Blackout

  • Diese Geschichte ist der fünfte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:



    1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
    2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
    5.Fall: -
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: Vertrauen
    8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
    9. Fall: Kalter Abschied

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    Die Sonne strahlte vom Himmel und blendete seine Augen, so dass Ben eine Hand schützend darüber halten musste. Das Juni-Wetter war in diesem Jahr durchwachsen, aber schien zumindest zum Fest-Tag seiner Schwester eine Ausnahme zu machen und präsentierte sich von der besseren Seite. Seine Schwester hatte vor zwei Monaten ihr erstes Kind bekommen. Für ihren Vater, war das, die perfekte Gelegenheit für ein großes Fest. Er sah sich um. Sein Vater hatte mal wieder alles aufgefahren. In Mitten des großen Jäger-Gartens stand ein weißer Festpavillon. Davor war eine kleine Bühne errichtet, auf der wohl zu späterer Stunde eine Band auftreten würde. Vermutlich Klassik, wie er seinen Vater kannte. Ben lächelte, als er Julia entdeckte und ging auf sie zu. Er drückte seine Schwester fest in seine Arme. „Du siehst gut aus Schwesterherz“, ließ er verlauten und lächelte, während er sich wieder von ihr löste.
    Julia Jäger lachte und sah die Person an, die etwas weiter hinter Ben stand. „Du bist gekommen, Mikael.“ Der Angesprochene nickte und umarmte sie kurz. „Danke für die Einladung.“ Seine Hand griff nach der einer jungen blonden Frau, die einen Jungen im Alter 15 Monaten auf dem Arm trug. „Eva, meine Verlobte“, stellte er vor und die beiden Frauen schüttelten sich kurz die Hand.
    „Verlobte also? Ich dachte immer, du würdest mich heiraten“, scherzte Julia.
    „Nun, du warst dann leider schon vergriffen“, antworte Mikael und gab Julia einen Kuss auf die Wange. „Alles Gute für dich und die Kleine. Wie heißt sie denn?“
    „Leonie“, antworte Bens jüngere Schwester mit einem stolzen Lächeln.
    „Das ist ein toller Name!“, sagte nun Eva.
    „Wenn du willst, dann zeige ich euch später ein paar Fotos von kurz nach der Geburt.“ Die Finnin nickte begeistert. „Ich bin schon ganz gespannt.“ Eva sah Mikael an. „Wenn Oskari ein Geschwisterchen bekommt, dann würde ich auch zu gerne ein Mädchen haben. Was man da alles kaufen kann!“
    Mikael lachte. „So lange ich keine Kinderzimmer pink streichen muss!“
    „Wir haben ja auch Oskaris Zimmer nicht blau gestrichen!“, widersprach Eva sofort.
    „Im Grunde schon.“
    Die Blonde zwickte ihren Freund in die Seite. „Das war aber doch nicht mit Absicht. Ein Zufall nichts weiter!“
    „Haha. Jaja, dass glaube ich kaum“, fuhr Ben dazwischen. „Da war sicherlich tiefere Psychologie drin. Ich wette Mikael hat in irgendeinem schlauen Buch gelesen, dass sich Kinder in blaugestrichenen Räumen besser entwickeln oder so …“


    Kurz darauf stand auch die Begrüßung seines Vaters an, vor der Ben sich eigentlich am heutigen Tag am meisten fürchtete. Er hoffte, dass sein Alter Herr Mikael nicht wieder irgendwelche Vorwürfe machen würde. Das würde sicherlich die ganze Stimmung versauen und immerhin wollte er, dass das Fest zu Ehren seiner Schwester in Ruhe verlief. Sein Vater kam auf sie zu und umarmte Ben kurz, ehe er Mikael die Hand schüttelte. Mehr als ein kaltes Hallo brachte Konrad Jäger allerdings nicht über die Lippen, ehe er sich wieder den anderen Gästen zuwandte. „Es tut mir leid. Er ist nicht fair zu dir“, entschuldigte sich Ben bei seinem Freund. Mikael lächelte gezwungen. „Es ist okay, du brauchst dich nicht für deinen Vater rechtfertigen.“
    „Er sollte trotzdem langsam verstehen, dass du nicht wie dein Vater bist.“
    „Die Situation ist nicht neu für mich, glaub mir“, sagte sein finnischer Freund und griff dabei nach Evas Hand. „Lass uns schauen, wo wir sitzen.“ Die blonde Frau nickte und Ben sah ihnen hinterher.


    „Sie wirken glücklich, nicht?“ Er sah sich erschrocken um. „Julia! Schleich dich doch nicht so an!“, empörte er sich. „Was? Ich war die ganze Zeit über hier. Nur weil du wieder über Papa nachgrübelst, hast du es nicht mitbekommen.“
    Er nickte. „Ja, sie sind glücklich. Die letzten Monate waren für beide hart, aber sie haben es hinbekommen.“
    „Es war ja auch eine schwere Zeit. Ich hätte ihn zu gerne in der Reha-Klinik besucht.“
    „Du hattest ganz andere Dinge um die Ohren. Mikael hat das verstanden.“
    Seine Schwester nickte und sah zu Mikael und Eva. „Und streitet ihr immer noch so oft wie damals?“
    „Wie? Wir haben doch nie gestritten!“
    Julia kicherte. „Nein? Da kann ich mich aber an ganz andere Dinge erinnern. Ihr seid euch regelmäßig fast an die Gurgel gesprungen!“
    Ben wollte etwas antworten, doch dann ertönte die Stimme ihres Vaters und die beiden Geschwister begaben sich mit einem Seufzer zum Tisch. Was nun folgen würde, war eine ausführliche Rede von Konrad Jäger. Schon kurz nachdem sein Vater begonnen hatte, hatte Ben auf seinem Platz aufgehört dem Inhalt zu folgen. Wahrscheinlich war es ohnehin nicht besonders spannend. Er musterte die Gäste. Einige schienen tatsächlich interessiert zuzuhören, andere taten zumindest so. Irgendwann blieb sein Blick auf Mikael haften. Er war ziemlich blass und hatte die Stirn in Falten gelegt. Kurz darauf stand er leise auf und verschwand aus dem Zelt, welches im Hinterhof des Anwesens errichtet worden war. Am liebsten wäre er ihm sofort hinterher, doch er saß natürlich in der Nähe seines Vaters und wollte ihn nicht unnötig verärgern und so harrte er mit zappeligen Beinen aus, bis Konrad Jäger endlich seine Lobrede auf die Familie beendet hatte und stand dann schnell auf, während die restlichen Gäste sich am Buffet bedienten.
    Er ging zu Eva und beugte sich von hinten zu ihr herunter. „Was ist mit ihm?“, fragte er leise.
    „Ihm war nicht gut“, antwortete die blonde Frau ihm. „Er sagte, dass er etwas Ruhe haben möchte.“
    Er nickte. „Ich werde dennoch mal nach ihm sehen.“


    Es dauerte nicht lange und Ben hatte seinen Freund vor der Villa auf einer weißen Bank gefunden. Er sah weiterhin fürchterlich blass aus und massierte sich mit den Fingerspitzen die Schläfen. Seine Gesichtszüge waren verzogen, als hätte er Schmerzen. „Ist es immer noch so schlimm?“, fragte Ben und setzte sich nun neben Mikael hin. Er bekam ein seichtes Nicken als Antwort. „Soll ich dir was zu trinken holen oder Tabletten?“
    „Ich habe schon eine genommen“, nuschelte der Schwarzhaarige leise. Ben nickte. 10 Monate war es nur her, seit diesem schweren Unfall. Mikael war bei einer Routinefestnahme einen Abhang hinuntergestürzt und hatte sich eine schwere Kopfverletzung zugezogen. Anschließend hatte er fast drei Wochen im Koma gelegen, danach hatte er alles neu lernen müssen und der schwere Weg zurück ins Leben war auch nach all diesen Monaten noch nicht beendet. Kopfschmerzen waren zum ständigen Begleiter seines Freundes geworden, dazu kamen Schwindelanfälle. Außerdem war es so fürchterlich schnell vollkommen erschöpft, egal ob er körperliche oder geistige Tätigkeiten verübte. Dennoch, trotz diesem schweren Weg und all den Rückschlägen in den letzten Monaten hatte Mikael niemals aufgegeben. Er kämpfte. Er quälte sich jeden Tag durch seine Übungen, egal wie groß die Kopfschmerzen waren. Die Fortschritte erschienen Ben manchmal langsam, doch sie waren da und alleine das, ließ ihn glauben, dass die Zeit vielleicht doch diesen schrecklichen Unfall vergessen machen konnte, den sein Freund fast mit dem Leben bezahlt hatte.
    „Soll ich dich nach Hause fahren? Ich bin mir sicher, dass Julia es verstehen wird.“
    „Ich schaffe es schon irgendwie“, murmelte sein Nebenmann.
    „Irgendwie. Das klingt nicht besonders überzeugend“, konterte Ben und lächelte.
    „Immerhin ist es jetzt nicht mehr so anstrengen diese langweiligen ….“ Mikael stockte. „Keskustelut ... nein ... ajatustenvaihto.“ Sein Freund verstummte wieder. „Gespräche, ja genau, Gespräche zu filtern. Mein Kopf lässt ohnehin nicht zu, dass ich mich lange darauf konzentrieren kann oder irgendwas behalte.“
    Ben lehnte sich zurück und sah in den von nur wenigen Wolken bespickten Himmel. „Es geht um Geld, da gibt es nicht viel zu behalten.“
    „Na dann.“
    Der Braunhaarige löste seinen Blick wieder vom Himmel und sah Mikael an. „Habe ich dir eigentlich gesagt, wie sehr ich dich bewundere?“
    Mikael sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Wofür sollte man mich bewundern?“
    „Wie du das alles machst. Du gibst einfach nicht auf und lässt dich von diesem Unfall nicht unterkriegen. Das meine ich!“
    Ben nahm Mikaels verwirrten Blick wahr. „Klar, du hattest Glück, dass du keine schweren Behinderungen davongetragen hast, aber trotzdem. Was du alles geschafft hast. Darauf kannst du wirklich stolz sein!“
    Der Jüngere lächelte. „Noch ist es zu früh aufzugeben, oder nicht?“
    „Natürlich.“
    „Ich bin dir übrigens dankbar, dass du in dieser Zeit da warst. Es muss viel Kraft gekostet haben dauernd nach Finnland zu fliegen“, sagte Mikael.
    „Du bist mein Freund. Es war keine anstrengende Pflichtaufgabe. Es war gut, dass ich es getan habe. Ich habe es auch für mich getan.“
    Mikael nickte. „Trotzdem, danke.“
    „Möchtest du etwas essen? Ich kann etwas holen, wenn du magst.“
    „Nein, es ist alles gut.“
    Ben verstummte und sie saßen für einige Zeit still nebeneinander. Das einzige Geräusch, was ertönte, waren ferne Stimmen aus dem Garten. „Ich habe gehört, dass Veikko jetzt wieder als Kommissar arbeitet.“
    Mikael sah ihn kurz an, sah dann aber wieder weg. „Ja, er hat die Stelle von einem Kollegen eingenommen, der in den Ruhestand ist. Vielleicht denkt er, dass er sie mir warmhalten kann. Es ist dumm. Selbst wenn ich zurückkomme, dauert es noch. Derzeit bestehe ich sicherlich keinen medizinischen Test.“
    „Du meinst die Schwindelanfälle?“
    „Nicht nur. Antti war vor ein paar Tagen mit Kramsu da. Er wollte meine Meinung zu etwas, aber ich konnte mich schon nach 10 Seiten nicht mehr richtig konzentrieren.“
    „Du wirst sehen, auch das wird irgendwann besser“, sprach Ben seinem Freund Mut zu.
    Mikael seufzte. „Ich weiß, ich sollte dankbar sein und ich bin es auch, aber ich vermisse etwas tun zu können. Ich hatte einen Vollzeitjob. Jetzt bin ich einer.“
    „Das verstehe ich. Wenn ich mir vorstelle, plötzlich so aus dem Leben gerissen zu werden.“
    „Aus dem Leben gerissen?“ Der Schwarzhaarige lachte leise. „Das hört sich an, als wäre ich gestorben!“
    Ben schluckte. „Als du da so lagst … da dachte ich wirklich, dass du es wärst.“
    „Mhm.“ Mikael legte die Ellenbogen auf seine Knie und bettete den Kopf darin.
    „Aber du bist es ja nicht!“ Der Braunhaarige drückte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Und darüber bin ich mehr als froh. Ich habe mir in den Wochen wirklich sehr viele Sorgen gemacht.“





    Es war später Abend, als Ben von der Feier seiner kleinen Nichte nach Hause aufbrach. Mikael und Eva waren bereits vor einigen Stunden gefahren, sogar noch vor dem Kaffee, da es Mikael doch nicht „irgendwie“ ausgehalten hatte. Seine Kopfschmerzen waren schlimmer geworden und als ihm dann noch schwindelig wurde, hatte Eva die Notbremse gezogen und Ben darum gebeten, dass er dem Fahrdienst Bescheid gab. Diesen hatte seine Schwester extra engagiert, damit die Gäste sich keine Gedanken darum machen brauchten, wer das Auto auf der Heimfahrt lenkte.


    Als Ben die Tür zu seiner Wohnung öffnete, konnte er Mikaels Stimme aus dem Gästezimmer hören. Er las seinem Sohn etwas vor. Eine Geschichte, die auch Ben aus seiner Kindheit nur zu gut kannte. Ben legte seinen Schlüssel leise auf die Kommode und ging dann zu der Tür zum Zimmer und lehnte sich an den Rahmen. Mikael saß mit seinem Sohn auf dem kleinen Gästebett und der Junge zeigte vergnügt auf die Bilder in dem Buch, während er den Text dazu las. „Am Montag fraß sie sich durch einen Apfel. Aber satt war sie noch immer nicht.“ Man konnte sehen, dass er diese Zeit mit Oskari genoss. Bei den kleinen, einfachen Texten hatte Mikael weniger Probleme und sein Lesefluss stockte nicht. Als sie fertig waren, gab er seinem Sohn einen zarten Kuss auf die Stirn und deckte ihn liebevoll zu. Er zog die Mundwinkel nach oben, als er in der Tür sah.
    „Es war wohl ziemlich aufregend bei deiner Schwester. Er war total aufgekratzt als wir nach Hause gekommen sind“, flüsterte er leise.
    „Ist Eva im Wohnzimmer?“, wolle Ben wissen.
    Mikael nickte und sie gingen gemeinsam rüber in den anderen Raum. „Und schläft er?“, fragte Eva, als sie hereinkamen. Mikael gab ihr einen Kuss, ehe er sich neben sie in das Sofa lümmelte. „Ja. Tief und fest.“

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  • Er blieb abrupt stehen, sah auf den leblosen Körper hinab. Der Mensch vor ihm war blass, seine Augen geschlossen. Blut sickerte unter ihm in den Schnee, färbte ihn rot. Ihm wurde übel und für einen Augenblick war ihm schwarz vor Augen. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Knie. Mit zittrigen Händen suchte er nach dem Puls und fühlte … nichts.


    „Mikael! Wach auf, Mikael!“
    Er schreckte hoch. Schweißnass und schwer atmend starrte er Eva an, die mit besorgter Miene neben ihm saß. Sein Kopf hämmerte zum Zerspringen und er drückte die Handfläche dagegen. „Joshua?”, fragte sie nur und er nickte. Es war immer derselbe Traum und doch auch nicht. Manchmal war es sein Vater der Joshua erschoss, manchmal da war er sogar selbst. Doch das Ergebnis war immer gleich. Sein Freund lag tot vor ihm, ohne das er es ändern konnte. Eva fuhr sanft durch seine Haare und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du solltest versuchen noch einmal zu schlafen.“
    „Wie spät ist es?“
    „Gleich halb Zwei“, antwortete sie ihm und drückte ihn sanft an den Schultern rücklings auf die Matratze. „Ich kann nicht mehr schlafen. Ich gehe joggen“, murmelte er leise und erhob sich kurz darauf wieder. „Jetzt? Alleine? Du weißt …“ „ … Ich nehme mein Handy mit und jogge nur die Straße hoch“, unterbrach er sie und setzte seine nackten Füße auf den kalten Boden. „Mikael, wenn du umkippst, dann kannst du niemanden anrufen. Du weißt, wie schnell es ging, als du es mit Veikko übertrieben hast“, widersprach sie sofort.
    „Ich muss an die frische Luft. Ich halte es sonst nicht aus.“ Er gab ihr einen Kuss und suchte anschließend seine Klamotten zusammen. Eva war ebenfalls aufgesprungen und griff jetzt nach seinem Handgelenk. „20 Minuten. Keine Minute mehr, ja?“, sagte sie mit ernster Stimme und er nickte. „Ja. Keine Minute länger.“


    Er joggte locker los und erhöhte sein Tempo dann langsam. Er hatte nach diesem Traum einfach raus gemusst an die frische Luft, um den Kopf freizubekommen. Die Albträume über Joshua waren seltener geworden, doch sie waren immer noch sein ständiger Begleiter. Manchmal glaubte er, dass es Joshua war, der ihn damit verfolgte, weil er auch nach all den Jahren noch nicht den Mut aufgebracht hatte, sich an seinem Grab blicken zu lassen. Er hatte einfach fürchterliche Angst, wenn er vor dem Friedhof stand und wusste nicht einmal wovor. Er verlangsamte seine Geschwindigkeit. Mitten auf der Straße stand ein Wagen quer. Langsam ging er näher an das Fahrzeug heran. „Hallo? Brauchen Sie Hilfe?“ Er konnte die Silhouette einer Person vernehmen, die auf dem Beifahrersitz saß. Eine blonde Frau. Mit dem Zeige- und Mittelfingerknochen klopfte er gegen das Glas der Scheibe. „Hallo?“ Er bekam keine Antwort, nicht einmal eine Reaktion aus dem Inneren des Autos. Adrenalin strömte durch seine Adern. Irgendetwas stimmte hier nicht, das war ihm spätestens jetzt klar geworden. Er zog am Griff und öffnete die Autotür. Tote Augen, gelähmt vor Angst und ungläubiger Überraschung, sahen ihn starr an. Dann fiel ihr Kopf zur Seite und Blut tropfte herab. „Mitä helvettiä!“, stieß er überrascht aus und tastete nach dem Puls, auch wenn er wusste, dass sie wohl nicht mehr zu retten war. Er wollte gerade nach seinem Handy in seiner Jogginghose tasten, als er schnelle Schritte hinter sich vernahm. Blitzschnell drehte er sich um und sah jemanden wegrennen. Ohne zu zögern, ließ er das Handy wieder in die Tasche sinken und setzte sich ebenfalls in Bewegung. „Bleiben Sie stehen!“ Der Mann zeigte sich unbeeindruckt und lief weiter die Straße rauf. Der Abstand verkleinerte sich zusehends, doch dann zeigte sein Körper ihm im ungünstigsten Moment seine Grenzen auf. Er spürte ein Stechen in den Schläfen und ein unangenehmes flaues Gefühl breitete sich in ihm aus. Die Umgebung verschwamm langsam in ihre Konturen und seine Hände begannen zu zittern. Er versuchte das Gefühl abzuschütteln und einfach weiterzulaufen. Schließlich musste er aufgeben, weil er fürchtete, dass er im nächsten Moment zusammenbrechen würde. Er blieb stehen und krallte sich an einer nahestehenden Laterne fest. „Perkele“, fluchte er leise, während er nach Luft schnappte und versuchte den Schwindel abzuschütteln. Wieso nur musste er auch ausgerechnet heute einen der schlechteren Tage haben? Nach und nach hörte die Umgebung auf sich zu drehen und er suchte nach seinem Handy. Es dauerte nicht lange und er hatte die Person am Hörer, die er angewählt hatte. „Ben, ich bin es“, begann er und berichtete, was er gerade entdeckt hatte.


    Als Ben versprach sofort herzukommen, verabschiedete er sich und steckte das Handy wieder ein. Danach ging er zurück zu dem Ort, an dem das Auto gestanden hatte. Dort wartete allerdings bereits die nächste unangenehme Überraschung auf ihn. Das Auto war weg. Er sah sich um, um sicher zu gehen, ob er auch wieder an die richtige Stelle zurückgelaufen war, doch er war sich sicher. Hier war es gewesen. „Verdammte!“ Er fuhr mit der Hand durch sein schweißnasses Gesicht und lehnte sich dann gegen eine kleine Begrenzungsmauer.





    Nachdem Mikael angerufen hatte, hatte sich Ben schnell eine Jeans, ein T-Shirt und einen Pullover übergestreift, ehe er kurz Eva Bescheid gegeben hatte. Dann war er sofort zu der Stelle gefahren, die ihm Mikael genannt hatte. Sein Freund lehnte an einem Gemäuer und lächelte müde, als er aus dem Wagen stieg. „Wo ist denn nun dein Auto?“, begann er. Als er angekommen war, hatte er keinen Wagen gesehen, der auffällig mitten auf der Straße parkte.
    Mikael löste sich von der Mauer und kam auf ihn zu. „Weg. Als ich zurückkam, war er nicht mehr da.“
    „Wie, weg?“
    „Weg halt. Keine Spur mehr, das hier überhaupt etwas passiert ist!“
    Ben nickte und drehte sich einmal um die eigene Achse. Alles war noch dunkel. In keinem Haus brannte Licht. So etwas konnte doch nicht vollkommen ohne Zeugen abgelaufen sein. „Und du bist dir sicher, dass es hier war?“, fühlte er vorsichtig nach. Immerhin hatte Mikael doch noch ab und an kleine Aussetzer. In seinem Gehirn lief es einfach noch nicht so, wie es eigentlich sollte.
    „Ja doch. Ich habe die Autotür aufgerissen, ihr Kopf fiel zur Seite und …“ Mikael stockte. „Da war Blut! Es ist Blut heruntergetropft!“ Er nickte abermals und schaltete sein Handy ein, um im fahlen Licht des Displays den Asphalt abzusuchen.
    „Es war hier, ganz sicher!“, wiederholte Mikael neben ihm ein weiteres Mal.
    „Jaja, ist ja gut“, murmelte Ben. Der Hauptkommissar der Autobahnpolizei suchte noch einige Zeit die Straße vor ihnen ab, erhob sich dann aber wieder. „Ich kann nichts sehen. Bist du dir auch ganz sicher?“
    Mikael verschränkte missmutig die Hände vor seiner Brust. „Wie?“
    „War es vielleicht woanders, oder …“
    „Ich bin mir sicher!“
    Ben nickte und inspizierte die Stelle abermals. Aber auch dieses Mal hatte er wenig Erfolg. Da war nichts. Es gab überhaupt nichts. Keine Reifenspuren, kein Blut, keinen anderen Hinweis.
    „Was hast du überhaupt um diese Zeit hier gemacht?“
    „Ich konnte nicht schlafen. Ich musste raus“, erwiderte Mikael.
    Der deutsche Kommissar konnte sich schon denken, wovon sein Freund geträumt hatte, wollte aber auch nicht weiter nachhaken. Bei diesem Thema gerieten sie immer aneinander. Allerdings war es genau dieses Thema, was Bens Gedanken nun ins Rollen brachte. Sie überschlugen sich in seinem Kopf und so sehr er diese Möglichkeit verbannen wollte, drängte sie sich ihm unwiderruflich auf. Mikael war vor knapp fünf Monaten der festen Überzeugung gewesen, dass Joshua ihn in der Klinik besucht hatte. Er war sich sicher gewesen, hatte ihn angeschrien, als er ihm nicht geglaubt hatte.
    Er stand auf und sah in Mikaels Augen. „Und du bist dir auch ganz sicher, dass es wirklich hier war und …“
    Der Schwarzhaarige schien sofort zu begreifen, worauf er hinauswollte. „Glaubst du ich bilde mir das ein?!“
    „Mikael, so meinte ich das doch überhaupt ni…“, versuchte Ben.
    „Doch. Genauso hast du das gemeint. Ich bin doch nicht dumm? Wieso sollte ich mir das einbilden, wieso?!“
    Ben atmete tief durch. Eva hatte ihm schon erzählt, dass er unter Stress leicht reizbar war. Man durfte ihn nicht zu sehr drängen. Er hielt es nicht mehr so gut aus, wie vor dem Unfall. „Mikael, du solltest dich beruhigen!“
    „Ich will mich aber nicht beruhigen!“
    Er stöhnte. „Ich habe doch überhaupt nicht gesagt, dass du dir das einbildest. Würdest du also aufhören dich wie ein kleines Kind zu benehmen.“
    Mikael hockte sich auf die Erde. „Ich bin mir sicher! Es war hier!“, sagte er und Ben kam nicht umher zu bemerken, wie sich Verzweiflung in die Stimme mischte.
    Er kniete sich zu Mikael herunter. „Wie sah sie denn aus?“
    „Blond.“
    „Und weiter?“
    Mikaels Blick veränderte sich und ging ins Leere. „Ich weiß nicht … ich kann mich nicht so genau erinnern. Ihr … ihr … Haar … es ging bis zu den Schultern und sie-sie war hübsch. Denke ich.“
    „Sonst nichts? Was ist mit dem Kennzeichen? Dem Mann? Das Auto?“ Ben leuchtete Mikael ins Gesicht. „Lass das“, schimpfte der Finne und hielt sich die Hand vor die Augen. „Davon bekomme ich Kopfschmerzen!“
    Sein Freund suchte weiter die Straße nach einem Hinweis ab. „Hier ist nichts. Ich habe nichts gesehen, dann wirst du auch nichts finden!“
    „Es war hier! Genau hier! Ein blauer VW!“ Mikael stand ruckartig auf und Ben sah, wie er die Augen zusammenkniff und nun bedrohlich schwankte. Sofort preschte er ebenfalls in die stehende Position und griff nach Mikaels Arm. „Whow, kipp mir hier nicht weg!“ Es dauerte einige Sekunden, ehe Mikael ihn fixierte. „Ich bin wohl etwas zu schnell aufgestanden.“
    „Das habe ich gemerkt.“ Vorsichtig löste er seinen Griff von Mikaels Arm. „Ok. Vorschlag. Wir zwei, wir fahren jetzt nach Hause und dann, wenn es hell ist, dann werde ich noch einmal herfahren und nachsehen, ob ich etwas entdecke.“
    „Du willst also keinen Mitbewoh ... Kollegen anrufen?“, folgerte Mikael daraus.
    „Was soll ich ihm denn erzählen? Das hier eine Leiche war und die nun weg ist. Du weißt, dass sie blond war und in deinen Augen hübsch … achja und das Auto, das war blau.“
    „Du bist sarkastisch.“
    „Bin ich das? Ich bin nur ehrlich, Mikael. Ich will einfach was Handfestes haben, ehe ich damit zu einem Kollegen gehe. Du bist durch den Wind. Du stehst unter Stress und es ist etwas zu viel auf einmal für deinen Kopf.“
    „Es war da!“, wehrte sich Mikael sofort. „Ich habe es doch gesehen! Bitte. Es war wirklich da!“
    Ben spürte, wie sich in seinem Inneren Unwohlsein ausbreitete. Er wollte seinem Freund das nicht antun, aber so Leid es ihm tat sah er vor sich keinen Zeugen, sondern einen verwirrten Mann. Das alles passte nicht zusammen. Es gab keine Spuren und da es eine Sackgasse war, hätte er das Auto auf dem Weg hierher auch sehen müssen. Es war immerhin ziemlich am Ende der Straße passiert und seine Wohnung lag am Anfang. „Hast du das Eva nicht auch erzählt, als du Joshua in der Klinik gesehen hast?“
    Der Schwarzhaarige sah ihn an, dann drehte er sich weg und ging die Straße rauf. „Das ist Monate her!“
    „Aber auch damals warst du der festen Überzeugung oder nicht?“ Ben griff nach Mikaels Arm. „Nun bleib doch stehen! Ich will dir doch helfen … aber ich möchte halt auch nicht, dass du dir selbst wehtust. Ich werde das überprüfen und wenn ich was finde, verständige ich die Mordkommission.“
    Der Finne schüttelte ihn ab. „Ich will laufen! Lass mich!“
    „Du wirst nicht nach Hause laufen! Du bist gerade fast weggekippt. Nun sei doch vernünftig!“
    Mikael drehte sich zu ihm. „Hör auf mich wie einen Dummen zu behandeln! Du denkst, dass mein Gehirn mir etwas vorspielt. Du nimmst mich nicht ernst!“
    Ben versuchte ruhig zu bleiben. „Können wir das bitte zu Hause diskutieren? Wir stehen beide unter Strom.“


    „Wie du meinst.“ Mikael begab sich zu dem Mercedes und setzte sich auf den Beifahrersitz. „Kommst du dann!“, vernahm Ben noch, ehe sich die Tür schloss. Er schüttelte den Kopf. Heute Nacht würde er mit Mikael sicherlich kein vernünftiges Gespräch mehr führen können. Mit einem Seufzen stieg er ein und fuhr mit dem Auto zurück zu seiner Wohnung. Die beiden Freunde sprachen auf der kurzen Fahrt kein Wort mehr miteinander und als sie angekommen waren, verschwand Mikael sofort in Richtung Gästezimmer und murmelte etwas von „schlafen“. Ben hörte ihn durch die geschlossene Tür noch mit Eva diskutieren, doch dann war es ziemlich schnell ruhig. Vermutlich hatte er auch bei ihr einfach dicht gemacht und kein Wort mehr gesagt.


    Ben setzte sich noch eine Weile auf das Sofa und grübelte über seine nächsten Schritte nach, doch als er zu keinem Ergebnis kam, begab er sich ebenfalls in sein Bett und versuchte noch ein paar Stunden zu schlafen.

  • Mikael saß am Frühstückstisch und versuchte etwas von dem Frühstück zu sich zu nehmen, was Eva großzügig und sicherlich mit viel Mühe aufgetischt hatte. Müsli, Toast und Eier, Croissant, Orangensanft und Milchkaffee. Er schluckte einen Bissen von seinem Croissant herunter. Heute schmeckte es nach Nichts. Er hatte einfach keinen Hunger. Er trank etwas Kaffee und bemühte sich dann zu lächeln, als Eva in ansah, obwohl ihm nicht danach zu Mute war. Sein Kopf fühlte sich unglaublich schwer an. Es pochte unaufhörlich hinter seinem linken Auge. Er wusste, dass es ein schlechter Tag werden würde. Nicht nur fühlte er sich hundeelend, da war auch diese Sache mit der verschwundenen Leiche. Als er sich vor 20 Minuten aufgestanden war, hatte es einige Zeit gebraucht, bis die Geschehnisse sich wieder in sein Gedächtnis gekämpft hatten. Einen weiteren Moment hatte er gebraucht, um zu verstehen, dass es kein Traum gewesen war, sondern dass er wirklich in der Nacht aufgestanden war und dass er wirklich diese Leiche gesehen hatte.
    Mikael räusperte sich. „Wann hast du vor dort noch einmal hinzufahren?“, fragte er etwas leiser als gewollt in Bens Richtung.
    „Gleich auf dem Weg zur Dienststelle“, antwortete Ben ihm.
    „Nimmst du mich mit?“
    Ihm entging nicht, wie Ben und Eva Blicke austauschten. Sie hatten heute Morgen wohl bereits darüber geredet und eine Entscheidung gefällt.
    „Vielleicht solltest du dich ausruhen. Du siehst müde aus“, sagte Ben und Eva nickte synchron dazu.
    „Wie soll ich das, wenn ich doch immer daran denken muss?“ Er zupfte an seinem Croissant herum stopfte sich etwas davon in den Mund, nur um festzustellen, dass es immer noch nicht an Geschmack gewonnen hatte.
    „Ich gehe der Sache nach. Wenn ich auf der Dienststelle bin, gehe ich dann auch noch die Datenbanken durch.“
    „Ich weiß, dass ich sie gesehen habe.“ Er versuchte seine Stimme hart und bestimmt klingen zu lassen, doch was seinem Mund entkam, klang dann eher wie von einem schüchternen Jungen. Eva griff nach seiner Hand. „Es bezweifelt doch auch Keiner.“
    „Nein?“, fragte er und diesmal schaffte er es die passende Tonlage zu erwischen.
    „Es war ein anstrengender Tag, du hattest diesen Traum …“, begann Ben vorsichtig.
    „Du glaubst also immer noch, dass mir mein Gehirn nur einen Streich spielt?“
    „Du solltest diese Möglichkeit zumindest in Betracht ziehen, oder nicht?“
    Mikael sah Eva an. Sie richtete ihren Blick auf den Boden. Dachte also sicherlich das Gleiche wie Ben. Er konnte seine Enttäuschung nicht verstecken und stand auf. „Mir ist der Hunger vergangen“, nuschelte er.
    „Nun warte doch“, rief Ben ihm hinterher, „lass uns doch in Ruhe darüber reden!“ Er drehte sich nicht noch einmal um und verschwand schweigend in das Gästezimmer.


    Dort angekommen setzte er sich auf den Stuhl, der an einem kleinen hölzernen Tisch stand. Er saß einige Minuten still da und sah aus dem Fenster. Die Sonne hatte sich heute noch nicht blicken lassen, dunkle Wolken türmten sich am Himmel und es sah nach Regen aus. Der Wind zerrte an den wenigen Bäumen, die am Straßenrand standen. Ihm war schleierhaft, wie Ben es hier überhaupt aushalten konnte. Diese Gegend, wo sein Freund nun schon einige Jahre seine Wohnung hatte, wirkte auf ihn beklemmend. Er konnte sich hier nie wirklich frei fühlen. Hier gab es fast nur Beton, kaum Grünflächen. Wenn er spazieren ging, dann fühlte er sich gleich beobachtet. Er hatte das Gefühl, als würde jeder der Nachbarn ihn begutachten und abwägen, ob er hierher gehörte oder nicht. Sie sahen natürlich sofort, dass er nicht hierher gehörte. Er passte nicht in diese Gegend. Er trug nichts an sich, oder besaß etwas, was ihn dieser Gegend zuordnete. Und doch schien er der Einzige zu sein, der diese tote Frau gesehen hatte. Außer ihm war in der letzten Nacht niemanden etwas aufgefallen. Oder hatte diese Person sich bisher einfach nur noch nicht gemeldet? Ja, das konnte ja immerhin sein. Vielleicht wollte sie der Polizei nicht zur Last fallen und rief erst am Vormittag an der Leitstelle an?


    Er löste seinen Blick vom Fenster und sah auf einen Notizblock. Davor lagen einige dünne Bücher mit Übungen zum Gedächtnistraining. Er hatte weiterhin fürchterliche Probleme, wenn er es natürlich ungern zugab, sich Dinge zu merken und richtig zuzuordnen. Immerhin war genau das nun wieder sein Problem geworden. Er konnte im Augenblick nicht auf sein fotografisches Gedächtnis vertrauen und manchmal da fühlte es sich an, als würde sein Gehirn in Zeitlupe arbeiten. Er griff nach einem Stift. Wie hatte die Frau ausgesehen? Sie war blond, ja genau. Blondes Haar bis zur Schulter oder war es länger gewesen? Nein, bis zur Schulter. Ihre Augen waren blau. Aber was hatte sie angehabt? Eine Jacke? Nein. Einen Pullover? Nein. War es ein T-Shirt gewesen oder eine Bluse? Er grub in seinem Gehirn, fand jedoch nichts. Er hatte es vergessen. Wie sah ihr Gesicht aus? Er begann einige erbärmliche Skizzen zu malen, aber konnte sich dennoch nicht erinnern. Es war schmal gewesen, dass wusste er, aber sonst war da nichts. Absolut nichts! Er umklammerte den Stift in seinen Fingern fester. Er musste sich doch erinnern können. Es konnte doch nicht alles weg sein? Er war doch fähig gewesen sich viele Dinge auf einmal zu merken. Wieso scheiterte er jetzt an so einer winzigen Aufgabe!? Er atmete tief durch. „Dann fang ich halt mit dem Mann an.“ Er blätterte den Notizblock um und senkte die Spitze des Stiftes Richtung Papier. Dunkler Kapuzenpullover, Mittelgroß, notierte er. Er überlegte. Hatte er eine Jeans angehabt oder doch eine Lederhose? Stiefel oder Turnschuhe? Verzweiflung kämpfte sich in ihm hoch. Etwas schnürte ihm die Kehle zu. In seinem Kopf pochte es, unweigerlich. Es konnte doch nicht so schwer sein sich zu erinnern. Er hatte sich das nicht eingebildet, dass wusste er. Er blätterte den Block vor sich erneut um. Blaues Auto, schrieb er auf. VW Polo oder war es doch ein Golf gewesen? Nein, Polo. Das Kennzeichen. Mikael blickte aus dem Fenster und beobachtete, wie die Wolken, getrieben vom Wind, eilig vorbeizogen. Wie war nur das verdammte Kennzeichen gewesen? Hatte er es überhaupt gesehen? Er hatte nicht darauf geachtet. Nur auf die Frau. Nur auf die Tatsache, dass der Wagen auf der Straße gestanden hatte.
    „Verdammt!“ Wütend knallte er den Stift auf den Tisch. Der verfluchte Kopfschmerz wurde immer heftiger, je mehr er darüber nachdachte. Er stützte die Ellenbogen auf den Tisch und vergrub den Kopf in seinen Händen. Mit den Fingerspitzen massierte er sich die Schläfen. Zu allem Überfluss war ihm auch noch fürchterlich schwindelig geworden. Das Zimmer hatte sich zu drehen begonnen und er versuchte sich auf einen Punkt zu konzentrieren, damit es nachließ. Mit zittrigen Fingern, griff er nach der Tablettenschachtel. Er drückte zwei Tabletten aus ihren Folienstreifen und schluckte sie herunter. Der Schwindel ließ nach, die Kopfschmerzen allerdings nicht. Er senkte den Blick wieder auf den Notizblock, doch er konnte sich nicht konzentrieren. Es war als würden die Gedanken in seinem Kopf ihre Kreise ziehen, ohne dass sie von ihm gepackt werden konnten. Er schloss die Augen.


    „Mikael?“ Es dauerte etwas, bis Evas Stimme zu ihm durchdrang und sich durch das laute Gehämmer in seinem Schädel gekämpft hatte. Sie musste irgendwann ins Zimmer gekommen sein, aber er hatte sie nicht gehört.
    „Hmm.“
    „Hast du Kopfschmerzen?“
    „Es geht schon.“ Er öffnete die Augen wieder ein Stück weit.
    Sie kam näher. Ihre Schritte hörten sich fürchterlich laut an und am liebsten hätte er ihr zugeschrien, dass sie endlich stehen bleiben sollte. Sie trampelte, wie ein Elefant. Eva umschlang ihn von hinten. „Hast du denn schon Tabletten genommen?“, hauchte sie zärtlich in sein Ohr.
    „Ja. Zwei. Ich denke ich sollte keine mehr nehmen.“
    „Ja, zwei reichen“, bestätigte sie ihm. Sie griff nach dem Notizblock. „Du hast über die letzte Nacht nachgedacht?“
    Seine Hand fuhr auf ihren Arm, der sich dadurch fast automatisch wieder senkte. „Ja. Aber mir fällt nicht besonders viel ein.“
    Eva schwieg eine Weile. „Aber das ist doch schon einmal was.“
    „Es glaubt mir doch ohnehin niemand“, murmelte er resigniert.
    „Ben hat versprochen dem nachzugehen.“
    „Und? Er denkt trotzdem, dass irgendwas in meinem Kopf nicht richtig läuft und du, du denkst das doch auch. Oder nicht?“ Evas Händedruck wurde etwas schwächer. Sie löste sich von seinem Rücken und setzte sich jetzt auf das Gästebett, dessen fürchterlich weiche Matratze er jede Nacht aufs Neue verfluchte. „Ich denke, dass du dich damit nicht verrückt machen solltest. Damals bei der Sache in der Rehaklinik, da hast du es ja auch geglaubt und …“
    Er winkte ab. „Jaja, ich habe begriffen!!“
    „Wenn es etwas gibt, dann wird Ben es finden. Da bin ich mir sicher!“
    „Hmm.“
    „Mehr hast du dazu nicht zu sagen?“, fragte sie erstaunt. Sicherlich hatte sich mit mehr Gegenwehr gerechnet, aber die Wahrheit war, dass er zu müde dafür war. Er hatte das Gefühl, als müsste ihm der Schädel zerspringen. Diese verdammten Tabletten schienen überhaupt nichts zu bringen. Es pochte, es hämmerte unaufhörlich.
    „Nein. Mehr habe ich nicht zu sagen.“ Er stand von seinem Stuhl auf und bemühte sich, dass man ihm nicht ansah, dass sich seine Beine wie Pudding anfühlten. Er setzte sich neben Eva auf das Bett und gab ihr einen Kuss. „Ich denke, dass ich versuchen werde noch etwas zu schlafen. Ich bin fürchterlich müde.“
    Sie nickte. „Wie du meinst. Soll ich dich in ein paar Stunden wecken?“
    „Ja.“ Sie stand auf, drückte ihm einen Kuss auf die Lippen und verschwand dann leise aus dem Zimmer. Er ließ sich nach hinten auf die Matratze gleiten und blickte an die Decke. Wie nur hatte die Frau ausgesehen?

  • Ben lenkte seinen Mercedes an den Straßenrand in eine Haltebucht und stellte den Motor ab. Er löste den Anschnaller und stieg dann aus. Er sah sich um, obwohl er diese Straße ganz genau kannte, denn immerhin lag sein Haus ja nur fünf Minuten Fußmarsch entfernt. Mit langsamen Schritten ging er auf die Stelle zu, wo Mikael das Auto mit der Leiche gesehen haben wollte. Doch das Ergebnis blieb das Gleiche, wie in der Nacht. Er konnte überhaupt nichts Verdächtiges sehen. Es gab keine Reifenspuren, nicht einmal einen Zigarettenstummel. Von Blut ganz zu schweigen. Oder war das vielleicht gerade Verdächtig? Er verneinte die Frage innerlich. Der Mörder – wenn es denn einen gab – war von Mikael verfolgt worden. Er hatte wohl kaum die Zeit gehabt noch aufzuräumen. Überhaupt, was hatte der Mann hier gesucht? Weshalb hatte er das Auto überhaupt verlassen? Weshalb hatte er sich davon wegbegeben?
    Ben zog den Reißverschluss seiner Jacke höher, als ein eisiger Wind zupackte. Er ging zu seinem Auto zurück und setzte sich hinein. Vom Fahrersitz aus, sah er abermals auf die Stelle, die ihm Mikael in der Nacht gezeigt hatte. So sehr er seinem Freund glauben wollte, so schwer fiel es ihm. Die Angaben von Mikael klangen wage und auch wenn er es nicht wollte, so drängten sich immer wieder diese Dinge in sein Gehirn, die er vor Monaten einmal irgendwo im Internet gelesen hatte. Irgendjemand hatte in einer Selbsthilfegruppe zum Schädel-Hirn-Trauma von so etwas geschrieben und er wusste immerhin von einer ganz ähnlichen Situation mit Mikael. Es war zwar nicht von der Hand zu weisen, dass Mikael in den letzten Monaten wirklich große Schritte gemacht hatte, aber es war nicht so, dass er wieder vollständig gesund war. Natürlich war Mikael nicht mehr so vergesslich und verwirrt, wie noch vor Monaten, aber es gab Tage oder Momente, da hatte er Aussetzer. Manchmal stand er mit den Schlüsseln vor ihm und suchte eben diese verzweifelt. Er fand Wörter nicht und wurde wütend. Damals hatte er so eine Wahnvorstellung, warum sollte es dann nicht auch jetzt so sein?
    Er atmete tief durch, legte die Arme auf das Lenkrad und legte den Kopf darauf. Wieso zweifelte er so an Mikaels Aussage? War es nicht seine Aufgabe als Freund ihm dieses Vertrauen zu geben? War er durch die letzten Monate zu überfürsorglich geworden? War es das? „Was für ein Scheißtag!“ Ben löste die Arme und den Kopf wieder vom Lenkrad und startete den Wagen. Vielleicht fand er ja was in der Datenbank, was Mikaels Aussage untermauerte - oder eben nicht.


    In der Dienststelle angekommen, begrüßte Ben die Kollegen und schaltete, in seinem Büro eingetroffen, den PC ein. Während der Computer startete, begab er sich in die Küche und machte sich einen Kaffee. Denn den hatte er nach der kurzen Nacht bitter nötig. Als er wieder in sein Büro gestiefelt kam, war Semir ebenfalls bereits da und begrüßte ihn mit einem herzlichen „Guten Morgen“. Er erwiderte den Gruß, während er sich hinsetzte und sein Passwort in die Maske eingab.


    „Du bist aber heute reichlich früh“, bemerkte sein älterer Kollege an. „Ja. Irgendwie war ich heute ziemlich früh wach“, murmelte er in Gedanken.
    Er öffnete die Suchmaske der Datenbank und gab VW Polo, blau ein. ‚Kein Treffer‘ leuchtete es kurz darauf auf. Es war also nichts eingegangen, worin ein blauer VW Polo verwickelt war. Er veränderte den Begriff und suchte nun nach einer blonden Frauenleiche. Aber auch jetzt wurde er wieder enttäuscht. In der letzten Nacht war nichts registriert worden. Hatte Mikael sich das wirklich alles eingebildet? Immerhin hatte Ben nichts gesehen und ihm war auch kein Wagen dieses Typs entgegengekommen. Er konnte nicht in die andere Richtung gefahren sein. Er wohnte in einer Sackgasse. Bens Finger lagen auf der Tastatur. Er begann etwas in die Suche seines Browsers zu tippen, löschte es kurz darauf aber sofort wird. Er atmete tief durch und gab die soeben gelöschten Begriffe abermals ein und bestätigte seine Suche mit der Enter-Taste. Über 40.000 Ergebnisse lieferte ihm der Suchdienst. Er klickte sich durch einige der Seiten, überflog die Texte. „Denkstörungen bis zu Wahngedanken, Halluzinationen“, nuschelte er leise.
    „Was machst du da eigentlich?“
    Er sah auf. Semir lehnte in seinem Stuhl zurück und musterte ihn kritisch. „Ich? Nichts, nichts …“
    „Und die Wahrheit?“
    „Es ist nicht wichtig Semir.“
    Semir zog die Augenbrauen zusammen und stand auf. Er ging um den Schreibtisch rum und sah auf den Bildschirm. „Da wollen wir doch sehen, was dieses ‚nicht so wichtig‘ ist.“
    Semir zog die Stirn in Falten, als er las, welche Seite Ben geöffnet hatte. „Wahnvorstellung bei Schädel-Hirn-Trauma“, las er vor. Ben schloss mit seiner Maus eilig die geöffneten Fenster.
    „Ist was mit Mikael?“, fragte Semir nach.
    „Um ehrlich zu sein. Ich weiß es nicht“, gestand der Jüngere ein.
    „Wie, du weißt es nicht?“
    „Naja. Es gab da eine komische Situation gestern Nacht.“
    Semir setzte sich auf die Kante von Bens Schreibtisch. „Was für eine Situation?“
    Ben atmete einige Male tief durch und überlegte, wie er es seinem Partner am besten erklären solle. Eine Tatsache, die seinem Freund nicht unbemerkt blieb. „Vielleicht fängst du einfach vorne an“, sagte er mit einem Lächeln.
    Ben nickte. „Ja, das wäre wohl das Beste“, erklärte er und berichtete Semir nun davon, wie Mikael ihn Mitten in der Nacht aufgeregt angerufen hatte, er hingefahren war, aber keine Leiche auffinden konnte.
    „Hast du noch einmal bei Tageslicht geschaut?“, wollte Semir anschließend von ihm wissen.
    „Natürlich, aber ich habe nichts gefunden. Vorhin habe ich die Datenbank durchsucht. Nichts!“ Ben drehte seinen Stuhl leicht hin und her. „Daher dachte ich vielleicht, dass es wirklich nur Einbildung ist.“
    „Hmm. Ist das nicht eine heftige Wahnvorstellung?“, fragte Semir skeptisch.
    „Er hatte einen Albtraum. Den von Joshua. Vielleicht war er deshalb etwas durch den Wind.“
    Der Deutschtürke nickte und fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Wie ist es, wenn wir noch einmal gemeinsam zu der Stelle fahren? Vier Augen sehen mehr als zwei, nicht?“
    „Vielleicht hast du Recht“, stimmte Ben zu und griff nach seiner Jacke und den Autoschlüsseln. „Danach können wir dann mit der Streife loslegen, wenn wir schon einmal auf der Straße unterwegs sind“, merkte Semir hinter ihm noch an, ehe sie die Dienststelle verließen.

  • „Hier ist es“, sagte Ben. Die beiden Hauptkommissare der Autobahnpolizei stiegen aus. „Aber hier ist wirklich absolut nichts, was Mikaels Aussage bestätigt“, hängte der Jüngere an.
    „Aussage, wie sich das anhört.“ Semir lachte und ging die Straße langsam in eine Richtung ab. „Wie hört sich das denn an?“, schimpfte Ben einige Meter hinter ihm.
    „Als wäre es ein x-beliebiger Zeuge. Wir reden hier doch immerhin von einem fähigen Polizisten.“
    „In dessen Kopf es allerdings derzeit nicht so läuft, wie es eigentlich sollte“, gab der Braunhaarige zu bedenken. Ben hatte inzwischen zu seinem Freund aufgeholt und lief nun neben ihm.
    „Kann man sich so etwas wirklich einbilden? So detailliert und realitätsnahe?“
    „Der Fachartikel im Internet sagt schon … vielleicht liegt es ja auch an den Medikamenten.“
    „Wieso?“
    „Hast du mal gesehen, was der an einem Tag so schluckt? Ich will nicht wissen, was für Nebenwirkungen das Zeug hat.“
    Sie gingen die Straße inzwischen in die andere Richtung ab, fanden aber auch hier nichts, was auf ein Verbrechen hindeutete. Semir lehnte sich an Bens Dienstauto. „Du hast Recht. Hier gibt es nichts“, gab er resigniert zu.
    „Sag ich ja“, murmelte Ben und lehnte sich neben seinen Partner. „Aber deshalb kannst du trotzdem nicht gleich davon ausgehen, dass er sich alles nur einbildet.“
    „Wo soll er denn mit seinem Auto hin sein? Was hat er überhaupt hier gemacht? Wo ist das Blut, was angeblich von der Stirn getropft ist?“ Ben löste sich von dem Mercedes und zeigte die Straße nach Norden rauf. „Es ist eine Sackgasse, Semir!“ Der Braunhaarige fuhr sich durch die Haare, um einige Strähnen zu bändigen, die durch den starken Wind in Unordnung gebracht worden waren. „Weißt du, was das heißt? Er hätte mir entgegenkommen müssen.“
    „Vielleicht war er schon weg, als du losgefahren bist?“
    „So schnell? Mikael hat mich ja direkt angerufen, als er ihn verloren hatte.“
    „Bist du dir da sicher?“
    „Wie meinst du das?“
    „Du hast gesagt, dass Mikael schwindelig war und er deshalb stehen geblieben ist.“
    „Ja und?“
    „Du weißt nicht, wie lange es gedauert hat, bis sein Kreislauf sich beruhigt hatte.“
    „Der Täter musste ja trotzdem zurück zu seinem Auto“, widersprach Ben der aufkommenden These seines Kollegen.
    „Und dir ist auf dem Weg hierher nichts aufgefallen?“, hakte Semir abermals nach.
    „Nein. Absolut nichts!“, wiederholte Ben ungeduldig. Semir sah sich um. „Was hältst du davon, wenn wir einige der Leute aus der Siedlung befragen? Vorsichtig nachfühlen, ob jemand etwas gesehen oder gehört hat?“
    Ben zuckte mit den Schultern. „Es kann zumindest nicht schaden, oder?“
    „Gut, dann lass uns mal.“ Semir löste sich von dem Auto und gemeinsam begaben sie sich in Richtung des ersten Hauses.


    Ihnen wurde sofort geöffnet, doch der Informationsgehalt war gleich null. Die Frau hatte nichts gehört oder gesehen und war sich auch sehr sicher, dass Gleiches auf ihren Mann zutraf. Dennoch versprach sie ihm, von ihrem Besuch zu berichten. Er würde dann anrufen, falls er doch etwas bemerkt hatte. Bei den übrigen Bewohnern war es genauso. Niemand hätte etwas gehört oder gesehen. Als sie die siebte Befragung durchgeführt haben, schnaufte Ben auf. „Das bringt doch nichts Semir“, sagte er resigniert. „Ich denke nicht, dass irgendwer irgendetwas gesehen hat.“
    „Dennoch sollten wir auch die anderen Häuser abklopfen“, widersprach der ältere Beamte und klingelte bereits wieder an der nächsten Tür.
    „Es ergibt doch alles überhaupt keinen Sinn, was Mikael erzählt.“
    „Du bist zu negativ Ben“, wies ihn Semir zurecht. „Ich bin nur realistisch. Welcher Mörder fährt in eine Sackgasse? Hinzu kommt, das man hier eine Leiche eher schlecht entsorgen kann.“
    Die Tür öffnete sich und Ben verstummte für einen Augenblick, während Semir dem Mann, der geöffnet hatte die üblichen Routinefragen stellte. Aber auch er konnte sich an nichts Auffälliges in der Nacht erinnern. Als sie die Tür wieder schloss, fuhr Ben fort: „Ich habe das Auto nicht gesehen und ich müsste es eigentlich gesehen haben.“
    „Mikael bringt Details durcheinander, oder nicht?“, fragte Semir nun.
    „Ja, schon. Worauf willst du hinaus?“
    „Vielleicht war es überhaupt kein blauer VW-Polo. Vielleicht hatte das Auto eine ganz andere Farbe.“
    Der Jüngere schüttelte den Kopf. „Nein. Zumindest in diesem Punkt war sich Mikael sicher.“
    Semir nickte und war bereits auf dem Weg zum nächsten Haus. „Ich will nur alle Eventualitäten durchgehen.“
    „Jaja, ich habe es ja inzwischen begriffen.“ Ben stopfte die Hände in seine Hosentaschen und schlich hinter Semir hinterher. Dieser klingelte bereits an der nächsten Haustür. Eine junge Frau öffnete ein Stück. „Ja?“ „Gerkhan. Kriminalpolizei. Wir hätten ein paar Fragen bezüglich der vergangenen Nacht.“ Sie nickte unsicher. „Ist Ihnen vielleicht etwas aufgefallen? Eine Person, die hier nicht hergehört oder ein Auto?“
    Sie öffnete die Tür ein Stück weiter. „Jetzt, wo Sie es sagen … ja, da war etwas.“ Ben und Semir sahen sich kurz an. War da etwa der Hinweis, auf den sie schon so lange warteten? „Was haben Sie gesehen?“, hakte Semir nach. „Da war ein junger Mann. Kapuzenpullover. Etwas größer als Sie vielleicht … er hat etwas geschrien und dann … dann ist er losgerannt wie ein wildgewordener. Dann kurz später habe ich ihn erneut gehört mit einem anderen Mann.“ Semir lächelte gezwungen. Das war nun nicht die Aussage, die er sich gewünscht hatte. Den Mann, den diese Frau beschrieb, war wohl Mikael und die Stimmen etwas später wohl die von eben diesem und Ben. „Und sie haben beim ersten Mal nur diesen jungen Mann gesehen?“, hakte er nach. Sie nickte abermals. „Ja, nur ihn.“
    „Wissen Sie zufällig, welche Farbe der Pullover hatte, den er trug?“ Semir wollte ganz sicher gehen, dass sie auch wirklich von Mikael selbst sprach. „Ich würde sagen ein dunkles Grau oder Schwarz. Da war ein Motiv darauf abgebildet. Ein Grabstein oder so etwas. Aber er stand nur ganz kurz unter einer Laterne, sonst war es ja Stockduster.“
    „Vielen Dank. Ihre Aussage hat uns sehr weitergeholfen“, antwortete Semir ihr. Sie lächelte verlegen und schloss dann die Tür, als sie ihnen ihre Personalien geliefert hatte.


    „Das ist dieser komische Nightwish-Pullover. Da ist hinten ein Engel drauf, der in trauernder Pose über einem Grabstein hängt“, erklärte Ben, als sie den dünnen Weg vom Haus in Richtung Straße gingen. „Sie hat niemand anderen gesehen!“
    „Ich war dabei“, murmelte Semir neben ihm in Gedanken. Der erfahrene Polizist versuchte die Informationen zu ordnen und suchte nach einer Erklärung, doch er fand keine. Es war wohl tatsächlich so wie es Ben gesagt hatte. Mikael schien sich das Ganze wirklich eingebildet zu haben. Die Frau hätte ja den anderen Mann auch sehen müssen oder etwas hören. So ganz überzeugt war er allerdings nicht. Er würde dafür sorgen, dass sie weiterhin die Datenbank im Blick hatten. Er seufzte. „Lass uns auf Streife gehen.“

  • Eva setzte Oskari in den Laufstall und begab sich dann in Richtung Gästezimmer. Vor ein paar Stunden hatte sie Mikael alleine gelassen, weil er noch etwas schlafen wollte. Als sie die Tür öffnete, konnte sie leise Gitarren- und Schlagzeuggeräusche sowie die unverwechselbare Stimme von Tarja Turunen hören. Mikael lag auf dem Bett und hatte Kopfhörer in die Ohren geschoben. Sein Blick hing an der Decke, als könne sie ihm Antworten geben, die er gerade verzweifelt zu suchen schien. Sie ging langsam auf ihn zu und legte das rechte Knie auf die Matratze. Sofort löste sich Mikaels Blick von der Decke und er sah sie an. Seine linke Hand hob sich und er zog einen der Ohrstöpsel heraus. „Laute Metal-Musik hilft also gegen Kopfschmerzen?“, fragte sie.
    „Einen Versuch war es wert.“
    „Und?“
    „Es hilft nicht besonders.“
    Sie legte ihre Hand auf seinen Oberkörper, die sich nun bei jedem seiner Atemzüge hob und senkte. „Was hältst du davon, wenn wir etwas raus gehen?“
    Mikael sah aus dem Fenster. „Bei dem Wetter?“
    Sie lachte lauf auf. „Jetzt sei doch nicht so! Es hat dich noch nie gestört, wenn schlechteres Wetter war. Wir könnten in den Park hier um die Ecke. Die frische Luft hilft sicherlich bei den Kopfschmerzen.“
    „Denkst du?“
    „Ja“, antwortete sie ihm und zog das T-Shirt ein Stück hoch. „Also hopp! Raus aus den Schlafklamotten!“
    „Und wenn ich keine Lust habe?“, fragte er angriffslustig und zog das T-Shirt wieder nach unten. Sie lachte. „Dann werde ich dich zwingen!“ Mit einer geschickten Bewegung zog sie Mikaels Jogginghose von seinen Beinen. Er hob beschwichtigend die Arme und lachte leise. „Ich ergebe mich!“
    Ihr Griff löste sich von der Hose und sie fiel auf die Erde. „In fünf Minuten?“


    „Ja.“ Eva stand auf und gab ihm einen innigen Kuss auf die Lippen und verließ das Zimmer dann wieder. Sie hob Oskari aus dem Laufstall und trug das Kind mit Kopfkissen und Decke zum Kinderwagen, packte es warm ein. Mikael hatte Wort gehalten und er stand tatsächlich in fünf Minuten neben ihr, wenn er sich auch im Bad wohl weniger Zeit gelassen hatte, wie seine Haare verrieten. Die waren weiterhin wild durcheinander. Sie fuhr mit ihrer Hand über seinen Kopf. „Ein bisschen Ordnung hättest du aber schon reinbringen können!“, sagte sie gespielt empört. Denn eigentlich mochte sie es, wenn die schwarzen Haare unordentlich waren. „Uns kennt doch eh keiner!“, widersprach er und zog die Mundwinkel nach oben. Er sah in den Kinderwagen und streichelte über Oskaris Wangen. „Na wollen wir?“


    Gemeinsam brachen sie in Richtung Park auf. Auf den Wegen trafen sie Jogger und einige junge Mütter, die meist in kleineren Gruppen unterwegs waren. Immer wieder hatte Eva versucht Mikael in ein Gespräch zu verwickeln, doch er schwieg. Sie sah zur Seite. Der Blick ihres Verlobten war versteinert und sagte überhaupt nichts aus. Er dachte also intensiv nach. Diesen Gesichtsausdruck hatte er immer, wenn er nachdachte und sie konnte es ihm nicht verübeln. Diese Sache von gestern Nacht beschäftigte auch sie immer noch. Sie hakte sich bei Mikael ein. Vielleicht hatte sie ja Glück und konnte ihn auf andere Gedanken bringen. „Ich habe da etwas im Internet gesehen. Eine tolle Idee für die Platzkarten bei der Hochzeit.“
    „Hmm.“
    „Sie sind fliederfarben, aber nicht zu kitschig. Auch überhaupt nicht teuer. Vielleicht kann man es ja auch selbst nachbasteln.“
    „Hmm, ja.“
    „Du hörst doch überhaupt nicht zu!“, stellte sie fest. Sie erhielt abermals nur ein Brummen als Antwort. „Mikael!“ Sein Kopf fuhr ertappt in ihre Richtung. „Ja, was ist?“
    „Ich hatte dir etwas erzählt. Eine Idee für die Hochzeit.“
    Er sah verlegen auf den Boden. „Entschuldige. Ich war mit den Gedanken ganz woanders. Was war es?“
    „Eine Idee für die Platzkarten. Es ist nicht wichtig.“
    „Warum nicht? Ich will es hören“, widersprach Mikael sofort. Eva gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Du hast an die Frauenleiche gedacht, nicht?“
    „Es will mir nicht aus dem Kopf. Ich bin mir sicher, dass ich es mir nicht nur eingebildet habe.“
    „Dann wird Ben etwas finden. Ich meine, irgendjemand wird doch wohl diese Frau vermissen, oder nicht?“
    Er zuckte mit den Schultern. „Du weißt, wie trostlos diese Welt ist. Viele werden niemals vermisst.“
    Sie lachte leise. „Du malst mal wieder alles schwarz. Ich bin mir sicher, dass sich bald jemand meldet. Niemand hat es verdient, vergessen zu werden.“
    „Niemand, hm?“
    Eva sah zur Seite. Mikael war wieder in Gedanken versunken und sie konnte sich denken, an wen er dachte. Seinen Vater. Einen Verbrecher, der sich in Helsinki einen Namen gemacht hatte. Drogen, Waffen. Es hieß, dass er einem alles besorgen konnte. Ein Mann, der auf seinen eigenen Sohn geschossen hatte. Und obwohl sein Ruf so schlecht war, musste da irgendwas Menschliches an diesem Mann gewesen sein, so dass er Mikael auch nach seinem Tod verfolgte. Immer wieder ertappte sie ihn dabei, wie er über seinem Notizbuch hing und verzweifelt versuchte, zu verstehen, warum Andreas Hansen es getan hatte. Wieso er auf seinen Sohn geschossen hatte.
    „Du denkst an deinen Vater, nicht wahr?
    Er nickte, sagte allerdings nichts. Sie lehnte sich an seine Schulter. „Es ist kein Verbrechen, dass du das Gute in ihm sehen willst.“
    „Manchmal denke ich, dass es das ist“, murmelte er mit gedrückter, unsicher wirkender Stimme.
    „Ich bin mir sicher, dass Andreas auch etwas Gutes in sich hatte. Immerhin ist aus dir ja ein gescheiter Mann geworden.“
    Dieser Kommentar brachte Mikael zum Lachen. „Wie sich das anhört! Gescheiter Mann.“ Sie gab ihm einen Klaps. „Lach nicht so über mich!“ Er drückte ihr einen Kuss auf die Wange. „Na dann hoffe ich mal, dass ich aus unserem Sohn auch einen gescheiten Mann machen kann.“
    „Da bin ich mir sicher!“ Der kalte Wind blies durch alle Ritzen ihres Anoraks und sie kuschelte sich dichter an ihren Verlobten.


    Sie gingen noch ein Stück durch den Park und Eva entdeckte ein kleines Café, in dem sie sich mit einer Tasse warmen Kakao aufwärmten, ehe es wieder zurück zu Bens Wohnung ging. Mikael war zwar noch immer leise, aber längst nicht mehr so still, wie noch vor wenigen Stunden. Ihr Plan war aufgegangen und er hatte zumindest für einen Moment diese Sache aus der vergangenen Nacht vergessen. *



    *


    Semir lenkte den silbernen BMW auf die nächste Raststätte und besorgte zwei Automatenkaffee. Ben war die letzten Stunden schweigsam gewesen, hatte nur dann mit ihm gesprochen, wenn er ihn direkt angesprochen hatte. „Du solltest aufpassen, dass Mikaels Kommunikationsverhalten nicht auf dich abfärbt“, witzelte er, während er seinem Partner den Kaffee hinhielt und sich dann wieder auf den Fahrersitz setzte. Es war zwar Sommer, aber dieser schien sich vor den Kölnern zu verstecken und da war das warme Auto gerade doch eher der Platz, wo er sein wollte. „Haha“, kam es von seiner rechten. „Vielleicht sollten wir die Mordkommission darüber informieren“, setzte der Ältere nun an.
    „Ich war in der Nacht dort. Ich hätte das Blut sehen müssen, Semir.“
    „Vielleicht war es nicht besonders viel.“ Er erhielt keine Antwort mehr. Ben hatte den Ellenbogen an der Tür angewinkelt und sah heraus in das graue Wetter. „Er war total durch den Wind. Dieser Traum mit Joshua. Vielleicht lag es daran.“
    „Du glaubst weiter an eine Halluzination?“
    „Ja, schon. Du nicht? Du hast ja die Frau gehört.“
    „Ich weiß nicht. Natürlich gibt es keinerlei Beweise, die Mikaels These unterstützen, aber es könnte dennoch etwas Wahres dran sein, oder nicht?“
    „Ich weiß es wirklich nicht. Ich wünschte, dass ich das Vertrauen in Mikael hätte, aber die Wahrheit ist, dass ich es nicht habe.“ Ben stellte den Kaffee auf das Armaturenbrett und sah ihn an. „Die Straße ist eine Sackgasse, mir kam kein Auto entgegen. Und dann das Blut. Es gab dieses Blut nicht, was Mikael auf den Asphalt tropfen sehen hat.“
    „Es gibt vielleicht für alles eine logische Erklärung.“
    „Ja? Es sei denn, das Auto kann sich urplötzlich teleportieren, gibt es keine Erklärung für das alles.“
    „Du wirst ihm das so sagen?“
    „Dass ich nichts gefunden habe? Ja, das werde ich ihm so sagen.“
    Semir schüttelte leicht den Kopf. „Nein, ich meine den anderen Teil. Das du daran glaubst, dass es mit seiner Verletzung zusammenhängt.“
    „Das weiß er ja im Grunde schon. Ich hatte so was angedeutet.“ Ben griff wieder nach seinem Becher und gönnte sich ein paar kräftige Schlucke des Kaffees. „Der schmeckt grässlich.“
    „Was erwartest du? Automatenkaffee, Partner.“
    Der Jüngere sah gedankenverloren in seinen Becher. „Weißt du Semir. Es fällt mir schwer daran zu glauben, dass Mikael wieder der Alte wird. Es sind so viele Monate vergangen.“
    „Manche Dinge brauchen ihre Zeit. Vielleicht ja auch diese Sache.“
    „Mhm.“
    „Du fühlst dich weiterhin schuldig an dem Ganzen, nehme ich an?“
    Ben antwortete nicht sofort. Er sah aus dem Fenster und dachte darüber nach, was er empfand. Schließlich drehte er sich wieder zu Semir. „Ja“, nuschelte er. „Dieser Streit. Ben, du gibst dem zu viel Gewicht. Freunde streiten nun einmal auch.“
    Der Jüngere lachte leise auf. „Julia. Sie hat gesagt, dass wir auch früher immer gestritten haben.“
    „Na siehst du!“
    „Aber ich habe mir gewünscht, dass er einen Fehler macht. Ich habe es mir gewünscht!“ Ben fuhr sich mit der linken Hand durch das Haar. „Und wieso? Weil ich neidisch war! Und dabei gibt es Nichts, worauf man neidisch sein kann!“ Bens Stimme wurde lauter. Bebte. „Er hat seinen besten Freund verloren, sein Vater wollte ihn töten!“
    „Rede mit Mikael über den Streit. Er wird es verstehen.“
    Ben atmete tief durch. „Manchmal habe ich Angst, dass seine Erinnerung zurückkommt. Dann wird er sich an all das erinnern, was ich ihm falsch erzählt habe.“
    „Ein Grund mehr schnell mit ihm darüber zu reden“, entschied Semir.
    „Er wird mich hassen!“
    „Quatsch. Er wird dich dafür nicht hassen. Du hast ihn belogen, um ihn zu schützen.“
    „Eben. Er hasst es, wenn man ihn zu sehr bemuttert.“
    Semir schüttelte den Kopf. „Ich kenne Mikael inzwischen ganz gut. Er wird vielleicht sauer sein, aber es wird schnell wieder vergehen.“ Er legte seinem Partner die Hand auf die Schulter und drückt leicht zu. „Also bring es schnell hinter dich. Umso länger du es aufschiebst, desto schwerer wird es am Ende werden.“
    „Jaja Papa, ich habe begriffen!“

  • Es war 19:00 Uhr, als Ben den Dienst beendete und nach Haus fuhr. Semir hatte ihm angeboten mitzukommen, aber er hatte dankend abgelehnt. Er würde Mikael das Ganze alleine erklären. Er hatte den Tag über bereits überlegt, ob er ihn anrufen sollte, sich dann aber dagegen entschieden. So etwas konnte man wahrscheinlich besser persönlich mitteilen. Inzwischen hatte sich auch der Mann der ersten Zeugin gemeldet, allerdings hatte auch er nichts gesehen. Als er die Tür öffnete, duftete es herrlich durch die ganze Wohnung. Ben sog den Geruch nach frischegebackenem Brot ein und ging durch bis in die Küche. Eva stand vor dem Herd und auch auf dem Küchentisch standen einige Schüsseln und Töpfe. „Wow! Was ist denn hier los?“
    „Ich dachte, ich mache uns was typisch Finnisches. Hast du Hunger mitgebracht?“
    Ben lachte laut. „Was ist das denn für eine Frage! Was gibt es denn?“
    Eva drehte sich zu ihm um. Ihre Wangen hatten von der Hitze in der Küche einen rötlichen Ton angenommen und einige Schweißperlen standen auf ihrer Stirn. „Ich habe Kartoffelpüree gemacht. Dazu gibt es Kalakukko.“
    Ben zog die rechte Augenbraue hoch. „Kal … was?“
    „Kalakukko“, wiederholte Eva noch einmal langsamer. „In Brot gebackenen Fisch.“
    Ben öffnete den Ofen. „Hört sich interessant an“, ließ er verlauten. „Wie lange dauert es noch?“
    „Das Brot braucht noch eine Stunde, denke ich. Ich dachte, dass du später von der Arbeit kommen würdest.“
    Er nickte und setzte sich auf einen Stuhl. „Und ihr überlegt nicht nach Deutschland zu ziehen?“
    Eva drehte sich vom Herd weg und lachte leise. „Nein, derzeit nicht.“
    „Wäre auch zu schön gewesen. Dann hätte ich dich als meine persönliche Köchin eingestellt!“ Er sah aus dem Fenster und verfiel in Gedanken. „Ich habe übrigens nichts herausgefunden wegen der Leiche, die Mikael gesehen haben will.“
    „Überhaupt nichts?“
    „Nein. Ich war sogar noch einmal mit Semir da, aber da ist nichts. Eine Frau, die hat nur Mikael gesehen, verstehst du, nur ihn!“
    Die blonde Frau sah zur Erde und spielte nervös mit dem Kochlöffel. „Das wird ihm nicht gefallen.“
    „Nein, wohl kaum“, bestätigte Ben ihr. „Wo ist er überhaupt?“
    „Auf dem Balkon“
    Ben stand auf. „Ich werde mal nach ihm sehen, ja?“
    „Versuch keinen Streit anzufangen“, rief ihm Eva hinterher.
    „Nichts leichter als das“, gab er in einem leicht sarkastischen Ton zurück. Als Ben auf den Balkon trat, saß Mikael an der Wand gelehnt und sah in die Ferne. „Wie geht es dir?“, fragte er und setzte sich neben seinen Freund auf die kalten Fliesen. „Ich möchte alleine sein.“ Mikaels Stimme klang hart und doch tat Ben seinem Freund diesen Gefallen nicht und blieb sitzen. „Denkst du über die Sache nach? Die Leiche.“
    Mikael sah ihn an. Seine blauen Augen funkelten wütend, ehe er sich wegdrehte und wieder auf die Wohnsiedlung vor ihnen blickte, während er die Arme und die Knie legte. „Und wenn schon. Ich habe es mir doch ohnehin nur eingebildet! Ich habe dich und Eva reden hören.“
    Ben atmete tief durch und legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Ich war heute mit Semir noch einmal an dem Ort, wo du die Leiche angeblich gesehen hast und …“
    „Was heißt angeblich? Sie war da!“, unterbrach ihn der Schwarzhaarige sofort.
    „Nun lass mich doch ausreden.“ Ben versuchte, die Ruhe zu bewahren. „Wir haben die Leute befragt. Eine Frau, die hat nur dich dort gesehen. Kein Auto, keinen anderen Mann. Nur dich.“
    „Sie war im Auto! Ich habe es doch gesehen.“ In Mikaels Stimme mischte sich Verzweiflung und Ben konnte es ihm nicht verübeln. Aber er musste dadurch, er musste sich die Wahrheit anhören. „Du weißt, dass die Straße eine Sackgasse ist?“
    „Und?“
    „Er hätte mir entgegenkommen müssen. Ich habe aber nichts gesehen. So wie die Frau.“ Mikael sah ihn mit zusammengekniffenen Augen an. „Worauf willst du hinaus? Was willst du mir damit sagen?“
    Ben wusste, dass er sich auf dünnes Eis begab. Mikael würde wütend werden, das war ihm klar, ehe er seinen Gedanken überhaupt aussprach und dennoch tat er es. „Ich habe mich informiert und bin auf ein paar Texte gestoßen, wonach Wahnvorstellungen und Halluzinationen durchaus Symptome eines Schädel-Hirn-Tr…“
    „Ich habe mir das nicht eingebildet!“, fuhr Mikael dazwischen und stand auf. Ben tat es ihm nach und hielt ihm sein Smartphone hin. „Lies selbst!“
    „Du kannst mich mal!“ Mikael schob seinen Arm beiseite und ging ohne ein weiteres Wort in die Wohnung und dann bis ins Gästezimmer. Kurz darauf hörte Ben, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Er hatte sich eingeschlossen. Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht. „So viel dazu“, murmelte er leise, ehe er dann ebenfalls ins Haus ging.




    Eva zog die Tür zum Gästezimmer auf. Mikael lag seitlich auf dem Bett, die Beine angewinkelt und den Kopf auf den Arm gestützt. „Willst du nicht mit uns Essen?“, fragte sich vorsichtig und ging langsam näher an das Bett heran. „Nein.“
    Sie ließ sich auf die Bettkante nieder. „Du weißt, dass Ben es nicht so meint. Er hat wirklich alles versucht, etwas zu finden.“
    „Hat er das?“ Seine Stimme klang monoton, weit entfernt. Sie legte ihre Hand auf seinen Rücken. „Willst du mich nicht ansehen?“
    „Ich möchte vor allem alleine sein.“
    Sie blieb sitzen. „Du weißt, dass ich immer zu dir stehe.“
    „Aber an meine Beobachtung glauben, tust du dennoch nicht“, murmelte er. Sie löste ihre Hand von seinem Rücken und legte sie auf ihr Bein. Sie sah geradeaus an die Wand und fühlte sich plötzlich unwohl in ihrer Haut. Denn die Wahrheit war, dass sie nicht wusste, ob sie ihm glaubte oder nicht. Sie wollte es glauben, aber tat sie das auch wirklich. „Hast du nicht immer gesagt, dass in der Kriminologie der Glauben keine Rolle spielt, sondern nur die Fakten?“, brachte sie leise heraus. Mikael drehte sich zu ihr um. Seine blauen Augen blieben unendlich lang an ihr hängen, ehe sie zu Boden sah.
    „Ja“, war schließlich alles, was er darauf antworte. „Komm Essen“, versuchte sie nun ein weiteres Mal.
    „Wir würden uns nur wieder streiten. Ben und ich.“
    „Er hat noch nicht aufgegeben. Er wird weiter nach Hinweisen suchen, weißt du?“
    Mikael schüttelte den Kopf und korrigierte sie. „Er hat schon lange aufgegeben! Er tut es nur für sein Gewissen, nichts weiter. Er hatte schon in der Nacht aufgegeben.“ Er drehte sich wieder weg. „Ich möchte wirklich erst einmal alleine sein.“
    Sie gab sich geschlagen. Wenn er nicht wollte, wollte er nicht. Da war er ziemlich stur. „Soll ich dir etwas ins Zimmer bringen?“
    Er schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe keinen Hunger.“
    „Wie du meinst.“ Mit tief gesenktem Kopf verließ sie den Raum wieder und ließ Mikael alleine. Vielleicht hatte sie ja Glück und er war später gesprächiger.

  • Eva saß alleine am Küchentisch. Ben war heute überpünktlich zur Arbeit aufgebrochen, vermutlich, damit er nicht wieder mit Mikael aneinandergeriet. Dieser wollte die Meinung von Ben nicht einsehen und irgendwie verstand sie ihn auch. Auch wenn alles gegen den Mann sprach, den sie liebte, so war sie sich dennoch nicht sicher, ob es nicht doch sein konnte. Sie war ebenfalls mal Polizistin gewesen und in ihrer Ausbildung hatte der Lehrer mit ihnen viele Fälle besprochen, die auf dem ersten Blick unwirklich schienen. Sie seufzte und stand auf. Ihr Weg führte in das Gästezimmer. Mikael lag auf dem Bett und sah an die Decke. „Hast du vor weiterhin zu schmollen?“
    „Ich schmolle nicht“, antwortete er mit giftigem Unterton.
    Sie trat auf ihn zu und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Komm, lass uns frühstücken und dann etwas unternehmen. Eine Stadtrundfah…“
    „Ich habe keine Lust“, unterbrach er sie. Eva setzte sich auf die Bettkante. „Vielleicht tut es dir gut, wenn du einen Augenblick mal nicht an diese verschwundene Frauenleiche denkst.“
    Mikael setzte sich im Bett auf und sah sie an. „Wieso glaubt er mir nicht? Was ist so schwer daran?“, fragte er und sie konnte die Wut klar und deutlich in seiner Tonlage vernehmen. „Es gibt keinerlei Beweise und …“
    Seine Augen zogen sich zu Schlitzen zusammen. „Du glaubst mir auch nicht!“ Sie griff nach seiner Hand. „Ich sagte nur, dass es keine Beweise gibt, nicht dass ich dir nicht glaube! Du drehst mir die Worte im Mund um. Ich liebe dich, und wenn du überzeugt bist, dann bin ich es auch.“ Er zog seine Hand weg und schob sie zur Seite, um dann aufzustehen. Er ging auf den Schrank zu und zog eine Jeans und einen Kapuzenpullover hervor. „Was hast du vor?“, wollte sie wissen. „Ich muss raus! Ich muss alleine sein, ohne mir anhören zu müssen, dass ich nicht mehr ganz richtig im Kopf bin!“ Eva griff abermals nach seiner Hand. „Du solltest dich beruhigen. Bitte geh so nicht.“
    „Lass mich!“ „Mikael. Nun sei doch nicht so verbohrt. Hast du mir nicht zugehört?“, appellierte Eva an seine Vernunft, obwohl sie wusste, dass sie nicht zu ihm durchdringen würde. Wenn er sich etwas in den Kopf setzte, dann war er davon nur schwerlich abzubringen. Er löste seine Hand ein weiteres Mal aus ihrer. „Ich bin doch nicht total vernebelt im Schädel! Ich habe mir das nicht eingebildet und das weiß ich!“ Er faltete den Pullover auseinander und zog ihn über den Kopf, ehe er in die Jeans schlüpfte. Danach verließ er das Schlafzimmer und verschwand in Richtung Tür. „Mikael. Bitte bleib!“, versuchte sie ein letztes Mal, doch kurz darauf fiel die Tür ins Schloss und er war verschwunden. Sie blickte auf die geschlossene Tür und seufzte, ehe sie sich wieder an den Tisch setzte und die Zeitung las. Vermutlich würde er sich in den nächsten Stunden wieder beruhigen und sich entschuldigen, wenn ihre Worte zu ihm durchgedrungen waren. So war es doch meistens mit Mikael. Er verlor die Geduld, rastete aus und wenn er wieder runter gekommen war, dann tat ihm alles leid.




    *


    Ben saß hinter seinem Computer und las sich durch zahlreiche Foren, die er über die Suchfunktion ausfindig gemacht hatte. Er wollte unbedingt mehr über dieses Thema erfahren und vor allem wollte er herausfinden, wie er nun mit Mikael umgehen sollte. Er hatte seit ihrem Streit am gestrigen Abend versucht ihm aus den Weg zu gehen und es hatte auch ganz gut geklappt, aber auf Dauer war das keine Lösung. „Denkst du nicht, dass du etwas übertreibst“, ertönte es. Er sah auf. Semir schien ihn bereits seit einiger Zeit zu beobachten. „Ich informiere mich doch nur“, verteidigte er sich.
    „Du surfst schon ewig durch die Selbsthilfeforen dieser Welt.“ „Hast du eine bessere Idee?“, fragte Ben herausfordernd.
    „Reden.“ Semir lächelte triumphierend. „Du solltest einfach noch einmal in Ruhe mit Mikael reden. Du kennst ihn und seinen Charakter und um ehrlich zu sein, hast du dich gerade auch etwas in die Sache verrannt. Wenn du geduldig bist, dann wird Mikael mit dir vernünftig reden.“
    „Das sagst du so leicht. Du hast ihn nicht erlebt.“
    Semir legte den Kopf schief. „Du hast dir also in Ruhe seine Meinung angehört?“
    „Was soll das denn nun?“
    „Hast du?“
    Ben stöhnte. „Welche Meinung denn? Unbekannte Leiche ohne Hinweise. Da gibt es nicht viel anzuhören! Ich bin dem nachgegangen, habe alles gegeben, aber da gibt es nichts!“
    „Also nein“, schloss der Ältere daraus. „Wenn du es so sehen willst, ja, dann nein.“
    „Vielleicht ist er einfach verletzt, dass du nicht einmal den Versuch unternimmst, ihm diese Sache zu glauben. Du hast seine Beobachtung vom ersten Augenblick bezweifelt oder?“
    Ben zog die Augenbrauen zusammen und ihm entfuhr ein genervter Laut. „Das hättest du auch, wenn du ihn damals in der Klinik erlebt hättest, wo er ausgerastet war.“
    „Aber es ist Monate her“, gab Semir zu bedenken.
    „Du warst doch gestern mit mir da! Da war nichts und es wurde auch nur Mikael von den Bewohnern gesehen. Es gibt nur diese eine Erklärung!“ Ben wandte sich störrisch wieder seinem Computer zu. „Wieso sollte ich ihn in Watte packen? Mikael muss die Wahrheit verkraften. Er muss verstehen, dass sein Kopf eben noch nicht wieder so gesund ist, wie er gerne hätte.“
    Der erfahrenere Kommissar schwieg und erwiderte darauf nichts. Vermutlich hatte es auch keinen Sinn. Ben war in solchen Sachen verbohrt und da konnte er sicherlich machen, was er wollte. Er wandte sich nun ebenfalls seiner Arbeit zu, checkte aber zuvor ein weiteres Mal die Datenbanken, auch wenn er es erst vor wenigen Stunden getan hatte. Irgendwann musste doch etwas einlaufen, was für Mikaels Beobachtung sprach. Noch wollte er sich nicht darauf verlassen, dass sein finnischer Freund keinen Mord gesehen hatte.

  • Mikael streifte durch die Kölner Innenstadt und versuchte sich darüber klar zu werden, was er nun tun wollte. Es versetzte ihm einen Stich, dass weder Ben noch Eva ihm glaubten. Vielleicht könnte er mit Semir darüber reden? Er verwarf den Gedanken sofort wieder. Vermutlich hatte Ben ihm schon alles erzählt und er bezweifelte, dass Semir auf seiner Seite stehen würde. Er zog sein Handy aus der Tasche und blätterte in den Kontakten. Bei dem Namen Antti blieb er hängen, doch er stellte keine Verbindung her. Er hatte Angst davor, dass auch er ihm nicht glaubte. Als Mikael das Handy einsteckte und wieder nach oben sah, blickte er geradewegs auf ein Hinweisschild. Polizeipräsidium 500m, stand dort geschrieben. Ja, vielleicht fand er ja dort mit seiner Beobachtung Gehör. Er atmete tief durch und begab sich in die Richtung, die ihm das Schild vorgab. Danach trat er durch den Haupteingang eines großen Gebäudes und meldete sich an. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte ihn eine junge brünette Polizistin. „Ich möchte einen Mord melden“, antworte er mit einer fremden, krächzenden Stimme. Mit einem Mal schienen ihn seine ganze Überzeugung und der Mut verlassen zu haben. Er fühlte sich unwohl in seiner Haut, würde sich am liebsten in Luft auflösen. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher, ob man ihm glauben würde. Was sollte er tun, wenn sie es nicht taten?


    „Einen Augenblick!“ Die junge Beamtin telefonierte und führte ihn dann ein Stockwerk nach oben in einen Raum, wo ein weiterer Beamter, in zivil, bereits auf ihn zu warten schien. „Hauptkommissar Heinrich Hoffmann“, stellte er sich vor und deutete auf den Stuhl. Er nahm Platz. „Sie wollen also einen Mord melden?“
    „Es könnte auch Totschlag sein. Ich weiß es nicht“, begann er unsicher.
    Der Mann vor ihm musterte ihn intensiv. Mikael bekam Panik und wünschte sich mit einem Mal, dass er das Gebäude nie betreten hätte. Sicherlich sah man ihm an, dass er nervös war. Er überlegte, was er in so einem Fall getan hätte. Wie hätte er einen solchen Zeugen bewertet? Wäre er einer solchen Aussage überhaupt nachgegangen? Er bemühte sich, seine Anspannung zu verstecken. „Ich habe eine tote Frau in einem Auto gesehen“, presste er hervor.
    „Wann?“ Der Blick von Hoffmann richtete sich auf ein Stück Papier. Er nahm einen Kugelschreiber in die Hand. „Vorgestern Nacht … oder am frühen Morgen.“
    „Was denn nun? Welche Uhrzeit?“
    „Halb zwei.“
    Er nickte und notierte sich etwas. „Und warum melden Sie es erst jetzt?“
    Mikael steckte die Hände in die Taschen seines Kapuzenpullovers. Er bekam Kopfschmerzen und ihm wurde etwas schwindelig. Was sollte er darauf antworten? Natürlich könnte er sagen, dass er Polizist war und deshalb … nein, es stimmte nicht. Derzeit war er kein Polizist. Sein Dienstausweis lag irgendwo in irgendwelchen Akten des Präsidiums in Helsinki. „Ich bin einem Mann gefolgt und-und er war entkommen. Ich hatte einen Freund angerufen, der ist Polizist, aber als ich an den Ort zurückkam, da war die Leiche weg.“
    Sein Gegenüber kniff die Augen zusammen. „Etwas genauer bitte. Schildern Sie den Verlauf detaillierter.“
    Er nickte und erzählte dem Polizeibeamten von seiner Joggingtour und der Verfolgung – wenn er auch den Grund für das Stoppen verheimlichte – und der verschwundenen Leiche. „Den Namen des Kollegen, den sie angerufen haben“, fragte Hoffmann sichtlich genervt. „Hauptkommissar Ben Jäger, Autobahnpolizei.“
    „Welche Dienststelle genau?“ Er wurde zunehmend unsicher. Er konnte sich nicht erinnern, welche Dienststelle es war. Dabei musste er es doch wissen. Der Blick des Mannes verriet, dass er an ihm zweifelte. Warum auch nicht? Er machte sicherlich keinen besonders souveränen Eindruck. Die Kopfschmerzen wurden heftiger und er presste die Hände fester in seine Taschen, um sie so daran zu hindern, an seinen Kopf zu fahren. Denn damit würde er vor Hoffmann sicherlich eine noch erbärmlichere Figur abgeben. „Die Dienststelle“, wiederholte der Kommissar ungeduldig. „Ich … weiß nicht genau.“ Er verfolgte, wie Hoffmann zum Telefon griff und sich durchtelefonierte. Schon alleine die Bruchstücke, die er von dem Gespräch mitbekam, zerschlugen all seine Hoffnungen. Sein letzter Funken Glaubwürdigkeit wurde soeben von einem seiner besten Freunde zerschmettert. Hoffmanns Blick verfinsterte sich. Er fühlte sich, wie auf einem heißen Stuhl. Sieh her, da ist der Mann, der eine Falschaussage macht! Nach einigen Minuten legte Hoffmann wieder auf. „Ihr Freund hat bereits alles überprüft. Es gab keine Hinweise.“ Seine Stimme klang hart und Mikael senkte den Blick. „Aber ich habe sie gesehen!“, sagte er flehend. „Ich habe sie gesehen.“
    Hoffmann lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ihr Freund hat mir auch von ihrer Verletzung erzählt. Deshalb werde ich auch davon absehen, sie wegen dieser Aussage zu belangen.“


    Das war zu viel. Sein Blick hob sich wieder und die Hände fuhren aus dem Pullover. Mit der rechten Hand schlug er auf den Schreibtisch des Beamten, der vor Überraschung kurz zusammenzuckte. „Mich belangen? Ich habe nichts falsch gemacht. Nur weil es keine Hinweise gibt, heißt es doch nicht, dass dort kein Mord passiert ist! Ich weiß das, ich war bei der Mordkommission!“
    Hoffmann atmete tief durch. „Herr Jäger wird herkommen und sie abholen. Ich werde einer Kollegin Bescheid geben. Sie wird Ihnen einen Kaffee bringen.“
    „Ich habe die Leiche gesehen!“, wehrte er sich. „Sie müssen mir glauben! Sie war dort.“ Er stand auf und packte nach dem Hemd des Beamten. „Bitte. Sie war da. Wirklich!“ Mikael begann vor Wut und Aufregung zu zittern, dann begann der Raum sich urplötzlich zu drehen. Schwindel packte erneut zu und er merkte überhaupt nicht, wie Hoffmann seine Hände von seinem Körper löste. „Wenn Sie mich noch einmal angreifen, werde ich dafür sorgen, dass sie ein paar Stunden hinter Gitter verbringen!“, drang es wie durch Watte zu ihm durch. Er nickte seicht und ließ sich dann von einer Polizistin aus dem Raum in einen anderen leiten. Sie stellte ihm einen Kaffee hin, doch er rührte ihn nicht an. Er blickte in die gefüllte Tasse, als könnte er irgendwo in dem pechschwarzen Getränk eine Antwort finden. Wieso glaubte ihm nur niemand? Wieso schien es so abwegig, dass er diese Frau tatsächlich gesehen hatte? Sie war dort, da war er sich doch ganz sicher. Er war nicht verrückt. Er bildete sich solche Dinge nicht ein!

  • Ben hechtete hinter Mikael hinterher durch den Kölner Regen. Nachdem er ihn bei Hoffmann abgeholt hatte, schien sein Freund vor ihm auf der Flucht zu sein und hastete zur Bushaltestelle. „Ich bringe dich nach Hause, du musst nicht den Bus nehmen“, ließ Ben ihn wissen, obwohl er sich sicher war, dass Mikael sich dieser Tatsache auch bewusst war, ohne dass er es sagen musste.
    „Vielleicht möchte ich das aber!“, kam es von vorne. Da waren sie also wieder in einer Situation, die so oder so in einem Streit enden würde. Mit Mikael konnte er im Augenblick einfach nicht normal reden, vorbei schienen die letzten Monate zu sein, in denen sein Freund endlich zu ihm Vertrauen gefasst hatte und mit ihm auch über unangenehme Dinge sprach. Nun fühlte es sich wieder an, als würde er gegen eine Mauer sprechen. Vermutlich war er daran auch selbst schuld, denn er hatte es Mikael immerhin nicht ganz schonend beigebracht, dass er daran glaubte, dass alles nur Einbildung war. Nun schien er für ihn der Staatsfeind Nummer eins zu sein.
    „Mikael, nun sei doch vernünftig. Du hast Kopfschmerzen, oder nicht?“, versuchte er es abermals.
    „Die habe ich doch fast immer! Lass mich einfach Ben. Lass mich in Ruhe!“
    „Du bist mein Freund. Ich mache mir Sorgen.“
    „Du kommst mir eher wie meine Mutter vor.“
    „Wie?“
    „Ich bin keine Porzellanpuppe. Ich komme klar!“
    Der Braunhaarige schüttelte den Kopf. „Ich wollte nur nett sein. Du musst nicht immer gleich so ausrasten! Manchmal kommt es mir vor, als gibt es bei dir nur zwei Extreme!“
    „Vielleicht gibt es ja auch dazu etwas im Internet. Schau doch mal nach, ob es nicht auch an meinem Breischädel liegt!“
    „Du wirst unfair“, gab Ben zu bedenken.
    „Werde ich das?“
    „Ja.“
    Mikael blieb stehen und drehte sich zu ihm. Wut zeichnete sich in seinen Gesichtszügen wieder. „Ich werde unfair? DU bist doch derjenige, der mir nicht glaubt! DU bist derjenige, der mir mit seiner Überfürsorglichkeit die Luft zum Atmen nimmt!“ Ben seufzte. „Hör bitte auf hier so rumzuschreien. Die Leute schauen schon alle. Wir können doch in Ruhe miteinander reden.“
    „Und das interessiert mich, weil?“
    Ben legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Ich möchte dir ja glauben, aber da ist nun einmal überhaupt nichts, was das alles bestätigt.“
    Mikael drehte sich wieder weg. Seine Hand fiel von der Schulter und Ben verfolgte, wie er sich an die Seitenwand der Bushaltestelle lehnte. Die Hände fest in den Taschen seines Kapuzenpullovers vergraben. Mikael ging in Abwehrhaltung, so viel konnte er diese Geste bereits deuten. Dennoch gab es einem Fehler in dem Bild. Er war blass und seine Augen wirkten müde. Müde und verbraucht. Ben ging auf ihn zu. „Komm schon. Jetzt sei nicht so verbohrt. Ich bring dich nach Hause.“
    „Ich sagte, dass ich den Bus nehme“, nuschelte Mikael und vergrub die Hände noch tiefer in seinen Pullover. Ein eisiger Windstoß wehte unter das schützende Abdach und der Schwarzhaarige wurde von einem leichten Zittern geschüttelt. „Dir ist kalt, nun komm.“
    „Ich sagte doch bereits, dass ich meine Ruhe haben möchte. Musst du nicht arbeiten? Deinem tollen Job nachgehen?“
    „Was soll denn nun die Anmerkung?!“ Ben musste sich alle Mühe geben, dass er nicht auch noch die Geduld verlor und lauter wurde. Mikael meinte das nicht so, er stand unter Strom, war gestresst. Es war nichts von Bedeutung, redete er sich immer wieder ein. „Nichts … tut mir leid“, kam es leise von seinem Freund, der nun verlegen auf den Boden sah, als hätte er etwas unglaublich Verbotenes getan.
    „Mikael, hör mal. Ich hoffe, du weißt, dass du mit mir über alles reden kannst. Wir sind Freunde nicht wahr?“ Ben griff wieder nach Mikaels Schulter und nun sah der Finne auf. „Ja, natürlich. Ich möchte nur jetzt wirklich alleine sein.“ „Aber heute Abend, dann reden wir, ja?“, gab Ben schließlich klein bei. Mikael nickte seicht und löste sich dann von der Wand. „Mein Bus kommt“, sagte er noch und stieg dann in den Linienbus ein, der ganz in der Nähe von Bens Wohnung halten würde. Ben sah zu, wie sich der Bus in Bewegung setzte und die Haltestelle wieder verließ. Er seufzte. Es war wohl nicht einfacher zwischen ihnen geworden. Warum mussten sie auch immer aneinander geraten wegen Kleinigkeiten? Nein. Das hier war keine Kleinigkeit. Es war das Gegenteil. Eigentlich war es eine große Sache. Eine verschwundene oder eingebildete Leiche war nichts Kleines. Ben nahm sich vor noch einmal alle Datenbanken zu checken, wenn er zurück zur Dienststelle kam. Er würde sich niemals verzeihen können, wenn er etwas übersehen würde, egal wie sicher er sich war, dass Mikael sich das alles nur eingebildet hatte. Immerhin hatte Mikael ja auch eingelenkt und sich entschuldigt. Das war ja schon einmal etwas wert und er war sich sicher dass sie heute Abend wirklich in Ruhe über diese Dinge sprechen konnten. Vielleicht war es wirklich so und Mikael brauchte einfach ein paar Minuten Zeit für sich, ohne dass Eva oder er in seiner Nähe waren und ihn vor Fürsorge erstickten. Der Hauptkommissar löste sich von der Haltestelle und begab sich zurück zu seinem Wagen. Auf dem Weg dorthin sagte er noch kurz Eva Bescheid, falls sie sich wunderte, wo Mikael steckte. Dann machte er sich auf den Weg zurück zur Dienststelle. Immerhin gab es noch einen Haufen Berichte, um die er sich kümmern musste. Er stöhnte. Wie er das hasste hinter dem Computer zu sitzen und Standardsätze herunterzuspulen.



    *


    Mikael zwängte sich an einigen im Gang stehenden Leuten vorbei bis in den hinteren Teil des Busses, wo es noch massenhaft freie Plätze gab. Er fand sogar eine komplett leere Sitzbank. Er rutschte auf den Fensterplatz und zog die Kapuze seines Pullovers über den Kopf. Es war bisher immer ein gutes Abwehrmittel gegen andere Fahrgäste gewesen. Es sagte aus, lasst mich in Ruhe. Er legte den Ellenbogen auf die kleine Ablagefläche bei dem großen Fenster und machte sich so klein wie möglich. Ben hatte Recht gehabt. Er hatte gefroren. Er hatte einfach nicht daran gedacht eine Jacke einzupacken, als er am frühen Morgen in die Stadt aufgebrochen war.


    Der Bus hielt an der nächsten Haltestelle an und es stellte sich heraus, dass seine Taktik nicht aufgegangen war. Schüler strömten in den Bus. Das Gedränge wurde größer. Ein Junge um die 16 setzte sich neben ihn und hob den Rucksack so schwungvoll auf seinen Schoss, dass er ihn damit am Arm erwischte. Eine Entschuldigung blieb selbstverständlich aus und er fragte sich, ob er in dem Alter genauso unhöflich gewesen war. Natürlich war er. Vermutlich war er noch viel schlimmer gewesen, als der Junge neben ihm. Mit 16 hatte er die Welt und alles darin gehasst. Sein Sitznachbar griff nach Kopfhörern und steckte sich die Stöpsel in die Ohren. Das Ticken eines Schlagzeuges ertönte, dann setzte der Bass ein. So laut, dass wohl der ganze Bus mithören konnte. Sein Blick ging wieder aus dem Fenster. Es hatte zu regnen begonnen und die Tropfen zogen wässrige Striemen am Fenster. Er lehnte den Kopf gegen die kühle Scheibe, schloss die Augen und versuchte, für einen Augenblick an Nichts zu denken. Vielleicht hätten ja dann auch die Kopfschmerzen ein Einsehen mit ihm?


    „Schon krass, Mann. Voll krass, oder?“, sagte jemand immer wieder. Er öffnete die Augen wieder. Ein Junge stand mit seinem Freunden in dem Türbereich der mittleren Tür und zeigte sein Smartphone in die Runde. Ein neues Modell, das ihm sicherlich den Respekt – vielleicht aber auch den Neid – seiner Freunde einbringen würde. Er musterte mit seinen Augen allerdings nicht das Smartphone, sondern die Gesichtszüge des Jungen. Er kannte ihn, wenn auch er ihn sicherlich nicht kannte. „Scheiße Hansen. Das Teil ist echt der Hammer!“, jauchzte ein blonder, eher dicklicher Junge. „Geburtstagsgeschenk von meinem Opa!“, antwortete der Besitzer des Smartphones stolz. „Krass, oder? Das ist hier in Deutschland überhaupt noch nicht auf den Markt.“
    „Geil! Ich wünschte, ich hätte auch so einen Opa! Meiner schenkt mir vielleicht mal ‘nen 50er.“ Das solltest du dir nicht wünschen, widersprach Mikael in seinen Gedanken. Georg Hansen war ein skrupelloser, gefühlloser und machthungriger Mann. Daran ließ sich nicht rütteln. Er hatte ihn als kleinen Jungen nicht nur einmal verprügelt. Er war es gewesen, der ihn Jahre über in Albträumen verfolgt hatte. Er musterte den Jungen. Egal wie sehr er sich bemühte, er konnte nicht einmal mehr sagen, wie er hieß. Seine Cousine hatte damals eine Karte nach Finnland geschickt, als er geboren war. Aber es hatte ihn nicht interessiert. Er hatte mit den Hansens abgeschlossen. Und doch verspürte er den Drang hinzugehen und ihn zu fragen, wie es ihm ergangen war. Bereute er es die Verbindungen zu seiner Familie gekappt zu haben? Von der Seite seiner Mutter gab es keine Verwandten oder zumindest keine von denen er wüsste. Sie war in einem Kinderheim aufgewachsen. Er löste seine Augen von dem Jungen und blickte jetzt wieder aus dem Fenster. Der Regen war heftiger geworden, die Stimmung trostloser. Oder kam es ihm nur so vor? Urplötzlich dachte er an die Hochzeitsvorbereitungen. Es war gar nicht so lange her gewesen, da hatten sie die Einladungen verschickt. Er hatte freudige Anrufe von entfernten Cousinen von Eva entgegengenommen. Ihr Stapel war so unendlich groß gewesen, während seiner nur aus wenigen Karten bestanden hatte. Da hatte er zum ersten Mal seit langem vollständige Einsamkeit gefühlt und dabei war er diesen Weg doch bewusst gegangen. Er hatte gewusst, dass er den eisigen, gefühllosen Krallen der Hansens sonst niemals entkommen würde. Es hatte damals nur diese zwei Optionen gegeben und er hatte sich für eines seiner beiden Leben entscheiden müssen.


    Die Haltestellendurchsage ertönte und er gab dem Jungen neben sich ein Zeichen, das er hier aussteigen müsste. Dieser packte seinen Rucksack, ließ ihn vorbei und rutschte dann an den Fenstersitz durch. „Hey Hannes! Hier ist was frei!“, schrie er kurz darauf. Der Junge mit dem neuen Smartphone sah herüber, lächelte und setzte sich sofort in Bewegung. Als er aus dem Rollstuhlbereich in den Gang einbog, trafen sich ihre Blicke für einen winzigen Augenblick. Hannes blieb stehen. „Michael?“, fragte er und er war davon mehr als verwundert. Woher sollte er ihn kennen? Wobei. Er sah seinem Vater unheimlich ähnlich und ihn hatte Georg Hansen sicherlich nicht aus dem Schoss der Familie verband. „Du musst mich verwechseln“, antwortete er und zog ein krampfhaftes Lächeln auf. Er stellte dankbar fest, dass der Bus zum Stehen gekommen war und drückte den Knopf, um die hinterste Tür zu öffnen und auszusteigen.


    Er sah sich nicht um, sah nicht nach, ob Hannes ihm vielleicht hinterher sah. Das war nicht mehr sein Leben. Diese Begegnung war eine zwischen zwei Fremden gewesen, die auch immer Fremde bleiben würden. „Was du für einen Scheiß erzählst!“, tadelte er sich selbst und setzte sich dann auf die Bank der Bushaltestelle, um darauf zu warten, das der Regen weniger würde. Ob Hannes wohl von dieser Begegnung berichten würde? Von diesem Mann, der Onkel Andreas so ähnlich sah? Wie würde Georg darauf reagieren? Er ermahnte sich, endlich diese dummen Gedanken zu lassen. Denn davon wurden seine Kopfschmerzen nur noch größer. Er lehnte seinen Hinterkopf gegen die Glaswand der Bushaltestelle und wartete, bis das seichte Gehämmer der Regentropfen auf dem Dach nachließ. Dann erhob er sich und verließ den Schutz der Bushaltestelle. Es regnete zwar immer noch, aber längst nicht mehr so schlimm, wie vor wenigen Minuten. Mikael nahm eine kleine Gasse und kam so auf die Straße, an dessen Ende das Haus stand, in dem auch Ben seine Wohnung hatte. Als er an der Stelle vorbei kam, wo er die Frauenleiche gesehen hatte, blieb er stehen. Er sah sich um, musste aber Ben Recht geben. Sein Blick fiel auf die Häuser. Er hatte Eva versprochen nicht alleine Ermittlungen anzustellen, aber was sollte er tun? Er musste doch wissen, ob er sich das alles nicht nur eingebildet hatte. Er atmete tief durch, verdrängte das ungute Gefühl in seiner Magengegend und ging auf das erste Haus zu und drückte den Klingelknopf. Nur wenig später öffnete ihm eine Frau um die 40. „Ja?“
    „Ich habe eine Frage“, begann er. „Mein Wagen ist mir gestohlen worden. VW Polo, Blau. Sie haben ihn nicht zufällig gesehen hier in der Gegend?“

  • Semir sah Ben erstaunt an. „Du bist aber früh wieder hier. Ich dachte, dass du Mik …“
    „Er wollte lieber Bus fahren“, unterbrach der Jüngere seinen Kollegen und setzte sich auf seinen Bürostuhl.
    „Ihr habt euch also gestritten“, stellte Semir fest.
    Ben lächelte gezwungen als er sich hinter seinem Schreibtisch setzte. Für seinen Freund war es schon lange keine Schwierigkeit mehr seine Gedanken zu durschauen. Semir wusste meistens was in ihm vorging. „Natürlich. Mikael wollte einfach nicht zuhören und verstehen, dass es alles nicht sein kann.“
    Semir lehnte sich in seinem Stuhl zurück und griff nach seiner Kaffeetasse, die er erst vor kurzem neu gefüllt hatte. Der Jüngere atmete tief durch und fuhr sich durch die Haare. „Ich weiß es ehrlich gesagt langsam selbst nicht mehr. Was soll ich glauben? Was ist die Wahrheit? Was hat er sich eingebildet, was nicht?“
    Semir nickte und es vergingen einige Minuten ohne dass jemand etwas sagte. Dann stöhnte Ben auf. „Ich meine. Ich sehe doch, wie ihn das beschäftigt und er deshalb irgendwie auch total neben der Spur ist.“
    „Wie ist es, wenn wir mal zum Essen kommen? Morgen, wie wäre es dann? Dann könnte ich mir auch ein Bild davon machen, wie es Mikael geht“, schlug Semir vor.
    Der Braunhaarige lachte auf. „Aber dir ist schon bewusst, dass es Mikael nicht verborgen bleiben wird, wieso du da bist?“
    „Natürlich. Aber selbst wenn, wird es vielleicht ein schöner Abend. Andrea und Eva werden schon dafür sorgen, dass nicht zu viel über die Arbeit gesprochen wird.“
    Ben lehnte sich in seinem Stuhl zurück und drehte in einmal um die Achse. „Vielleicht ist das ja wirklich keine so schlechte Idee. Wir wollten ja ohnehin etwas gemeinsam unternehmen, während sie in Deutschland sind. Bei Julias Feier konntet ihr ja leider nicht.“
    „Gut dann machen wir das so“, bestimmte Semir. „Fragst du ihn heute Abend und schreibst mir dann eine SMS?“
    „Ok. Mach ich. Wobei er eh nicht nein sagen kann, denn Eva wird davon sicherlich begeistert sein. Du solltest mal sehen, was die schon so abends für mich zaubert. Da kann man echt neidisch werden, sag ich dir!“
    Semir zwinkerte. „Ach im Hause Jäger wird sich also in dieser Woche nicht nur von Fast Food ernährt?“
    „Nun tu nicht so, als würde ich für mich selbst nicht kochen! Natürlich mache ich das auch, aber es ist halt doch noch einmal was ganz anderes.“
    Nachdem sie das Abendessen ausführlich besprochen hatten, gingen die beiden Hauptkommissare wieder ihrer Arbeit nach, die am Ende des Tages vorwiegend aus Berichten bestand.




    *


    Mikael verabschiedete sich von der Dame. Sie hatte ihm nicht helfen können. Sie hatte kein blaues Auto gesehen oder etwas gehört. Er seufzte und war bereits auf dem Weg zum nächsten Haus. Immerhin hatte es inzwischen aufgehört zu regnen. Auch bei seiner zweiten Station hatte er Glück und traf jemanden an. Eine Tatsache, die um die Mittagszeit nun auch nicht gerade häufig war. Vielleicht waren es Familien, wo der Mann so viel Geld nach Hause brachte, so dass die Frau nicht arbeiten musste und sich um die Kinder kümmerte? Ein Luxus, den sie sich eigentlich auch gönnen wollten. Eva wollte für die Kinder da sein, hatte ihren Polizeijob beendet. Aber war das jetzt wirklich noch möglich, wo er sich diese Verletzung zugezogen hatte? Auch wenn er es nicht gerne zugab, so hatte er doch auch Geldsorgen. Er hatte zwar noch etwas Geld von seinem Vater auf dem Konto, welches er eigentlich aber nicht anrühren wollte. Sie hatte im ersten Jahr ein großzügiges Kindergeld bekommen und er bekam auch Krankengeld, aber würde das auch reichen, mit der Hochzeit und allem. Er schüttelte den Gedanken ab und erklärte der Frau sein Anliegen. Er wolle wissen, ob sie ein blaues Auto gesehen hatte, oder etwas gehört in der vorletzten Nacht. Sie schüttelte den Kopf. „Nein, tut mir leid. Die Polizei hat so etwas auch schon gefragt.“
    Er lächelte. „Ja. Ich hatte mein Auto als gestohlen gemeldet. Verwunderlich, dass man sich tatsächlich darum gekümmert hat.“


    Sie nickte und er wünschte ihr noch einen schönen Tag. Mikael streifte weiter von Haus zu Haus. Mit jedem Gespräch wurde er unruhiger. Niemand hatte etwas gesehen, niemand hatte etwas gehört. Die Leute, mit denen er gesprochen hatte, hatten nur den Kopf geschüttelt. Er setzte sich auf den Bordstein, winkelte die Arme auf seine Knie und legte den Kopf in die Handflächen. Warum hatte niemand etwas gesehen oder zumindest einen Motor oder Ähnliches gehört? Er war doch nicht dumm. Er hatte das Auto und die Leiche gesehen. Das war keine Einbildung gewesen! Und wenn doch? Mit einmal geriet alles in ihm ins Schwanken. Was wenn Ben Recht hatte und er sich wirklich alles nur einbildete? Er wusste immerhin so wenig. Ein blaues Auto und eine tote Frau. Wahnvorstellungen? Immerhin, ja. Er hatte sich damals eingebildet, dass er Joshua gesehen hatte. Aber das war noch in der Reha-Klinik gewesen. Er selbst konnte sich daran auch überhaupt nicht erinnern. Er wusste es nur, weil Eva es ihm erzählt hatte. Aber das war nun Monate her. Die Verletzungen in seinem Kopf waren noch da, die Narben würden es vielleicht immer bleiben, aber es heilte gut. Das war es, was der Arzt gesagt hatte. Es war doch nur dieses eine Mal gewesen, wo er Dinge gesehen hatte, die nicht da waren, warum sollte es also dann passieren, wo die Heilung bereits vorangeschritten war? Andererseits. Woher sollte er wissen, dass es nicht auch schon vorher wieder passiert war? Vielleicht war er sich nicht darüber bewusst gewesen? Vielleicht hatte er geglaubt, dass das was er sah auch wirklich da war?


    Er zog sein Smartphone aus der Hosentasche und öffnete den Browser. Schweigend saß er da und gab verschiedene Suchbegriffe in die Websuche ein. Es dauerte nicht lange und ihm wurden einige Medizinforen und Fachblogs zu dem Thema vorgeschlagen. „Das Gehirn erzeugt Trugbilder oder -töne unter den verschiedensten Umständen – bei Migräne, Epilepsie, Alzheimer und anderen degenerativen Gehirnerkrankungen, unter Drogen, bei Medikamentenmissbrauch sowie nach Hirnverletzungen. Einige sehen aber auch konkrete Bilder oder bewegte Szenen“, stand dort geschrieben.


    „Konkrete Bilder oder bewegte Szenen“, murmelte er leise. Die Hand begann zu zittern. Das Zittern breitete sich langsam auf seinen ganzen Körper aus und es schnürte ihm den Atem ab. Das konnte doch nicht sein. Er hatte geglaubt, dass er es endlich geschafft hatte, sich irgendwie mit den Folgeschäden des Schädel-Hirn-Traumas abzufinden, aber Wahnvorstellungen? Alleine der Gedanke daran riss ihm den Boden unter den Beinen weg. Wie konnte er jemals wieder sicher sein, dass das, was er sah, auch wirklich da war? „Blödsinn. Es gibt sicherlich Tabletten dafür“, widersprach er sich selbst laut. Ein Regentropfen fiel auf sein Smartphone, dann der nächste. Es begann wieder zu regnen. Er stand auf und setzte sich langsam in Bewegung in Richtung der Wohnung.


    Als er die Tür öffnete, schien Eva ihn bereits erwartet zu haben. Sie war regelrecht von dem Sofa aufgesprungen. „Ich habe mir Sorgen gemacht!“ In ihrer Stimme schwang Angst mit, aber auch Wut. Er gab ihr einen Kuss auf die Wange. „Es tut mir leid. Ich habe irgendwie die Zeit vergessen.“
    „Ben hat angerufen, gesagt, dass er dich im Präsidium abgeholt hat oder besser gesagt, abholen wollte.“
    „Dann wird es wohl stimmen“, nuschelte er hervor.
    „Was wolltest du da?“
    „Was wohl? Ich dachte, vielleicht glaubt mir ja da einer.“
    Eva griff nach seiner Hand und drückte sie sanft. „Wenn du dir sicher bist, dann glaube ich dir. Ich kann noch einmal mit Ben reden. Ja?“
    Er schüttelte den Kopf. „Ich glaube mir doch selbst nicht mehr.“ Er holte tief Luft und sagte bestimmt: „Ich will jetzt alleine sein.“ Er löste seine Hand von Evas und ging dann in das Gästezimmer, ohne dass sie Widerworte gab. Er legte sich auf das Bett und starrte an die Decke. Er wusste nicht mehr, was er glauben sollte. Seine Gedanken überschlugen sich. Er versuchte immer und immer wieder sich darüber im Klaren zu werden, ob es alles Einbildung sein konnte. Es gab keine Zeugen, keine Hinweise. Es gab überhaupt nichts! Aber er war sich doch so sicher gewesen. Er war doch diesem Mann hinterher. Konnte man einer Halluzination hinterher rennen? War er überhaupt gerannt oder hatte sich vielleicht auch diese eine Szene nur in seinem Gehirn abgespielt? Seine Kopfschmerzen wurden wieder heftiger, gleichzeitig merkte er wie Müdigkeit in ihm hochkroch. Er griff nach den Tabletten, die auf dem Tischchen neben dem Bett lagen. Er betrachtete die Packung, legte sie dann jedoch zurück. Er hatte bereits zu viele davon genommen. Mikael hörte ein Klopfen und dann kam Eva ins Zimmer. Sie setzte sich auf die Bettkante. „Du hast Angst, nicht wahr?“ Er sah starr an die Decke, als könnte er dadurch dieser unangenehmen Frage ausweichen. Natürlich hatte er Angst. Er wusste überhaupt nicht mehr, was er glauben sollte. Er hatte Angst, dass sie es nicht schaffte damit umzugehen und im gleichen Augenblick, da schämte er sich für diesen Gedanken. Eva war das Beste, was ihm passiert war. Ohne sie hätte er die letzten Monate nicht überstanden und doch dachte er solche dummen, kindischen Dinge von ihr. „Ja, ich habe Angst“, antwortete er schließlich. Er setzte sich auf und sah ihr in die Augen. „Du bist zu nichts mehr zu gebrauchen, denke ich oft.“ Wortlos rückte Eva näher und griff nach seiner Hand. „Angst, dass ich mit den Problemen, die auf uns zukommen, nicht fertig werde. Angst, dass du gehst.“ Sie lächelte und gab ihm einen Kuss auf die Stirn. „Wieso sollte ich das tun?“, flüsterte sie leise in sein Ohr. „Du machst uns doch vollständig. Ich liebe dich Mikael und das hier, das werden wir gemeinsam überstehen.“ Zärtlich strich sie eine Strähne aus seinem Gesicht hinter das Ohr. „Es ist normal Angst zu haben. Es ist normal, dass du unsicher bist.“


    „Ich werde verrückt. Ich sehe Dinge“, schluchzte er leise. Er konnte die Tränen nicht mehr zurückhalten. Die Verzweiflung packte zu und kämpfte sich an die Oberfläche. Eva zog ihn an sich. Sie spürte, wie sein Herz gegen seine Brust hämmerte. Sein Druck um sie wurde enger und seine Tränen durchnässten ihre Kleidung. Sein Brustkorb hob und senkte sich immer schneller und sie konnte es ihm nicht verübeln. Die letzten Monate hatten ihn mehrmals an seine Grenze gebracht. Nicht nur körperlich, sondern auch seelisch. Sie wollte ihm sagen, dass das alles nicht stimmte, dass sie Beweise finden würden, aber sie war sich selbst nicht mehr sicher. Sie wusste nicht, ob Mikael sich alles eingebildet hatte oder nicht. Es gab keine Hinweise auf ein Verbrechen, aber hieß das gleichzeitig auch, dass keines passiert war?

  • Es war 18:00 Uhr gewesen, als Ben in Richtung Feierabend aufgebrochen war. Nun saß er vor dem Haus im Auto. Er hatte ein mulmiges Gefühl, weil er nicht wirklich wusste, wie er Mikael entgegentreten sollte. Sie hatten sich immerhin wegen der Sache fürchterlich gestritten und vermutlich würde Mikael von seinem Standpunkt ebenso abweichen, wie er von seinem. Ben seufzte und stieg aus. Es nutzte ja doch nichts. Sie wollten sich heute Abend in Ruhe unterhalten und vielleicht half das ja, um aneinander zu verstehen. Als er in der Wohnung ankam, war es still. Oskari schlief wohl bereit und Eva saß auf dem Sofa und sah fern. Er legte seinen Wohnungsschlüssel auf die Kommode und trat dann in das Wohnzimmer. „Wo ist Mikael?“
    Ihr Blick ging in Richtung Balkon und Ben nickte. Mikael stand da und sah ins Nichts, denn eins wusste er. Sein Freund bewunderte sicherlich nicht die Architektur seiner Wohngegend. „Wie ist er drauf?“
    Sie zuckte mit den Schultern. „Er war selbst noch einmal an dem Ort, hat die Nachbarn befragt.“ Der deutsche Kommissar war für einen Augenblick überrascht, aber eigentlich war das nur ein typisches Verhalten von Mikael. Alleingänge zu unternehmen, dass sah seinem Freund ähnlich. „Er ist ziemlich deprimiert. Niemand hat etwas gesehen und dann hat er was im Internet gelesen.“ Sie sah zur Erde. „Es setzt ihn zu, diese neue Information. Diese Ungewissheit, dass es vielleicht Einbildung ist … er war sich bisher immer so sicher, dass es keine Option ist.“ Ben schluckte schwer. Das hatte er nun auch nicht gewollt, dass Mikael wieder den Boden unter den Füßen verlor. „Ich werde mit ihm reden, ja?“ Sie nickte und er ging in Richtung Balkon.


    Er stellte sich neben Mikael. Es herrschte einige Minuten Schweigen, ehe Ben schließlich die Stimme erhob. „Eva hat mir erzählt, dass du selbst vor Ort ein paar Leute befragt hast.“
    „Es ist doch komisch, was für gewaltige Folgen ein einziger Fehler haben kann. Dazu noch ein so kleiner Fehler“, murmelte Mikael leise und drehte sich dann zu ihm. „Ich habe das Gefühl, als würde das alles nie ein Ende nehmen. Ich kämpfe, gebe alles und dennoch scheine ich dem Ziel nicht näher zu kommen. Ich vergesse Dinge, bin so müde und dann diese elenden Kopfschmerzen.“ Mikael drehte sich wieder weg und seine Hände umfassten das Geländer des Balkons. „Ich stehe da, rede mit jemanden und ich weiß, dass es etwas ist, was ich auf wissen sollte. Aber ich finde es nicht, ich suche in meinem Kopf und finde es nicht …“ Ben meinte zu sehen, wie sich in Mikaels blauen Augen Tränen sammelten, dieser sie aber zurückhielt. „Was bin ich? Wer bin ich, wenn ich alles verloren habe, was mich mal ausgezeichnet hat?“
    „Du wirst das schaffen, hörst du!? Es ist noch nicht Zeit aufzugeben.“
    „Es ist erst zehn Monate her und doch hat sich so viel verändert. Die Welt dreht sich … nur meine, die ist stehen geblieben. Und jetzt diese Sache mit dieser Leiche ...“
    Ben sah den Mann an, der gegenüber von ihm stand. Er wünschte, ihm würde etwas einfallen, um ihn aufzubauen. Aber es stimmte in gewisser Weise. Mikael war nicht mehr der Gleiche, wie vor der Verletzung. Er hatte sich verändert und viel von dem verloren, was ihn einmal ausgezeichnet hatte. Aber so ganz stimmte das auch nicht. „Du hast auch was gewonnen“, sprach er seinen Gedanken laut aus. Er tippte erst gegen seine Stirn und dann auf sein Herz. „Vielleicht nicht hier Mikael, aber ganz sicher hier! Du vertraust anderen Menschen viel mehr. Wir alle, wir sind doch so unglaublich zusammengewachsen.“
    Der Finne nickte seicht und setzte sich dann gegen die Mauer. „Habe ich dir mal erzählt, dass du mein erster richtiger Freund warst? Damals?“
    Ben lachte unsicher auf. „Erzähl doch keinen Scheiß. Du warst schon zehn als wir uns das erste Mal getroffen haben!“
    „Mein Großvater … er hat immer gesagt, man braucht keine Freunde. Es wäre nur Ballast“, nuschelte Mikael leise hervor. Ben sah herunter, beobachtete, wie sich in Mikael eine ganz andere Traurigkeit abzeichnete, als die von vor wenigen Minuten, als er über die Verletzung geredet hatte. Nein, es war keine Traurigkeit, es war Einsamkeit. Wieso hatte er das damals nie gesehen, als sie noch Jugendliche waren? Hatte Mikael ihn nicht hinter die Fassade blicken lassen oder wollte er es einfach nicht gesehen haben? Wollte er nicht wahrhaben, wie alleine sein Freund war, wie verletzlich? Ben konnte sich an den Großvater nicht wirklich erinnern. Er meinte ihn einmal auf einem Fest gesehen zu haben, aber ganz genau wusste er es auch nicht mehr. Schon gar nicht dessen Namen oder wie genau er ausgesehen hatte. War das der Mann gewesen, der Mikaels so zerstört hatte? War er dafür verantwortlich, dass er so schwer Freunde fand? So schwer Vertrauen fasste? Vermutlich. Auch wenn er sich von der Familie losgesagt hatte, schien sie ihm immer noch zu verfolgen. „Was ist das denn für ein Idiot, dein Großvater?“, entkam es ihm härter als er gewünscht hätte. „Glaub mir, dass weiß ich auch.“ Der Schwarzhaarige zog die Knie an den Körper und schlang die Arme herum. „Mein Vater der war anders. Er hat sich gefreut, als ich einen Freund gefunden hatte … ich meine, ich … ich bin nicht gerade leicht und alle haben mich gemieden.“
    Ben lächelte. „Weil du hochbegabt warst, immer alles wusstest. Das kann ziemlich unbeliebt machen.“
    Mikael nickte vorsichtig. „Vermutlich. Aber auch, als ich absichtlich falsche Antworten gab, war ich immer alleine.“ Eisblaue Augen blicken in seine Braunen. „Wieso hast du dich damals auf mich eingelassen? Du hattest Mitleid, nicht wahr?“
    Ben mied ertappt den Blickkontakt. Es stimmte. Er hatte Mitleid gehabt, aber er war auch beeindruckt gewesen von diesem schmächtigen Jungen, der sich mutig vor seine Schwester gestellt hatte, um sie vor ein paar Schlägern zu schützen.
    „Ja, am Anfang. Aber dann habe ich begriffen, dass da viel mehr zwischen uns ist. Wir haben uns ergänzt und obwohl oft die Fetzen geflogen sind, wusste ich, dass ich mich immer auf dich verlassen kann.“ Ben setzte sich neben Mikael hin. „Das war auch der Grund, weshalb ich dir sofort vertraut habe, als du wieder aufgetaucht bist. Du magst vielleicht nicht der Beste sein, wenn es darum geht, zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten, aber man kann sich darauf verlassen, dass du immer dein Leben hinter das von anderen Stellen würdest.“
    Mikael lehnte den Kopf gegen die Wand. „Es gib da dieses alte Sprichwort.” Ben sah zur Seite. Sein Freund redete nicht weiter. „Was für ein Sprichwort?”
    Der Schwarzhaarige lächelte. “Mein Vater hat es immer gesagt. Good judgment comes from experience, and experience comes from bad judgment. Manchmal kann dieses schlechte Urteilsvermögen ziemlich beschissen sein.“ Mikael atmete hörbar aus. „Ich habe es satt morgens mit Kopfschmerzen aufzuwachen. Ich habe es satt noch immer etwas Wichtiges zu vergessen!“
    Ben legte seine Hand auf die Schulter seines Freundes und drückte sanft zu. „Du bist nicht alleine. Ich möchte, dass du weißt, dass ich immer an deiner Seite bin. Ich unterstütze dich.“
    „Woher weiß ich in Zukunft, dass eine Situation echt ist?“ Mikael sah ihn an, seine blauen Augen schienen ihn zu durchleuchten. „Ich weiß es nicht, aber es gibt sicherlich Medikamente dagegen und vielleicht gibt sich das ja, wenn die Vernarbungen in deinem Gehirn weiter verheilen.“
    Der Finne löste den Blickkontakt. „Das werden sie vielleicht nie vollständig. Das hat zumindest die Ärztin bei dem letzten Gespräch gesagt.“
    „Das weißt du doch noch nicht. Noch hast du alle Chancen wieder richtig gesund zu werden. Irgendwann wirst du ohne diese ganzen Symptome leben können.“
    „Es sind Folgeschäden, keine Symptome.“
    Der Braunhaarige lachte laut auf und gab seinem Freund einen Klaps. „Du bist so ein Klugscheißer!“

  • Der Mann, der getötet hatte, wurde von lautem Hundegebell geweckt. Er öffnete die Augen und sah für einen Augenblick an die Decke des Schlafzimmers. Dann fuhr sein Blick nach rechts. Die andere Hälfte des Bettes war immer noch leer und brachte ihm langsam die Erinnerung, warum das so war. Er blieb noch etwas liegen, dann stand er auf und rieb sich den Schlaf aus den Augen. Nach einer lauwarmen Dusche ging er die Treppe runter und stiefelte in die Küche, wo er von Lexy schwanzwedelnd empfangen wurde. „Hat dich der Zeitungsbote wieder geärgert, meine alte Dame?“, fragte er und beugte sich zu dem Schäferhund herunter. Er streichelte sie am Kopf und auf dem Rücken. Danach öffnete er die Haustür und ging ein paar Schritte auf dem schmalen Kiesweg. Es war noch nicht ganz sieben Uhr und daher noch recht kalt, aber das störte ihn nicht groß. Immerhin regnete es nicht. Er sog die frische Luft ein. Hier draußen fühlte er sich wohl. Fernab von allem Grauen dieser Welt. Er ging ein weiter bist zum Briefkasten und nahm die Zeitung heraus. Dann lief er zurück in das Haus. Er betrat ein weiteres Mal an diesem Morgen die Küche und gab dem Hund etwas Futter in seinen Napf. Dann löffelte er Kaffeepulver in den Filter der Kaffeemaschine und stellte sie an. Während der Hund zufrieden fraß, setzte er sich hin und las gründlich die Zeitung. Im Sportteil wurde ausführlich über die Leistung des 1. FC Köln diskutiert, in den USA hatte es einmal mehr ein grauenhaftes Massaker an einer Schule gegeben und das Wetter würde in den nächsten Tagen weiter durchwachsen sein. Dabei hatten die Meteorologen vor wenigen Wochen noch von einem Jahrhundertsommer gesprochen. Er überlegt schon, ob er nicht vielleicht in den Urlaub fahren sollte. Aber wohin? Spanien oder vielleicht doch die Karibik? Er war noch nie in der Karibik gewesen. Er hatte gehört, dass es dort traumhafte Strände und klares Wasser gab. Das wäre es doch? Endlich mal die Seele baumeln lassen. Aber was wäre mit Lexy? Die konnte er doch sicherlich nicht mitnehmen. „Du gehst dann zu meiner Mutter“, bestimmte er. Ja. Er würde sich vornehmen einen ausgedehnten Urlaub zu nehmen. Er brauchte das jetzt. Er brauchte endlich mal etwas Zeit nur für sich, nachdem ihm in den letzten Jahren nie welche vergönnt war.


    Er stand auf, zog die Kanne unter dem Filter der Kaffeemaschine hervor und goss sich ein. Eine große Tasse. Schwarz mit zwei Löffeln Zucker. Dann las er weiter die Zeitung. Niemand berichtete von ihm. Auch an Tag drei war, das was er getan hatte, keine Schlagzeile wert. Was war mit dem Mann, der ihn überrascht hatte, geschehen? Hatte er nicht die Polizei gerufen? Die erste Nacht nach seiner Tat hatte er deshalb kaum geschlafen. Nein, eigentlich hatte er überhaupt nicht geschlafen. Er hatte wach in seinem Bett gelegen und gezittert. Er hatte Angst gehabt. Schreckliche Angst. Bei jedem Geräusch war er zusammengefahren und hatte geglaubt, dass sie gekommen waren. Die Polizei. Doch sie waren nicht gekommen. Auch nicht an dem Tag darauf und da hatte er begriffen, dass man ihn nicht fand. Er war zwar gesehen, dadurch aber nicht gleich auch entdeckt worden. Er klappte die Zeitung zu und nippte an seinem Kaffee. Oder war der Mann überhaupt nicht zur Polizei gegangen? Nackte Angst kroch in ihr hoch und erschwerte ihm das Atmen. Diese Angst griff nach ihm, drohte, ihn mit Haut und Haaren zu fressen. Seine Nackenhaare richteten sich auf. Er zitterte unkontrolliert am ganzen Körper. Was wenn er ihn erpressen wollte? Was wenn er ihn nun suchte und dann Geld für sein Schweigen forderte? Er stand auf, öffnete den Schrank über die Spüle und holte die Flasche Lagerkorn heraus. Eilig goss er etwas davon in eine Tasse und spülte den Alkohol in großen Schlucken seinen Rachen herunter. Er durfte nicht zulassen, dass dieser Mann ihn fand und erpresste. Er war gerade erst frei und wollte nicht wieder der Gefangene eines anderen Menschen sein! Er schüttete sich abermals etwas ein. Seine Hand zitterte so sehr, dass er sogar etwas verschüttete, obwohl er ja nicht aus einem Schnapsglas, sondern aus einer Tasse trank. Ein Erpresser würde niemals Ruhe geben. Er war gierig und forderte immer mehr. Sie waren einfach nicht satt zu bekommen. Er sah seine Freiheit bedroht, sein Leben, welches doch erst seit drei Tage wieder ein glückliches war. Ihm wurde klar, dass er wieder morden musste. Er musste es tun, um seinen Frieden wieder zu erlangen. Je mehr er darüber nachdachte, desto unausweichlicher war dieser Schritt. Dieser Mann war eine Gefahr für ihn! Der Mann, der kurz davor war wieder zu morden, stellte die Flasche Lagerkorn wieder in den Schrank über die Spüle, ging dann zurück zum Tisch und goss sich eine weitere Tasse mit warmen Kaffee ein. Danach ging er mit Lexy seine Runde durch den Wald. Er überlegte, was er mit dem Zeugen machen sollte. Sollte er ihn sofort umbringen oder erst mitnehmen? Er war hin und hergerissen zwischen den beiden Optionen, wusste nicht welche ihm mehr zusagte.

  • „Morgen Susanne“, begrüßte der braunhaarige Kommissar die Sekretärin, ehe er dann durch in sein Büro ging. Semir saß bereits hinter seinem Schreibtisch und lächelte, als er ihn erblickte. „Das du wieder später bist, als üblich – ich nehme an, du hast den albernen Streit mit Mikael endlich beendet.“
    Ben setzte sich und schaltete seinen Computer an. Er lehnt sich zurück. „Ja, aber jetzt bin ich mir nicht sicher, ob … naja, Mikael war noch einmal dort, hat die Leute befragt und dann wohl auch was im Internet gelesen.“ Er fuhr sich durch die Haare. „Nun, nun tut er so, als wäre die Sache niemals passiert. Er hat in seine Rolle gewechselt und dieses dumme nichtssagende Grinsen aufgezogen.“
    „Ich verstehe.“
    „Blöder Idiot. Er denkt, dass ich es nicht merken würde!“
    „Ich habe noch einmal alles durch die Datenbank gejagt. Nichts“, erklärte ihm Semir jetzt. Er nickte und wandte sich seinem PC zu, um sein Passwort einzutippen. „Das ist doch verrückt. Irgendwer muss doch diese Frau vermissen, oder? Sie kann doch nicht einfach so vom Erdboden verschluckt werden und niemand, aber auch wirklich niemand wundert sich darüber!“
    „Vielleicht kommt ja noch etwas.“
    „Es ist schon so viel Zeit vergangen. Glaubst du wirklich?“, hakte der Jüngere nach.
    „Ich hoffe es. Für Mikael. Auch wenn alles im Augenblick gegen seine Beobachtung spricht, sollten wir das dennoch nicht auf die leichte Schulter nehmen.“
    „Das sagt sich so leicht. Es fällt mir einfach immer noch wirklich schwer. Vielleicht ist es, weil ich da war, als er in der Reha-Klinik fast durchgedreht ist, nachdem er diese komische Bewusstseinseintrübung hatte … oder wie man das auch immer jetzt nennt.“
    „Vielleicht“, murmelte Semir und wandte sich seinen PC zu. „Ich schreibe noch kurz den Bericht fertig und dann können wir los auf Streife.“
    Ben nickte. „Ich schaue noch einmal, ob in der Datenbank etwas zu einem blauen VW finde, was interessant ist.“ Und schon tippte der Braunhaarige einige Worte in die Suchmaske. Er bekam aber abermals keine Treffer. So lehnte er sich in seinem Stuhl zurück und beobachtete Semir bei der Arbeit. „Das mit dem Essen geht übrigens klar. Eva freut sich schon total darauf. Macht schon große Menüpläne.“ Ben verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Mikael hat mich allerdings durchschaut, aber er hat nun auch nicht großartig Widerworte eingelegt.“
    Semir sah ihn an. „Das werte ich als ein positives Zeichen.“
    „Vielleicht springt er uns aber auch erst heute Abend deshalb an die Gurgel. Wer weiß das schon?!“, erklärte Ben mit einem Lachen.



    *


    Als Mikael verschlafen die Augen öffnete, fand er ein buntes Treiben in dem kleinen Gästezimmer vor. Eva stand an der gegenüberliegenden Wand und schien irgendwelche Zettel daran zu heften. „Was tust du da?“, murmelte er schlaftrunken.
    Eva drehte sich von der Wand weg und sah ihn an. „Ich hab die Ärztin angerufen, denn auf diese Idee kommt ihr Männer nicht. Sie sagt, dass es unwahrscheinlich ist.“
    „Unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich“, widersprach er und ließ sich wieder in das Kissen fallen. Er hatte keine Lust mehr sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen. Er hatte den Antrieb verloren.
    „Das weißt du doch überhaupt nicht! Ich möchte das noch nicht glauben!“ Sie heftete einen Zettel mit der Aufschrift VW-Polo, blau an die Wand. „Wir brauchen nur Beweise.“ Sie löste sich von der Wand und kam auf ihn zu. „Und ich habe gehört, dass ein gewisser Herr Häkkinen einer der besten Hauptkommissar Finnlands ist.“
    Er stöhnte auf. „Das muss ein Gerücht sein. Derzeit bin ich Nichts. Ein Schatten meiner selbst.“
    „Wir können den Fall lösen!“, widersprach Eva. „Du kannst ihn lösen!“
    Er setzte sich in dem Bett auf. „Ich? Wie denn. Es gibt doch keine Hinweise.“
    „Wir müssen nur tiefer buddeln“, erklärte Eva. Sie setzte sich neben ihn auf das Bett. „Ich wünschte, dass Veikko doch mitgekommen wäre. Wenn da was ist, hätte er es gefunden.“
    „Veikko?“
    „Er war doch bei der KTU, oder ist da was an mir vorbeigegangen?“
    Er schüttelte den Kopf und lächelte. „Du bist die Beste!“ Vielleicht war es doch noch nicht Zeit aufzugeben. Hektisch sprang er aus dem Bett. Er drückte ihr einen Kuss auf die Lippen und griff nach seinem Kapuzenpullover, der über den Stuhl hing. „Ich muss noch einmal los!“
    „Wohin? Was hast du vor?“
    „Veikko mag vielleicht nicht in Deutschland sein, was aber nicht heißt, dass ich nicht doch jemanden auftreiben kann, der für uns nach Spuren sucht!“
    Sie verstand immer noch nicht worauf Mikael hinaus wollte. „Wie?“
    „Ich kenn da wen. Jemanden, der in der KTU arbeitet, wie Veikko!“ Er küsste sie abermals. „Bis später.“ Mit eiligen Schritten ging er in Richtung Zimmertür und zog sie auf. Ehe er verschwand, hört sie noch ein Ich liebe dich. Dann war alles ruhig.




    Hartmut Freund sah auf, als jemand die Fabrikräume der KTU betrat. „Er ließ sich nicht abschütteln“, teilte ihm ein Kollege mit. Der KTUler betrachte den Ankömmling überrascht. Schwarzes, zerzaustes Haar, eher kleine Statue. Mikael, dieser Freund von Ben, den er eigentlich bisher nur auf einem Grillfest getroffen hatte vor knapp einem Jahr. „Ich brauche deine Hilfe“, erklärte der Finne.
    „Meine?“
    Der Schwarzhaarige stand vor ihm, wahrte aber den Abstand. Mehr als ein Meter war zwischen ihnen Platz. Finne, kam es Hartmut in den Sinn, natürlich. Die hatten ein ganz anderes Distanzverständnis, als die südlichen Länder.
    „Du bist doch bei der KTU oder nicht?“
    „Ja.“
    „Gut, dann sollte ein bisschen Spusi-Arbeit ja kein Problem sein. Ich hab da einen Tatort, von dem ich unbedingt ausgewertete Spuren brauche.“
    „Einen Tatort? Solltest du dann nicht vielleicht eher Ben oder Semi …“
    „Das geht nicht!“, fuhr ihm der Besucher dazwischen. Er vergrub die Hände in seinen Jackentaschen. „Es ist etwas kompliziert. Sie glauben mir nicht, dass dort wirklich etwas passiert ist“, folgte nun in einer etwas dünneren Stimme. Die hellblauen Augen blickten in seine. „Du bist meine letzte Chance! Du musst mir helfen!“
    „Ich weiß nicht, wenn Semir und Ben nichts gefunden haben.“
    „Bitte!“, kam es nun energischer. „Bitte! Ich muss das wissen.“
    „Was für ein Tatort?“
    „Vielleicht Mord … naja eigentlich ist es auch eher so etwas wie Fundort. Ich glaube nicht, dass es der Tatort ist.“
    Hartmut begriff nun noch weniger.
    „Ich werde es dir auf dem Weg dorthin erklären“, fügte der Schwarzhaarige hinzu.
    „Aber ich habe einen Haufen Arbeit. Ich meine, ich kann doch hier nicht plötzlich alles Stehen und Liegen lassen.“
    „Du hast doch Mitarbeiter“, folgte sofort der Konter. „Es dauert auch nicht lange. Aber ich muss das einfach wissen. Es ist wirklich wichtig für mich.“
    Schließlich lenkte Hartmut ein. „Okay. Wenn es denn sein muss.“
    „Wir nehmen dein Auto.“


    Nur wenige Minuten später, standen die beiden auf der Straße, wo es passiert war und Mikael erklärte in wenigen Worten die Einzelheiten aus der Nacht. Hartmut stöhnte leise auf, als er seinen Koffer öffnete und sich auf die Suche begab. „Du hättest erwähnen sollen, dass es schon einige Tage her ist. Wie soll ich da noch was Brauchbares finden?“
    „Ich weiß nicht. Ich bin nur ein Hauptkommissar mit einem Gehirn, das derzeit nicht wirklich zu gebrauchen ist. Aber deins funktioniert noch perfekt.“
    „Und anscheinend auch ein Meister des dunklen Humors“, murmelte Harmut leise.
    „Ich habe zwar nicht gerade das beste Gedächtnis derzeit, aber taub bin ich nicht.“
    Der KTUler sah nach oben. „Du kannst das nicht etwas mehr eingrenzen? Ich meine, wo genau sie das Blut verloren hat.“
    „Nein. Ich weiß nur noch, dass es irgendwo hier sein muss. In einem Umkreis von ein paar Metern.“
    „Wahnsinnig präzise!“, schimpfte Hartmut und setzte seine Arbeit dann fort, während sich Mikael auf den Bordstein setzte. „Weißt du Ben hält mich für verrückt. Er denkt, dass ich mir das alles eingebildet habe, wegen der Schädelverletzung … eigentlich hatte ich es schon fast selbst geglaubt.“
    „Schädel-Hirn-Trauma sind kompliziert“, antwortete der Rotschopf. „Überhaupt das menschliche Gehirn. Hast du dich damit mal befasst? So viele klitzekleine Nervenzellen.“
    Mikael setzte die Ellenbogen auf seine Knie und bette den Kopf in seinen Handflächen. „Ist das so? Ich habe mich immer eher für die Psyche interessiert und Geografie … Alaska. Irgendwann werde ich dort hingehen und eine Skitour machen.“
    Mikael schien nicht entgangen zu sein, dass er eine Probe genommen hatte. Er war aufgesprungen und stand nun vor ihm. „Hast du etwas gefunden?“
    „Ja. Aber ein paar Meter weiter ist ebenfalls Blut. Es können auch ganz andere Spuren sein. Von Tieren oder ähnlichem. Ich muss das später noch im Labor genauer untersuchen.“
    „Natürlich. Aber das du etwas gefunden hast, ist ja immerhin schon etwas wert, oder nicht?“
    Der Techniker wollte die aufkommende Hoffnung nicht bremsen, doch andererseits konnte er nicht anders. „Du weißt, dass es noch kein Beweis ist? Selbst wenn wir menschliches Blut finden, fehlt die Leiche dazu und es könnte von einem Spaziergänger sein, oder sonstiges.“
    „Ja. Ich weiß“, murmelte der Finne leise und setzte sich dann wieder auf den Bordstein. „Aber vielleicht gibt es ja zu der Probe was in den Datenbanken. Irgendetwas!“


    Hartmut suchte den Asphalt noch knapp 30 Minuten gründlich nach Spuren ab, ehe er dann wieder aufbrach. Mikael hatte ihn noch bis zu seinem Auto gebracht und er hatte verspochen, dass er ihn sofort anrufen würde, wenn er etwas hatte, allerdings nicht versprechen könne, dass er es noch heute schaffte. Derzeit gab es in der KTU einfach zu viel Arbeit. Als in sein Auto stieg, sah er noch, wie Mikael wieder zurück zu seinem mutmaßlichen Fundort ging, ehe er selbst den Motor startete und in einer Einfahrt drehte, um zurück zur KTU zu fahren.

  • Da! Der Mann, der wieder töten würde, merkte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Ihm wurde von einer Sekunde zur anderen heiß. Da war er, das war der Mann, der ihn in der Nacht verfolgt hatte, als er seine Frau wegbringen wollte! Ganz sicher. Er hatte ihn zwar nur kurz gesehen, aber diese stechenden blauen Augen und das schwarze Haar im Schein der Straßenlaterne, die waren ihm noch heute im Gedächtnis.
    Er hatte sich verfahren, hoffnungslos. Dann war ihm schlecht geworden und er hatte an die frische Luft gemusst. Hätte er gewusst, dass um diese Uhrzeit ein Mann auf der Straße unterwegs war, er hätte die Übelkeit zurückgehalten und den Wagen aus der Sackgasse wieder herausgelenkt ohne sein Auto zu verlassen.


    Nun hatte er Glück. Er hatte gerade erst seinen Wagen in die Haltebucht gelenkt, wo es passiert war und schon war der Mann aufgetaucht. Bei Tageslicht sah der Mann jünger aus, als in der Nacht. Er trug eine Jeans, dazu ein T-Shirt. Heute war es wärmer und man konnte endlich die Sommerklamotten auspacken. Wie er die Wärme vermisst hatte in den letzten Tagen. Der Mann blieb an der Stelle stehen, wo sie sich vor drei Nächten begegnet waren. Er setzte sich auf den Bordstein, legte die Ellenbogen auf die Knie und bettete den Kopf auf seinen Händen. Der Mann, der an einem Mordplan schmiedete, beobachtete seine Beute. Es vergingen Minuten und er wurde ungeduldiger. Was machte er da? Was saß er da einfach so rum und tat überhaupt Nichts? Er sah auf die Uhr in seinem Auto. 30 Minuten waren bereits um. 15 weitere vergingen, ehe der Mann aufstand und die Straße weiter hinaufging. Er verließ seinen Wagen und folgte seinem Opfer mit einem großen Abstand. Er spürte die Aufregung in jeder Faser seines Körpers. Er war ganz nervös. Welches Haus würde er wohl betreten? Wo war dieser Mann zu Hause? Er senkte den Blick und beobachtete den Gang. Der Mann, der ihn in der Nacht gesehen hatte, wirkte auf dem linken Bein etwas unsicherer. Er humpelte kaum merklich. Vielleicht bildete er es sich auch nur ein. Immerhin würde er sein Opfer mit einer Schwäche deutlich leichter überwältigen können. Er wusste noch nicht, was er mit ihm machen wollte. Er brauchte erst einmal einen sicheren Plan, ehe er zuschlagen würde. Jetzt ging es erst einmal darum Informationen zu sammeln. Der schwarzhaarige Mann zog sein Handy auf der Tasche, tippte darauf herum, ehe er es wieder hineinsteckte. Sein Gang war langsam und bedacht, als schien er in tiefen Gedanken versunken. Es dauerte knapp fünf Minuten, dann bog er in Richtung eines Hauses ab, indem sich knapp sechs Wohnungen befanden. Kurz darauf ging er durch die Haustür und verschwand. Der Mann, der vorhatte wieder zu töten, hielt an. Nach einigen Sekunden ging er ebenfalls in Richtung Haus. Er stellte sich vor die Klingelschilder. Welcher Name wohl zu seinem Opfer gehörte? Unruhe packte ihn. Mit zittrigen Fingern fuhr er über einige der Namen. Schmitt. Morgenstern. Koch. Line. Mayer. Jäger. Wer war es wohl? Wer war der Mann, der ihn in der Nacht gesehen hatte? Es war lächerlich. Wie ein kleiner Junge stand er dort in der Dunkelheit und versuchte vergeblich, seinen Körper unter Kontrolle zu bringen. Er versuchte dem tobenden Herzschlag in seiner Brust zu besänftigen, das Rauschen in seinen Ohren zu ignorieren. Er spürte seinen Puls in seinem Hals. Und das nur, weil er dem Mann gefolgt war, der für seine Misere verantwortlich war. Er war es gewesen, der dafür sorgen würde, dass er noch ein weiteres Mal töten würde. Ein zweites Mal würde das Blut eines anderen Menschen an seinen Händen kleben. Er würde zum Doppelmörder werden. Er versuchte die Konsequenz seiner Morde aus seinem Gehirn zu vertreiben, doch plötzlich überfiel sie ihn mit aller Macht. Sie drückte ihm die Luft aus den Lungen und er glaubte, dass er plötzlich ersticken würde. Schwarze Punkte tanzten vor seinen Augen, ihm wurde schwindelig. Er nahm einen tiefen Atemzug, noch einen, doch sein Körper wollte sich nicht beruhigen. Er war aufgewühlt. „Kann ich Ihnen helfen?“ Er schreckte hoch. Ein braunhaariger Mann Anfang bis Mitte 30 stand vor ihm und betrachtete ihn sorgenvoll mit seinen braunen Augen. „Mir?“, stammelte er hervor. „Ja. Sie sind ziemlich blass. Wollen Sie hier jemanden besuchen?“


    Er schloss die Augen und holte erneut einige Male tief Luft. „Nein. Es hat sich erledigt“, sagte er dann. Er sprach seinen Dank aus, dass der Mann sich um ihn gesorgt hatte und eilte dann schnell davon. Am liebsten wäre er gerannt, aber er Zwang sich dazu, den Rückweg zu seinem Auto in normalem Tempo zurückzulegen. Er wollte keine Aufmerksamkeit erregen. Es war schon schlimm genug, dass er vor dem Haus gesehen worden war. Eine plötzliche Angst überkam ihn. Würde man ihn erkennen, in Verbindung mit dem Tot des Mannes bringen – seinem nächsten Opfer? Sein Herz begann noch aufgeregter zu schlagen, eine plötzliche Übelkeit überfiel ihn. Tief Luft holend versuchte er sich zu besinnen. Niemand würde ihn wiedererkennen. Er war nur ein Mann vor einem Haus gewesen, nichts weiter. Es würde keinerlei Probleme geben. Wenn er diesen zweiten Mord begangen hätte, dann war er frei. Dann könnte er endlich tun, wozu er Lust hatte. Er lächelte. Er würde erst einmal verreisen und ein paar Wochen ausspannen. Dann würde er für sich und Lexy ein neues schönes Heim suchen. Sie würden eine Menge Spaß haben und vielleicht, ja, vielleicht würde er sich auch wieder verlieben. In eine Frau, die viel liebevoller war, als seine Alte.

  • Semir drückte Mikael fest an sich. „Es tut gut, dich wiederzusehen“, sagte er. „Es ist lange her.“
    „Semir … Finne“, kam es gepresst aus seinem Arm und er löste mit einem lauten Lachen den Druck wieder. „Jaja, ihr Nordländer und Umarmungen. Ich weiß. Tut mir leid!“
    Der Jüngere lächelte verlegen. „Ich lebe ja noch. Ich weiß, ich hätte mich melden können, wir sind ja immerhin schon etwas länger in Köln.“
    „So ein Blödsinn. Ich habe ja gehört, dass du andere Sachen im Kopf hattest.“
    „Ja … schon. Aber das ist nun nicht mehr wichtig.“ Mikael sah zur Erde. Es war also wahr, was ihm Ben heute erzählt hatte, während der Streife. Er hatte aufgehört an seine Geschichte zu glauben und begann an sich zu zweifeln. So wie es Ben getan hatte. Wenn es keine Hinweise gab, gab es keinen Mord, so hieß die rationale Erklärung. „Wie geht es Antti und den anderen?“, lenkte Semir das Thema auf leichtere Kost. Sie gingen in die Wohnung, und während Andrea mit Eva den Tisch deckte und alles vorbereiteten, erzählte Mikael ihm, dass Veikko nun als Kommissar in der Abteilung angefangen hatte. Antti ging es gut, auch wenn er nun mit einem hyperaktiven jungen Beamten zu kämpfen hatte. Sie setzten sich an den Tisch und Semir beobachtete, wie Mikael das leere Glas vor sich hin und her drehte. Seine Hände zitterten dabei leicht. „Ist es normal, dass ich mir den Arbeitsalltag nicht mehr vorstellen kann?“, fragte er leise.
    Semir lächelte. „Vermutlich. Es ist lange her, seit du einen Fall bearbeitet hast.“
    „Bald elf Monate.“ Mikael sah ihn an. „Denkst du, ich sollte Westhof besuchen?“, schoss es aus ihm heraus.
    „Wie?“ Semir fiel vor Überraschung aus allen Wolken. Er hatte mit allem gerechnet, nur nicht mit dieser Sache. Anscheinend hatte er die Nachfrage so laut gestellt, dass nun auch Ben in das Esszimmer kam. „Was ist?“, fragte er und sah sie abwechselnd an.
    „Ich hatte überlegt Westhof in der Psychiatrie zu besuchen. Ich will wissen, wieso er es getan hat.“
    Ben seufzte. „Der Typ ist nicht mehr ganz dicht. Du wirst es nicht erfahren.“
    „Du beschützt mich schon wieder!“, entfuhr es Mikael mit einem giftigen Tonfall. „Immerzu musst du mich vor allem beschützen!“
    Der Braunhaarige hob die Arme. „Ich meinte es doch nur gut. Westhof ist doch nicht ohne Grund in der Geschlossenen.“
    Mikaels Blick fiel wieder auf Semir. „Die Ermittlungsakte, darf ich die lesen?“
    „Auf keinen Fall!“, fuhr Ben abermals dazwischen.
    Semir sah seinen Partner und Freund streng an. „Ich werde schauen, was sich machen lässt“, widersprach er Bens Meinung. Mikael hatte Recht. Es gab nichts, wovor man ihn beschützen musste. Die Krankenberichte aus der Akte kannte er sicherlich ohnehin schon. Dort gab es nicht viel, was neu für ihn sein würde. Vielleicht die Vernehmungsprotokolle mit Westhof, aber auch da stand nichts drin, was ihn unter irgendeinen seelischen Druck stellen würde. Vielleicht hatte sein Partner aber auch nur Angst, dass es Mikaels Erinnerung half und er sich so an die Tage vor dem Unfall erinnern konnte, denn die waren immer noch schwammig. Und eben über diese Tage hatte sein Partner gelogen. Er hatte einen Streit verheimlicht.
    Er hörte ein Stöhnen von Ben, während sich Mikael im gleichen Moment bedankte. „Ich glaube, dass es vielleicht hilft. Wenn ich etwas nachlese, wie die Tage abgelaufen sind und so, meine ich.“
    „Warum nicht? Es kann auf jeden Fall nicht schaden“, stimmte Semir zu.
    „Ich weiß nicht. Der Fall ist ewig her und hat auch irgendwie keine Bedeutung mehr, nicht?“, kam es zweifelnd von Ben.
    „Für mich hat er das schon“, widersprach ihm Mikael zugleich. „Und das letzte Mal, als ich geprüft habe, war ich auch alt genug, um mein Leben selbst zu bestimmen.“


    „Jetzt wird nicht mehr über Fälle gesprochen!“ Eva griff nach Mikaels Hand und Semir beobachtete, wie das leichte Zittern sofort nachließ. „Nun ist Zeit für einen tollen und entspannten Abend!“ Und Eva sollte Recht behalten. Es wurde ein toller Abend und auch sehr feuchtfröhlich. Ben packte zum Schluss noch einen der besten Weine seines Vaters aus, den er irgendwann einmal geschenkt bekommen hatte, aber nicht wirklich viel damit anzufangen wusste. Als Semir und Andrea um 23:00 Uhr aufbrauchen, war ihnen anzusehen, dass sie die gemeinsamen Stunden genossen hatten. Das wiederum sorgte dafür, dass Eva mehr als zufrieden war. „Andrea hat mein Essen gelobt“, freute sie sich, als sie die Tür hinter dem Ehepaar Gerkhan schloss. Ben musste lächeln, als er beobachtete, wie Evas Wangen einen leichten Rosaton annahmen. „Es hat aber auch wieder richtig gut geschmeckt. Ich bin wirklich erstaunt, dass du es geschafft hast Elch aufzutreiben.“
    „Elch?“, schaltete sich Mikael ein. „Das war doch kein Elch.“
    Die blonde Frau zwinkerte ihrem Mann zu. „Ruhig jetzt!“
    „Aha. Du hast also getrickst“, stellte Ben fest. Sie lachte. „Es war Rentier. Aber ich bin mir sicher, das hattet ihr auch noch nicht!“

  • Der Mann, der wieder töten wollte, beobachte die Tür des Hauses ganz genau. Nichts konnte ihm entgehen. Er verfolgte, wie ein größerer braunhaariger Mann heraustrat, kurz darauf folgten weitere Menschen, die wohl zu Arbeit aufbrachen. Sein Opfer war nicht dabei. Vermutlich hatte er keine Arbeit. Dann würde er noch mehr Geld von ihm erpressen, da war er sich sicher. Nervös trommelte er mit den Fingern auf das Lenkrad. Er kämpfte mit seiner Ungeduld. Am liebsten würde er sofort in das Haus stürmen und den Mann suchen. Ihn von dort mit sich schleifen. Aber das ging natürlich nicht. Er musste sich in Geduld üben. Er musste vorsichtig agieren und auf den richtigen Augenblick warten. Er konnte und durfte jetzt nicht überstürzt handeln. Bisher hatte ihn die Polizei nicht entdeckt, wenn er unvorsichtig war, könnte sich das ändern und er wollte nicht, dass sich das ändert. Er wurde mit jeder verstrichenen Minute ungeduldiger. Er sah zu der Haustür, dann auf die Uhr in seinem Auto, um dann wieder zur Haustür zu blicken. Nachdem er zwei Stunden gewartet hatte, kam der Mann heraus. Er trug einen Kinderwagen und stellte ihn vor der Steintreppe auf dem gepflasterten Weg ab. Kurz darauf trat eine junge Frau heraus. Blondes Haar, welches kunstvoll nach hinten zu einem Zopf geflochten war. Sie war hübsch. Viel hübscher als seine Frau gewesen war. Sie trug ein Baby auf dem Arm. War es schon älter als ein Jahr oder noch jünger? Sie legte es in den Kinderwagen und dann gingen sie los. Zum Glück zu Fuß. Er stieg aus seinem Auto aus und folgte ihnen mit etwas Abstand. Der Mann griff nach einigen Metern nach der Hand der Frau und drückte sie sanft, kurz darauf gab sie ihm einen Kuss und lehnte sich an seine Schulter. Sie waren glücklich. Ein Gefühl kämpfte sich in seinem Inneren hoch. Ein Gefühl, welches er nicht so genau beschreiben konnte. War es Neid? War er neidisch, weil dieser Mann glücklich war? Weil er das Leben genoss? Hatte dieser Mann verdient, glücklich zu sein? Konnte er wirklich das Glück einer Familie zerstören, fragte er sich. Nach einigen hundert Metern kam er zu dem Schluss, dass er es wohl müsste. Es war ja auch nicht seine Schuld. Es war doch der Mann, von dem Gefahr ausging. Er war es doch, der sein Glück zerstören wollte. Das Paar blieb an einer Bushaltestelle stehen und er stellte sich einige Meter von ihnen entfernt hin. Er hörte, wie sie redeten. In einer Sprache, die er nicht verstand. War das vielleicht Ungarisch oder doch Estnisch oder Finnisch? Er hatte das Bedürfnis sie zu fragen, verkniff es sich jedoch. Er würde sie nicht auf sich aufmerksam machen, dann würden sie bemerken, wie er sie verfolgte. Sie stiegen in die Linie 92 und er tat es ihnen gleich. Nachdem er sich ein Ticket gekauft hatte, welches für den ganzen Tag gelten würde, ging er bis hinten durch. Von dort hatte er sie im Blick und würde mitbekommen, wenn sie aussteigen wollten. Eigentlich hasste er Bus fahren. Es mischten sich immer alle Düfte der Fahrgäste zu einer widerlichen Suppe aus einem ganz eigenen Geruch zusammen. Eine komplexe Kombination aus Schweiß, Zigaretten und billigem Parfüm.


    Der Bus fuhr in die Innenstadt und kurz vor dem Dom stieg das Paar dann mit ihm im Schlepptau aus. Sie gingen ein Stück und dann erkundigte sich der Mann bei einem Anbieter für Stadtrundfahrten nach der nächsten Abfahrt für eine Bustour. Er sprach jetzt perfektes Deutsch, wenn auch mit einem doch markanten Dialekt. Er war also entweder sprachbegabt oder hier in Deutschland aufgewachsen. Vielleicht war auch seine Mutter oder sein Vater aus Deutschland. Das konnte ja auch sein. Dann kaufte er zwei Tickets und setzte sich kurz darauf mit seiner Frau auf die Treppen vor dem Dom. Nun ging auch er auf den Ticketverkäufer zu und buchte die Stadtrundfahrt. Er hatte noch knapp 35 Minuten Zeit, bis die Tour losgehen würde, deshalb entschied er sich dazu, schnell noch in den Hauptbahnhof zu gehen und sich ein Käppi zu kaufen. Denn er würde als Verfolger sicherlich weniger auffallen, wenn er ab und an mal etwas an sich änderte. Er entschied sich für das billigste Modell. Eine schwarze Kappe mit dem Schriftzug I love Cologne. Dazu kaufte er noch einen Stadtplan, den er dann betrachten könne, wenn sie in seine Richtung sahen. Pünktlich zur Abfahrt des Busses war er wieder zurück. Einige Fahrgäste, darunter auch der Mann, der sein nächstes Opfer sein würde, waren bereits eingestiegen. Auch er ging nun in den Bus. Er setzte sich drei Reihen hinter dem Paar hin. Fünf Minuten später ging die Fahrt dann los.


    Während der Bus sich in Bewegung setzte und alle Leute begeistert die beschriebenen Sehenswürdigkeiten bestaunten, hatte er nur Augen für das Paar vor ihm. Er saß am Gang, sie mit dem Kind am Fenster. Er dachte darüber nach, warum sie eine Touristenfahrt machten. Waren sie vielleicht nur für einen Urlaub hier? Besuchten sie jemanden, der in diesem Haus wohnte? Würden sie bald wieder verschwinden? Angst arbeitete sich in ihm hoch. Das würde bedeuten, dass er bald das Erpresserschreiben erhalten würde, denn der Mann hätte sicherlich nicht viel Zeit, bis er wieder abreisen würde. Er musste also noch schneller sein!


    Die Stadtrundfahrt dauerte eine gute Stunde, danach ging das Paar noch etwas essen und durch einige Läden, ehe sie wieder zurück zu der Wohnung fuhren. Mit ihm als ihren zweiten Schatten im Schlepptau. Als sie durch die Haustür gingen, setzte er sich wieder in sein Auto. Er würde warten, bis der Mann alleine herauskam und dann würde er zuschlagen. Vielleicht würde er eine Entschuldigungskarte an die Frau schicken. Es tut mir leid, Gnädigste, ihr Glück zerstört zu haben. Allerdings war ihr Mann zur falschen Zeit am falschen Ort. Er schüttelte den Kopf. Nein. Es wäre taktlos sich so etwas zu erlauben. Er könnte sie in dem Glauben lassen, dass er sie verlassen hatte. Hals über Kopf geflohen war von ihr und dem Ballast eines Kindes. Ja, das könnte er tun. Dann würde es sie nicht so hart treffen und sie konnten alle wieder glücklich sein. Er öffnete das Handschuhfach und zog ein Messer heraus. Es war seine einzige Chance, redete er sich ein. Seine einzige Chance auf Freiheit war, dass dieser Mann starb. Noch heute!

  • Semir und Ben sahen auf, als es an der Tür klopfte. Kurz darauf trat Hartmut in das Büro. „Ich habe da etwas, was euch interessieren könnte“, begann der Techniker und trat dann auf sie zu. „Eine Vorlesung über die chemische Zusammensetzung der Erde? Oder was?“, witzelte Ben. Denn eigentlich hatten sie derzeit keinen Fall, der die Hilfe aus der KTU benötigte.
    „Etwas Ernsteres, als das.“ Der Rotschopf verband sein Tablet mit den Bildschirmen des Büros. Es erschien ein blauer Opel Corsa. „Was ist das?“, fragte Semir.
    „Das Auto, was eurer Freund gesehen hat.“
    Ben und Semir wechselten Blicke. „Unser Freund?“, hakte Ben mit hochgezogener Augenbraue nach. „Schwarzhaarig, nicht so groß wie du, aber auch nicht so klein wie Semir. Klingelst jetzt?“
    Ben schoss aus seinem Stuhl hoch. „Er war bei dir? Mikael war bei dir?! Und mir spielt er vor, dass ihn das Ganze überhaupt nicht mehr interessiert. Ich glaube es ja nicht.“
    Hartmut beachtete ihn nicht weiter: „Wie dem auch sei. Ich habe etwas Blut irgendwo in den Tiefen des Asphalts finden können … gut auch etwas mehr, größtenteils von Tieren. Aber der Punkt ist. Eine Probe war spannend. Ich habe sie analysiert und voilà, dieser Fall wurde mir ausgespuckt. Verlassenes Auto mit Blutspuren auf der Beifahrerseite.“
    „Der blaue VW“, murmelte Ben leise. Er könnte sich Ohrfeigen. Dass er daran nicht gedacht hatte! Er wusste doch, dass sich Mikael einige Dinge nicht gut merken könnte, warum konnte dann ein VW nicht auch ein Corsa sein? „Es ist ein Corsa“, korrigierte Hartmut, unwissend, was Ben eigentlich mit seiner Aussage gemeint hatte.
    „Jaja“, wiegelte der braunhaarige Kommissar ab. „Konnte man die Spuren einem Namen zuordnen?“
    „Nein. Das Auto war gestohlen worden. In einer Wohngegend, wo sonst eigentlich nicht so viel los ist. Kleiner Ort außerhalb von Köln.“
    Semir lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Wir sollten vielleicht doch noch einmal genauer mit Mikael reden und dann mit der Mordkommission sprechen.“
    „Wie konnte ich nur so blind sein? Hätte ich doch sofort nach einem blauen Auto gesucht!“
    „Wie?“, fragte Hartmut.
    „Er hat immer von einem blauen VW geredet, war sich ganz sicher, dass es nur diese Marke und Farbe sein konnte. Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig. Semir hat Recht, wir müssen ihn fragen, woran er sich genau erinnern kann.“ Ben griff nach den Autoschlüsseln und zog seine Jacke von der Stuhllehne. „Einstein. Du kommst am besten mit. Du kannst die Umstände am besten erklären.“
    „Ich habe eigentlich noch zu tun …“
    „Nichts da! Du wirst mitkommen!“, entschied Ben für den KTUler und war bereits in Begriff das Büro zu verlassen. Hartmut warf Semir einen Blick zu, doch der Deutschtürke lächelte nur. „Nun komm schon! Es tut dir ganz gut, mal deine dunklen Fabrikhallen zu verlassen.“




    *



    Eva steckte den Schlüssel in die Wohnungstür, während Mikael Oskari auf dem Arm die Treppe hochtrug. Sie hatten sich am Vormittag für eine kleine Stadtrundfahrt entschieden. „Was hältst du davon, wenn ich uns beim Bäcker noch einige Stücke Kuchen holen? Dann trinken wir gleich auf dem Balkon gemütlich Kaffee“, schlug Mikael vor. Sie lächelte. „Das klingt wundervoll, aber ich kann gehen.“ „Es ist kein Problem. Es ist ja nicht weit bis zum Bäcker“, widersprach er. Er reichte ihr Oskari entgegen und sie nahm das Kind ab. „Wir können ja auch zusammengehen“, versuchte sie, doch Mikael schüttelte bereits den Kopf. „Ich glaube, unser kleiner Mann ist ziemlich müde.“
    „Nicht nur der!“
    Mikael lachte. „Ja, da hast du Recht. Aber es geht noch. Ich traue es mir zu.“ Er gab ihr einen Kuss und fuhr sanft durch ihre Haare. „Also, was willst du haben?“
    „Am liebsten Erdbeere oder etwas anderes mit Früchten“, lenkte sie schließlich ein. Er nahm sein Handy heraus und tippte eine Notiz hinein, damit er es bis zum Bäcker nicht vergessen würde.
    „Ich mach schon einmal etwas Kaffee“, sagte sie, während er ihr einen Kuss auf die Wange gab und dann aus der Wohnungstür verschwand. „Bis gleich!“, rief er ihr noch zu, ehe er die Treppe herunterging und das Haus verließ.


    Das Wetter war heute außerordentlich gut. Der Regen hatte sich verzogen und der Wind auch. Gute Voraussetzungen also, um die letzten fünf Tage in Köln noch zu genießen, ehe es dann wieder zurück nach Helsinki ging. Er hatte am Morgen mit Veikko telefoniert, der ihm versichert hatte, dass das Haus noch stand und ihr Hund Toivo bei ihm in besten Händen war. Er hatte auch über einen Mordfall berichtet, der aber nicht wirklich spannend war und den selbst er in seinem derzeitigen Zustand wohl gelöst hatte. Aber vermutlich hatte sein Freund den Fall gerade deshalb ausgewählt, damit er ein kleines Erfolgserlebnis hatte. Er stopfte die Hände in seine Hosentaschen und lächelte. Heute war ein guter Tag, trotz allem. Er hatte kaum Kopfschmerzen gehabt und fühlte sich auch nicht so müde, wie in den letzten Tagen. Vielleicht könnte er das ausnutzen und am Abend Eva zum Essen ausführen? Ben würde doch sicherlich Oskari für ein paar Stunden nehmen, er machte immerhin kaum Arbeit. Er wollte gerade sein Handy aus der Tasche ziehen, um nach einem guten Restaurant zu suchen, als durch einen plötzlichen Stoß und einem lauten Schrei aus den Überlegungen gerissen wurde.

  • Semir handelte instinktiv, als er sah, wie dicht hinter Mikael ein Mann lief, den der Jüngere nicht zu bemerken schien. Der Deutschtürke sprang aus dem nur noch langsam fahrenden Auto und rannte los. Fast im gleichen Moment schien der Unbekannte ein Messer zu zücken, die lange Klinge glitzerte im fahlen Sonnenlicht. Ohne nachzudenken, was sein Handeln bedeuten würde, warf sich Semir zwischen die beiden Personen, schubste Mikael weg und empfing den Stoß, der eigentlich für seinen Freund bestimmt war. Ein brennender Schmerz breitete sich von seinen Rippen in seinem ganzen Körper aus. Es ließ sich nicht ausmachen, wo sie begannen und wo sie aufhörten. Er drehte sich herum und blickte in die Augen des Angreifers, die vor Überraschung weit aufgerissen waren. Hinter sich hörte er, wie Mikael einen nicht zuordenbaren Laut von sich gab. Ein Schrei, ein Schluchzen. Irgendetwas dazwischen. Seine Beine wollten ihm nicht gehorchen, zitterten. Nein, sein ganzer Körper wollte es nicht. Der Mann stieß ihn zu Boden und er blieb auf den Rücken liegen.


    Er drückte die rechte Hand an die Stelle, von wo der Schmerz ausging. Er fühlte warmes Blut an seinen Fingern und als er die Hand hob, war sie rot. Er hörte Geräusche. Stimmengewirr brach um ihn herum aus. Jemand rannte weg, eine andere Person kurz darauf hinterher. „Semir!“ Er versuchte, die Person zu fixierten, zu der die Stimme gehörte. Die Konturen waren unscharf, doch er glaubte, dass es Ben war. „Halt durch, ja?“ Er spürte klebriges, warmes Blut unter seinen Rücken fließen. Ben zog sein T-Shirt aus und presste es auf die Wunde. „Versuch wach zu bleiben. Bekommst du das hin?“


    Es war so kalt.


    „Semir!“ Ben tätschelte seine Wangen, rüttelte ihn sanft. „Bleib wach Semir! Versuch stark zu sein, für Andrea und die Kinder.“ Er riss die Augen auf, versuchte, sich zu konzentrieren, aber der Schmerz umhüllte ihn wie eine Blase. Er war zu müde. Er konnte nicht klar denken. Da waren nur diese Schmerzen, die nicht nachlassen wollten. „Hartmut. Renn ihnen hinterher und nimm meine Waffe und die Handschellen mit“, vernahm er Bens Stimme.
    „Aber … ich …“
    „Mach schon! Mikael ist dem Verrückten alleine hinterher!“
    Kurz darauf hörte der Ältere erneut dumpfe Schritte auf dem Asphalt, die immer leiser wurden, ehe sie verstummten. Wie durch Watte hörte er, wie ein sein Freund einen Notruf absetzte. Wieder tätschelte Ben seine Wangen. „Mach keinen Mist, ja. Bitte!“, drang die verzweifelte Stimme zu ihm durch. „Du Idiot! Was springst du auch einfach dazwischen.“
    „Konnte … nicht zulassen, dass er stirbt …“, nuschelte er benommen. „Und du stirbst besser auch nicht, denn dann hilfst du ihm auch nicht! Das wird er sich nie verzeihen! Also durchhalten!“


    Die Schwärze breitete sich aus. Ganz langsam. Die Geräusche um sie herum wurden immer leiser. Er fühlte nichts. Wie konnte es sein, dass er nichts fühlte? Er sah Andreas Lächeln, so ehrlich und liebevoll. Er sah sich, wie er Ayda und Lilly im Garten spielte. War es das? Würde er sie nie wieder sehen? Die Schreie nach ihm wurden lauter. „Semir! Komm schon. Bleib hier!“ Das Blut lief immer weiter. Das Zittern wurde schlimmer, seine Muskeln bebten. Sein Atem ging so schwer, dass er am liebsten den Reflex unterbinden wollte Luft zu holen. Irgendwas stimmt nicht. Es fühlte sich an, als würde er ertrinken. „Scheiße! Bleib bei mir!“ Hatte er im Leben alles erreicht, was er wollte? Ihm wurde immer kälter. Es war, als könnte er spüren, wie das Leben aus seinem Körper sickerte. Die kalten Krallen des Todes zerrten an ihm und er war zu erschöpft ihnen zu widerstehen. „Semir! Bitte!“


    Ich sterbe, waren seine letzten Gedanken, ehe alles Schwarz wurde.


    Bens Verzweiflung wuchs mit jedem Atemzug. Er spürte unter seinen Fingerkuppen, wie das warme Blut das T-Shirt bereits durchtränkt hatte. Einzig das Adrenalin in seinem Körper sorgte dafür, dass er nicht in diesem Augenblick die Kontrolle verlor. Die Finger seiner rechten Hand suchten nach dem Puls. Er war schnell und kaum tastbar. „Bitte Semir. Jetzt nicht aufgeben!“ Sein Freund hatte vor einer gefühlten Ewigkeit das Bewusstsein verloren, aber dennoch sprach er weiter auf ihn ein, flehte ihn an, weiter durchzuhalten. Er konnte Semir nicht verlieren. Er würde nicht zulassen, dass er so ging. Es war doch alles seine Schuld. Er hätte es verhindern können – nein, verhindern müssen. Hätte er nur nicht an Mikael gezweifelt. Oder hätte er im Auto schneller geschaltet als Semir. Immerhin war er doch der Einzige, der verzichtbar war. Er hatte keine Familie. Er hätte dazwischen springen müssen.


    Ein Rettungswagen näherte sich mit heulender Sirene und Ben sah, wie sich das Blaulicht neben ihnen auf den Asphalt abzeichnete. „Hörst du Semir, die sind hier. Bald wird alles gut.“ Er hörte eilige Schritte, aber erst als jemand ihn am Arm fasste und sanft beiseite zog, überließ er ihnen das Feld. Mit zitternden Beinen trat er einige Schritte zurück und blickte auf das Bild vor ihm. Ein Sanitäter hatte weiße Kompressen auf die Wunde gelegt, die sofort begannen, sich mit Blut vollzusaugen. „Se … mir“, entkam es ihm leise, während er zusah, wie die Männer um das Leben seines Freundes kämpften.

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  • Mikael rannte die Straße hinab in die Richtung, in der er den Unbekannten hatte verschwinden sehen. Er konnte ihn sehen, doch er hatte schon einen beachtlichen Vorsprung. Er dachte Nichts. In seinem Kopf schien Leere zu herrschen. Seine einzigen Gedanken, die er hatte, drehten sich darum, dass er diesen Mann unter keinen Umständen entkommen lassen würde. Der Täter schwang sich über eine Eingangspforte, durchquerte den Vorgarten, hechtete am Ende des Grundstückes über eine Hecke, rannte über eine Rasenfläche an dem nächsten Haus vorbei, auf einen Müllcontainer und überwand das nächste Hindernis. Der Finne spürte, wie ihm das Herz schnell gegen die Brust schlug. Sein Atem ging immer schneller und sein Körper hatte den Drang stehen zu bleiben, doch sein Kopf und sein Herz entschieden sich dagegen. Dieser Mann hatte Semir ein Messer in den Körper gerammt. Er musste ihn einfach bekommen, koste es, was es wolle! „Bleiben Sie endlich stehen!“, schrie er außer Atem. Doch der Mann hörte nicht. Er rannte einfach weiter. Mikael holte langsam auf, hatte schon ein Drittel seines Vorsprungs wettgemacht und dann kam ihm ein hoher Bauzaun zur Hilfe. Der Flüchtige blieb wie angewurzelt stehen und drehte sich mit starrem Blick um. Sie sahen sich in die Augen. Blut tropfte an ihrem Messer herunter gleichmäßig zu Boden, wie das Ticken einer Uhr. Spannung lag in der Luft. „Wieso?!! Wieso haben Sie das getan!“, schrie Mikael.
    Der Mann lachte. „Ich? Du warst es, der schuld ist! DU!“ Wild und unbeherrscht stürzte der dunkelhaarige Mann auf ihn zu. Er täuschte mit dem Messer links an, um dann rechts mit der Faust so wuchtig zuzuschlagen, dass Mikael fast den Halt mit den Füßen verlor. Sofort stieß er mit dem Messer zu und bohrte es in seinen Oberarm. Schmerzen schwappten durch sein Nervensystem und er gab sich Mühe nicht laut aufzuschreien. „Wer bist du?“, zischte er. Er griff nach dem Arm seines Angreifers, doch dieser drehte sich heraus und wollte abermals zustechen. Mikael konnte sich zwar dieses Mal schnell genug zur Seite drehen, doch die Klinge traf ihn dennoch am Unterarm.
    „Wer ich bin? Denk doch nach! Du hättest das alles verhindern können, aber du musstest ja in dieser Nacht dort aufkreuzen!“ Der Mann lachte. „Und nun willst du mich damit unter Druck setzen. Mich erpressen, mir meine Freiheit nehmen!“ Mikael verstand erst nicht, was er meinte. Verstand nicht, was er da gesagt hatte. Es klang zu verrückt. Zu abgedreht. Doch dann war ihm mit einem Schlag klar, wer da vor ihm stand. Der Mann, den er in der Nacht gesehen hatte! Der Mörder dieser Frau. „DU!“, stieß er wütend aus. Er preschte nach vorne und versetzte dem überraschten Flüchtigen einen Fausthieb. Er taumelte einige Meter zurück, doch fand schnell wieder die Balance.


    „Du wirst bezahlen!“, schrie Mikael. „Ich werde dich nicht Davonkommenlassen!“ Immer wieder versuchte der Schwarzhaarige einen Angriff, doch sein Konkurrent schien ihm überlegen. Mikael war schwindelig, übel, aber das Verlangen nach Rache schien ihn übermenschliche Kräfte zu verleihen. Sein rechter Arm brannte wie Feuer und er spürte das warme Blut auf seiner Haut. Sein Sichtfeld flimmerte. Er musste es schnell beenden. Er versetzte dem Mann einen Fußtritt gegen den Arm und versuchte ihm so das Messer zu entreißen. Vergebens. Das Messer raste erneut auf ihn zu und verfehlte nur knapp seine Brust. Er bekam das Handgelenk zu fassen, aber sein Gegner rammte ihm die linke Hand gegen die Wunde an der Schulter. Für einen Augenblick wurde der Arm taub und sein Griff lockerte sich wieder. Er sah das überhebliche Grinsen. Nein. Davon würde er sich nicht beirren lassen. Sein Griff wurde wieder härter und er verdrehte seinem Angreifer das rechte Handgelenk, bis es knirschte. Er ließ das Messer fallen und blitzschnell nahm er es in seinen Besitz. Dann wirbelte er ihn herum, rammte ihm sein Knie in den Rücken und nagelte ihn so auf der Straße fest. „Was machst du jetzt, du Arschloch!?“ Mikael atmete hektisch ein und aus. Er rollte ihn auf den Rücken und hielt dem Unbekannten das Messer an die Kehle. „Du hast dich mit den Falschen angelegt!“ Die Augen des Unterlegenden zuckten nervös nach rechts und links. Seine Unterlippe bebte und Mikael spürte sein Zittern. „Nenn mir einen guten Grund, weshalb ich dich nicht auf der Stelle umbringen sollte! Du hast meinen Freund angegriffen! Du hast ihn …“ Er wagte nicht, die Worte auszusprechen. Nein, Semir konnte nicht tot sein. Er musste leben. Der Mann blieb stumm, sah ihn mit ängstlichen Augen an. „Sag schon!“, schrie er wütend. Er drückte das Knie fester gegen die Brust des Mannes. „Sag!“ „Er … ich … er ist in den Weg gesprungen. Ich kann nichts dafür!“, kam es leise.
    „Du hast doch die Klinge geführt, oder nicht! Also bist du es, der die Schuld trägt!“ Wie eine Explosion breitete sich in Mikael eine Welle aus Wut aus. Dieser Mann hatte dafür gesorgt, dass er einmal mehr etwas verlieren könnte, was ihm wichtig war. Rache wütete wie ein Orkan in seinem Herzen. Er brauchte nur etwas fester zu drücken und dann würde der Scheißkerl bekommen, was er verdiente. Gleichzeitig wurde sein Sichtfeld irgendwie enger, als würde er in einen tiefen, finsteren Tunnel getrieben. Er kniff die Augen zusammen, um den Schwindel zu vertreiben. Dann sah in die braunen Augen des Angreifers. Der Überheblichkeit war Angst gewichen. Er lachte. „Jetzt bist du nicht mehr so selbstsicher was?!“




    Hartmuts Blick war starr vor Entsetzen. Endlich hatte er Mikael und diesem Typen in den vielen Seitenstraßen und winkeligen Ecken der Wohnsiedlung gefunden, doch dieses Bild hatte er nicht erwartet. Der Finne beugte sich über den Flüchtigen und presste ihn das Messer an den Hals. In seinen Worten war nur noch Wut zu erkennen. Wut und Verzweiflung. Mikael Atmung war schnell, von seiner Schulter breitete sich Blut aus, welches ab und an auf die Brust des Mannes tropfte. Hartmut atmete einige Mal tief durch. „Mikael. Tu es nicht!“ Obwohl die Stimme des KTUlers unsicher und dünn klang, löse der Angesprochene für einen Augenblick die Augen von dem Mann unter sich und sah ihn an. „Du kannst das nicht verstehen … ich … ich muss doch meine Freunde beschützen.“
    „Aber wenn du ihn jetzt so bestrafst. Dann bist du nicht besser als er.“
    Mikael sah wieder weg, starrte auf die Hand, die das Messer fest umklammert hielt. „Er wird für seine Verbrechen bestraft. Du bist Polizist, du bist kein Mörder!“, fügte Hartmut an.
    „Du hast doch keine Ahnung, wer ich bin!“ Hartmut beobachte, wie der Schwarzhaarige immer wieder für einige Sekunden die Augen schloss. Dann lockerte sich gleichzeitig jeweils das Messer vom Hals des Mannes. War das wegen des Blutverlustes von der Stichwunde? Nein, das konnte nicht sein. Er hatte zwar viel Blut verloren dadurch, aber nicht so viel. Die Kopfverletzung, natürlich, kam es ihm in den Sinn. „Glaub mir Hartmut, du willst es nicht wissen! Du willst nicht wissen, wozu ich fähig bin!“, holte ihn die Stimme des Finnen zurück aus seinen Gedanken.
    „Bitte. Mikael. Wenn du es tust, zerstörst du dich selbst und auch deine Familie. Du hast doch eine Frau, ein Kind.“ Hartmut ging langsam einige Schritte auf das Paar am Boden zu. „Willst du nicht bei deinem Sohn sein, wenn er aufwächst?“
    „Ich …“ Eine Träne löste sich aus dem Augenwinkel und mit einer plötzlichen schnellen Bewegung sprang Mikael auf, entfernte sich fast angewidert von dem Mann auf den Boden. Dieser schien von den letzten Minuten selbst so überfordert, dass er sich keinen Zentimeter rührte. Ohne groß nachzudenken, warf sich Hartmut jetzt auf den Mann. Er griff mit zittrigen Fingern nach den Handschellen, die ihm Ben mitgegeben hatte, und ließ sie um die Handgelenke zuschnappen. Dann zog er den Mann mit sich nach oben. Hartmut sah auf Mikael. Er stand einfach nur da und blickte auf die Stelle, wo sie vorhin gehockt hatten. „Mikael?“ Nur langsam suchten die blauen Augen den Blickkontakt. „Ich … es …“
    Der Techniker wusste nicht, was er erwidern sollte. Er kannte diesen Menschen doch kaum. Welche Geste könnte ihm helfen? Was sollte er unternehmen? „Semir wird es schaffen, da bin ich mir sicher“, brachte er schließlich mit dünner Stimme heraus. Er war sich selbst nicht so sicher, ob Semir es tatsächlich schaffen würde. All das Blut. Er merkte, wie sich die Angst in seinem Körper ausbreitete. Nein, er musste jetzt sein Bestes gegeben, dass er nicht in Panik geriet. Alles würde ein gutes Ende nehmen. Semir würde es packen und sie hatten den Typen.

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