah mit Genugtuung um auf das, immer kleiner werdende Heck des Jeeps, als plötzlich mit einem Knall der linke hintere Reifen zerfetzt, als die Gewehrkugel durch das Gummi eindrang. Das Fahrzeug wurde einige Male hin und her gerissen, bevor es mit dem Heck wuchtig an einer Palme hängen blieb, herumgerissen wurde und sich überschlug, bis er völlig verbogen auf dem Dach liegen blieb. "Los gehts, Männer."



    Der Polizist wusste gar nicht, wie ihm geschah. Er konnte das Auto nicht mehr halten, nachdem er den Knall wahrgenommen hatte, und nach dem fürchterlichen Schlag schmerzte sein ganzer Körper. Er wusste gar nicht, ob das Fahrzeug auf der Seite oder dem Dach lag, er wusste nur, dass er irgendwie am Boden lag und sich zunächst orientieren musste. Die Frontscheibe war völlig zersplittert, dadurch konnte er mit Mühe die Brücke erkennen, und es schien der schnellste Ausgang zu sein. Das Blut, das ihm von einer Platzwunde an der Schläfe und einem Schnitt unterm Auge bis nach unten über die Wange lief, sowie mehrere Schnitte in den Armen, spürte er kaum. Er musste raus, aber er war nicht in der Lage einen klaren Gedanken zu fassen. Nur, dass er den Revolver mitnehmen musste, daran dachte er noch.
    Kevin linste um das Wrack, das ihm zunächst noch als Deckung nutzte, weil es mit der Frontscheibe zum Fluss lag. Santos, zwei weitere Männer sowie der Scharfschütze aus dem Gebüsch kamen zu Fuß in Richtung des Unfallwagens. Sein Atem beschleunigte sich, er lehnte sich kurz an das Wrack und sah zum Himmel... verdammt, jetzt saß er fest. Jetzt war alles vorbei. Die dunklen Wolken verdichteten sich über ihm, als er den Revolver aufschnappen ließ... noch vier Kugeln, für vier Mann. Unrealistisch, mit jedem Schuss zu treffen. Dann sah er in den Wagen und zog eins der automatischen Gewehre heraus, das er den beiden Rebellen abgenommen hatte, und lud es durch.



    Santos und seine Männer hatten nicht damit gerechnet, dass Kevin den Unfall überstehen würde. Relativ schutzlos waren sie dann auch, als der Polizist sich aus der Deckung raus wand, und das Gewehr antworten ließ. Vor Schmerz wurde ihm schwindelig, und viele Kugeln verpassten sein Ziel, nur den Scharfschützen konnte er im Oberschenkel treffen, der jammernd in die Knie ging. Die anderen beiden positionierten sich sofort vor Santos und schossen zurück, so dass Kevin wieder hinter der Deckung verschwinden musste. Als der Polizist nochmals schiessen wollte, gab die Waffe, die durch den Unfall verbogen wurde, den Geist auf. "Fuck!", rief er und warf das Gewehr zurück in den Unfallwagen. Es war vorbei... Er hatte verloren, und er wusste es jetzt endgültig. Nur eins musste er noch erledigen...
    Kevin beugte sich nochmals aus der Deckung und schoss dreimal in Richtung der drei Männer, die sich langsam nochmal vom Wegesrand weg trauten. Alle drei Kugeln verpassten ihr Ziel, doch er erreichte immerhin, dass Santos nochmals versuchte, am Wegesrand Deckung zu finden und auf Spanisch fluchte. Dann rannte der Polizist. Er wandte sich von dem Autowrack ab und rannte, so schnell die Schmerzen, die sich über seinen Oberkörper und seinen Kopf verteilten, trugen. Er betete, dass Annie und Juan bereits weit genug weg waren, und er so immerhin Santos beschäftigen würde, bis die beiden am Flughafen waren.



    Kevin hatte auf der Brücke gerade die zweite Säule, die auf dem Absatz aus Stein gefertigt waren, erreicht, als Santos und seine Männer das Feuer wieder eröffneten. Im letzten Moment verkroch er sich dahinter, kniete auf dem Absatz der Brücke hinter dem Pfeiler. Neben ihm sah er in die tiefe, sah tosendes Wasser, Felsbrocken die aus dem Wasser ragten und Stromschnellen. Juan hatte mit der Beschreibung des Flusses nicht übertrieben. "Komm raus! Wir kriegen dich eh!", rief Santos mit seiner autoritären Stimme und hatte seine Hand fest um den Griff seiner 9mm-Pistole. Er hob die Hand, als er die Brücke erreichte. "Ich hol ihn mir selbst.", sagte er auf Spanisch zu seinem Bodyguard. Der Kartellchef nahm die Sache persönlich, dass Kevin versucht hatte, ihn aufs Kreuz zu legen und Annie zu befreien. Sowas tat man mit einem Carlos Salazar Santos nicht. Die Waffe im Anschlag näherte er sich langsam dem zweiten Pfeiler, hinter den Kevin gekrochen war.
    Der wiederrum hatte sein Handy gezogen. Beinahe wie in Trance, das Rauschen des Wassers und die drohende Gefahr Santos ganz weit weg, starrte er auf ein Bild. Das Bild zeigte ihn und Jenny... in der gleichen Pose, wie er vor 13 Jahren ein Bild mit seiner Schwester gemacht hatte. Sie im Vordergrund, glücklich und befreiend auflachend, Kevin dahinter, die Arme schützend um Jenny gelegt, die Augen hellwach und sein Mund zu einem Lächeln geformt. Der Polizist biss auf die Zähne als einige Tropfen Blut seiner Stirn auf das Display fielen, küsste das Bild und nutzte dann die letzte Kugel seines Revolvers, um sie durch das Display des Handys zu schiessen, und das Gerät damit unbrauchbar zu machen. Würde Santos es in die Hände bekommen, wären Jenny und ihr gemeinsames Kind in höchster Gefahr. Das zerschmetterte Handy schleuderte er zu guter Letzt auch noch über die Brücke in den Fluß.



    Santos war bei dem Knall nochmal kurz in Deckung gegangen, doch jetzt sah er, wie mit einem Klackern der leere Revolver auf den Steinboden der Brücke geworfen wurde. Langsam kam der Besitzer des Revolvers hinter der Deckung hervor, im Gesicht blutverschmiert, schwer atmend und mit einem, beinahe mechanisch emotionslosen Gesichtsausdruck. Der Kartellchef richtete seine Waffe auf den jungen Polizisten, ging auf ihn zu, bis er dicht vor ihm stand, Kevin mit dem Rücken zum niedrigen Absatz. Das Rauschen des Flusses konnte er noch hinter sich hören, seine Haare, die sonst immer in alle Richtungen standen, waren zwar zerzaust, aber sie hatten nichts mit dem Kevin gemein, der er sonst war. Der Dämon hatte wieder gesiegt. Zwar hatte Kevin die Schlacht um Annie gegen ihn gewonnen, und es geschafft diesmal einen Menschen, der ihm nahestand, zu retten... doch dafür schlug der Dämon ihm ein Schnippchen und gewann den Krieg, in dem Jenny nun mit ihrem Kind alleine blieb. Der Polizist fühlte sich auf einmal unglaublich leer, und jeglicher Wille ging verloren. Hinter ihm der Abgrund, der den sicheren Tod bedeutete, vor ihm der eiskalte Drogenboss, für den es etwas Alltägliches war, einen Menschen zu töten. "Weiß der Teufel, was dich geritten hat, dich wegen einer kleinen H.ure mit mir anzulegen.", sagte Santos, der seine Waffe nicht mal einen Meter von Kevins Brust entfernt hielt. Der Polizist wiederrum hob nicht die Hände, er fiel nicht vor Santos auf die Knie, er blickte den Verbrecher aus seinen kalten Augen an. Er dachte an Semir, der ihn niederschlug... das Letzte, was er von ihm in Erinnerung hatte. Bens fassungsloses Gesicht, als er merkte, dass Kevin Semir hinterging. Jennys Tränen in den Augen, als er die Wohnung für immer verließ... alle letzten Erinnerungen in seinem Kopf waren negativ behaftet. "Ja genau... der Teufel...", sagte er nur leise.



    Sein Herz schlug gegen seinen Brustkorb unter dem Shirt und dem offenen Hemd, das ebenfalls einige rote Spuren von herunter tropfendem Blut aufwies. Dann dachte er an Janine... würde sie ihn jetzt sehen? Er dachte an ihr Lachen, ihr befreites Lachen, das sofort ansteckte. An ihre Unbekümmertheit, wenn sie ihrem großen Bruder von ihren Träumen erzählte, die für Kevin damals immer Träume bleiben sollten. Er dachte nicht an die Mordnacht... nein, wenigstens von Janine würde er seine letzte Erinnerung positiv behalten. "Hast du noch was zu sagen?" Der Polizist blickte Santos noch einmal in die Augen und sah dann nach oben in den blauen Himmel, als könne er dort Janines Antlitz sehen. "Ich komme, Janine..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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  • Krankenhaus - 18:15 Uhr



    Der Geruch von Desinfektionsmittel war in jedem Krankenhaus präsent doch nach einer Viertelstunde hatte man sich daran gewöhnt, und der Unterschied zu normalem Geruch war nicht mehr wahrnehmbar. Trotzdem war die Atmosphäre auf so einem Krankenhausflur, wo hin und wieder mal eine Schwester oder vereinzelt auch ein Arzt vorbeihuschte, immer gleich bedrückend. So empfand es auch Ben, als er auf einem billigen Plastikstuhl vor der Intensivstation wartete, bis Carina sich nochmal blicken ließ, innerlich auf jegliche Katastrophennachricht vorbereitet, nachdem der Arzt in ehrlicherweise instruiert hatte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und die Lider wurden langsam schwerer, denn der Tag war anstrengend. Dazu die Verfolgungsjagd am Flughafen, der komplette Einsatz hatte Kraft gekostet.
    Wie lange war Carina jetzt schon da drin? Eine halbe Stunde? Eine Stunde? Ben saß gerade so gemütlich, dass er zu faul war, auf sein Handy zu sehen. Er wartete einfach, und nutzte die Zeit, nochmal über seine Gefühle zu Carina nachzudenken. Was würde es jetzt ändern, wenn ihre Mutter sterben würde? Wäre es schon so etwas, wie eine Erleichterung für die junge Frau, abseits des natürlichen Verlustschmerzes? Die Krankheit der Mutter hatte ihr komplettes Leben bestimmt, was sich nun vielleicht ändern würde, auch wenn ihr das wohl erst in ein paar Wochen bewusst werden würde.



    Gerade als ihm die Augenlider wieder zufallen wollten, ließ ihn sein Klingelton aufschrecken. "SEMIR" prangte in großen Buchstaben auf dem Display, und Ben nahm ab. "Hey... na, wie siehts aus?", fragte die bekannte Stimme seines Partners durch den Hörer. "Mies siehts aus... Carinas Mutter hat einen schweren Herzinfarkt erlitten." "Scheisse... das tut mir leid. Wird sie durchkommen?" "Wissen sie nicht, aber es sieht nicht so gut aus. Carina ist bei ihr und ich hab versprochen, so lange zu warten.", erklärte der Polizist und stand von seinem Stuhl auf, um sich ein wenig zu bewegen. Die Glieder waren ihm eingeschlafen und er schüttelte beim Gehen die Beine ein wenig aus. Semirs Stimme zu hören tat gut nach der Stille der letzten Stunde auf diesem verflucht einsamen Flur.
    "Und du? Habt ihr alles erledigt?" "Die Kollegen in Holland sind informiert, die kommen van Dyke morgen früh holen. Bei Drager siehts nicht so gut aus, der hat ganz schön was abbekommen.", erklärte Semir und fügte an: "Ich mach dann jetzt auch gleich Feierabend. Willst du heute abend bei uns vorbeikommen?Andrea wollte was Leckeres kochen und die Kinder würden sich auch freuen. "Für ihre Männer", hat sie gesagt." Ben musste grinsen, und es tat so gut, richtig zu dieser Familie zu gehören. Nicht nur, dass Semir sein bester Freund war, Andrea war so etwas wie eine große Schwester, für Ayla und Lilly war er so etwas wie ein Adoptivonkel. Als Semir mal schwer verletzt im Koma lag, hatte der Polizist Andrea hoch und heilig versprochen, sie niemals allein zu lassen und sie und die Kinder mit allem was nötig war, zu unterstützen. Semirs Frau hatte ihm das niemals vergessen.



    "Ich überleg es mir. Ich will hier nicht einfach abhauen und zumindest warten, bis Carina entweder nach Hause fährt, oder hier übernachtet. Dann meld ich mich nochmal, okay?" Semir schien verständnisvoll am Telefon zu nicken. "Kein Problem, Partner. Bis später dann." Gerade als eine Schwester auf den Flur kam, und Ben einen strafenden Blick zuwarf, weil er im Krankenhaus telefonierte, ließ der Polizist das Handy schnell in seiner Jeans verschwinden und sich selbst wieder auf den Plastikstuhl nieder. Ein Bein legte er überkreuz auf das andere, verschränkte die Arme wieder, und wurde erneut von der Müdigkeit übermannt.
    "Ben?" Plötzlich schreckte er auf und sah zur Seite. Das konnte nicht wahr sein... er hatte die Stimme, dieses eintönige Melancholie in der Stimme ganz klar erkannt. Doch der Flur war menschenleer. Auch der Blick zur anderen Seite in Richtung der Zwischentür zur Intensivstation ließ keine menschliche Gestalt erkennen, schon gar keinen jungen Mann mit abstehenden Haaren. Hatte er geträumt, war er kurz eingenickt? Aber er hatte doch die Augen noch offen, er hatte den Blick doch auf die Marmorierung der altmodischen Bodenplatten gesenkt, als er plötzlich Kevins Stimme vernahm, die ganze deutlich seinen Namen nannte, als tauche der junge Polizist hier auf und würde Ben überraschenderweise vor der Intensivstation vorfinden. In sich spürte er plötzlich eine intensive Unruhe, die sich vom Bauch aus über den ganzen Körper verteilte. So etwas hatte er zuvor noch nie gespürt...



    Die Geräusche der schwingenden Tür, die sich jetzt neben Ben öffnete, bildete er sich nicht ein. Carina trat mit müdem Blick von einem in den anderen Flur, und der Polizist stand sofort auf, um die junge Frau in die Arme zu schließen, die dieses Angebot sehr dankbar annahm. Nur wenige Augenblicke später konnte der Polizist ein leises Schluchzen vernehmen. "Hey... nicht weinen..." "Ich mache mir solche Vorwürfe, dass ich nicht da war.", sagte Carina leise und hielt sich an dem starken Fels in der Brandung fest, der Ben gerade für sie war. Er konnte ganz genau das Zittern und Beben in ihren Schultern spüren, das nicht abebben wollte, und seine Hand strich sanft über ihren Kopf und durch ihre blonden Haare.
    "Mama... hatte immer davor Angst, alleine irgendwo zu sterben. Das niemand bei ihr ist, wenn es soweit ist.", sagte die junge Frau irgendwann leise, als sich ihr Atem ein wenig beruhigt hat. "Aber jetzt bist du doch da.", sagte Ben dann und sah Carina in die Augen, nachdem sie sich von seiner breiten Schulter gelöst hatte. "Vorhin hättest du ihr eh nicht helfen können. Aber jetzt kannst du ihr helfen, wenn du nah bei ihr bist." Die junge Frau spürte, dass der Polizist mit der Wuschelfrisur recht hatte, und wie in Zeitlupe nickte sie.



    "Ich... ich hab mich bei dir noch gar nicht bedankt, für alles." Ben lächelte und schüttelte langsam den Kopf. "Brauchst du auch nicht." Er schaffte es sogar, Carina mit dem Lächeln ein wenig anzustecken, auch wenn es ziemlich kläglich ausfiel. "Es ist so viel passiert... ich hätte das alles ohne dich nicht geschafft. Und natürlich auch deinem Kollegen.", fügte sie noch an, auch wenn man merkte, dass sie den Dank eigentlich voll und ganz an Ben richten wollte. "Ich... ich geh mal wieder rein. Ich werd' heute nacht hierbleiben." "Ja okay... deine Mutter braucht dich jetzt.", stimmte der Polizist ihr zu und nickte. Die beiden umarmten sich nochmal, und diesmal viel diese Umarmung inniger, intensiver aus als die vorherige, die eher ein Trostspenden war. Diesmal spürte der Polizist an Carinas festem Griff und dem starken Herandrücken ihres Körpers an seinen eine tiefe Dankbarkeit, bis sie sich wieder losließen, und die junge Frau nochmal mit einem ganz kurzen, traurigen Lächeln an Ben gerichtete wieder zur Tür zur Intensivstation ging.
    "Soll ich morgen früh nochmal vorbeikommen? Oder... meldest du dich... oder?", fragte Ben dann ein wenig unsicher, denn natürlich wollte er Carina in dieser schwierigen Situation jetzt nicht bedrängen oder aufdrängen. Aber dieses Gefühl hatte die junge Frau überhaupt nicht... sie war froh, dass er sich ein wenig um sie kümmerte. "Ich ruf dich an... versprochen.", sagte sie, als sie bei der Tür an kam, und diese durchschritt...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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  • Dschungel - 12:45 Uhr



    Juan lief der Schweiß aus den zurückgebundenen Haaren über die Stirn, während er den Jeep im halbwegs sicheren Tempo die Straße entlang lenkte. Sein Herz klopfte gegen die Brust und er fühlte sich ganz und gar unwohl darin, sich von Kevin getrennt zu haben. Rechts türmten sich hohe Berge auf, die fast bis zur Kuppe grün überwuchert waren, während links das Tal abfiel. Doch gegenüber Juans leichter Nervosität war Annie ein reines Nervenbündel. Sie zitterte schon wieder, als sei sie auf Entzug, doch diesmal rührte das Zittern von der Angst um Kevin, Panik nicht zu wissen, was mit ihm geschah und die nagende Ungewissheit. Nur hin und wieder, als lauere draussen eine unsichtbare Gefahr, riskierte sie einen Blick aus dem Seitenfenster... und erstarrte.
    "Oh Gott... Da unten!", schrie sie auf einmal, als die Lage der Straße ihr den Blick auf die Brücke freigab, über die Kevin eigentlich Santos abhängen wollte. Juan trat sofort mit aller Macht aufs Bremspedal und mit stehenden Reifen kam der Jeep schließlich zum Stillstand, woraufhin der Kolumbianer ebenfalls aus dem Seitenfenster nach schräg hinten heraus sah und auf die Brücke blickte. Er und Annie betrachteten hilflos, wie Kevin am Rand der Brücke stand, und Santos dicht vor ihm, die Arme auf ihn gerichtet. Die Waffe konnten sie aus der Entfernung nicht erkennen und auch keinen Gesichtsausdruck, anhand der Kleidung konnten sie Kevin aber identifizieren.



    "Wir müssen etwas tun! Wir müssen zurückfahren!!", schrie die junge Frau beinahe hysterisch in Juans Richtung, der wie angewurzelt da stand. Er erwischte sich bei dem Gedanken, Annie zu packen und ins Auto zu zerren, damit sie nicht mitansehen musste, was dort unten gleich passierte, ebenfalls berechnete er die Zeit, die er zum Zurückfahren bräuchte... er würde in jedem Fall zu spät kommen. Ausserdem wäre dann alles verloren, und er hatte dem jungen Polizisten doch versprochen, Annie zum Flughafen zu bringen. In Juans Innerem hörte er auf einmal Kevins Stimme und einen Satz, der deutlich machte, warum er sein Leben für das rothaarige Mädchen riskierte: "Es ist einzig der Dämon in meinem Kopf, der mich zwingt das hier zu tun. Der mich zwingt, Annie hier nicht zurück zu lassen. Ich kann nicht aufgeben. Eher jage ich mir eine Kugel in den Kopf. Ich habe nichts mehr, wofür ich nach Deutschland zurückkehren müsste..." Er wollte, dass Annie in Sicherheit kam... und nicht, dass er gerettet wird.
    "Wir müssen weiter Annie... wir können ihm nicht mehr helfen.", sagte der Kolumbianer gehetzt und griff Annie am Arm, um sie zum Auto zu zerren. "NEIN! Wir können ihn nicht sterben lassen!!", schrie sie mit Tränen erstickter Stimme, und ihre Gedanken kreisten um seine Erzählung, dass er Vater werde. "Hör zu, er hat gesagt, dass das Wichtigste ist, dich zu retten! Egal, was mit ihm passiert.", sagte Juan und packte Annie, die wild den Kopf schüttelte. "Nein, das kann nicht sein! Er wird Vater!! Er muss mit zurückkommen."



    Der Kolumbianer sah die rothaarige Frau entgeistert an... er wird Vater? Warum hatte er das nicht gesagt? Warum sagte er, dass es nichts mehr gab, wofür er zurückkehren musste. Plötzlich fiel ihm die Veränderung des Mannes von gestern abend zu heute morgen ein... diese Unsicherheit, diese vorsichtige Distanziertheit, die Skepsis über ihr Vorgehen. "Es hat sich... alles ein wenig verändert.", hatte er zu Juan gesagt. "Scheisse...", flüsterte der Drogenboss und ließ Annie los. Es gab nur eine Möglichkeit, er rannte zum Wagen und zog das zweite automatische Gewehr heraus. Er hatte eins mitgenommen, falls er unterwegs nochmal auf Widerstand treffen würde, legte es an und versuchte so genau wie möglich zu zielen. Doch die Entfernung war verdammt weit für solch eine ungenaue Waffe, und vermutlich würde es Santos höchstens warnen, statt zu treffen, aber es war wohl Kevins letzte Chance.
    Der Lärm, der die Waffe von sich gab, war auf der Brücke nur schwach, vom Rauschen des Rio Cauca überdeckt zu hören. Doch die Kugeln, die nahe bei Santos und Kevin einschlugen, waren verdammt nah und gefährlich. Sofort ging Santos Blick von Kevin weg nach rechts oben, wo sich die Landstraße am Berg vorbeischlängelte und die beiden Bodyguards, die das Duell auf der Brücke bewachten, gaben sofort Antwort in die ungefähre Richtung, von der die Schüsse gekommen waren. Einige Kugeln trafen dicht bei Juan und Annie Bäume und die kleine Begrenzungsmauer, die die Straße vom Abhang sicherte, so dass der Kolumbianer den Angriff schnell einstellen musste.



    Doch die kurze Ablenkung schien zu genügen, und der Polizist und gelernte Kampfsportler gab nicht kampflos auf. Mit der Handkante stieß er mit aller Kraft gegen die Hand seines Gegenübers, die die Waffe festhielt, nachdem er das Handgelenk mit der anderen Hand umklammert hatte. Eine schnelle, effektive Entwaffnungsübung, wenn der Gegner dicht zu jemandem stand. Im hohen Bogen flog die Waffe einige Meter weit auf die Brücke, während die Bodyguards sich auf Juan konzentrierten. Der erste Schlag in Santos Magengrube war für den Kartellchef ebenfalls noch überraschend und ließ ihn einige Schritte zurückgehen, Kevins nachfolgender Karatetritt zum Kopf allerdings konnte er mühelos ausweichen. Der Polizist spürte Schmerzen bei jeder Bewegung, und trotz des Adrenalins in seinem Körper waren seine Bewegungen langsamer als sonst.
    Sein kolumbianischer Freund beobachtete etwas geduckt hinter der Begrenzungsmauer zusammen mit Annie den Zweikampf, versuchte nochmal nachzuladen, doch die Waffe war leer. "Kevin, lauf weg! Lauf verdammt nochmal weg.", flüsterte er auf spanisch... Santos hatte keine Waffe, mit der er ihn erschiessen hätte können und die Bodygaurds hatten sich darauf fokussiert die Landstraße von unten mit Blicken nach Juan abzusuchen. Der wusste: Egal wie gut Kevin wohl, was er an dessen Bewegungen erkannte, im Nahkampf ausgebildet war... gegen Santos würde er keine Chance haben. Der war als Guerilla-Kämpfer im kolumbianischen und anderen südamerikanischen kleineren Konflikten als Nahkämpfer ausgebildet... deswegen sein innigster Wunsch, Kevin möge die Flucht ergreifen, statt den Zweikampf mit dem Kartellchef zu wagen.



    Doch das leise Flehen war vergebens. Kevin konnte nicht so schnell reagieren, dass er Santos auch nur ebenbürtig war, was er vielleicht gewesen wäre, wäre er unverletzt bei dem Unfall geblieben. Trotzdem versuchte er, seinen Gegner in den Staub zu schicken, um dann gefahrloser fliehen zu können. Doch Santos spürte genau, dass der Deutsche angeschlagen war, auch wenn er sich scheinbar im waffenlosen Kampf auskannte. Sein erster Boxhieb ins Gesicht ließ ihn aber sofort zurücktaumeln, denn die Reaktion war zu langsam, als dass er hätte ausweichen können. Santos beherrschte die Kunst des Capoeira, einer brasilianischen Kampfsportart, und trotz das der Angriff Kevins auf ihn überraschend kam, so war er doch schnell wieder Herr seiner Sinne.
    Kevin kämpfte mit stumpfen Waffen. Durch den Schlag gegen die Schläfe verschwamm vor seinem Blick alles, den nachfolgenden "Joelhada", einem Kniestoß zum Bauch sah er überhaupt nicht kommen und war ihm schutzlos ausgeliefert. Dem jungen Polizisten blieb die Luft weg und er stand gebeugt am Rand der Brücke. Santos sah, wie der junge Kerl die Zähne zusammenbiss und meinte, so etwas wie Hass und Wille in den hellblauen Augen aufblitzen zu sehen. In einen letzten, beinahe verzweifelten Angriff nach vorne in Santos' Richtung legte er nochmal alle Kraft, die er zusammenraffen konnte, traf sogar mit einem Faustschlag in die Nierengegend des Verbrechers auch nochmal effektiv, doch mit seiner geballten Kraft in den Armen stieß der Drogenboss Kevin mit Wucht zurück.



    Sein Atem brannte, Schmerzen durchzuckten seinen Kopf, seinen Rücken und stachen ihm quer durch die Brust. Hustend spuckte Kevin Blut in den Staub der Brücke, und er sah, wie Santos das Spiel endgültig beenden wollte. Mit einer Körperdrehung machte der Verbrecher die Distanz zwischen ihm und Kevin wett, die gleichzeitig dazu diente, Schwung zu holen und den Tritt mit Wucht gegen den Gegner zu landen um ihn, meistens am Kopf zu treffen. Der Fuß kommt dabei schon während der Drehung auf Höhe des Gegners angeflogen... so kannte es der Polizist. Aber er wehrte sich nicht... er nahm die Hände nicht nach oben, um den Tritt abzuwehren, der bei dieser Kampfkunst tiefer angesetzt war, und den Gegner auf die Brust, statt gegen den Kopf treffen sollte. Sein Körper war von Schmerzen durchzogen, das Blut in seinem Gesicht getrocknet, und Kevin hatte einfach keine Kraft mehr, sich zu wehren.
    Die schwere Schuhsohle traf Kevin auf den Brustkorb... nicht so heftig , um dem jungen Mann die Knochen zu brechen, aber heftig genug, ihn taumeln zu lassen, denn in den Beinen fehlte ihm die Kraft. Der niedrige Absatz, direkt hinter dem Polizisten, war kein Schutz vor dem Absturz...



    Juan krallte die Finger in die Ritzen der Steinmauer, seine Augen waren weit aufgerissen und die Zähne hatte er aufeinander gepresst. Hilflos musste er mitansehen, wie Santos Kevin den entscheidenen Tritt verpasste, der junge Polizist den Halt verlor und von der Brücke stürzte. Vor Annies Auge lief dieses Geschehnis wie in Zeitlupe ab... als schaue sie einen Film und suche panisch die Stop-Taste, um diesen Horror anzuhalten, zurück zu spulen und die Kassette weg zu werfen, bevor sie sich die Szene angesehen hatte. Doch es gab keine Stop-Taste und sie sah schreiend mit an, wie ihr Retter, ihr ehemaliger Freund die Brücke runterstürzte. "NEEEEEIN!!" Im ersten Reflex wollte die junge Frau über den kleinen Vorsprung klettern und den Hügel herunter, der so steil war, dass sie niemals heil die vielen Meter herunter bis zum Tal und damit bis zum Fluss angekommen wäre. Juan behielt dagegen einigermaßen einen kühlen Kopf und umklammerte die Frau an der Hüfte mit seinem festen Griff.
    "Hör auf jetzt! Es ist zu spät!! HÖR AUF!", redete er laut auf das hysterische Mädchen ein und fluchte auf Spanisch. Die beiden Bodyguards hatten den Beschuss eingestellt und der Kolumbianer zerrte Annie, die jetzt vollkommen zusammenbrach, zurück zu dem Geländewagen und verfrachtete sie auf dem Rücksitz. Dort brach Annie in Tränen aus, während Juan den Wagen vom Fahrersitz aus wieder startete. Leise sprach er auf spanisch ein Gebet für Kevin...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Flughafen - 13:30 Uhr



    Juan und Annie hatten den kompletten Weg zum Flughafen kein Wort miteinander gesprochen. Sie wurden weder aufgehalten, noch verfolgt und niemand schien sich für den staubig-schmutzigen Jeep zu interessieren. Als der Kolumbianer den Wagen auf dem großen Flughafen-Parkplatz stoppte, blieb er stumm und bewegungslos am Lenkrad sitzen. Er konnte sich diese emotionale Leere in sich drin einfach nicht erklären. Vor zwei Tagen, als er den unbekannten jungen Mann hier vom Flughafen abholte, witterte er ein schnelles Geschäft. 50 000 Dollar für das Hineinbringen ins Ghetto, und vielleicht ein bisschen Umhören nach dem Verbleib des rothaarigen Mädchens. Was dann mit dem Kerl passierte... wen interessierts? Hauptsache, er hatte die Kohle.
    Jetzt stand er hier am Flughafen, den begehrten Schlüssel für die zweiten 25 000 in der Hosentasche... und er fühlte sich beschissen. Es fühlte sich genauso beschissen an, wenn er einen seiner Männer verlor. Nein, eigentlich fühlte es sich noch beschissener an. Denn Kevin starb nicht, weil er geldgierig war und das bewusste Risiko eines Verbrechens einging, sondern er starb, weil er einer Freundin helfen wollte, getrieben von einem Dämon, den er nicht kontrollieren konnte. Das machte Juan innerlich fertig.



    Wie in Zeitlupe drehte er sich zu Annie nach hinten um, und sah die junge Frau auf der Rückbank sitzen, wie ein Mädchen, das vor irgendetwas Angst hatte. Zusammengekrümmt, die Beine an den Leib gezogen und die Knie dabei mit den Armen umfasst. Als wolle sie sich unsichtbar machen, verstecken vor der gefährlichen Welt da draussen. Sie empfand unendliche Trauer und Schuldgefühle. Sie war wegen seiner Abweisung hierher geflohen, sie hatte sich selbst ins Unglück gestürzt... und der Mann, den sie innerlich noch liebte, musste dafür bezahlen. Unaufhörlich und tonlos liefen die Tränen aus ihren feuchten Augen, über ihre Wangen nach unten. "Wir müssen zurück... wir müssen zurück.", flüsterte sie immer wieder leise. "Vielleicht hat er überlebt..."
    Juan war kein Psychologe, er wusste nicht wie er der verzweifelten Frau gut zu reden sollte. Der Mann stieg aus dem Jeep aus und öffnete langsam die hintere Tür. "Komm Annie... wir machen jetzt einfach das, was Kevin wollte, okay?" Annie schüttelte den Kopf, ohne Juan anzusehen. "Vielleicht lebt er noch..." Der Mann schloß die Augen für einen Moment und seufzte. "Annie... diesen Sturz kann er nicht überlebt haben.", sagte er mit vorsichtig geduldiger Stimme, aber grausamer Ehrlichkeit. "Wenn wir zurück fahren, ist es unser sicherer Tod. Willst du, dass Kevin sein Leben umsonst geopfert hat?" Wieder ein stummes Kopfschütteln. "Na also. Jetzt komm raus, ja?" Sanft griff der Kolumbianer Annies Hand und half ihr mit zittrigen Beinen auszusteigen.



    Annie hatte natürlich kein Gepäck mehr, das wurde ihr in Bogota, als sie in das Ghetto gebracht wurden, abgenommen. Die beiden sahen im Flughafengebäude eigenartig aus, der südländisch wirkende Juan mit seinen etwas längeren Haaren, und etwas abwesend wirkenden Blick, mit der völlig aufgelösten Annie. Der Kolumbianer hatte etwas fürsorglich die Hand um ihre Schulter gelegt, schaute links und rechts, ob er nicht doch irgendwo Männer von Santos entdecken konnte. Doch er behielt recht... am Flughafen würde der Kartellchef keine große Schiesserei riskieren. Auch wenn die korrupten Politiker ihm unter die Arme griffen, eine Schießerei an einem großen Flughafen in Bogota würde über Kolumbien hinaus Schlagzeilen machen, und den Tourismus, der sich gerade etablierte, zum Erliegen bringen.
    Erst beim dritten Versuch schaffte es der Drogenboss, das Schloß des Schließfaches mit dem kleinen Schlüssel auf zu bekommen. Die Schlösser am Flughafen waren bereits betagt, allerdings stellte er fest, dass seine Hände leicht zittrig waren. Er sah im dunklen Inneren eine ähnliche Tasche wie die, die Kevin ihm vor zwei Tagen gegeben hatte, und auch ein kurzer Blick hinein verriet ihm, dass der junge Polizist nicht gelogen hatte, sondern sein Wort gehalten hatte. Er hängte sich die Tasche über die Schulter.



    Als sie sich dem Check-In-Schalter näherten, klingelte Juans Telefon. "Juan? Hier ist Rico..." Rico war einer von Juans engsten Vertrauten, und jeder im Viertel wusste das... auch Santos. "Was gibts?", fragte Juan auf Spanisch. "Was, verdammte Scheisse, ist da im Dschungel passiert, Mann?" "Das erkläre ich dir später, warum fragst du? Woher..." "Mann! Santos war gerade bei uns im Viertel." Der Drogenboss schluckte am Handy... Santos schien ihn doch erkannt zu haben. "Er hat ziemlich deutlich gemacht, dass er keinerlei Interesse an unserem Kartell hat. Aber er hat auch gemeint...", Ricos Stimme stockte kurz. "Was? Was hat er gemeint?" "Er hat ein Kopfgeld auf dich ausgesetzt. Verdammte 150 000 US-Dollar für den, der dir eine Kugel in den Kopf jagt. Wenn sich keiner findet, würde er es selbst tun."
    Der Kolumbianer blieb mit dem Handy am Ohr mitten in der Empfangshalle des Flughafens auf halbem Weg zwischen Schließfächer und Check-In-Schalter stehen. "Juan? Was sollen wir tun? Wir können keinen Krieg mit Santos riskieren, aber die Männer wollen sich das nicht gefallen lassen.", sagte die rechte Hand mit erregter Stimme. "Gar nichts tut ihr. So lange er die Finger von unseren Geschäften lässt, ändert sich für uns nichts.", sagte Juan mit ruhiger Stimme, was seinen Freund am anderen Ende der Leitung beruhigte.



    "Und was tust du? Was ist mit dir?" "Ich tauche für eine kutze Zeit ab, bis Santos sich wieder beruhigt hat.", er zog dabei Annie kurz am Ärmel, die völlig deillusioniert neben ihm herging. Sie steuerten den Ticketschalter an. "Und wohin?", fragte Rico. "Besser für dich, wenn du das nicht weißt. Ich meld mich bei dir. Du und Taco habt die Sachen jetzt in der Hand." Er konnte Ricos Stolz in der Stimme hören. "Alles klar, du kannst dich auf uns verlassen." Danach beendeten sie das Gespräch und Juan kaufte am Schalter ein zweites Ticket nach Frankfurt.
    Nachdem sie die Kontrollen durchlaufen hatten, und Juan dem Mann am Sicherheitscheck einige Scheine zugestochen hatte, damit der ihn nicht auf das Geld in der Tasche ansprach, saß das ungleiche Pärchen in der Wartehalle. Annies Blick war leer, sie sprach nichts und sie kam Juan vor, wie ein kaputtes Spielzeug, eine leblose Hülle. Annie stand immer noch unter Schock und unter dem Eindruck der schlimmen Vorkommnisse, die sie eben mitansehen musste. "Seit wann wusste er, dass er Vater werden würde?", fragte der Kolumbianer dann irgendwann. Es dauerte ein wenig, bis ANnie antwortete und der Mann neben ihr hatte das Gefühl, sie hätte die Frage gar nicht gehört... oder wollte sie nicht hören. "Ich... ich weiß es nicht."



    Juan wollte die junge Frau, die wie ein Häufchen Elend auf den unbequemen alten Plastikstühlen saß, nicht ausquetschen. Aber trotzdem wollte er reden, sonst wäre er neben Annie wahnsinnig geworden. "Er hat mir gestern abend noch gesagt, dass er in Deutschland alles aufgegeben hätte, um dich zu retten. Und dass es ihm egal zu sein schien, ob er dabei umkommt." Der Kolumbianer zuckte dabei mit den Schultern. "Warum hat er mir nicht gesagt, dass er Vater wird?" Die rothaarige Frau schluchzte auf, und wieder bahnten sich Tränen in ihre Augen. Sie dachte daran, vor Jenny zu stehen... die Frau, die Kevins Kind im Bauch trug, und sie ihr sagen müsse, dass der Vater des Kindes, ihr Freund, tot sei.
    "Er hat sich so auf das Kind gefreut. Er hat gehofft...", sagte sie mit schluchzender Stimme "... dass ein Kind sein Leben wieder in die Reihe bringen würde." Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tränen aus dem Auge und Juan neben ihr konnte nicht anders, als ihr sanft einen Arm um die Schulter zu legen. Er hätte sich verfluchen können, den jungen Polizisten nicht davon abgehalten zu haben, sich aufzuteilen und somit ins Verderben zu stürzen. "Und dass er ein besserer Vater werden wollte, als sein eigener war. Und jetzt... jetzt wächst das Kind auch ohne Vater auf. Wie Kevin selbst." Als Annie den Satz beendet hatte, konnte sie ihre Emotionen nicht mehr halten. Sie brach wieder in einen Weinkrampf aus, der sie erzittern ließ, während Juan versuchte, das Mädchen zu trösten...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Hause Gerkhan - 19:30 Uhr



    Ben fuhr durch die gut beleuchtete Wohnsiedlung, und jedes Mal wenn sein Dienstwagen unter einer Straßenlaterne durch fuhr, wurde das Innere seines Autos kurz erleuchtet. Er war hier beinahe schon zu Hause, so oft wie er bei Semir und Andrea eingekehrt war. Zum Sonntagsbrunch, zum Babysitting oder um Semir abzuholen, wenn mal wieder dessen Dienstwagen in der Reparatur war. Er war einfach ein Teil der Familie, und es war beinahe schon Tradition, dass Andrea für die beiden Männer kochte, wenn sie einen Fall erfolgreich abgeschlossen hatten, so wie heute. Doch diesmal war Ben nicht in Feierlaune... aber alleine zu Hause rumsitzen war jetzt auch das Falsche. Er war noch schnell duschen, sich saubere (unblutige) Klamotten anziehen und hatte seine kleine Verletzung am Arm nochmal unter einem Verband versteckt.
    Eine Viertelstunde später, als er sich angekündigt hatte, klingelte er an Semirs Tür, der auch wenige Sekunden später lächelnd öffnete. "Auf die Minute zu spät, wie immer." Genau aus diesem Grund hatte Ben die Einladung heute nicht abgelehnt... es hatte nur Sekunden gedauert, und er musste ob Semirs saloppen Spruches grinsen und die beiden umarmten sich kurz, bevor Ben eintrat. Drinnen liefen sofort Ayda und Lilly auf ihren Lieblingsonkel zu und fielen dem großen Polizisten ebenfalls um den Hals. "Na, ihr Mäuse? Vorsicht, Onkel Ben ist ein wenig lädiert.", meinte er zu den beiden Mädchen und begrüßte danach auch Andrea.



    "Setz dich... willst du etwas trinken? Bierchen?" Ben nickte, als er sich an den gedeckten Tisch setzte. "Eins kann nicht schaden." Der kleine erfahrene Polizist verschwand kurz in der Küche und nahm zwei Flaschen aus dem Kühlschrank, während Andrea den Nudelauflauf aus dem Backofen holte. Die beiden Kinder hatten sich auch schon an den Tisch gesetzt. "Gibts was Neues von Carinas Mutter?", fragte er, als er zurückkam, sich setzte und seinem Partner zu prostete. "Nein. Carina würde bei ihr bleiben und sie hat sich bei uns bedankt für alles. Also, Carina hat sich bedankt, nicht ihre Mutter." Semir nickte. "Ich kann ihr Verhalten nachvollziehen. Dass sie alles getan hat, um an das Geld zu kommen, für ihre Mutter und dass der Tod ihres Bruders nicht umsonst war."
    Ben nahm einen Schluck aus seiner Flasche und war froh, dass Semir Verständnis für Carina aufbrachte, nachdem er von ihrer Unschuld die ganze Zeit nicht unbedingt überzeugt war... eigentlich auch zurecht. Aber die Gründe für das Verbrechen, das Carina mit ihrem Bruder und später ohne ihn weiterführte, waren für die beiden Polizisten menschlich verständlich. "Ich denke, wir schaffen es, sie da mit einem blauen Augen raus zu boxen bei der Staatsanwaltschaft. Sprechen wir morgen mit der Engelhardt drüber.", sagte der erfahrene Polizist.



    Andrea brachte das dampfende Essen, und die fünfköpfige Familie lud sich die Teller voll. Bens Hunger kam dann doch beim Essen, denn Semirs Frau kochte vorzüglich und der Nudelauflauf mit Rinderhackfleisch, Zuccini und Paprika war sehr lecker. Allerdings stieg er dann während des Essens von Bier auf Cola um, denn er musste natürlich noch nach Hause fahren. Andrea wurde von allen Seiten für das Essen gelobt und freute sich, dass es ihrer Familie geschmeckt hatte, während ihre Töchter halfen, das Geschirr abzuräumen und die beiden Männer alleine ließen.
    Man merkte Semir an, dass die Frage, die er nun stellte, beinahe etwas widerwillig über die Lippen kam. "Hat... Kevin sich nochmal bei dir gemeldet heute?" Bens Mundwinkel hoben sich ein wenig, denn er spürte sofort das Interesse seines Partners an dem gemeinsamen Freund, dass zuletzt aufgrund der Umstände erloschen schien. "Was gibts denn da zu grinsen?" "Du machst dir also doch Sorgen?", fragte der große Polizist und zog sein Handy aus der Hosentasche. Semir seufzte ein wenig genervt: "Ja, mein Gott... ich mach mir Sorgen. Mann Ben, versteh mich doch. Ich kann das einfach nicht so leicht vergessen, was passiert ist. Wäre das ein normaler Einsatz damals gewesen, wo sich diese Annie einfach stur gestellt hätte, der er jetzt hilft, hätte ich gesagt... Von mir aus." Der Polizist gestikulierte dabei mit den Händen, wie er es manchmal tat. "Aber das war kein normaler Einsatz... das weißt du genau."



    Beinahe beiläufig strich er dabei über das Pflaster, das morgen früh endlich Geschichte war. "Natürlich weiß ich das, Semir. Und wenn ich dich nicht verstehen würde, hätte ich Kevin doch auf der Dienststelle nicht zur Sau gemacht. Ich bin auch nicht einverstanden mit dem, was er getan hat. Ich weiß aber auch, warum er es getan hat." Semir nickte: "Ich weiß... wegen seiner Schwester, wegen diesem Trauma." Sein Blick war ein wenig traurig, und er sah mit hochgezogener Augenbraue in Richtung seines Partners. "Kevin sollte viel eher mal zum Psychologen als ich, was?" "Das kannst du laut sagen.", stimmte Ben ihm zu. Dann zeigte er Semir die letzten Nachrichten von Kevin, die von heute morgen war.
    Für einen Moment schwiegen die beiden Männer, Andrea brachte die Kinder zu Bett und saß sich dann ebenfalls noch an den Tisch um sich ein Glas Wein auszuschenken. Ben hatte die Hände auf dem Tisch zusammengefaltet und sah die beiden abwechselnd an. "Was... was wird passieren, wenn Kevin zurückkehrt?", fragte er vorsichtig, denn er war sich immer noch nicht sicher, trotz den eher versöhnlichen Worten von Semir, ob der nochmal mit Kevin zusammenarbeiten würde... und Andrea hatte ja auch recht ablehnend auf den jungen Polizisten reagiert, als sie erfuhr, was passierte.



    Semir blickte kurz zu seiner Frau, die nickte. Als hätten die beiden schon drüber gesprochen ergriff der erfahrene Kommissar wieder das Wort: "Kevin gehört zur Familie. Vielleicht muss man ihm das immer und immer wieder zeigen, bis er es begreift. Auch wenn das Vertrauensverhältnis schon ein wenig... angeknackst ist... mal wieder." Bens Herz hüpfte, auch wenn es durch den zweiten Satz sich wieder ein wenig zusammenzog. Aber konnte man es seinem besten Freund und dessen Frau wirklich verübeln, dass nicht sofort wieder alles eitel Sonnenschein war? Nein, konnte man nicht. Und bezogen darauf, dass Ben befürchtete, Semir würde der Chefin nahe legen nicht weiter mit Kevin zusammen zu arbeiten, war diese Aussage doch mehr positiv als negativ.
    "Ausserdem wollen wir auch das Beste für das Kind. Damit es in guten Verhältnissen aufwächst braucht es Kevin... und zwar den Kevin, der er bis zu dem Fall mit Annie war und nicht der Kevin, der er war als er hierher kam.", sagte Andrea und meinte damit den Kevin, getrieben vom Hass und drogenabhängig. Auch da nickte Semir zustimmend: "Jenny braucht Kevin. Und Kevin braucht uns. Wir lassen ihn nicht hängen." Ben war beinahe ergriffen, dass Semir und Andrea über ihren Schatten sprangen und die Freundschaft zu Kevin stärker als Semirs Trauma. Es wäre für ihn unerträglich gewesen, zwischen den Stühlen zu sitzen denn er konnte den jungen Polizisten, der gerade in Kolumbien war, verdammt gut leiden.



    Eine Stunde später verabschiedete Ben sich müde von Andrea, und Semir brachte seinen besten Freund zur Haustür. Die beiden Männer umarmten sich und Ben meinte, wie schön es wäre, dass Semir wieder der Alte wäre. Morgen würde das Kapitel Sturmfront mit dem Entfernen der hässlichen Narbe entgültig abgeschlossen werden. Das Handy des Polizisten brummte. "Hey, schau mal." sagte er und zeigte Semir die Nachricht. Darin schrieb Jenny, dass sie heute mit Kevin telefoniert habe, dass er Annie gefunden hatte und morgen wohl wieder zurückkommen würde. Semir versuchte den Teil mit Annie auszublenden, und war froh, dass es Kevin gut ging, und er scheinbar auf dem Weg zurück nach Deutschland war.

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Krankenhaus - 6:30 Uhr



    Es war diesmal nicht Bens Wecker, der ihn aufweckte sondern das Klingeln seines Handys. Auch das war nichts ungewöhnliches, oft genug dass er von seinem besten Freund Semir mitten in der Nacht geweckt und angerufen wurde, wenn der mal wieder irgendwo in der Klemme steckte, in einem Fall eine heiße Spur hatte oder ein wichtiger Einsatz anstand. Grummelnd drehte sich der Polizist um in Richtung des Nachtisches und nahm sein Handy zur Hand, das erbarmungslos Krach machte. Der Name auf dem Display beunruhigte ihn. "Carina... was ist passiert?", fragte er und war sofort hellwach. Er hörte nur das zaghafte Schniefen der jungen Frau. "Kannst du... kannst du mich vielleicht abholen kommen?" Ben sagte sofort zu, ohne zu fragen was passiert war... aber eigentlich hätte er es sich denken können.
    Der Polizist sprang, nur in Shorts bekleidet, aus dem Bett und lief ins Bad, wo er sich schnell wusch, die Zähne putzte und die wild abstehenden langen Haare halbwegs in eine Form brachte. Dann schlüpfte er in Klamotten, schnappte den Autoschlüssel und seine dicke Winterjacke vom Haken und lief die Treppen im Flur herunter zur Tiefgarage seiner teuren Wohnung, wo er schon Monatelang allein lebte. Die Tiefgarage empfing ihn mit flackerndem Licht und unangenehmer feuchter Kälte, die draussen in trockene eisige Kälte umschlagen sollte, wenn er am Krankenhaus ausstieg.



    Der Polizist nahm den gleichen Weg wie am Vorabend, zeigte an der Pforte noch seinen Dienstausweis und meinte, dass er dienstlich hier sei und angerufen wurde, da noch keine Besuchszeit war und vor allem die Intensivstation für Nichtangehörige tabu war. Aber noch vor der kritischen Tür saß Carina zusammengesunken auf einem Stuhl, die Augen gerötet und die Haare strähnig. Man sah ihr sofort an, dass sie heute Nacht kaum, wenn überhaupt geschlafen hatte. Sie blickte auf zu Ben, als dieser den Flur entlang kam und abbremste, denn die junge Frau stand auf und kam ihm sofort entgegen, um ihm um den Hals zu fallen. Genauso wie sie sich gestern verabschiedet hatten, standen sie jetzt da... nur dass aus Carina keine Dankbarkeit strömte, sondern bittere Tränen der Trauer.
    "Sie ist ganz ruhig eingeschlafen.", sagte die junge Frau leise, als sie sich nach ein paar Minuten beruhigt hatte, und Ben ihr tröstend mit der Hand über den schlanken Rücken streichelte. "Aber... aber ich glaube sie hat gemerkt, dass ich bei ihr war. Sie hat meine Hand gehalten und... und immer wieder gedrückt." Der Polizist spürte, so makaber es auch klang, dass sich in Carina neben ihr großen Trauer um ihre Mutter, auch ein wenig Erleichterung breit machte. Die Vorstellung, ihre demenzkranke Mutter nun auch noch mit einer schweren Herzkrankheit belastet zu sehen, hatte der Frau ebenfalls heute Nacht den Schlaf geraubt.



    Trotzdem überwog die bleischwere Trauer, die Mutter zu verlieren so kurz nachdem der andere Halt in ihrem Leben durch den Tod ihres Bruders weggebrochen war. Sie fühlte sich jetzt schwach und leer, nachdem sie heute Nacht so stark war, und der Halt für ihre todkranke Mutter war, sie begleitete bis zum Schluß. Darauf war sie stolz und auch froh, dass sie ihrer Mutter zumindest diese Angst, allein zu sterben, nehmen konnte. Carina war da, Carina war bei ihr und sie musste nicht alleine den letzten Weg gehen. Ben brauchte ihr das auch nicht zu erklären und spendete nur stummen Trost in Form dessen, dass er sie im Arm hielt und das half der jungen Frau ungemein. Sie schauderte es sich vorzustellen, jetzt alleine zu sein, zurück in die Wohnung zu müssen.
    "Wenn du willst, kannst du zu mir kommen und schlafen... du bist doch bestimmt müde.", bot er ihr dann auch an, den er konnte sich vorstellen, dass die junge Frau jetzt alles wollte, aber nicht alleine sein. Sie nickte dankbar in seinen Armen und presste die Lippen ein wenig aufeinander. Dann erst löste sie sich aus seinen starken Armen und die beiden sahen sich für einen Moment nochmal an, Carinas Augen voll Dankbarkeit und Trauer, eine seltsame Mischung, fand der Polizist.



    Zum Glück hatte er ausnahmsweise mal aufgeräumt, weil er in den letzten Tagen nicht alzu viel zu Hause war... nur zum Schlafen und Essen. So musste er kein dreckiges Geschirr oder liegengelassene Pizzaschachteln rechtfertigen, als er Carina von der Tiefgarage durch den Aufzug nach oben in seine Wohnung führte. Die junge Frau war sehr still im Wagen, hatte nur noch gesagt dass es wohl so gegen 5 Uhr sein musste, als das Herz ihrer Mutter aufhörte zu schlagen und sie danach noch ein Gespräch mit einem Arzt hatte. Der hatte ihr auch geraden, einen Angehörigen anzurufen, der sie abholen sollte, alle weiteren Formalitäten würde man am Mittag regeln, sie solle sich jetzt erst einmal ausruhen und nach Möglichkeit nicht alleine sein.
    Ben wählte von unterwegs noch die Nummer seines Partners, es war mittlerweile halb 8 und er erwischte Semir gerade mitten in den Morgenvorbereitungen für seine Familie. Es schien, als hätte er in einer Hand die Frühstücksdose für Lilly, in der anderen Hand den Rucksack von Ayla und das Handy noch gerade so zwischen Ohr und Schulter eingeklemmt, den er klang ein wenig gestresst. "Hi, ich bins. Sag der Chefin mal, dass ich heute frei mache... oder, wenn sie schlecht gelaunt ist, sag ihr ich bin krank." "Ist was mit Carinas Mutter?", fragte Semir sofort, den Ben klang etwas ernst. "Ja... ich meld mich später nochmal bei dir." "Alles klar, Ben. Ich regel das." Ein Partner, der einem den Rücken frei hielt, war Gold wert, dachte der junge Polizist als er im Hintergrund Ayda und Lilly plappern hörte.



    Etwas schüchtern trat die junge Frau in die große und gut ausgestattete moderne Wohnung des Polizisten. Sie wunderte sich über den Lebensstandard, denn sie wusste dass Polizisten nicht unbedingt ein Vermögen verdienten, auch wenn sie Kommissar waren. Und Ben war ja noch recht jung. Sie wusste natürlich nicht, dass Ben der Sohn eines millionenschweren Unternehmers war, und eigentlich auf seinen Job gar nicht angewiesen, doch für Ben war Polizeiarbeit so etwas wie eine Leidenschaft. Ausserdem könnte er, nach Jahren der Zusammenarbeit mit Semir, den kleinen Polizisten niemals im Stich lassen, um stattdessen nur hin und wieder für seinen Vater zu arbeiten und dann später das Unternehmen zu übernehmen. Nein... dafür war Zeit. Er würde seinen Partner weiter begleiten, er war ein gutes Stück jünger als Semir und wenn der einmal den Job an den Nagel hing, könnte er immer noch entscheiden, ob er dann die Firma übernahm.
    Carina sagte aber nichts, dass sie überrascht war, hatte aber trotzdem ein Kompliment: "Du hast eine tolle Wohnung." Bens Antwort fiel vielsagender aus, als er eigentlich wollte: "Danke... sie ist aber eigentlich zu groß für mich alleine." "Du wohnst also alleine?" Jetzt erst spürte Ben, dass seine Antwort beinahe schon ein Wink mit dem Zaunpfahl war, und drehte sich von der jungen Frau weg. "Ja... willst du etwas trinken? Oder willst du ein wenig schlafen... das Schlafzimmer ist..." "Ach komm... ich schlaf hier auf der Couch, mach dir keine Arbeit.", sagte die junge Frau mit leiser Stimme, und schaffte sogar ein kleines Lächeln.



    Ben eilte in sein Schlafzimmer und kam mit Wolldecken und einem bequemen Kissen zurück, um Carina ein gemütliches kuscheliges Nest auf der Couch zu bereiten. Ihre Lider fühlten sich bleischwer an, und die Aussicht ein wenig im Reich der Träume zu versinken um diese schlimme Nacht zumindest ein wenig zu vergessen, war verlockend. Sie zog sich die Schuhe vor der Couch aus und schlüpfte müde unter die Decken, die sie sofort wärmten. "Bleibst du bei mir?", fragte sie schon ein wenig schläfrig, und er nickte. "Ja, natürlich. Ich bin höchstens mal nebenan im Büro, falls du wach werden solltest und ich nicht hier bin.", sagte er mit einer Stimme, die in Carina sofort Vertrauen auslöste.
    Die junge Frau seufzte ein wenig und meinte noch: "Meine Mutter war eine sehr fröhliche Frau... das hatte man gar nicht mehr so gemerkt, seit sie krank war." Dann lächelte sie Ben an: "Du hättest ihr bestimmt gefallen." Auch der Polizist lächelte und deckte die junge Frau noch etwas mehr zu, die langsam im Schlaf versank. Ben ging vor der Couch in die Hocke und strich Carina gedankenverloren durchs Haar, während er ihr hübsches Gesicht betrachtete...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

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    Wenn Engel hassen

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    Wie sie.


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  • Jenny's Wohnung - 12:30 Uhr



    Jenny hatte zum ersten Mal seit Tagen wieder gut geschlafen. Sie fühlte sich morgens nicht wie gerädert, sie stand um 9 Uhr auf und das Einzige, was ihr noch zu schaffen machte, war die Übelkeit am Morgen. Doch diesmal hatte sie den Magen unter Kontrolle, ohne sich übergeben zu müssen, die frühstückte etwas Leichtes und sah immer wieder auf ihr Handy. Das Gespräch mit Kevin gestern Nachmittag hatte ihr unglaublich viel Kraft gegeben. Die Angst davor, dass Kevin unglücklich sei über das Kind, dass er sich nicht bereit fühlte für ein Kind oder die es in ihrer Beziehung einfach zu früh war... weggeblasen. Sie spürte auf einmal, dass ein gemeinsames Kind eine Chance war, ihre Beziehung noch zu vertiefen, die so schwierig war mit diesem komplizierten Mann.
    Manchmal hatte Jenny das Gefühl, den Mann in ihrem Bett nicht zu kennen. Tage kamen, da war er so schweigsam, so verschlossen. Er saß von Feierabend bis zum Abendessen, und bis spät in die Nacht auf dem Balkon der kleinen Wohnung und blickte über die Nachbarshäuser, antwortete nur kurz und knapp, wenn Jenny ihn etwas fragte. Er teilte sich seiner Freundin nicht mit... was bedrückte ihn, bedrückte ihn überhaupt etwas, was war los? Von einem auf den anderen Tag war dann wieder alles in Ordnung... Kevin lachte mit ihr, scherzte, und behandelte die junge Frau wie eine Königinn. An diesen Tagen war sie die glücklichste Frau der Welt.



    Dass es mit Kevin nicht einfach wurde, wusste sie. Sie wusste von seiner Vergangenheit, seinen Drogenproblemen die letzten Spätsommer nach einem Einsatz beinahe eskalierten, von seinen Depressionen die in, im Drogenrausch unabsichtlichen Selbstmordversuchen endeten. Kevin war kurz davor die Kontrolle zu verlieren, und Jenny rettete ihn. Sie verliebten sich, sie stellten sich selbst auf eine harte Prüfung durch und wurden auf Prüfungen gestellt. Jennys Vergewaltigung, Kevins Verhaftung... und eine kurze Affäre zwischen Jenny und ihrem Kollegen Ben, bevor sie mit Kevin endgültig zusammen kam. Danach dachte die junge Polizistin, sie und der ehemalige Kriminelle würden alles schaffen, jede Prüfung, die sich ihnen in den Weg stellte.
    Sie verglich ihren Freund in ihren Tagebucheinträgen oft mit einem Straßenkater, dem es schwer fiel, sich von seiner Straße und seiner Freiheit zu verabschieden, und der in seinem Charakter so speziell war, dass es dauern würde, bis sie Herzenspartner werden würden. Doch kurz bevor die Sache mit Annies Verschwinden aufkam, und sich Kevins Dämon wieder meldete, hatte Jenny das Gefühl, den Straßenkater endgültig gezähmt zu haben. Sie planten einen gemeinsamen Urlaub, sogar über den Kauf eines Hauses hatten sie gesprochen, und der Polizist erkannte sich selbst nicht. Er, der unangepasste Rebell der Polizei, "drohte" zum Spießer mit Haus und Garten zu werden. Der Gedanke war ihm selbst hin und wieder unbehaglich, aber Jenny verscheuchte dieses ungute Gefühl durch ihre Liebe zu ihm... eine Liebe, die er nie so verspürt hatte, ausser in der Beziehung mit Annie.



    Immer wieder sah die junge Polizistin auf die Küchenuhr. Sie hatte im Internet gesucht, wann die Maschine aus Bogota am heutigen Tag in Frankfurt landen würde, rechnete noch zwei Stunden für die Fahrt von Frankfurt hierher... eigentlich müsste er demnächst eintrudeln. Sie war voll Vorfreude darauf, doch je weiter die Zeit voranschreitete, desto unruhiger wurde die junge Frau. Immer wieder entsperrte sie, mit einem Wisch über das Display, ihr Handy um zu sehen, ob er vielleicht irgendeine Nachricht geschrieben hatte... dass der Flieger Verspätung hätte, dass er im Stau stand... nichts. Verspätung hätte er ja gestern abend schon geschrieben, bzw bei Ihnen Nachts.
    Die Ungewissheit ließ ihr keine Ruhe... sie wählte die Nummer der Dienststelle und dahinter Andrea's Durchwahl. "Hallo Andrea... ähm, kannst du mal etwas für mich rausfinden?" "Schieß los." "Kannst du mal sehen, ob auf der schnellsten Strecke zwischen Frankfurt und Köln irgendwo Stau ist, was von Google Maps nicht angezeigt wird?" Sie konnte ein wenig die Verwunderung in der Stimme von Semirs Frau feststellen. "Ähm... ja. Wartest du auf Kevin?" "Ja... er hat gestern gesagt, dass er heute zurück kommt. Aber... eigentlich müsste er schon da sein." Die junge Frau hörte Andrea's schnelle Finger über die Tastatur tippen. "Nein, Jenny... zwischen Frankfurt und Köln läuft alles. Kein Stau, kein Unfall." Innerlich nickte Jenny, bedankte sich bei ihrer Freundin und legte wieder auf.



    Der Minutenzeiger ihrer Küchenuhr raste weiter über das Ziffernblatt. Als nächstes wählte Jenny die Nummer von Bens Handy. "Hallo Ben... warum flüsterst du?" "Hey Jenny... warte, ich gehe kurz ins Büro." Die Polizistin hörte, wie Ben durch den Raum tapste, dann wie eine Tür langsam und vorsichtig geschlossen wurde. Seine Stimme sprach jetzt normal, aber gedämpft. "Carina schläft auf meiner Couch. Ihre Mutter ist heute morgen gestorben, und sie wollte nicht alleine sein. Wie geht es dir?", fragte er dann, denn er wusste ja, dass Jenny eigentlich noch krank geschrieben war. "Oh, mir geht es schon besser... sag mal, hast du heute eine Nachricht von Kevin bekommen." "Hmm, jetzt wo du es sagst... moment."
    Für einen Moment war es ruhig auf der Leitung, scheinbar schaute Ben gerade auf seinem Handy nach. "Nein... eigentlich hat er mir morgens immer geschrieben. Komisch." "Ja, aber er soll heute heimfliegen...", sagte die junge Frau. "Vielleicht konnte er vorher nicht mehr. Er war gestern abend um halb sieben unserer Zeit das letzte Mal online... wann ging der Flieger?" "Eigentlich erst abends... also gegen zwei Uhr Nachts bei uns, glaube ich." Eine Zeitspanne von über 6 Stunden, in der Kevin nicht auf sein Handy guckte, oder zumindest den Messenger ausließ... das war ungewöhnlich. "Ach Jenny, mach dir keine Sorgen. Sein Akku wird wohl leer sein... wer weiß, wo er die ganze Zeit gehaust hat, ob er dort Strom hatte.", versuchte Ben die junge Frau ein wenig zu beruhigen. "Ja, das wirds wohl sein. Ich... ich meld mich einfach, wenn er da ist, okay?" "Mach das... bis dann."



    Die junge Frau fühlte sich nicht beruhigter, als sie das Gespräch beendet hatte... im Gegenteil. Nun wählte sie Kevins Nummer, doch die Stimme aus der Hörmuschel sagte ihr sofort, dass der Gesprächspartner nicht zu erreichen sei. Das war nun wirklich eigenartig, denn normalerweise hatte der Polizist die Mailbox angeschaltet. Oder hatte das mit dem Ausland zu tun? Aber eigentlich dürfte er gar nicht mehr im Ausland sein? Aber das Handy war zuletzt im Ausland eingebucht...
    Jennys Gedanken flogen durch ihren Kopf, flogen von rechts nach links und wieder zurück... und langsam fühlte sich ihr Magen nun doch an, als würde er sich ganz langsam auf den Kopf drehen, denn in ihr wuchs Angst. Eine nicht rational erklärbare Angst kam plötzlich in ihr auf. Als es klingelte, schreckte sie hoch, und die Vorfreude drang zurück in ihren Kopf. Sie flitzte auf Socken zur Sprechanlage: "Hallo?" Die Enttäuschung folgte sofort: "Hier ist Semir... störe ich?" "Ähm... nein, natürlich nicht... komm ruhig rein." Sie betätigte den Summer, und der Polizist trat in das Mehrfamilienhaus ein. An der Wohnungstür klopfte er, und Jenny öffnete ihm. "Na, das ist ja eine Überraschung.", sagte Jenny und lächelte, doch es wirkte gequält, denn zu lächeln war ihr nicht zu Mute.



    "Ja... ich war zufällig hier in der Nähe, und wollte mal wissen, wie es dir geht." Jenny bot ihm die Couch an, und der Kommissar setzte sich. "Mir gehts wieder besser. Morgen komm ich wieder arbeiten.", sagte sie. Ein wenig scheute sie sich davor, Semir zu sagen, dass Kevin wieder zurückkam, denn sie wusste ja, wie Semir auf seinen Kollegen gerade zu sprechen war, und fand es für sinnvoller, das Thema jetzt nicht anzuschneiden. Doch das tat der erfahrene Polizist von sich aus. "Ich wollte noch sagen... dass du keine Angst haben brauchst. Also... ich für meinen Teil und auch Andrea, wir hegen jetzt keinen Groll gegen Kevin. Natürlich war ich enttäuscht, geschockt und habe immer noch nicht wirklich viel Verständnis dafür, was er getan hat... aber er gehört, wie du auch, zur Familie. Da brauchst du also nicht zu befürchten, dass es da... Probleme gibt." Semir war es wichtig, dass Jenny das wusste, und sie nickte dankbar.
    "Davor hatte ich wirklich ein wenig Angst, dass ihr euch nicht mehr zusammenrauft. Das wäre schwierig für mich geworden... deswegen bin ich froh, dass es nicht so ist." Für einen Moment konnte sie wieder lächeln, und die beiden umarmten sich für einen Moment.



    Dann klopfte es... Jenny schreckte hoch. Scheinbar war jemand unten durch die Haustür gekommen, als eine Mitbewohnerin das Haus gerade verlassen hatte. Eine Mischung aus Vorfreude und seltsamer Befürchtung durchflutete Jennys Körper, als sie aufstand und zur Tür ging. Ersteres Gefühl verschwand sofort, nachdem sie die Tür geöffnet hatte, und das zweite Gefühl wurde stärker, schlimmer, unangenehmer. Vor ihrer Tür stand ein muskulöser, dunkelhäutiger Mann im braunen Shirt und schulterlangen schwarzen Haaren. Jenny kannte ihn nicht, jedoch die Person, die bei ihm war. Die roten Haare waren nicht zu verkennen, und die rot verheulten Augen, mit denen Annie Jenny jetzt anblickte, die frischen Tränenspuren, die sich quer durch ihr Gesicht zogen, versetzten Jenny einen Schlag in den Magen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

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    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Köln - 12:30 Uhr



    9 Stunden in der Luft war keine angenehme Sache. Annie hatte zwar weder Flug- noch Platzangst, aber der Weg zurück nach Deutschland kam ihr wie eine Ewigkeit vor. Sie saß, zusammengekauert am Fenster, blickte hinaus in die schwarze Nacht bis sie ungewöhnlich schnell, weil sie ja mit der Zeit flogen, den hellblauen Horizont und dann die Sonne sehen konnte. Es war ein wunderschönes Naturschauspiel, das Neuanfang und Hoffnung symbolisierte und eigentlich sollte dieses Symbol auch für Annies Heimkehr stehen... nach diesem schlimmen Abenteuer, von Kevin gerettet wieder zurück zu kommen zu ihren Freunden, die Drogen hinter sich lassen und vielleicht sogar ihr Leben grundlegend ändern. Das Symbol hätte so schön gepasst, wenn statt Juan Kevin neben ihr sitzen würde.
    Die Strahlen der Sonne brachen sich in den Tränen, die nun erneut aus ihren Augen die Wangen herunterliefen, als die junge Frau darüber nachdachte. Juan saß neben ihr, den ganzen Flug über still was nicht zu seinem impulsiven Wesen passte, und nicht Kevin. Er war von der Brücke gestürzt, von der der Kolumbianer überzeugt war, dass man sie nicht überleben kann... und wenn doch, hätte derjenige im wilden Rio Cauca keine Chance. Sie konnten ihn nicht suchen, sie mussten fliehen... Kevin wollte es so.



    Annie hatte ein paar Mal versucht zu schlafen, im Dämmerlicht der Nachtbeleuchtung, doch immer wieder brachen bedrohliche Bilder über sie herein. Von den Männern, die bei ihr waren als sie still da lag und einfach alles über sich ergehen ließ, nur um Geld zu bekommen und sich das nächste Pulver, die nächsten Pillen oder am Ende den nächsten Schuss setzen zu können. Bilder von Kevin, wie er leichenblass, bewusstlos oder sogar tot am Ufer eines Flusses lag, die abstehenden Haare triefnass am Kopf angelegt. Annie konnte an den nackten Füßen die Steine spüren, über die sie lief, konnte seine nasse kalte Haut spüren als sie ihn schüttelte und flehte, er möge wieder aufwachen, aufstehen und mit ihr das Land verlassen.
    Immer wieder schreckte sie hoch, und Juan wiederholte fast mechanisch, dass sie einen Alptraum hätte. Die junge Frau fühlte sich so elend, das schlechte Gewissen drückte ihr auf die Seele und immer, wenn sie daran dachte Jenny nachher sagen zu müssen, dass ihr Freund, der Vater ihres Kindes, in Bogota umgekommen war, bei dem Versuch sie zu retten legte sich ein eiserner Ring um ihre Brust, der ihr das Atmen erschwerte und immer wieder die Tränen in die Augen trieb. Dann krallte sie sich mit den Fingern in die Lehne des Sitzes, und sie versuchte das Suchtgefühl, das langsam wieder aufkam, zu unterdrücken.



    Das Flugzeug landete pünktlich, Juan besorgte einen Mietwagen um auf dem schnellsten Weg nach Köln zu fahren. Es war auch dem Kolumbianer im Inneren ein Bedürfnis Kevins Freundin zu informieren, denn auf sonderbare Art und Weise fühlte er sich mit dem jungen Draufgänger verbunden, irgendwie verantwortlich. Er hatte mehr Erfahrung mit Santos, mit dem Dschungel und den Begebenheiten... und er hätte ihn nicht alleine lassen dürfen, nicht zulassen dürfen dass sie sich trennen.
    Auch die Fahrt nach Köln verlief ruhig, Juan war bereits öfters in Deutschland, weswegen er die Gegend und natürlich auch die Sprache konnte. Seine Beifahrerin wurde Kilometer für Kilometer unruhiger, je dichter sie sich Köln und damit der unausweichlichen Katastrophe näherten. "Du hast Angst davor, die Nachricht zu überbringen, hmm?", fragte er dann irgendwann, als sie gerade die Abfahrt Köln nahmen und die junge Frau nickte. Sie war schon einmal an Jennys Haus, als sie die Hausfassage mit einer Spraydose verunzierte, nachdem sie erfahren hatte dass Kevin Polizist war und sie wies Juan den Weg durch die Innenstadt in ein Gebiet mit renovierten Altbauhäusern, wo jeweils 2, 3 oder 4 Wohneinheiten untergebracht waren. Vor einem Haus, wo ein silberner BMW geparkt war, hielt der Kolumbianer an.



    Der Weg nach oben, nachdem sie durch die Tür geschlüpft waren als dort gerade ein Mann das Haus verließ, war für Annie wie ein Kreuzweg. Sie zitterte, wie Juan, vor Kälte, weil sie ja noch die kurzärmelige Kleidung von Bogota an hatten, und es hier gerade mal knapp unter 0 war. Doch Annies Zittern hatte auch einen anderen Grund... sie hatte Angst. Angst vor der Reaktion Jennys, Angst davor zu sagen, was passiert war. Juan ging mit, den er wollte die junge Frau nicht alleine lassen... man konnte nie wissen, wie eine liebende Freundin auf den Tod des Freundes reagierte. Wenn einer seiner Männer zu Tode kam, war auch er es, der zur Familie ging um zu sagen, was passierte. Er war es, in gewisser Weise, beinahe gewohnt.
    Als die junge Frau klopfte, liefen schon wieder die Tränen, den der Druck der Klammer um ihre Brust wurde immer stärker. Sie hatte das Gefühl, sich festhalten zu müssen, als sich die Tür öffnete, und Annie der Frau gegenüberstand, die ein Kind in sich trug von dem Mann, in den Annie selbst immer noch verliebt war, und den beide Frauen gestern für immer verloren hatten. Äusserlich sah man Jenny diesen Umstand noch nicht an, Annie blickte in diesem Moment auch eher direkt in das Gesicht der Polizistin, und hatte zuerst keine Worte.



    Die fand Jenny dann aber... zögerlich, erst langsam realisierend was es zu bedeuten hatte, wenn Annie mit einem fremden Mann vor der Tür stand und feuchte Augen hatte, sowie Tränenspuren im Gesicht... statt mit Kevin dort zu sein, der fehlte. Das versteinerte Gesicht löste sich erst langsam mit einem Kopfschütteln in Zeitlupe. "Nein...", flüsterte sie fassungslos und hielt sich die Hände vor den Mund. Ihre Reaktion ließ Annie sofort wieder erzittern, ihre Augen füllten sich. "Wo ist er... wo ist Kevin?", fragte Jenny und spürte, wie auch ihre Augen sich langsam mit Tränen füllten. "Es tut mir so leid...", sagte die rothaarige Frau beinahe im Flüsterton, leise und stockend. "Nein... das kann nicht sein.", stammelte die Polizistin.
    Aufgeschreckt durch die Wortfetzen, die bis ins Wohnzimmer gut hörbar waren, kam nun auch Semir zur Tür und erblickte Annie, sowie den fremden Mann hinter ihr. In erstem Affekt, als er die Frau erblickte, die Schuld für das Pflaster an seinem Hals war, dass er am späten Nachmittag endlich loswerden würde, wollte er sie anschreien und rauswerfen. Sein Blick wurde auch sofort ablehnend. "Was ist hier los? Was ist passiert?" Dann sah er Jennys Reaktion, die am ganzen Leib zitterte, aber noch in einer Art Schockstarre war.



    Annie bekam kein Wort mehr heraus. Sie begann zu weinen und versuchte etwas zu sagen, doch ihre Worte blieben tonlos. "Was ist passiert?", fragte Semir nun deutlicher in einem Ton, den er bei einer weinenden Frau eigentlich niemals anschlagen würde, aber der Eindruck von der Tat, die Annie getan hatte, war noch zu frisch. "Er... er ist von einer Brücke gestürzt... es... es tut mir so leid... ich...", stammelte Annie, ihre Worte vermengt mit Schluchzen. Dann löste sich Jennys Schockstarre in einem "Nein", die Tränen liefen und ein Weinkrampf nahm von ihr Besitz. Sie klammerte sich an den, nur ein wenig kleineren Semir, der sie sofort in den Arm nahm, und dessen Gesichtsausdruck versteinerte, als er realisierte, was Annie gerade gesagt hat. Wäre er verletzt und noch in Kolumbien, hätte sie das doch sofort gesagt, wären sie überhaupt nicht hier. Ohne dass Annie es wirklich definitiv aussprach wussten Jenny und Semir, dass Kevin tot war. Der Mann verharrte ebenfalls in der Schockstarre, als er die weinende Jenny im Arm hielt. "Komm... komm Jenny.", sagte er dann irgendwann leise und nahm die junge Frau bei der Hand. Er hatte Befürchtung um ihr Ungeborenes bei einem solchen Schock und führte sie zunächst aufs Sofa, während Juan Annie mit leichtem Druck in die Wohnung schob. Sie konnten jetzt nicht einfach verschwinden, und Annie war ausser Stande noch weitere Erklärungen abzugeben.
    Semir hielt die sitzende, und um Fassung ringende Jenny fest im Arm, die leise immer wieder sagte: "Er hat versprochen, zurück zu kommen... er hat es mir versprochen..."

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 13:15 Uhr



    Die Stimmung in der schön eingerichteten Wohnung war surreal. Jenny weinte an Semirs Schulter, war kaum zu beruhigen und zitterte am ganzen Leibe. Annie hatte das Gefühl, sie hätte keine Tränen mehr, soviel hatte sie seit gestern nachmittag geheult, und sie fühlte sich unendlich schlecht der jungen Polizistin gegenüber. Semir spendete Jenny Trost, hatte sie in den Arm genommen, über den Kopf gestreichelt und ihr einfach den Freiraum gegeben, den sie brauchte, sie weinen lassen, während er selbst unter Schock stand. Er hatte zwei, zählte man den damals geglaubten Tod von André noch mit, bereits drei Kollegen verloren, und es war jedes Mal, als würde man ihm das Herz herausreißen. Damals war er aber jedes Mal dabei, was diesmal anders war. Vermutlich fühlte es sich deswegen so brutal für den erfahrenen Kommissar an. Er war nicht da, um ihm zu helfen... er konnte nichts tun, er war völlig im Unklaren.
    Und was noch viel schlimmer für Semir war: Das letzte, was er von Kevin in Erinnerung hatte war, dass er den jungen Polizisten auf der Dienststelle mit einem Faustschlag niedergestreckt hatte. Aus einem Grund und in einer Situation, die er vermutlich jederzeit verteidigen würde, die sich jetzt in diesem Moment aber unverzeihlich anfühlte. Mit Semir zusammen hatte der junge Kevin damals seinen ersten Fall, als Amtshilfe bei er Mordkommission. Und jetzt hatten sie sich im Streit verloren. Es war für Semir schwer zu ertragen, auch wenn er diesen Eindruck nur in Form einer ziemlich versteinerten, traurigen Miene nach aussen trug.



    Juan ließ, genau wie Semir, Jenny die Zeit. Das Erste, was dem Kolumbianer aufgefallen war, war dass dieser fremde kleine Mann eine silberne Waffe am Gürtel trug. Was in Kolumbien, vor allem in seinen Kreisen, nichts ungewöhnliches war, war in Deutschland selten und konnte eigentlich nur eins bedeuten... der Mann war Polizist. Während er wartete, hin und wieder Annie tröstete, lief sein Gehirn auf Hochtouren. Bisher ging er davon aus, dass Kevin wie er selbst in illegalen Geschäften steckte. Dessen Art und Weise vermittelte diesen Eindruck einfach. War der junge Mann vielleicht schon im Visier der Polizei, und sie waren gerade in ein Verhör geplatzt? Allerdings sprach der geschockte und beinahe resignierende Gesichtsausdruck des Mannes dafür, dass er Kevin eher privat gekannt hatte.
    Jenny wurde langsam ruhiger, der erste Ausbruch der Gefühle versiegte und noch immer fühlte es sich nicht real an, was sie gerade erfahren hatte. Semir hatte ihr angeboten, einen ihrer erfahrenen Notfallseelsorger anzurufen, doch stumm schluchzend schüttelte sie den Kopf. Sie hatte sich auch von der breiten Schulter des Polizisten ein wenig gelöst, und konnte dieser Frau, die bei ihr im Raum stand, nicht in die Augen sehen. Semir dagegen spürte, dass Annies Tränen mehr als ehrlich waren, dafür hatte er eine zu gute Menschenkenntnis.



    "Was... was ist denn überhaupt passiert? Warum... warum ist er von einer Brücke gestürzt?", fragte der Polizist mit versucht ruhiger Tonlage. Stockend begann Annie zu erzählen... den Grund ihrer Flucht, was dort hinten passiert war, wobei sie bezüglich ihrer Art der Geldbeschaffung einige Details weglies. Als sie auf Santos zu sprechen kam, übernahm Juan dann das Wort, wobei er relativ neutral berichtete. Er erzählte von der Flucht, Kevins Idee sich zu trennen und von dem Kampf auf der Brücke. "Ihr standet da oben, und konntet ihm nicht helfen?", fragte der erfahrene Polizist, der selbst soviele gefährliche Situationen erlebt hatte. "Es war zu weit weg... ich konnte Santos mit einem Schuss noch ablenken... aber...", sagte Juan langsam und zuckte mit den Schultern, während Jenny erneut die Tränen in die Augen stiegen, während sie sich die Situation auf der Brücke vorstellte. Der Polizist konnte Juan nicht mal einen Vorwurf machen, denn er erinnerte sich selbst zurück. Er hatte Carlos Berger schon im Visier auf dem Speedboot bei Sa Calobra und drückte nicht ab, aus Angst, André zu verletzen. Sein Zögern bezahlte sein Partner beinahe mit dem Leben... damals glaubte Semir, André wäre gestorben. Die Selbstzweifel und Vorwürfe, die er sich gemacht hatte, hätten ihn damals beinahe zerbrochen.
    "Wer sind sie überhaupt...?", fragte Semir dann in Juans Richtung, nachdem dieser die Geschichte geendet hatte, dass er Annie nicht alleine fliegen lassen wollte in ihrem Zustand. "Privater Reiseführer. Kevin hatte mich angeheuert, ihn bei der Suche nach Annie zu unterstützen." "Soso, Reiseführer. Und die Reiseführer dort haben allesamt Erfahrung damit, sich mit Drogenkartellen anzulegen?" Das kriminalistische Gespür in ihm war geweckt, aber Juan verzog keine Miene. "Ich war bei der Armee... und in Kolumbien ist es von Vorteil, wenn man sich zu verteidigen weiß, Senor." Semir beließ es dabei und nickte nur skeptisch.



    Er hatte die Hände immer noch auf die bebenden Schultern von Jenny gelegt, und konnte nun ihre leise, tränenerstickte Stimme hören. "Habt ihr... habt ihr ihn... habt ihr Kevin danach gefunden?" Es war eine quälende Ungewissheit, soweit weg zu sein vom Ort des Geschehens, genauso wie Semir ihm nicht helfen zu können und einfach nur die Nachricht überbracht zu bekommen, dass Kevin tot sei. Alles entsprang Jennys Fantasie, und diese Fantasie gaukelte ihr furchtbare Bilder vor. Juan schüttelte den Kopf: "Wir mussten fliehen, sonst hätte Santos uns erwischt." "Das heißt, ihr wisst gar nicht sicher, dass Kevin tot ist?", fragte Semir schnell, und auch Jenny schaute auf. Sie kannte natürlich auch die Geschichte um André, der 14 Jahre für tot gehalten wurde und plötzlich quicklebendig in Köln auftauchte.
    "Ich kenne diesen Fluss, und ich kenne diese Brücke. Und deswegen weiß ich, dass ihre Hoffnung umsonst ist. Es war gerade Regenzeit in Kolumbien. Der Fluss dort ist kein Fluss wie der Rhein, sondern ein reißendes Monster, mit Felsen, Steinen, Strudel und Stromschnellen." Juan tat es in der Seele weh zu sehen, wie Jenny unter diesen Beschreibungen litt, aber er wollte keinesfalls eine falsche Hoffnung erzeugen. "Wenn er den Sturz überlebt hat... der Fluß macht keine Gefangenen. Glauben sie mir, Senorita...", wandte er sich jetzt direkt an die junge Polizistin. "Ich kenne ihren Freund zwar nur drei Tage, aber glauben sie mir... wenn ich irgendeine Hoffnung gehabt hätte, dass man diesen Fluß überleben kann..." Seine Stimme stockte und er seufzte auf. Er hatte keine Möglichkeit gehabt ihn zu suchen, ausser er hätte Annie alleine fliegen lassen. Und selbst dann wäre es für ihn alleine lebensgefährlich gewesen.



    Trotzdem fragte Semir nochmal: "Wieso haben sie sich getrennt? Wenn sie diesen Santos doch kannten, wussten sie doch, wozu er fähig war." Juan seufzte und nun breitete sich auch in seinem Bauch ein beklemmendes Gefühl aus. "Kevin hatte mir am Abend zuvor erzählt... dass er alles in Deutschland aufgegeben hatte, um Annie zu retten." Jenny blickte zu Juan danach zu Semir. Ihr Freund hatte wirklich geglaubt, alles verloren zu haben. Ihre Beziehung, die Freundschaft zu Ben und Semir, seinen Job. Weil sie ihn vor die Wahl gestellt hatte, und er sich gegen sie entschieden hatte, dachte er, dass er nichts mehr zu verlieren hatte. Das, in Verbindung mit seinem teuflischen Dämon, den Jenny kannte, hatte wohl dazu geführt, dass er sich für Annie opferte. "Er hat gesagt, dass ihm Annies Rettung wichtiger ist, als sein Leben." Annie begann wieder leise zu weinen, und Jenny packte eine unglaubliche Traurigkeit. Stumm strich sie mit der Hand über ihren Bauch.
    "Dass er... dass er Vater werden würde, wusste er zu diesem Zeitpunkt scheinbar nicht.", gab der Kolumbianer leise zu. "Ich hab es ihm erst Nachts geschrieben...", schluchzte Jenny leise und nickte. "Am Morgen danach war er komplett verändert... er sagte aber nicht, was vorgefallen war." Das passte wiederum ganz hervorragend zu Kevin...



    "Mir hat er es gesagt... aber ich war... ich war so perplex als er sich von uns trennte... und er war so entschlossen. Ich war mir... ich war mir sicher, dass er es schaffen würde, Santos zu entkommen.", stammelte Annie leise und wischte sich die Tränen mit den Händen aus den Augen. "Er hat doch immer alles geschafft, was er wollte...", flüsterte sie leise hinzu, und hatte vor ihren Augen den starken, selbstbewussten Kevin von früher, den Fels in der Brandung, der seine Schwester beschützte, bei dem Annie sich rundum sicher fühlte. Das Bild zerbrach in kleine Stücke. "Warum hat er sich von euch getrennt, wenn er es wusste...?", fragte Jenny fassungslos und mit leiser, kaum durchdringender Stimme. "Warum hat er sich von euch getrennt? Warum hat er das getan??" Sie wurde lauter und blickte Semir an, griff den Polizisten an den Armen. "WARUM? Warum hat er das getan??", schrie sie und wurde dann wieder von einem Weinkrampf ergriffen...
    Juan und Annie beobachteten sie stumm, während Semir sie wieder in den Arm nahm. "Jenny... ich weiß nicht, was ich tun soll...", flüsterte die unglückliche rothaarige Frau und fühlte sich unendlich hilflos. "Es ist... vielleicht besser, wenn ihr jetzt geht.", sagte Semir vorsichtig. Er hatte die Geschichte gehört, er war selbst fix und fertig. Juan nickte und legte Annie eine Hand auf die Schulter, als die beiden langsam die Wohnung verließen, während Jenny weinend, leise gegen Semirs Schulter flüsterte: "Warum hat er das getan? Warum..." Der wiederum schluckte und presste kurz die Lippen aneinander: "Weil er das getan hat, was er glaubte bei seiner Schwester versäumt zu haben...", sagte Semir leise. Und er fühlte, dass er versagt hatte. Vor Kevins Dämon hatten sie ihn alle nicht retten können...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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    <3

  • Köln - 14:00 Uhr



    Ben fuhr gerade mit seinem Dienstwagen, den die beiden Polizisten auch privat nutzen durften, vor dem Krankenhaus vor. Carina hatte einige Stunden bei ihm geschlafen und sich danach ein wenig in seinem Badezimmer frisch gemacht, bevor er sie zurück ins Krankenhaus fuhr. "Wenn du willst, gehe ich mit.", bot Ben der jungen Frau an, die ein Gespräch mit dem Arzt, der ihre Mutter gestern noch behandelt hatte, führen sollte, um alles weitere jetzt abzuklären. Sie hatte sich etwas gefasst, der erste brutale Schock war jetzt der Traurigkeit, aber auch der Gewissheit gewichen, dass es ihrer Mutter jetzt vermutlich besser ging, als vorher. Das Vergessen verschwunden, bildete sich Carina ein, dass sie sich jetzt wohl fühlte, und, wo sie auch immer war, wieder an alle schönen Dinge in ihrem Leben erinnern konnte, während sie im Gegensatz dazu die weniger schönen einfach vergessen hatte.
    "Nein, wirklich nicht. Ich... ich muss das alleine schaffen. Du hast schon soviel für mich getan.", sagte sie und lächelte ein wenig, was ihr schon leichter fiel, als gerade eben noch. Ben nickte, er wollte sich nicht aufdrängen aber Carina das Gefühl geben, für sie da zu sein. "Okay. Du kannst mich ja anrufen... wenn du willst." Sie nickte und umarmte den Polizisten nochmal, bevor sie ausstieg und Ben nochmal zu winkte, bevor sie das Krankenhaus betrat. Der war sich immer noch nicht im klaren, welche Gefühle das wirklich waren, die er zu Carina in den letzten Tagen entwickelt hatte...



    Gerade, als er den Motor seines Wagens wieder startete, klingelte das Telefon. Auf dem Display prangte groß "SEMIR", und Ben war wenig erstaunt... wie immer, wenn einer der beiden mal einen Tag frei hatte, passierte irgendetwas, was den Urlaub abrupt beendete. "Hätte mich auch gewundert, wenn du mich nicht an meinem freien Tag anrufen würdest.", meldete er sich ein wenig schelmisch. Doch dann war er erschrocken, über Semirs Stimmlage. Sie klang erschöpft, sie klang traurig... sie klang hoffnungslos. Und später, als Ben zu Jenny unterwegs war, hatte er sich eingebildet, ihr Weinen im Hintergrund zu hören. "Kannst du zu Jenny in die Wohnung kommen? Es ist dringend... es geht um Kevin." "Was ist passiert?", fragte Ben sofort und spürte, wie er das Auto aus der Kontrolle zu verlieren schien, obwohl er noch wie angewurzelt auf dem Parkplatz des Krankenhauses stand. "Komm bitte... ich erkläre es dir hier."
    Ben verlor keine Zeit. Als er auf vor Jennys Haus sowohl Semirs BMW, als auch den Privatwagen von ihrem bekannten Mediziner Roland Meisner dort stehen sah, der normalerweise ein begnadeter Tatortmediziner war, und von Ben immer scherzhaft als "Leichenschnippler" tituliert, erschrak er nochmals. Dass er im Halteverbot parkte, war ihm völlig egal, er sprintete zur Haustür und riss beinahe die Klingel ab. Semirs Stimme erklang an der Gegensprechanlage. "Ben? Ich mache auf." Nach dem Signalton drückte der Polizist die Tür auf und war so schnell er konnte bei Jenny in der Wohnung.



    Zunächst war er beinahe erleichtert, dass Meisner nicht vor einer Leiche kniete, sondern vor dem Sofa auf dem Jenny lag. Die junge Polizistin hatte jeglichen Arzt abgelehnt, doch kam nicht mehr aus einer Spirale aus Wut, Verzweiflung und Weinen heraus. Semir hatte dann Meisner angerufen, der auch eine allgemeinmedizinische Ausbildung hatte und Rückgriff auf diverse Beruhigungsmittel. Weil Jenny den Pathologen auch kannte, wehrte sie sich letzendlich nicht. Der Mediziner war ebenfalls geschockt von Semirs Nachricht, dass Kevin in Kolumbien angeblich den Tod gefunden hatte, doch er legte sein Augenmerk jetzt erstmal auf Jenny, die alsbald schläfrig wurde und sich auf ihre Couch im Wohnzimmer legte.
    "Was ist passiert?", fragte Ben nochmals, genauso wie am Telefon und Semir zog ihn am Arm in Richtung Küche. "Annie war eben hier...", begann er langsam und Bens Augen wurden tellergroß. "Annie? Alleine?" Der erfahrene Polizist schüttelte den Kopf. "Nein, nicht alleine. Aber...", er stockte kurz ... "aber leider auch ohne Kevin." Ben sah zu Semir herunter, den Mund halboffen und es schien sich in seinem Kopf schon eine Art dunkle, böse Vorahnung abzuzeichnen. "Ne...", sagte er, als wolle er den Gedanken verscheuchen, bevor Semir ihn ausformulierte. "Kevin ist in Kolumbien angeblich eine Brücke heruntergestürzt im Kampf gegen einen Drogenboss, der Annie zuerst festgehalten und die beiden dann später verfolgt hatte."



    Ben legte eine Hand vor den Mund, drehte sich von Semir weg und ging einige Schritte durch die Küche... eine typische Reaktion des Polizisten, der seine Wut, seine Trauer und Entsetzen meistens in Bewegung versuchte, zu verbergen oder auszudrücken. Mit beiden Händen stützte er sich auf das Fensterbrett und sah durch die Scheibe hinaus in den kalten, trüben und wolkenverhangenen Nachmittag. Semir wusste, dass Ben ebenfalls ein sehr enges Verhältnis zu Kevin hatte, im Gegensatz zu seinem besten Freund wusste er aber, wie es sich anfühlte einen engen Partner zu verlieren. Dreimal hatte Semir dieses Gefühl der Ohnmacht schon erlebt, einmal war es, im Falle von André, unbegründet. Die anderen beidem Male war sein Partner, Tom und Chris, in seinen Armen gestorben. Vor allem bei Tom, mit dem Semir ein sehr enges freundschaftliches Verhältnis hatte, war es schwer zu ertragen...
    Bei Kevin war das Verhältnis anders. Es war kein Verhältnis dass sich die drei regelmäßig ausserhalb der Arbeit sahen, miteinander essen und trinken gingen, dass man gemeinsame Interessen hatte. Zwischen Semir und Kevin war das Verhältnis, seitdem der junge Kollege leichtsinnig sein Leben für Semir aufs Spiel gesetzt hatte, ein brüderliches. Sie wussten, dass sie sich aufeinander verlassen konnten, und doch war es immer wieder zerrüttet worden, wie jetzt zuletzt durch Kevins Hilfe für Annie. "Annie hatte noch jemanden dabei... ein Kerl, der Kevin in Kolumbien geholfen hatte. Ein Fremdenführer oder so. Der hatte gesagt, dass der Fluss, in den Kevin gestürzt sei, keine Überlebenschance böte."



    Semir sprach in Bens Rücken, er sprach vorsichtig, denn er sah, wie die breiten Schultern des Polizisten bebten. "Das heißt, sie haben Kevin gar nicht gefunden?" Kopfschütteln bei seinem besten Freund. "Nein, haben sie nicht." "Also könnte er noch leben?" Ben hatte sich zu Semir umgedreht, doch dessen Gesichtsausdruck war verkniffen. "Ben... welchen Grund gäbe es für diesen Juan, uns anzulügen und die Sache schlimmer zu machen, als sie ist? Sie wurden dort von schwer bewaffneten Rebellen verfolgt. Selbst wenn, beim unwahrscheinlichen Falle, dass Kevin den Fluss überlebt hat..." "Hör auf Semir!", unterbrach Ben seinen Partner, und seine Stimme wurde emotional aufgebracht. "Hör auf! Kevin ist nicht tot! Das kann einfach nicht sein!!" Semir spürte, dass sein Partner jetzt gerade die surreale Information über Kevins Tod erst bewusst wahrnahm, und er versuchte ihn zu beruhigen. "Ben... jetzt mach mal langsam." "Kevin wird Vater! Der hätte sich doch nie in eine solche Gefahr begeben! DAS KANN NICHT SEIN, SEMIR!!"
    Der Polizist ging einen Schritt auf seinen Partner zu, und jetzt lösten sich auch bei ihm jegliche Emotion. Semir war nicht so nahe am Wasser gebaut wie sein Partner, eine Schwäche darin gab er höchstens vor seiner Frau zu, wo er kein Problem hatte zu weinen. Doch Ben war anders, und jetzt musste er von seinem Partner in den Arm genommen werden. Meisner, der gerade zur Küche kam, befürchtete, gleich die nächste Beruhigungsspritze aufzuziehen.



    "Ist schon okay... Semir.", sagte Ben nach einer Minute leise, als würde er mit sich selbst reden, und löste die Umarmung wieder. Er spürte selbst, dass er kurzzeitig die Kontrolle verloren hatte, als er sich jetzt von seinem Partner wieder löste, und sich die Tränen, die sich in den Augen gesammelt hatten, wegwischte, bevor sie den Weg über die Wange fanden. "Wir müssen dorthin... wir müssen ihn suchen.", sagte er dann sofort zu seinem Partner. "Ich denke genauso wie du... aber ich weiß auch, dass wir ihn dort niemals finden werden. Die Brücke ist eine von hunderten irgendwo im Dschungel... im Dschungel wo sich angeblich Rebellen rumtreiben sollen, von dem Drogenkartell ganz zu schweigen." Die beiden Männer sahen sich an, und es wurde wieder klar, dass Semir zwar den gleichen emotionalen Gedanken hatte wie Ben, allerdings rationaler darüber nachdachte. "Wir müssen die kolumbianische Botschaft anrufen, damit die Behörden dort reagieren."
    Ben reagierte nicht auf die letzten Worte. Er sah stumm an Semir vorbei auf das kleine, in diesem Moment so zerbrechlich wirkende Geschöpf auf der Couch, zusammengerollt mit geschlossenen Augen, als versuche Jenny ihren Bauch und ihr Kind vor dem Rest der bösen Welt zu schützen. Die Wangen waren gerötet und noch immer klang manchmal ein leises Schluchzen aus ihrem Mund. Dem jungen Polizisten zerbrach das Herz, er stand Jenny so nahe nachdem er sie getröstet hatte, als Kevin unschuldig im Gefängnis war, auch wenn es dabei zu einer Affäre gekommen ist. Trotzdem verstanden sie sich so gut, und es tat Ben unglaublich weh, sie so zu sehen. Was sie an Trauer und Schmerz empfand, gerade den Vater ihres Kindes, den Mann an ihrer Seite, verloren zu haben, konnte weder er noch sein bester Freund Semir auch nur im Ansatz nachvollziehen...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

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    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


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  • Dienststelle - 14:45 Uhr



    Schweren Herzens hatten sich die beiden Partner in ihrer Sorge getrennt. Semir eilte zur Dienststelle zurück, schließlich war er noch im Dienst und von dort aus konnte er über den Dienstweg die deutsche Botschaft in Bogota erreichen. Hotte und Dieter sahen überrascht auf, als Semir mit schnellen Schritten in seinem Büro verschwand, Andrea's Platz war leer denn sie war gerade auf Toilette. Mit wenigen Klicks hatte Semir die Telefonnummer in Kolumbien gefunden. Er war erschrocken über seine Stimmung während der Autofahrt, denn die hatte sich von Sorge bereits langsam in Trauer gewandelt. Sein Unterbewusstsein, sein Gespür gaukelte ihm vor, dass es zu spät war. Das gleiche Gefühl hatte er damals auch bei André, nachdem sie ihn nicht im Wasser gefunden hatten. Und obwohl er damals falsch lag, so war er doch ganz sicher gewesen, dass André den Harpunenschuss nicht überlebt hatte.
    Im Gegensatz zu damals war Semir diesmal nicht dabei. Er musste sich auf die Beschreibungen von einem Fremden und einer Frau verlassen, der er nicht traute. Allerdings gab es für die beiden keinen Grund zu lügen, und einen Gefühlsausbruch wie der von Annie konnte niemand schauspielern. Er konnte es drehen und wenden wie er wollte, er konnte sich das Happy-End wünschen... sein rationales Denken gab ihm wenig Hoffnung, zu viel sprach einfach dafür, dass Juan nicht übertrieb mit seiner Ansicht ob der Gefährlichkeit des Rio Caucas, dessen Namen er beiläufig in den Erzählungen erwähnt hat.



    Auf Deutsch meldete sich eine Frauenstimme am Telefon. "Mein Name ist Gerkhan, Kripo Autobahn. Frau Neu, wir haben Informationen eines kolumbianischen Einheimischen, dass es im Dschungelgebiet in der Nähe von Bogota zu einem Unglücksfall eines unserer Kollegen gekommen ist. Ich bräuchte dringend eine Verbindung, wenns geht auf Englisch zu den ansässigen Rettungs- und Polizeibehörden." "Mal ganz langsam, Herr Gerkhan...", sagte die sympathische Stimme auf der anderen Seite der Welt, denn der Polizist hatte schnell und ohne Punkt und Komma geredet. "Sagen sie mir doch zuerst, was passiert ist." "Angeblich soll unser Kollege von einer Brücke in den Rio Cauca gestürzt sein. Er war dort mit einem Drogenkartell aneinander geraten."
    Semir konnte etwas Unverständnis aus den Worten der Botschaftsmitarbeiterin heraushören. "Wie kann es denn sein, dass ein deutscher Polizist in Bogota mit einem Drogenkartell aneinandergerät?" "Bitte ersparen sie mir unwichtige Fragen! Es geht jetzt darum, unserem Kollegen zu helfen... falls man ihm noch helfen kann." "Auf welcher Brücke soll das denn passiert sein?" "Ich weiß es nicht. Himmel Herr Gott, gibt es so viele verdammte Brücken an diesem Fluß?", polterte Semir, obwohl er wusste dass die arme Frau nichts dafür konnte, dass er so unwissend war...



    Diese blieb allerdings freundlich, wenn auch bestimmt. "Ja, es gibt einige. Und der Fluß ist relativ lange. Hat der Einheimische die Brücke irgendwie beschrieben?" Der erfahrene Polizist seufzte, fuhr sich mit den Fingern über die Stirn und bemerkte nicht, dass die Chefin mittlerweile im Türrahmen stand. "Sie muss in der Nähe von Bogota sein. Er sagte etwas, dass sie relativ hoch sei und ein Sturz nur schwer überlebbar, wobei der Fluss mit Felsen und Stromschnellen ebenfalls gefährlich sei zur Zeit." "Puuh...", machte die Mitarbeiterin, und es hörte sich in Semirs Ohren so hoffnungslos an, dass er eine Gänsehaut bekam. "Da hat der Kolumbianer nicht unrecht. Dieser Fluss ist in dieser Zeit lebensgefährlich. Obwohl er relativ flach ist, hat man in den Stromschnellen ohne Sicherung vom Ufer keine Chance. Bei einem Sturz aus dieser Höhe sowieso nicht."
    Die komplette Körperspannung wich aus dem Polizisten und er sackte auf dem Stuhl zusammen. Wieder knabberte jemand, der scheinbar um die Verhältnisse des Flusses wusste, an der eh geringen Hoffnung. "Bitte, wir können nicht einfach hier rumsitzen und Däumchen drehen. Wir brauchen irgendeine Gewissheit." Frau Neu verstand das Anliegen des Polizisten, sie konnte sich zwar nicht in ihn hineinversetzen, ihr war aber auch klar, dass die Kollegen des verschwundenen Mannes in völliger Ahnungslosigkeit schwebten. In so einer Situation wäre eine klare Todesnachricht schon beinahe eine Erleichterung, weil man endlich Gewissheit hätte.



    "Herr Gerkhan, es ist nicht so, dass ich ihnen nicht helfen will. Aber ich fürchte, aufgrund der Tatsache dass die Überlebenschance bei einem Sturz von einer dieser Brücken so gering ist, wir hier keinen Polizeichef dazu bringen können, Männer auf die Suche zu schicken. Ausserdem...", setzte sie noch hinzu, während Semir atemlos zuhörte "Dieses Gebiet im Dschungel ist... wie soll ich sagen... teilweise von den Rebellen kontrolliert. Ich weiß nicht, ob sie sich das vorstellen können, aber es gibt hier Gebiete, da wird die Polizei keine Leute hinschicken, weil sie nicht mehr widerkehren würden." "Na großartig...", seufzte der Polizist und wusste sofort: Wenn es zu gefährlich für kolumbianische Polizisten war, wäre es auch um ein vielfaches zu gefährlich für zwei, zwar wagemutige aber in dieser Gegend völlig ahnungslose deutsche Polizisten.
    "Hören sie... der Mann hatte eine Freundin hier zu Hause sitzen, die ein Kind von ihm erwartet. Beide sind sehr enge Freunde von mir. Ich... ich möchte einfach eine Gewissheit haben, ob wir uns noch Hoffnung machen können, dass er vielleicht in ein paar Tagen doch noch aus einem Flugzeug steigt, oder die Gewissheit haben, dass... dass er...", es fiel Semir schwer die endgültigen Worte auszusprechen "...dass er tot ist." Für einen Moment war Stille in der Leitung. "Herr Gerkhan, ich werde es versuchen. Aber ich kann ihnen nichts versprechen. Aber wenn sie meine Meinung hören wollen, als eine Frau die schon 20 Jahre in Kolumbien lebt und um Bogota fast alles gesehen hat..." wieder blieb es für einen Moment still "...machen sie sich keine Hoffnung. So schwer es auch fällt."



    Als die Frau das Gespräch beendet hatte, und auch Semir aufgelegt hatte, räusperte sich die Chefin im Türrahmen, so dass Semir kurz erschrak und sich zu ihr umdrehte. Ihr Blick war ernst, voll Sorge und verwirrt. "Haben sie mir etwas zu sagen, Semir?", fragte sie, doch es war diesmal nichts zu hören von ihrer scharfen Freundlichkeit kurz vor einem Vulkanausbruch. Auch Andrea kam zur Tür herein, als sie bemerkte, dass Semir wieder da war und hatte erst das Gefühl zu stören... doch Semir bedachte mit einer Handbewegung, dass sie bleiben solle... schließlich kannte sie Kevin auch. "Ich glaube, es ist etwas ganz Schlimmes passiert.", sagte er mit traurigem Gesichtsausdruck, der ihn immer ein paar Jahre älter wirken ließ, als er war. "Scheinbar... ist Kevin in Kolumbien... umgebracht worden."
    "Oh Gott", hauchte Andrea, ging sofort zu ihrem Mann und umarmte ihn. Sie konnte sich denken, wie sehr Semir das mitnahm, gerade nachdem sie gestern zusammen mit Ben dem jungen Polizisten seine Dummheit quasi verziehen hatten. Nur die Chefin verstand noch nicht: "Ich dachte, Herr Peters ist krank..." Semir schämte sich vor seiner Chefin dafür, dass er ihr alles verheimlicht hatte... mal wieder. Sie hätte es sicherlich verstanden, auch wenn sie sich über Kevins Verhalten geärgert hätte. Jetzt erzählte er die ganze Geschichte in kurzen Sätzen, und Anna Engelhardt schüttelte immer wieder den Kopf.



    "Weiß... weiß Jenny schon davon?", fragte Semirs Frau mit schimmernden Augen, als sie an die junge Kollegin dachte, und ihr Mann nickte. "Ben ist bei ihr... sie schläft und hat ein Beruhigungsmittel bekommen." "Ich... ich fahr zu ihr. Vielleicht... ich... ich kann jetzt nicht einfach hier sitzen.", sagte sie hastig und blickte zur Chefin, die großzügig nickte. Als Andrea das Büro verlassen hatte, setzte sie sich nachdenklich auf Bens Platz und sah zu Semir rüber. "Wie geht es ihnen jetzt?", fragte sie, denn sie empfand Semir als ziemlich angeschlagen, ob der sehr geringen Chance, dass Kevin noch leben könnte. "Beschissen...", war seine kurze Antwort, denn seine Hoffnung war weg. Er hatte keine Chance in Kolumbien Kevin zu suchen, die Behörden dort würden sich nicht in das Gebiet trauen... und alles vor dem Hintergrund der eh recht geringen Überlebenschance. "Das letzte was wir miteinander getan haben, war zu streiten... das macht mich fertig.", gab er zu.
    Dann sah der Polizist von seinem Schreibtisch zu seiner Chefin auf. "Chefin... es ist wieder passiert.", sagte er mit trauriger Stimme. "Wir haben schon wieder jemanden aus unserer Familie verloren. Irgendwie... spüre ich es." Er wollte das Gefühl nicht wahrhaben, aber es wurde immer präsenter. Die Sorge wandelte sich in Trauer, und die einzige Hoffnung war die kolumbianische Botschaft. Hoffnung auf Gewissheit. Anna Engelhardt nickte nur stumm. Sie wusste, wie eng Semir und Ben zu Kevin standen. Ihr Verhältnis zu ihm war eher distanziert, doch sie wollte nicht herzlos sein und sagen, dass Kevin für sie mehr wie ein Bekannter, als ein Familienmitglied war. Doch Frau Engelhardt dachte es nur und sagte leise: "Es tut mir so leid, Semir..." Und das tat es ihr wirklich, schließlich war Kevin, nichtsdestotrotz, einer ihrer Männer...

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

  • Jenny's Wohnung - 14:45 Uhr



    Nachdem Semir die Wohnung ihrer jungen Kollegin verlassen hatte, stand Ben zum zweiten Mal an diesem Tage vor einer Couch und beobachtete eine junge, trauernde Frau beim Schlafen. Doch diesmal fühlte er sich leer, komplett aufgelöst. Er fühlte sich nicht wie die starke Schulter, wie es heute Mittag war, der Held, der da war wenn ihn Carina brauchte. Er fühlte sich klein und schwach und hätte sich am liebsten ebenfalls irgendwo hingelegt, eingerollt in seiner Trauer. Der Polizist konnte nicht lange ruhig sitzen, nachdem er eine Zeitlang neben Jenny saß und ihr immer wieder zärtlich über den Kopf gestreichelt hatte, war er aufgestanden, um den Wohnzimmertisch getigert, mal wieder auf dem Einzelsessel gesessen um nur wenige Minuten später, mit den beiden Armen auf der Fensterbank abgestützt nach draussen zu blicken.
    Das trostlose kalte Wetter war wie ein Spiegelbild seiner Seele. Er suchte nach dem kleinen Fünkchen Hoffnung in sich, nach den Erzählungen Semirs, was dieser Juan ihnen gesagt hatte... das kleine Fünkchen danach, dass Kevin noch leben würde. Alleine, ganz sicher schwer verletzt in einem Dschungelgebiet, vermutlich seine Gegner nicht weit. Ben bekam die Bilder vor seinem inneren Auge nicht zusammen, es war so surreal, so unvorstellbar.



    Er konnte sein Gesicht in der Fensterscheibe gespiegelt erkennen. Seine Augen, die aufgeschreckt aussahen, wie imemr wenn er Sorgen hatte. Seine Haare waren mehr durcheinander als sonst und er spürte, dass er schneller atmete. er versuchte sich an Kevin zu erinnern, als sie sich das letzte Mal sahen. Wie er am Boden der Dienststelle lag, nachdem Semir ihm einen Schlag versetzt hatte. Als Ben sich für seinen besten Freund entschied, unbewusst Kevin damit alleine ließ. Er konnte sich nicht mal mehr daran erinnern, ob und was er Kevin in diesem Moment gesagt hatte. Es tat ihm weh, dass dies die letzte Erinnerung war, die er an seinen Freund hatte, mit dem er Fälle gelöst hatte, Sport trieb und Musik machte.
    Langsam setzte Regen draussen ein, und gestaltete die Umgebung noch ein wenig trostloser, als sowieso schon. Der restliche Schnee, der noch lag, würde schnell tauen und heute Nacht würde es sicher eisig glatte Straßen geben, denn es war gerade mal knapp über 0. Ben sah einigen Tropfen, die die Scheibe herunterliefen, hinterher und versuchte sich zu erinnern. Kevin, als er ihn kennenlernte, als er ihn zum ersten Mal in seiner Wohnung vorfand und als sein Partner neben ihm hockte, als Ben in einem Autowrack eingeklemmt war und Panik bekam. Wie Kevin sich gegen die Rache an dem Mörder seiner Schwester entschied, um Ben das Leben zu retten.



    Eine leise, klägliche Stimme entriss ihn aus der Erinnerung. "Ben... bist du da?" Er drehte sich zu Jenny um, die zwar wach wurde, aber noch reichlich benebelt von den Beruhigungsmitteln war, die Meisner ihr gegeben hatte. Der Polizist kam vom Fenster weg hin zur Couch und setzte sich ans Kopfende, direkt zu Jennys Kopf. "Hey... ja, keine Angst, ich bin da. Du bist nicht allein." Ihre Augen wirkten müde und sie blickte etwas desorientiert einfach geradeaus in ihrer Wohnung umher. Die Erinnerung war jedoch nicht getrübt. "Ben... bitte sag mir, dass er nicht tot ist.", sagte sie und ihre Stimme klang beruhigter als vorhin, nicht hysterisch, nicht zittrig. Die Mittel wirkten, auch wenn sie jetzt nicht mehr schlief.
    Ben rückte noch ein wenig dichter an sie heran und die junge Polizistin legte ihren Kopf an die Oberschenkel ihres Kollegen, der nicht wusste, was er sagen sollte. Es war für ihn das erste Mal, dass ein direkter Kollege starb und er wusste nicht, mit dieser Situation umzugehen. "Ich... ich weiß es nicht, Jenny.", sagte er und spürte, wie sich auch ein Weinkrampf in ihm anstaute, dieses untrügerliche Gefühl im Hals, in der Stimme, welches er zunächst noch zurückhalten konnte. Er musste jetzt für Jenny da sein, wie er heute morgen für Carina da war.



    Auch bei Jenny war das Gefühl in ihr weniger die Sorge, als viel mehr der Schmerz und die Trauer. Auch sie hatte Annies Ausbruch gesehen, den man unmöglich schauspielern konnte. Und der fremde Kolumbianer, egal ob er nun Fremdenführer war oder nicht, hatte keinen Nutzen aus einem vorgetäuschten Tod des Polizisten... oder einer Übertreibung der Situation. Jenny biss sich auf die Lippen, sie fühlten sich spröde an und sie strich mit der Hand über den Bauch, in dem seit 5 oder 6 Wochen ein kleiner Mensch heranwuchs. "Ich habe mir gedacht, dass wir alles überstehen können.", sagte sie leise, als würde sie mit sich selbst reden, dabei redete sie mit Ben.
    "Ich wusste, dass es schwer wird... seine Selbstzweifel, die Trauer um seine Schwester. Nach der Sache mit dem verbrannten Kind hatte er auch wieder Drogen genommen." Etwas, was Ben noch nicht wusste, was dem jungen Kollegen damals aber auch nicht anzumerken war. Jedenfalls schluckte er einmal und atmete hörbar aus. "Aber er hatte es jedes Mal geschafft, mir die Angst zu nehmen. Er ist selbst wieder weggekommen von den Drogen... wir haben uns zusammengerauft, wir haben uns geschworen, alles zu schaffen. Und sogar...", erst jetzt kam zwischen den leisen Sätzen ein kurzes Schniefen bei Jenny durch "... als ich ihn vor die Wahl gestellt hatte, bevor er fuhr... und wir beide dachten, dass wir gescheitert waren... er hat mich angerufen, ich hab mich entschuldigt und er hat sich entschuldigt und sich so sehr auf unser Kind gefreut..."



    Beinahe unbemerkt liefen einige Tränen aus Jennys Augenwinkel über ihren Nasenrücken und tropften auf die Couch, auf der sie lag. Es war ein stilles Weinen, sie war ganz ruhig, nur ihre Schultern bebten leicht. Ben hörte ihr atemlos zu, und die Klammer um seine Brust wurde immer enger, wollte die eigenen Emotionen immer stärker aus ihm rauspressen. "Ich habe in diesem einen Telefonat gespürt, dass er sowas... eine Familie... sein ganzes Leben lang vermisst hatte.", setzte sie noch leise hinzu und schluchzte. "Und jetzt ist alles zu spät..."
    Sie räkelte ihren schlanken Körper kurz, um sich ein klein wenig anders hinzulegen, und Bens Trostgesten umfassten jetzt auch das sanfte Streicheln ihrer Schultern. In so einer Situation, als Kevin im Knast saß, hatten die beiden in Intimitäten Trost gesucht. Diese Situation war anders... so verdammt anders. Und in Ben machten sich, wie vorher auch in Semir, Schuldgefühle breit. Sie hatten falsch reagiert, so sehr er Semir auch verstand damals, dass der ausgetickt war und erst mal nichts von Kevin wissen wollte. Auch wenn die beiden Freunde waren, Semir und Kevin, so war dessen Reaktion doch verständlich. Doch er, verdammt nochmal, er hätte müssen als Freund der beiden irgendwie kühlen Kopf bewahren.



    Während Jenny die Augen schloß, und sich an ihren Freund zurückerinnerte, konnte der Polizist nun die Tränen nicht mehr zurückhalten. "Wir hätten mehr tun müssen... ich hätte mehr tun müssen.", sagte er leise. Die junge Polizistin hörte die Stimme und blickte wieder hinauf. Sie sah das Glitzern in Bens Augen, und dass auch er weinte. "Ich hätte ihn aufhalten müssen. Irgendwie die Wogen zwischen ihm und Semir glätten. Und dann hätten wir ihn nicht alleine gehen lassen.", sagte er mit bitterer Stimme, deren Ton sich immer mehr verlor. Er war sich sicher, wenn Kevin damals ehrlich gewesen wäre, hätte Semir zwar natürlich mit Unverständnis reagiert... aber nach 1-2 Tagen, vielleicht der einen oder anderen Aussprache, hätten die drei sich zusammengerauft. Sie wären gemeinsam nach Kolumbien geflogen und hätten Annie dort rausgeholt, und jeder hätte auf den anderen Acht gegeben.
    Sie hatten zu dritt alles geschafft. Sie hatten Kevin aus dem Knast rausgeholt, sie hatten Ayda, die entführt wurde, gefunden und das Koma-Gegenmittel gefunden und sie hatten Semir vor einer Neonazi-Gruppe gerettet. Es bohrte in Bens Seele und hinterleiß Narben für die Ewigkeit, dass sie ausgerechnet einmal, einen aus ihrem Kreis, aus ihrer Gruppe allein gelassen hatten. Einen Menschen, der ein Ziel hatte, aber dieses niemals erreichen konnte, der ziel- und rastlos schien, und nie den Platz für sich gefunden zu haben... ausser bei Jenny. Ein Polizist, der sich nie als Polizist gefühlt hatte, sondern als Einzelkämpfer, der aber Unterstützung bitter nötig hatte. Kevin hätte jede Hilfe abgelehnt, aber für jeden der Dienststelle sein Leben riskiert, vielleicht sogar geopfert. Der nach aussen hin versucht hatte, nie eine Schwäche zu zeigen und unnahbar war, und in seinem Innersten doch so zerbrechlich, doch einen Einblick darin hatte er nur wenigen Menschen gewährt.



    Jenny rappelte sich müde auf, als Ben nun doch von seinen Gefühlen übermannt wurde, und die starke Schulter endgültig nicht mehr darstellen konnte. Er kniff die Augen zusammen und begann zu weinen, Jenny hielt ihre stummen Tränen auch nicht mehr auf und schlang ihre Arme um den Hals ihres Kollegens, ihres guten Freundes. Während Ben auf der Couch saß, hatte Jenny sich in halber Liege und Kniestellung neben ihn gelehnt, die Arme um den Hals und den Kopf an seine Schulter, während er seinen Kopf halb auf Jennys Kopf legte. So blieben sie sitzen, weinten und erinnerten sich... und keiner der beiden konnte später sagen, wie lange sie kein Wort miteinander gesprochen hatten...




    ENDE

    Wenn Engel hassen

    Stürzen sie wie Steine aus dem Himmelszelt

    Wenn Engel hassen

    Fliegen sie als dunkle Vögel in die Welt

    Wenn Engel hassen

    Landen sie als schwarzer Schatten der uns quält

    Und nehmen Rache an den Menschen, die gefallen sind

    Wie sie.


    Subway to Sally - Wenn Engel hassen


    <3

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