Gefährliche Höhen!

  • Es war Winter geworden. In Köln war es feuchtkalt und ungemütlich. Für Schnee war es eigentlich zu warm, aber trotzdem gab es immer wieder Unfälle durch überfrierende Nässe, Spaziergänger glitten aus und brachen sich Knochen, die allgemeine Stimmung war gereizt, denn in wenigen Wochen war Weihnachten, die Weihnachtsmärkte begannen gerade ihre Buden auf zu bauen und die Geschäfte hatten schon bald den zweiten Monat die Weihnachtsdekoration in den Auslagen und der allgemeine Vorweihnachtsstreß holte die Kölner mehr und mehr ein.


    Nach einem schweren Stromunfall hatte Ben sich gut erholt und düste bereits wieder mit Semir über die Autobahnen. „Oh Mann-ich bin fast froh, wieder in der Arbeit zu sein!“ vertraute er seinem Partner an. „Mia-Sophie ist so brav, die schläft eigentlich schon von Anfang an durch, Tim ist in sein neues Kinderzimmer mit Begeisterung eingezogen-er hatte sich doch dieses Bett, das aussieht wie ein Rennauto, gewünscht und seitdem gibt es für ihn nichts Schöneres als da drin zu schlafen-außerdem kommt der nach mir, der schläft morgens schön lang und weil Sarah ja noch stillt, kann ich sonst leider gar nichts machen!“ erzählte er Semir mit einem breiten Grinsen und der boxte ihn gegen den Oberarm. „Gibs zu, du hast deinen Sohn bestochen, dass der so lange schläft, damit du auch liegen bleiben kannst!“ vermutete er und Ben entwich nun ein Lachen. „Das wenn so leicht ginge, aber wider Erwarten sind wir trotz eines Kleinkinds und nem Säugling viel weniger gestresst, als wir gedacht hatten!“ erzählte er und schwärmte danach davon, wie schön es wäre, ein wenig außerhalb zu wohnen, morgens nur die Tür aufzumachen, damit der Hund in den Garten konnte und lange Spaziergänge über die Felder zu machen. „Sarah hat bereits viel Anschluss bei anderen jungen Familien gefunden, da gibt es ne Menge Kinder im Alter wie unsere beiden und irgendwie bin ich mir da während der Zeit als ich noch krank geschrieben war, immer ein wenig fehl am Platz vorgekommen, wenn die anderen jungen Mütter bei uns zu Kaffee und Kuchen vorbeigekommen sind, die sich über Babycremes, musikalische Frühförderung und die Wahl des geeigneten Kindergartens unterhalten haben. Das ist gerade Sarah´s größtes Problem-in welchen Kindergarten sollen wir Tim nächstes Jahr mit drei geben, wo kriegen wir noch einen Platz, wird es ihm dort gefallen, ist es nicht doch noch zu früh-oder zu spät?
    Weisst du was-ich war der glücklichste Mensch, als ich vor zwei Wochen endlich wieder zur Arbeit durfte. Mit dir über die Autobahn zu düsen, hier nen Strafzettel, dort ne Verfolgungsjagd, das ist einfach mein Leben. Meine Narben zwicken zwar manchmal noch, aber ansonsten geht es mir einfach in unserem gemeinsamen Alltag am Besten-ich habe mich langsam schon in der Küchenschürze am Herd stehen und Kuchen für Sarah´s Freundinnen backen sehen, aber das ist einfach nichts für mich!“ erklärte er seinem Freund und der schmunzelte vor sich hin. Ja Ben als Hausmann war schlecht vorstellbar und so war auch er glücklich und zufrieden, dass der Alltag sie wieder hatte.


    Als sie nach der Streifenfahrt in die PASt kamen, wurden sie von der Chefin zur Besprechung gerufen. Alle Anwesenden versammelten sich vor der Videowand und nun wurden ihnen einige Bilder von Leichen gezeigt, die man aus dem Rhein gefischt hatte. Auch wenn alle Beamten solche Anblicke eigentlich gewöhnt sein sollten, hörte man ein Würgen und Jenny war kurz davor, sich auf den Fußboden zu übergeben. Es handelte sich um drei fremdländisch wirkende Männer, erschreckend abgemagert und alle verstümmelt. Sie trugen nur einige dünne Fetzen am Leib, hatten aufgesprungene Hände und Füße und viele Geschwüre am Körper. Aber das Schlimmste waren die aufgerissenen Münder, die alle etwas gemeinsam hatten-den Männern war die Zunge herausgeschnitten worden. „Oh Gott-ich hoffe, das wurde wenigstens erst nach ihrem Tod gemacht!“ flüsterte Ben entsetzt, aber mit Kummer in den Augen schüttelte die Chefin den Kopf. „Nein-wie aus dem Bericht des Gerichtsmediziners hervor geht, wurden die Männer gefesselt und vor ihrem Tod gefoltert, bevor sie dann im Rhein ertränkt wurden. Was noch auffällig ist: Die Verletzungen an Händen und Füßen sind Erfrierungen, die bereits mindestens ein bis zwei Wochen vor dem Tod erfolgt sind. Das ist jetzt vielleicht kein spezieller Fall für die Autobahnpolizei, aber ich wollte, dass sie Bescheid wissen und einfach die Augen offen halten. Die Ausländerbehörde ist informiert, aber es liegen aktuell keine Vermisstenanzeigen vor, die man mit den Männern, von denen vermutlich keiner über vierzig ist, in Verbindung bringen könnte. Die Mordkommission ermittelt natürlich hauptsächlich, aber man will der Öffentlichkeit die Details vorenthalten, damit keine Panik ausbricht. Hier sind grausame Mörder und Sadisten am Werk und letztendlich ist es ja egal, wer die überführt und festnimmt, ach ja und es handelt sich um mehrere Täter, denn die Fesselungen wurden laut der Gerichtsmedizin von unterschiedlichen Menschen vorgenommen-denn jeder knüpft Knoten anders!“ fügte sie noch hinzu-aber das hatten sie alle schon in der Polizeischule gelernt.
    Betroffen gingen sie nun alle ihrer Arbeit wieder nach, niemand hatte einen speziellen Auftrag bekommen, aber natürlich würde man auf Dinge achten, die einem merkwürdig vorkamen und die Kollegen bei ihrer Arbeit unterstützen. Bestien, die so etwas anderen Menschen antaten, musste ermittelt, gefasst und weggesperrt werden, egal von welcher Abteilung!


    Als Semir und Ben wenig später einen Schnellfahrer nach einer kurzen Verfolgungsjagd, die Semir und Ben beiden extrem Spaß gemacht hatte-was sie aber vor der Chefin nie zugeben würden, zur Kasse gebeten hatten, sinnierte Ben ein wenig über die Opfer. „Die Ertränkten waren vielleicht auch Familienväter, haben ihre Frauen und Kinder geliebt, sind einer Arbeit nachgegangen und haben sich gewünscht in Ruhe und Frieden alt zu werden.“ überlegte er. „Hoffentlich gelingt es den Kollegen bald die Täter zu überführen!“ hoffte er, ohne zu ahnen, welche Rolle er persönlich in dieser Geschichte spielen sollte.

  • Am nächsten Morgen fuhren Semir und Ben gemütlich auf Streife, als in einem Bereich der Autobahn, in dem die Geschwindigkeit wegen einer Baustelle auf 80 km/h beschränkt war, plötzlich ein gelber Ferrari an ihnen vorbei brauste. Ben, der heute am Steuer seines Mercedes saß, warf Semir einen kurzen Seitenblick zu, der nickte und griff mit der Hand nach dem Haltegriff und schon trat Ben das Gaspedal durch. Obwohl er binnen Kurzem bereits 160 km/h drauf hatte, hatte er Mühe den Sportwagen, der auch noch riskant fuhr, schnell aus-und einscherte und so manchen anderen Verkehrsteilnehmer zum Abbremsen zwang, einzuholen. Allerdings hatte Ben das Blaulicht eingeschaltet, wich auch manchmal auf den Seitenstreifen aus und nach wenigen Kilometern fuhr der Ferrari nun doch an einer Ausfahrt rechts ran, als Ben ihn überholte und im Heckfenster des Mercedes: „Stop-Polizei“ aufleuchtete. Die Scheiben waren verdunkelt und Semir und Ben waren nun beide aus dem Mercedes gestiegen, um sich den Raser vorzuknöpfen.


    Als sich nun allerdings die Flügeltüren nach oben automatisch öffneten, blieb Ben, der gerade das Wort ergreifen wollte, die Sprache weg, denn aus den Sportsitzen schälte sich eine extrem hübsche, dunkelhaarige Frau Ende zwanzig, die mit schuldbewusstem, aber auch leicht laszivem Lächeln die Sonnenbrille nach oben schob und sich katzengleich aus dem Auto wand. Sie war beinahe ebenso groß wie Ben, überragte also Semir um fast zwei Köpfe, hatte eine Figur, die einem den Atem raubte und war in ein schwarzes, eng anliegendes Outfit gekleidet, das jeden Millimeter ihres wundervollen Körpers vorteilhaft zur Geltung brachte. Nachdem Ben dieses brünette, exotische Prachtweib nun mit dümmlichem Gesichtsausdruck und offenem Mund musterte, die ihm ein gewinnendes Lächeln zuwarf und dabei flötete: „Oh Herr Wachtmeister-war ich zu schnell?“ ohne dass Ben darauf nur einen Pieps erwiderte, ergriff Semir die Initiative. Er zog seinen Ausweis und sagte hart. „Hauptkommissar Gerkhan, Kripo Autobahn und das hier ist der Herr Jäger, ebenfalls Hauptkommissar-und ich würde sagen, ja sie waren eindeutig zu schnell. Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte!“ schnarrte er und versetzte Ben wie zufällig einen Rempler in die Seite, was den langsam wieder zum Denken brachte und verhinderte, dass ihm die Augen aus dem Kopf fielen. Er atmete tief durch und stammelte dann: „Ja-in der Baustelle war auf 80 km/h begrenzt, haben sie das nicht gesehen?“ und wieder suchte die dunkelhaarige Frau, die nun mit Schwung ihre seidigen langen Haare in den Nacken warf, nur Ben´s Blick, senkte dann schuldbewusst die Augen zu Boden und hauchte: „Du liebe Güte-nein, oh Gott ist das schlimm?“


    Bevor Ben ihm in den Rücken fallen konnte, antwortete Semir: „Es könnte zum Beispiel bedeuten, dass sie in nächster Zeit ein wenig Rad fahren oder zu Fuß gehen, damit sie in Zukunft besser auf die Verkehrszeichen achten!“ und damit nahm er die Papiere entgegen, die die Frau aus einem kleinen Designertäschchen zog, das sie umgehängt hatte und ihm hinstreckte, ohne dabei Ben aus den Augen zu lassen. Semir studierte den Fahrzeugschein und den Personalausweis und schickte Ben dann rigoros zum Mercedes mit der nachdrücklichen Bitte, man konnte eher sagen Anordnung: „Überprüfe doch bitte mal, ob gegen die Dame was vorliegt!“ und wie wenn er aus einer Hypnose erwachen würde, setzte sich sein Partner in Bewegung, aber immer noch war das Lächeln auf seinem Gesicht fest gefroren. Gegen die Frau, die laut Papieren Estelle Winkler hieß und in einem Kölner Nobelviertel wohnte, lag nichts vor, der Wagen war auf ihren Ehemann Karl Winkler, Immobilienmakler, zugelassen und mit dieser Aussage der Zentrale kam Ben zurück zum Ferrari, wo die Dame derweil fröstelnd die Arme um ihren Oberkörper geschlungen hatte, denn sie war einfach zu kühl angezogen. Ihre Brustwarzen hatten sich unter dem engen Outfit deutlich aufgerichtet und Ben konnte schon wieder den Blick beinahe nicht davon wenden, bis Semir die Papiere zurückgab, in amtlichem Ton sagte: „Sie können weiter fahren, aber sie bekommen Post von uns!“ und dann Ben grob zum Dienstwagen zerrte.

    Als sie darin saßen, die Frau sich wieder elegant und katzengleich in den Sportsitz des Ferrari gewunden, die Flügeltüren sich geschlossen hatten und sie-diesmal in gemäßigtem Tempo- auf die Autobahn zurück gefahren war, drehte sich Semir zu Ben um und hielt ihm erst einmal eine Standpauke: „Also hör mal-was sollte das gerade?“ fragte er einigermaßen fassungslos. „Anstatt ordentlich deine Arbeit zu machen hast du die Frau mit deinen Blicken beinahe ausgezogen. Vergiss nicht, du bist verheiratet und hast zwei süße Kinder mit deiner absolut hinreißenden Sarah. Lass die Finger von fremden Weibern und konzentriere dich lieber auf deine Arbeit!“ forderte er und Ben senkte schuldbewusst den Kopf zu Boden. „Ich hab doch nur gekuckt!“ flüsterte er, während er den Motor anließ und ebenfalls auf die Autobahn zurück fuhr.
    Der Vormittag bot weiter nur Routine und als Semir später im Büro die Anzeige gegen die Raserin fertig machte, ertappte er Ben, wie der die Internetseite von Winkler´s Firma aufgerufen hatte, wo auch ein Bild des etwas dicklichen und bereits kahlköpfigen Mittfünfzigers zu sehen war. „Was macht so eine Frau mit einem derart hässlichen Mann?“ murmelte Ben und Semir trat hinter ihn, drückte resolut auf die Tasten des Computers, damit das Bild verschwand und sagte: „Das hat dich nicht zu interessieren, aber vielleicht macht Geld einfach attraktiv!“ und dann gingen sie zum Mittagessen.

    Kurz vor Feierabend sagte Ben zu seinem Partner: „Äh Semir-bitte erzähl Sarah nichts davon, wie blöd ich mich heute Morgen benommen habe!“ und Semir winkte ab. „Na wenn du nur wieder normal bist-Appetit darfst du dir ja holen, aber gegessen wird daheim!“ und nun lachten die beiden befreit auf. Jeder fuhr zu seiner Familie nach Hause und bis kurz vor Weihnachten war eigentlich nur noch Routinearbeit zu erledigen.
    Der Anwalt Winkler´s hatte die Anzeige nieder geschlagen, weil angeblich das Baustellenschild mit der Geschwindigkeitsbegrenzung wegen der Witterungslage nicht zu lesen gewesen war und vom Wind ein wenig weggedreht gewesen sei, aber sowas kam ständig vor und war das tägliche Brot der Autobahnpolizisten. Diesmal hatten sie die Raserin eben nicht drangekriegt, aber sie oder ihre Kollegen würden sie schon noch erwischen, wenn sie nicht seitdem vernünftig fuhr und dann würde die Anzeige Hand und Fuß haben.


    Die Ausländerbehörde hatte eine Menge Asylanträge vorliegen, man wusste teilweise nicht, wie die Menschen alle nach Köln gekommen waren und die Stadt suchte verzweifelt nach leer stehenden Wohnobjekten, wo man die Asylbewerber bis zur Prüfung ihres Antrags unterbringen und versorgen konnte. Sarah, die sich trotz ihrer beiden Kinder begonnen hatte, sozial in der Flüchtlingshilfe zu engagieren und Deutschkurse im Gemeindehaus ihres Vororts zu geben, fragte Ben: „Meinst du nicht, wir sollten unsere Stadtwohnung, die wir ja nicht unbedingt brauchen, zur Verfügung stellen?“ aber da hatte Ben rigoros abgelehnt. „Hör mal-das ist ne hochwertige Wohnung, meinst du, ich lasse mir die von Asylanten kaputt machen?“ fragte er und Sarah hatte still geschwiegen-so etwas hatte sie sich fast gedacht, dass er da nicht einverstanden war. Allerdings gab sie viele Dinge an die Flüchtlinge weiter, die sie nicht mehr brauchte und es machte sie glücklich, wenn ein syrisches Kind sich über ein Spielzeug freute oder eine afrikanische Mutter neue Kleidung für ihr Neugeborenes bekam. Sie und Ben hatten beschlossen, dass zwei Kinder genug waren und deshalb gab sie alles wo Mia-Sophie raus gewachsen war, sofort weg und so klein die Kinder noch waren-sie hatten sowieso schon viel zu viel und sowas verdarb den Charakter. Aber viel mehr als jedes Geschenk wog bei den Flüchtlingen, die oft Schreckliches hinter sich hatten, die Freundlichkeit Sarah´s, die ihnen das Gefühl gab, etwas wert zu sein.

  • So rückte Weihnachten heran und Sarah und Ben waren schon ganz aufgeregt, denn sie hatten für Semir und Andrea ein tolles Geschenk vorbereitet, denn Semir hatte der kleinen Familie vor wenigen Monaten das Leben gerettet, war dabei selber verletzt worden und dafür wollten sie sich besonders bedanken. So hatten sie in einem Familienhotel mit Kinderbetreuung in den Lechtaler Alpen eine Woche für sie alle gebucht. Die Chefin war eingeweiht und hatte zwar schweren Herzens, weil dann zwei Hauptkommissare fehlten, aber doch verständnisvoll zehn Tage Urlaub für beide genehmigt, so dass sie nach Weihnachten starten und nach Neujahr zurückfahren konnten. Sie würde also miteinander Silvester in den Bergen feiern. Sarah hatte da so ganz harmlos mit Andrea darüber geplaudert, wie schön doch ein Winterurlaub in den Bergen sei und Andrea hatte aufgeseufzt und gemeint: „Das mag schon sein, aber durch unseren Hauskauf ist sowas für uns viel zu teuer! Wir werden unseren Weihnachtsurlaub wie jedes Jahr zuhause verbringen, gehen mit den Kindern mal schwimmen oder sie dürfen ein paar Tage zu den Großeltern, aber ansonsten ist einfach relaxen daheim angesagt und vielleicht könnten wir mal zusammen zum Eislaufen gehen!“ plante sie und Sarah hatte einfach genickt.
    Semir hatte von Ben´s Urlaubsantrag auch nichts mitbekommen und war der Überzeugung, der müsse zwischen den Jahren arbeiten und so hatten sie sich am Heiligabend mittags herzlich verabschiedet. Sie konnten beide um zwölf Feierabend machen, denn die Nachmittagsschicht machten in der PASt die Beamten die keine kleinen Kinder hatten, das war seit vielen Jahren stillschweigend so eingeführt und Jenni und Bonrath hatten sich freiwillig gemeldet, damit die Kollegen mit Familie zuhause sein konnten. Aber auch in der PASt wurde ein bisschen gefeiert, man hatte Plätzchen, Stollen und Kinderpunsch vorbereitet. Hartmut hatte zwar frei, war aber trotzdem gekommen und so plätscherte der Heiligabend ohne eine Katastrophe auf der Autobahn dahin.


    Für Mia-Sophie, die gerade mal knappe drei Monate alt war, war es das erste Weihnachtsfest und sie sah mit großen Augen auf den glitzernden Baum, beobachtete ihren Bruder, der die Geschenkverpackungen aufriss, dass die Fetzen nur so flogen und danach glücklich mit seiner Holzeisenbahn spielte. Man hatte Lieder gesungen, Ben hatte die Gitarre hervorgeholt und als das obligatorische „Stille Nacht“ verklungen war, hatte Ben selbstvergessen noch selbst komponierte Songs geklimpert und gesummt, das Baby hatte in der Wippe gestrampelt und Sarah das leckere Essen fertig gemacht, das sie schon seit dem Vortag vorbereitet hatte. Lucky nagte an dem Knochen, den er geschenkt bekommen hatte und Sarah freute sich an einem wundervollen modernen Schmuckstück und Dekoartikeln für die Terrasse, die sie sich gewünscht hatte. Ben hatte von Sarah eine schöne neue Gitarre bekommen, aber am meisten freuten sie sich, dass sie alle wieder gesund waren, die Kinder wohlauf und sie in ihrem Gutshaus das erste Weihnachtsfest ohne Störungen verleben durften.


    Für den nächsten Tag waren sie mit den Gerkhans bei denen zuhause zum Kaffee verabredet und da würden sie ihr Überraschungsgeschenk überreichen und freuten sich schon auf die Gesichter der Freunde. Aber zuvor nötigte Sarah Ben regelrecht, noch mit ihr zu ihren Schützlingen zu gehen. Die Asylsuchenden waren in zwei umgebauten alten Bauernhäusern untergebracht und obwohl schon ziemlich viele Menschen auf engem Raum lebten, waren das trotzdem bessere Wohnverhältnisse als in der Innenstadt, wo man die Menschen in Turnhallen und Containern untergebracht hatte, mit wenig Privatsphäre und teilweise schlechten hygienischen Verhältnissen. Als sie mit einer ganzen Tüte Geschenken das erste Wohnhaus betraten, wo die syrischen Familien untergebracht waren, liefen die Kinder schon freudestrahlend auf Sarah zu, die sogleich begann die Geschenke zu verteilen. In ihrem Glauben gab es zwar kein Weihnachtsfest, aber Geschenke konnte man doch immer brauchen und auch Ben, der das Baby auf dem Arm trug, konnte sich der Fröhlichkeit der Kinder nicht entziehen. Sarah hatte für die Frauen Modeschmuck besorgt, für die Männer Zigaretten und Handschuhe und die augenscheinliche Freude der Menschen berührte Ben zutiefst. Tim begann auch sofort mit einem der kleinen Jungs zu spielen, die kannten sich schließlich bereits und in diesem Alter gab es noch keine Nationalitäten. Man bedankte sich sogar schon auf Deutsch und brachte so Sarah zum Strahlen und sie wären sofort zum Tee eingeladen worden und auch geblieben, wenn sie nicht später zu den Gerkhan´s gefahren wären.
    Im zweiten Haus waren die afrikanischen Familien untergebracht und auch da waren sie von der Fröhlichkeit, dem gemeinsamen Lachen und Singen geflasht. Diese Menschen hatten ihre Heimat verloren, oft Familienangehörige entweder zurück gelassen oder auf der Flucht sterben sehen. Sie wurden hier von vielen gemieden und schief angesehen, die befürchteten, dass der eigene Wohlstand darunter leiden könnte, dabei war das Quatsch, denn erstens war Deutschland ein reiches Land und zweitens konnte man dem Fachkräftemangel anders überhaupt nicht begegnen, als Menschen anderer Nationalitäten hier einzusetzen, auszubilden und so dafür zu sorgen, dass das Sozialsystem erhalten blieb, Rentenbeiträge gezahlt wurden und die Gesellschaft nicht überalterte. Man musste eben die Zeit überbrücken, bis die Asylanträge bearbeitet waren und die meisten der Zuwanderer wollten nichts lieber als arbeiten und aus eigener Kraft ihre Familien unterhalten und am besten auch noch eine finanzielle Unterstützung an die Zurückgebliebenen in der Heimat senden. Integration war das Zauberwort und Ben wurde jetzt erst bewusst, welch wichtige Arbeit seine Frau da leistete und als er jetzt plötzlich ein wunderhübsches schwarzes Baby auf seinem anderen Arm fand, das ihn mit großen Kulleraugen anstrahlte, da schmolz sein Herz vor Begeisterung und er begann zur großen Freude der Mutter mit den beiden Säuglingen zu schäkern und Ben tat es beinahe leid, als Sarah dann zum Aufbruch mahnte, denn sonst würden sie zu spät zu ihren Freunden kommen. Als sie die Kinder in ihren Sitzen verstaut hatten und in ihrer Familienkutsche los fuhren, sagte Ben zu seiner Frau: „Sarah-du machst da etwas ganz Tolles und ich stehe voll hinter dir!“ und Sarah musterte ihren Ben nun mit einem feinen Lächeln von der Seite, na also, sie hatte doch geahnt, dass er so denken würde. „Ich liebe dich!“ sagte sie voller Insbrunst und er sah kurz zur Seite, deutete ein Küsschen an und erwiderte: „Ich dich auch!“


    Bei den Gerkhan´s angekommen, wünschte man sich frohe Weihnachten, die Kinder bekamen ebenfalls kleine Geschenke und Andrea hatte auch für Tim und Mia-Sophie etwas eingepackt. Die Erwachsenen hatten eigentlich ausgemacht sich nichts zu schenken und so setzten sie sich zunächst zum Weihnachtskaffee und unterhielten sich. Irgendwann stand Ben auf und holte einen Prospekt aus der Tasche. „Ach ja-was macht ihr eigentlich übermorgen?“ fragte er scheinheilig. „Würdet ihr uns den Gefallen tun und uns ein wenig begleiten?“ fuhr er fort und Semir und Andrea sahen ihn fragend an. „Wohin denn?“ wollte Semir wissen- „ich dachte du musst arbeiten?“ aber Ben schüttelte den Kopf und ließ dann die Bombe platzen. „Ich wünsche mir von euch Vieren zu Weihnachten, dass ihr uns in die Berge in ein Familienhotel begleitet. Alleine macht das nur halb so viel Spaß und wir haben das schon länger gebucht. Ich will jetzt nicht hören, dass ihr das nicht annehmen könnt-ihr wisst, dass wir finanziell gut dastehen und mein Vater hat erst kürzlich wieder eine größere Summe rüberwachsen lassen, weil von dem für Julia und mich festgelegten Geld der Oma was frei wurde. Im Augenblick gibt’s eh kaum Zinsen, also machen wir uns lieber einen schönen Urlaub miteinander, alle können Skikurse belegen-na ja außer vielleicht unser Zwerg- es gibt Rundumbetreuung für Kinder allen Alters, der Wellnessbereich lässt auch nicht zu wünschen übrig und Sarah und ich wollen endlich mal wieder auf die Piste. Mein Vater stellt uns zwei Geländewagen der Firma mit Allrad zur Verfügung. Sein Geschäft ist jetzt erst mal geschlossen-Baugewerbe halt- dann sind wir auch bei Schnee und Eis mobil. Jetzt machen wir noch aus, wann wir abfahren, wir können ab elf im Hotel einchecken und so würde ich vorschlagen, wir starten in der Nacht, damit die Kinder im Auto schlafen!“ plante er und Andrea und Semir starrten ihn nur sprachlos an. „Das, das können wir nicht annehmen!“ stammelte Andrea, aber Ben sagte unnachgiebig: „Wenn ihr das ausschlagt, habt ihr mein Weihnachtsfest versaut!“ und so blieb den Gerkhan´s nichts anderes übrig als zuzustimmen und als Ayda und Lilly begriffen hatten, wo es hingehen würde, brachen sie in Jubelstürme aus. Schnee, Skifahren, Rodeln-ach es würde herrlich werden!

  • Am nächsten Tag, dem zweiten Weihnachtsfeiertag packten beide Familien ihre Koffer. Lucky wurde zu Hildegard gebracht, denn Hunde waren zwar generell im Hotel erlaubt, durften aber weder ins Kinderparadies noch den Wellnessbereich und auf die Piste konnte man sie auch nicht mitnehmen. Da Ben ja kein Interesse am Langlaufen hatte, wo er ihn vielleicht noch hätte mitnehmen können, hatten sie beschlossen, ihn zu ihrer zuverlässigen Kinderfrau zu geben. Die hatte einen Golden Retriever und der und Lucky waren die besten Freunde, so dass es für den Deerhound nicht schlimm war, wenn er mal ein paar Tage nicht bei seiner Familie war. Sie gingen erst mit Hildegard gemeinsam zum Essen zu einem noblen Italiener, brachten ihr gleich noch ihr Weihnachtsgeschenk und verabschiedeten sich dann von ihr. „Am dritten Januar würden wir Lucky dann wieder abholen!“ informierte Ben sie und Hildegard winkte ab. „Macht euch deswegen keine Sorgen- der stört ja nicht und Frederik freut sich immer riesig, wenn sein Kumpel zu Besuch ist. Ich wünsche euch einen schönen Urlaub und freue mich, wenn meine beiden Goldstücke“ -und damit bedachte sie Tim und Mia-Sophie mit einem liebevollen Lächeln- „bald wieder bei mir zu Besuch sind.“
    Am Rückweg sammelten sie noch Semir auf und nahmen ihn zum Platz mit, wo die frisch aufgetankten und sauber geputzten Geländewagen für sie bereit standen, damit man die gleich mit dem Gepäck beladen konnte und nachdem die beiden Kisten abfahrtbereit waren, legten sich Semir und Ben, die es sich nicht nehmen ließen die ganze Strecke zu fahren, aufs Ohr, damit sie in der Nacht ausgeruht waren.


    Um Mitternacht trugen alle ihre schlafenden Kinder in die Fahrzeuge und bei ekligem kalten Nieselregen in Köln und Temperaturen kurz über dem Gefrierpunkt ging die Reise los. Man fuhr Convoi, obwohl natürlich jeder Wagen mit Navi ausgestattet war und die Schneeketten im Kofferraum bereit lagen, aber so machten sie an den selben Raststätten Pause, Sarah stillte dort und als die Kinder sich am Morgen zu regen begannen, sahen sie ungläubig aus dem Fenster, denn inzwischen waren sie im Allgäu angelangt, neben den Straßen türmten sich Schneeberge und ansonsten war alles weiß und als die Sonne über die ersten Alpengipfel spitzelte, waren die Städter entzückt von dem wundervollen Bergpanorama, dem strahlend blauen Himmel und einer Landschaft wie aus dem Prospekt.
    Sie hielten hinter Schongau an einem kleinen Gasthof an, nahmen dort ein wunderbares Frühstück ein, die Kleinen wurden gewickelt und Ayda, Lilly und Tim wollten am liebsten gleich statt ihren Jogginganzügen ihre Schneeanzüge anziehen und im Schnee toben, den sie in Köln ja nicht so sehr häufig hatten, vor allem nicht in den Weihnachtsferien. Sie wurden noch ein wenig vertröstet, aber eine kleine Schneeballschlacht ging trotzdem und so hielten sich die Fragen: „Sind wir bald da?“ dann doch in Grenzen-außerdem wären sie tatsächlich in guten zwei Stunden am Ziel und das war auszuhalten.
    Man fuhr an den Königsschlössern vorbei und während Tim noch ein Morgenschläfchen hielt, erzählte Andrea den Mädchen, die gebannt lauschten, Geschichten von König Ludwig dem Zweiten, der dort gelebt hatte und so verging die Zeit wie im Flug. Semir lobte im Geist Ben´s Voraussicht mit den Geländewagen-ohne Allrad hätten sie Schneeketten aufziehen müssen, aber so pflügten die schweren Fahrzeuge mit der Firmenaufschrift sicher über die schneebedeckten Fahrbahnen und schraubten sich nach einer wundervollen Strecke durch das Tiroler Lechtal entlang des Gebirgsflusses, den man auch mehrmals überquerte, die Serpentinen hoch, bis sie kurz vor dem Hochgebirgsort Lech abbogen und ihr Ziel erreichten.


    Das Hotel war die Wucht und obwohl sie sogar ein wenig zu früh waren, konnten sie ihre Zimmer doch gleich beziehen, denn die vorigen Gäste waren bereits zeitig abgereist-die hatten eine lange Heimreise vor sich. Endlich steckte man die Kinder, die es schon kaum mehr erwarten konnten, in ihre Schneeanzüge und wenig später tobten die auf dem hoteleigenen Spielplatz, der auch gut eingezäunt war, damit so Zwerge wie Tim nicht verloren gingen. Semir und Ben waren mit den Kids draußen und Andrea und Sarah räumten derweil das Gepäck in die Schränke, dann ging man zum Mittagsbüffet, das einfach wunderbar war und auch viele Speisen für Kinder, wie Pommes, Spaghetti und Schnitzel bot und danach wurden die Kleinen, außer Mia-Sophie, den professionellen Betreuern anvertraut, die einen vertrauenerweckenden Eindruck machten und die Kinder sofort in ihren Bann zogen.
    Aufatmend traf man sich im gut beheizten Wellnessbereich, schwamm ein wenig im großen Pool, setzte sich in den warmen Whirlpool, in den auch das Baby mit einer Schwimmwindel mitdurfte und dann entspannten die Urlauber auf den bequemen Liegen, das wunderbare Bergpanorama, die Lifte und die Pisten vor sich, während die Kleine zufrieden auf einer Decke vor sich hinstrampelte und gluckste und mit den Händen nach ihren kleinen Füßen griff. Sarah ermahnte Ben: „Zieh eine trockene Badehose an, damit du dich nicht erkältest“, denn sie hatte schon einen frischen Badeanzug an, aber Ben lachte sie nur aus. „Früher hatte ich nur eine einzige Badehose dabei, wenn wir schwimmen waren-wir Männer sind da nicht so empfindlich wie ihr Frauen!“ behauptete er und so hielt Sarah die Klappe-das musste er selber wissen, er war schließlich erwachsen.


    Am nächsten Tag sollte es für alle auf die Piste gehen, die Ausrüstung würden sie sich im Hotel leihen und die Kinder würden am sogenannten „Zwergerlhügel“ gleich mal einen Kinderskikurs kriegen, auch Tim, der ein kleiner Kamikaze war und vor nichts Angst hatte. Sarah und Ben waren geübte Skifahrer, wobei Sarah nur eine kurze Abfahrt machen würde, weil sie dann zurück zu ihrem Baby gehen würde und Andrea und Semir sollten auch die ersten Schritte auf Skiern unter Anleitung eines Skilehrers probieren. „Wenn euch das nicht gefällt, kann man hier auch wunderbar langlaufen, aber ihr müsst das wirklich mal probieren!“ bestärkte Ben sie und Andrea und Semir wechselten einen Blick-mal sehen ob ihnen das taugte! Aber wenn nicht, war das auch egal-hier konnte man sich auf jeden Fall erholen!
    Als die Kinder mit geröteten Bäckchen zu ihnen stießen und auch noch kurz schwimmen durften, bevor man zu Abend aß und die Zwerge dann todmüde ins Bett fielen, während sich die Erwachsenen-bewaffnet mit jeweils einem Babyphon je Suite-zu einem abendlichen Umtrunk trafen, stellten sie übereinstimmend fest, dass trotz der anstrengenden Anfahrt der erste Tag schon sehr erholsam gewesen war. Das würde eine tolle Woche werden!


    Das Familienoberhaupt der Familie Kesenci hatte alles vorbereitet. Sie würden nun aus ihrer Heimat fliehen und ihr Glück im fernen Deutschland suchen. Einige Glaubensbrüder der syrisch-orthodoxen christlichen Minderheit hatten dort eine neue Heimat gefunden und würden ihnen beim Neuanfang zur Seite stehen. Sie mussten hier weg, denn ihr Dorf, das kurz vor der Stadt Aleppo gewesen war, war vor wenigen Tagen von den Milizen der IS dem Erdboden gleichgemacht worden. Das seit dem arabischen Frühling von 2010/2011 im Chaos versunkene Syrien war für sie nicht mehr tragbar, obwohl sie die Heimat nur ungern verließen. Die IS-Milizen hatten die Frauen vergewaltigt, einige Brüder und Söhne umgebracht und sie waren ihres Lebens nicht mehr sicher. Sie hatten alles verloren, nur die Papiere und Bargeld, sowie das, was sie am Leibe trugen, hatten sie retten können. Ein professioneller Schleuser hatte versprochen, sie nach Köln zu bringen und ihnen dafür einen Großteil ihres Geldes abgeknöpft und so begann die lange Flucht über die türkische Grenze auf einem LKW mit Planenverdeck. Wenn alles gut ging, würden sie in etwa einer Woche in ihrer neuen Heimat sein, aber der Weg dahin würde kalt und beschwerlich werden.

  • Am nächsten Morgen wachten die Urlauber gut erholt auf und nach einem herrlichen Frühstück am Buffet, bei dem Ben sich beherrschen musste, nicht so viel zu essen, dass er sich nicht mehr bewegen konnte, wurden die Skiausrüstungen angepasst. Extra für die Babybetreuung war eine junge Mutter aus der Gemeinde angestellt, die die frisch gestillte Mia-Sophie übernahm, für alle Fälle ein Teefläschchen bereit hielt, aber normalerweise hielt die morgens locker drei bis vier Stunden durch und diese Zeit wollte Sarah nutzen, um endlich mal wieder Ski zu fahren. Sie hatte –wie Ben-mehrere Skikurse belegt und der hatte mit Vater und Schwester jeden Winter zwei Wochen in einem Luxushotel verbracht und war da früher viel gefahren. So gingen die beiden alleine los und nachdem direkt beim Hotel ein Skilift vorbei ging, waren sie in kürzester Zeit auf der Piste und rauschten gemeinsam eine schwierige Abfahrt hinunter.


    Die Kinder kamen in die Zwergerlskischule und lernten spielerisch Bögen und Schneepflug und auch der kleine Tim rutschte voller Freude den Hang hinunter. Ayda wurde dann einer Gruppe älterer Kinder zugesellt, wo die Technik bereits unterrichtet wurde, während bei Tim und Lilly das Spiel im Schnee im Vordergrund stand. Die Kinder waren mit Begeisterung bei der Sache, zwischendurch gab es warmen Tee und Brötchen und die Betreuer kümmerten sich so um die Kids, dass die ihre Eltern keine Sekunde vermissten.
    Andrea und Semir bekamen einen eigenen Skilehrer und übten fast ein wenig verschämt anfangs ebenfalls am Zwergerlhang und beobachteten neidvoll aus der Entfernung mit welcher Selbstverständlichkeit ihre Kinder den Hügel hinunterrutschten und binnen Kurzem sicher auf den Brettern standen, während sie beide sich anstellten, wie die letzten Menschen. Andrea sagte einmal atemlos zu Semir, nachdem sie sich gerade wieder aus dem Schnee gewühlt hatte: „Ich dachte das heisst Skifahren und nicht Skifallen?“ und so sehr sie sich auch bemühten-der richtige Spaß an der Sache wollte sich nicht einstellen. Nach drei Stunden, in denen der Skilehrer sich wirklich alle Mühe gab, schaffte Semir, der körperlich einfach auch gewandter als seine Frau war, es eine kleine Abfahrt im Schuss hinunter zu sausen, aber das mit dem Bremsen funktionierte nicht so toll, so dass er statt einem eleganten Schwung wie die geübten Skifahrer, irgendwie die Bretter verkantete und schon wieder auf dem Hosenboden saß. Sie lachten zwar viel, stellten nach drei Stunden aber übereinstimmend fest, dass Skifahren wohl nie ihr großes Hobby werden würde. „Vielen Dank-wir haben es probiert, aber ich glaube wir lassen das einfach!“erklärte Andrea dem ein wenig frustrierten, aber trotzdem immer freundlichen Skilehrer und der empfahl ihnen dann, doch einfach auch mal zu rodeln, oder Schneeschuhwanderungen zu machen. Auch Langlaufen könnten sie noch versuchen und so kamen sie zur Mittagessenszeit wieder im Hotel an.
    Ihre Kinder waren glücklich und berichteten aufgeregt von ihren Erlebnissen auf der Piste, Sarah war mit geröteten Wangen und ebenfalls zufrieden gerade dabei ihre Tochter zu versorgen, die sehr brav gewesen war und als Letzter kam Ben, der sich nur mühsam hatte losreißen können, denn der Rausch der Geschwindigkeit auf den wundervoll präparierten Pisten hatte ihn voll erfasst. Das war einfach seins, da elegant ins Tal zu fahren und obwohl er auch schon länger nicht mehr auf den Brettern gestanden hatte, hatte er sich sofort wieder zuhause gefühlt und konnte gar nicht verstehen, dass seine Freunde nicht ebenso begeistert waren, wie er.


    „Wir werden es uns nachmittags im Hotel gut gehen lassen, vielleicht noch ein wenig spazieren gehen, aber das mit den Abfahrtsskiern-das wars!“ erklärten Andrea und Semir übereinstimmend und Sarah sagte: „Es war wunderschön mal wieder zu fahren, aber für heute habe ich genug und bleibe ebenfalls im Hotel-morgen früh gehe ich wieder auf die Piste!“ und so trennten sich am Nachmittag die Wege. Andrea und Semir buchten gleich mal eine Ganzkörpermassage und ließen sich verwöhnen, Sarah machte mit Tim und dem Baby ein Mittagsschläfchen, Ayda und Lilly gingen sofort nachmittags wieder raus in den Schnee, wohin ihnen Tim folgte, sobald er ausgeschlafen hatte und dann machten sich die Erwachsenen einen gemütlichen Nachmittag mit Schwimmen, Lesen und Ausruhen.


    Ben allerdings zog es mit Macht wieder auf die Skier. Wenn er schon in den Bergen war, wollte er es ausnützen! Als er gerade ziemlich riskant auf einer schwarzen Piste einen vereisten Steilhang hinunter preschte, wäre er beinahe mit einer Skifahrerin kollidiert. Sie konnten beide zwar einen Zusammenprall vermeiden, aber trotzdem landeten sie mehr oder weniger unsanft auf dem Hosenboden. Ben, der genau wusste, dass er der Frau sozusagen die Vorfahrt genommen hatte, denn auch auf den Skipisten gab es strenge Regeln wie im Straßenverkehr, entschuldigte sich und half ihr hoch, nachdem er selber gewandt aufgestanden war. Als er sie unter Helm und Brille ansah, durchfuhr es ihn wie ein Blitz-das war doch die Raserin im gelben Ferrari, die sie vor einigen Wochen aufgehalten hatten! Auch sie erkannte ihn sofort und sagte mit tiefer gurrender Stimme: „Na-Herr Wachtmeister-auch nicht immer vorschriftsmäßig unterwegs?“ und er errötete, ohne dagegen etwas machen zu können. Nach einem kurzen Lachen fuhren sie gemeinsam ins Tal und an fahrerischem Können stand ihm Estelle Winkler in nichts nach. Sie ließen sich wieder gemeinsam im Sessellift nach oben ziehen und wie schon bei ihrer ersten Begegnung verdrehte die attraktive Frau ihm erneut den Kopf. Bei angeregtem Geplauder und rasanten Abfahrten verging der Nachmittag und als es langsam dämmrig wurde, stellten sie überrascht fest, dass sie im selben Hotel Quartier bezogen hatten. „Wir haben zwar keine gemeinsamen Kinder, aber mein Mann ist dort schon seit vielen Jahren Stammgast!“ erzählte sie ihm und Ben gab sich nun einen Ruck und sagte: „Meine Frau und ich haben zwei Kinder, zwei Jahre und drei Monate alt-für uns ist das ideal!“ und Estelle flüsterte ihm nun provokant ins Ohr: „Ein Partner ist ein Grund, aber kein Hindernis!“ und zwinkerte ihm verschwörerisch zu-aber das war ihm jetzt doch unangenehm, diese offensichtliche Anmache.

    Er wartete kurz, bevor er das Hotel betrat und nachdem er im Skikeller seine Ausrüstung abgelegt, seine Familie begrüßt hatte und noch schnell unter die Dusche gesprungen war, trafen sich alle beim abendlichen Buffet. Tim aß mit Appetit, aber danach fielen ihm sofort die Augen zu und als Sarah die Kinder ins Bett brachte, ließ Ben seine Blicke durch den Speisesaal schweifen und entdeckte auch bald Estelle und ihren Mann, der in echt noch wesentlich unangenehmer aussah, als auf der Internetseite. Semir war seinem Blick gefolgt und sagte überrascht: „Wen haben wir denn da? Ist das nicht unsere Raserin im gelben Ferrari?“ und Ben nickte, ohne zu erwähnen, dass er das durchaus schon wusste. Andrea hatte auch die Mädchen zu Bett gebracht und so gönnten sich Semir und Ben an der Bar noch einen kleinen Drink, bevor ihre Frauen, bewaffnet mit den Babyphones, wieder zu ihnen stießen. Bei angeregtem Geplauder verging der Abend, allerdings hatte Ben dann doch noch Lust einen kleinen Saunagang zu unternehmen, denn die Saunen waren bis Mitternacht geöffnet.

    „Beim besten Willen-ich habe heute keine Lust mehr zu schwitzen!“ sagte Semir und die anderen pflichteten ihm bei und so zog Ben alleine los, entledigte sich in der Umkleide seiner Klamotten und betrat, das Handtuch über dem Arm, die schummrige finnische Sauna. Gerade hatte er auf der obersten Ebene zu schwitzen begonnen-die Sauna gehörte ihm aktuell ganz alleine-da öffnete sich die Tür und Estelle schlüpfte-ebenfalls splitterfasernackt herein. Ben versteifte sich innerlich, als sie ihn im Halbdunkel provokant musterte, den Blick zwischen seinen Beinen kurz verweilen ließ und dabei ihren Luxuskörper betont zur Schau stellte und sich wie unbewusst an den Busen fasst und sich dort ein wenig rieb. Verdammt-was sollte er machen? Klar war diese Frau attraktiv, aber er liebte Sarah und noch vor einigen Jahren hätte er vermutlich nichts gegen eine kleine Affäre einzuwenden gehabt, aber heute sah die Sache anders aus. Gott sei Dank betrat nun Estelle´s Mann, der einen deutlichen Schmerbauch und teigige Haut hatte, nach ihr die Sauna, sie breiteten beide ihre Handtücher auf der unteren Ebene aus und als Ben noch eine kurze Zeit gewartet hatte, beließ er es bei diesem einen Saunagang, wälzte sich zur Abkühlung einmal draußen im Schnee und zog sich nach einer kurzen Dusche wieder an.
    Als er wenig später neben Sarah ins Bett schlüpfte, küsste er sie in den Nacken und sie drückte sich daraufhin im Halbschlaf an ihn. Er streichelte sie ein bisschen, wobei das mit dem Sex jetzt ungünstig war, weil die Kinder neben ihnen schliefen, aber trotzdem erkundete er mit den Händen ihren Körper, wo die leergetrunkenen Brüste gerade ein wenig hingen, der Bauch von der Schwangerschaft noch ein wenig gewölbt und nicht so straff war-aber Sarah sah so aus, weil sie die Mutter seiner Kinder war, die ihn von Herzen liebte-und er sie auch-und so schliefen sie wenig später nach ein wenig Küssen und Streicheln ein.


    Die syrische Großfamilie war inzwischen auf verschlungenen Wegen auf dem LKW über Ankara nach Istanbul gereist. Dort fuhren sie mit einem Schiff über den Bosporus und wurden drüben von einem anderen Schleuser in Empfang genommen, von wo die Reise über Bulgarien nach Serbien weiter ging. Einmal mussten sie aussteigen und sich verstecken, während bosnische Zöllner das Fahrzeug durchsuchten, aber nach einem Fußmarsch mit Führer durch die Wildnis konnten sie nach einigen Kilometern in Bosnien ihr Fahrzeug wieder besteigen und die Reise ging weiter.

  • Am nächsten Morgen traf Ben beim Frühstücksbuffet wieder auf Estelle, die ihm einen verführerischen Blick zuwarf. Ben grüßte allerdings nur freundlich und beeilte sich mit seinem gefüllten Teller an ihren großen Tisch zurück zu kommen. Sarah, die gerade Tim in seinem Hochstuhl ein wenig beim Essen half, hatte den Blick genauso gesehen wie Estelle´s Mann, der daraufhin ein wenig die Augenbrauen hoch zog. Sarah fragte mit eisiger Miene: „Kennst du die Frau?“ und nachdem Ben einen Blick mit Semir gewechselt hatte, sagte er: „Ja-dienstlich!“ ohne weiter darauf einzugehen. Sarah antwortete nur „Aha!“ und Ben widmete sich jetzt intensiv dem Rührei mit Bacon auf seinem Teller und vermied es, nur in die Richtung zu kucken, wo die rassige Schönheit mit ihrem Mann saß und neben schwarzem Kaffee nur ein wenig Obst und Orangensaft zu sich nahm.
    „Fahren wir heute Morgen wieder zusammen?“ fragte Ben seine Frau und Sarah nickte. „Ich habe gestern noch ein paar tolle Abfahrten entdeckt, die muss ich dir zeigen!“ plauderte er betont gleichgültig und sah so nicht den stechenden Blick, den Herr Winkler ihm zu warf.



    Nach dem Frühstück beschlossen Andrea und Semir es heute mal mit dem Langlaufen zu probieren, die Kinder wurden von den Kinderskilehrern abgeholt und auf ihre Gruppen verteilt und Mia-Sophie kam wieder in die Obhut der jungen Frau, einer Erzieherin im Mutterschutz, die sich durch die Betreuung der Säuglinge im Hotel, die ja nicht der Regelfall waren, ein paar Euro dazu verdiente und ihre eigene Tochter dabei mitbringen durfte, was den beiden etwa gleichaltrigen Babys gut gefiel. Mia-Sophie fremdelte Gott sei Dank noch überhaupt nicht und so schlüpfte Sarah, nachdem sie ihre Tochter frisch gestillt hatte, ohne schlechtes Gewissen in ihre Skiklamotten und wenig später ließen Ben und sie sich bei eiskalter und klarer Bergluft unter strahlend blauem Himmel in der Kabinenbahn nach oben tragen. An der Bergstation waren die verschiedenen Pisten nach Schwierigkeitsgrad angeschrieben und Sarah und Ben als geübte Skifahrer wählten ohne Zögern die schwarze Piste, während Estelle und ihr Mann, die ebenfalls in der Gondel gesessen hatten, die blaue Piste-die einfachste Variation- nahmen.
    Nachdem Ben ja gestern gemeinsam mit der rassigen Schönheit mehrere schwarze Pisten bewältigt hatte, war das wohl Winkler, der nicht so gut fuhr und darauf bestand, dass seine Frau mit ihm gemeinsam gemütlich ins Tal wedelte, während Ben und Sarah gerade in den vereisten Steilpassagen all ihr fahrerisches Können brauchten, um heil unten anzukommen. Allerdings strahlte Sarah und war bedenkenlos der Ideallinie, die Ben vorgab, gefolgt. „Das war mal eine Abfahrt!“ sagte sie glücklich und nachdem sie noch eine zweite zusammen bewältigt hatten, kehrte Sarah wieder alleine ins Hotel zurück, während Ben noch eine weitere vor dem Mittagessen mitnahm.


    Als Sarah ins Hotel kam und Mia-Sophie sofort stillte, die inzwischen ganz schön Kohldampf geschoben hatte, hatte sie beim Hinaufgehen gesehen, dass Winkler in der Hotellobby ohne seine rassige Frau saß und anscheinend auf jemanden wartete. Als Ben mit geröteten Wangen und blitzenden Augen glücklich ein wenig später zum Mittagessen eintrudelte, sah er gerade noch, wie Winkler einem muskulösen Mann mit verschlagenem Gesichtsausdruck einen Briefumschlag überreichte, der dann um die Ecke verschwand und ohne dass Winkler es sah, dann anscheinend Geld zählte, das sich in dem Umschlag befand. Ben runzelte die Stirn-was wurde denn heute noch bar bezahlt? Aber dann dachte er nicht mehr daran und aß mit seiner Familie und seinen Freunden zu Mittag, lauschte den einfachen Sätzen von Tim, die aus zwei bis drei Wörtern bestanden und manchmal mit selbst erfundenen Vokabeln aufgefüllt wurden, aber durchaus flüssig und verständlich waren und freute sich an den Erzählungen von Lilly und Ayda, die den Skiurlaub sehr genossen und sich schon wieder auf das nachmittägliche Schneeabenteuer freuten. Ayda würde mit ihrer Gruppe heute zum ersten Mal mit dem großen Lift ein Stück nach oben fahren und eine richtige blaue Piste hinunterrutschen und Ben versprach, ihr dabei zuzusehen. Sarah konnte leider nicht mit, denn Tim fielen schon wieder die Augen zu und er musste dringend seinen Mittagsschlaf machen und auch sie genoss es, sich mit den Kleinen ein wenig hin zu legen, etwas zu lesen oder einfach vor sich hin zu träumen, denn zuhause nutzte sie diese Zeit meistens für den Haushalt.


    Andrea und Semir waren ein wenig lang gelaufen und das funktionierte jetzt tatsächlich besser als das Abfahrtsskifahren, aber den Nachmittag würden sie trotzdem wieder im Hotel im Wellnessbereich verbringen. Semir hatte noch einige moderne Fitnessgeräte entdeckt und Ben versprach, heute auch eher als gestern zu ihnen zu stoßen. Als er zwischendurch mal zur Toilette ging, brannte es und es kam ein wenig Blut-oh je, hatte Sarah wohl Recht gehabt, er hätte die Badehose doch wechseln sollen, aber nachdem er sich ansonsten wohl fühlte, maß er dem keine Bedeutung bei und schlüpfte später wieder voller Begeisterung in seine Skiklamotten.


    Wie versprochen sah er Ayda bei ihrer ersten richtigen Abfahrt zu, wedelte daneben her und lobte sie, als sie überglücklich im Tal ankam, wie gut sie das machte. „Ayda-du wirst mal eine richtig tolle Skifahrerin, wenn du so weiter machst!“ sagte er und während die Gruppe Kinder zurück ins Hotel ging, stieg Ben wieder in die Gondel und sah sich unversehens Estelle gegenüber, die ab sofort an ihm hing wie eine Klette. Heute war das Ganze nicht mehr so unbeschwert und Ben fühlte sich regelrecht belästigt, als sie ständig dort fuhr, wo er auch unterwegs war, sich in der Gondel eng an ihn drängte und ihn versuchte in Gespräche zu verwickeln. „Frau Winkler!“ sagte er deshalb nach einer Weile-obwohl sie sich gestern geduzt hatten. „Ich bin verheiratet und möchte mit meiner Familie meinen Urlaub genießen, nicht mehr!“ aber sie hörte deshalb nicht auf und so beschloss er, nun doch zurück ins Hotel zu gehen. Sarah und seine Freunde freuten sich, dass er schon zurück war und nachdem es draußen nun auch zu schneien begann, trafen sie sich bald alle miteinander im Wellnessbereich, schwammen, testeten die Fitnessgeräte, spielten mit ihren Kindern und unterhielten sich, während Estelle mit einem Cocktail in der Ecke saß und Ben mit hungrigen Augen musterte.
    Als nach einer Weile ihr Mann zu ihr stieß, bemerkte er durchaus die Blicke, mit denen seine Frau Ben und seinen durchtrainierten schlanken Körper in den-diesmal trockenen- Badeshorts betrachtete und sein Gesichtsausdruck wurde eisig. „Komm mit!“ sagte er grob, aber als er sie regelrecht aus dem Wellnessbereich zerren musste und sie wieder und wieder zurück sah, überkam ihn eine große Wut. Er musste etwas unternehmen, sowas ließ er sich nicht bieten! Estelle war sein Eigentum und als er sie im Zimmer nun zum Verkehr regelrecht zwang, sah sie teilnahmslos an die Decke und als er sie danach mit unterdrückter Wut in der Stimme fragte: „Denkst du gerade an den dunkelhaarigen Schönling, anstatt mir dankbar zu sein, dass ich dich aus der Scheiße gezogen habe und dir ein Leben in Luxus biete?“ gab sie keine Antwort und das war ihm Aussage genug. Er würde diesen Typen abservieren, der seiner Frau schöne Augen machte und den sie anscheinend hoch attraktiv fand. Er hatte sie schließlich aus diesem Stripclub geholt, ihr Manieren beigebracht, ihr Deutschunterricht erteilen und sie von den besten Schneidern einkleiden lassen, nachdem sie vor sechs Jahren illegal aus Südamerika ins gelobte Deutschland gekommen war. Nur durch ihre Heirat hatte sie ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik, ansonsten wäre sie sofort wieder abgeschoben worden und er hatte eine Menge Geld an den Clubbesitzer für sie bezahlt, aber bisher war sie es wert gewesen. Als sie jetzt wortlos unter die Dusche ging und ihm dabei einen hasserfüllten Blick zu warf, bemerkte er das durchaus, zündete sich aber dennoch befriedigt eine Zigarette an, obwohl das Rauchen im Hotelzimmer eigentlich verboten war. Er saß am längeren Hebel und das würde sie schon noch merken!


    Ben sauste derweil ziemlich häufig auf die Toilette, aber als sie zu Abend gegessen hatten, sprach er dem Weizenbier zu, dem wurde bei Blasenentzündung eine heilende Wirkung nachgesagt und als er- heute ohne Saunabesuch- neben seiner Frau im Bett lag, schnarchte er zunächst, bis Sarah ihm genervt die Nase zuhielt und er sich daraufhin umdrehte und endlich Ruhe einkehrte.


    Die syrische Großfamilie war derweil nach Slowenien eingereist und weil die Hauptroute durch den Karawankentunnel gerade streng kontrolliert wurde, bog der LKW nun Richtung Triest ab und so ging die Route auf verschlungenen Wegen, wieder mit einer Grenzüberquerung nach Italien zu Fuß, Richtung Bozen und Venedig zum Fernpass, denn der Brenner wurde gerade ebenfalls auf illegale Einwanderer nach Österreich geprüft und jeder LKW musste seine Ladung zeigen, obwohl das kilometerlange Staus nach sich zog. Ein gewiefter Schleuserring hatte aber Alternativrouten und für genügend Geld kam jeder nach Deutschland!

  • Der nächste Tag verlief ähnlich wie der Vorherige, nur dass am Nachmittag starke Schneefälle einsetzten, so dass man die Hand nicht mehr vor den Augen sah. So verließ auch Ben die Piste, gefolgt von Estelle, die wieder wie eine Klette an ihm geklebt hatte, obwohl er mit ihr nicht mehr als einige höfliche Worte gewechselt hatte. Inzwischen nervte sie ihn ganz gehörig und er wusste gar nicht mehr, warum sie ihn bei ihrer ersten Begegnung so beeindruckt hatte. Vermutlich war es dieser südländische Ausdruck gewesen, der so exotisch gewirkt hatte und so ganz anders als der seiner dunkelblonden Sarah war, die ihre sicher nordischen Vorfahren nicht verleugnen konnte. Nun aber waren ihm ihre offensichtlichen Anbiederungsversuche, ihr Augenzwinkern wenn er sie ansah, die lasziven Bewegungen, wenn sie die Sonnenbrille in ihre dunkle Mähne schob, fast ein wenig zuwider.
    Beim Nachmittagskaffee hatte er mit Sarah Klartext geredet: „Hör mal Sarah-diese Frau Winkler-ich hatte zwar beruflich mit der zu tun, aber ich kann auch nichts dafür, dass die mich immer so ansieht. Ich habe ihr gesagt, dass ich verheiratet bin-sie ist es ja auch-aber sie versucht trotzdem immer mit mir zu flirten. Nur damit du es weisst-ich will nichts von der, du bist die Liebe meines Lebens und bei uns drängt sich keiner dazwischen!“ hatte er ihr versichert und Sarah hatte genickt, aber ein kleiner Stachel des Zweifels war doch in ihrem Herzen zurück geblieben.

    Den Restnachmittag verbrachten sie komplett im Wellnessbereich des Hotels, die Kinder waren teilweise im Kinderparadies beschäftigt worden, die Größeren probten kleine Theaterstücke, die sie den Eltern vor dem Abendessen noch vorführten und Tim hatte einen gleichaltrigen Freund gefunden mit dem er selbstvergessen mit kleinen Autos spielte, wenn er nicht ebenfalls im Wasser planschte. Mia-Sophie war glücklich, wenn sie in ihrer Schwimmwindel mit Mama und Papa im warmen Wasser baden durfte und die anderen Hotelgäste bewunderten das entzückende Baby, dessen tiefblaue Augen jeden anstrahlten und dem bereits kleine blonde Löckchen zu wachsen begannen, während Tim ein kleines Ebenbild seines Vaters war, mit seinen haselnussbraunen Augen und den dunklen, ebenfalls leicht gelockten Haaren. Estelle heuchelte Zuneigung und bewunderte wie die anderen Gäste ebenfalls die Kinder, während sie ihren perfekt trainierten und makellos gebräunten Luxuskörper im Designerbadeanzug zur Schau stellte und an den Liegen im Ruhebereich vorbei zu ihrem Mann ging, der in der Ecke mit einer Zeitschrift lag und die Szene mit gerunzelter Stirn betrachtete. Sarah hätte sie am liebsten angesprungen und gekeift: „Hände weg von meinem Mann und meinen Kindern!“ aber sie hielt dann doch wohlerzogen die Klappe, immerhin hatte die fremde Frau ja gar nichts gesagt oder getan, was sie bemänteln konnte. Sie rief sich selber zur Ordnung, aber Eifersucht war etwas Schreckliches und wütete in ihr wie ein böses wildes Tier und als Sarah an sich herunter sah und ihren Bauch betrachtete, der von den erst kurz zurückliegenden zwei Schwangerschaften immer noch nicht wieder so flach und fest war, wie der ihrer Rivalin, musste sie schlucken.

    Herr Winkler hatte ebenfalls bemerkt, mit welchen hungrigen Augen Estelle den dunkelhaarigen, gut aussehenden Mann musterte-verdammt, er musste den beiseiteschaffen, ansonsten würde sie keine Ruhe mehr geben. Er hatte auch schon die beiden Fahrzeuge mit Düsseldorfer Firmenlogo draußen begutachtet und das Bauunternehmen Jäger gegoogelt-das war anscheinend der Juniorchef, aber Düsseldorf lag viel zu nah an seinem Wohnort Köln-er kannte Estelle-die würde Mittel und Wege finden da ein Verhältnis mit diesem Mann anzufangen und aufrecht zu erhalten. Deshalb zückte er ein wenig später sein Handy und nach dem Abendbuffet trat sein einheimischer Kontaktmann zum Wirt des Hotels und unterhielt sich mit dem, woraufhin der Wirt wenig später an den Tisch der Familien Gerkhan und Jäger trat und denen einen Vorschlag unterbreitete. „Gerade war ein Bergführer aus der Gemeinde bei mir und hat gefragt, ob hier im Hotel jemand Interesse an einer Schneeschuhwanderung hätte. Der Wetterbericht sagt für morgen wieder bestes Wetter und wir haben hier in Richtung des Kleinwalsertals einige wundervolle Höhentouren. Das ist allerdings schon anstrengend und ein wenig anspruchsvoll, man muss auch schwindelfrei sein, aber die Ausblicke sind einfach phantastisch!“ pries er an und Semir und Ben wechselten einen Blick. Sarah wehrte ab: „Ich bin zwar schwindelfrei, aber ich kann wegen dem Baby nicht so lange weg!“ und Andrea fügte hinzu: „Und ich bin raus, weil mir schwindlig wird, wenn ich runter schauen muss!“ und damit blieben nur die beiden Männer übrig. Allerdings hatten die große Lust dazu, denn sonst würden sie doch die letzten Urlaubstage immer nur dasselbe machen und so eine Höhentour klang überaus reizvoll. Ein weiterer Familienvater aus dem Hotel war auch noch dabei und so verabredeten sie sich mit dem Einheimischen am nächsten Tag nach dem Frühstück in der Hotellobby.
    Ben hatte zwar durchaus konstatiert, dass der Bergführer der Mann war, der von Winkler den Umschlag mit dem Bargeld entgegen genommen hatte, aber das war ihm jetzt egal-es ging ihn nichts an und so konnte er auch mal einen Tag den Nachstellungen der südamerikanischen Schönheit entkommen.
    Am Abend übernahmen Andrea und Semir mal für eine Weile das Jäger´sche Babyphon, so dass Ben und Sarah zusammen in die Sauna konnten und sie genossen das zunächst beide sehr, bis Estelle wie Gott sie schuf, wie ein Model ins Dampfbad trat und Sarah sofort ihren Bauch einzog und zickig wurde. So beendeten sie bald ihre Saunagänge, setzten sich wieder zu ihren Freunden und tranken noch etwas miteinander.


    Zu seiner Überraschung hatte sich Ben´s Blasenentzündung nicht verschlimmert, es kam zwar immer noch manchmal Blut beim Pinkeln, aber das Brennen hatte aufgehört und der Rest würde sich sicher auch wieder beruhigen. Er freute sich jetzt auf die Tour am nächsten Tag und als sie ein wenig später als sonst zu Bett gingen, trat Ben noch einen Moment auf den Balkon ihrer Suite und bewunderte den Mond, der hell über der imposanten Bergwelt thronte und den frisch gefallenen Schnee in ein unwirkliches Licht tauchte. Die Schneefälle hatten aufgehört und in der eisigen Luft war kein Ton zu hören. Sarah schmiegte sich an ihn und sagte: „Es ist einfach wundervoll hier!“ und Ben nickte. So standen sie Arm in Arm noch eine ganze Weile draußen, bis sie zu frösteln begannen und dann ins Bett gingen und sofort einschliefen.


    Der LKW mit der syrischen Flüchtlingsfamilie war nach dem Fernpass ins Inntal eingebogen. Die Straße folgte dem Verlauf des reißenden Gebirgsflusses, bis sie am Arlberg ankamen und den bekannten Skiort St. Anton hinter sich ließen. Nun schraubte sich der kleine LKW die schneebedeckten Serpentinen hinauf, durchquerte Zürs, dann Lech und erreichte schließlich Warth. Dann allerdings stand ein Schild auf der Straße: „Schröckenpass wegen Lawinenabgangs gesperrt“. Fluchend stieg der LKW-Fahrer aus. Normalerweise wäre er jetzt über den Bregenzerwald zum Bodensee gefahren und dort hätten die Flüchtlinge wieder zu Fuß die Grenze nach Deutschland überquert, danach hätte man sie erneut aufgeladen und sie wären noch am selben Tag an ihrem Zielort Köln angekommen. So aber musste Plan B herhalten und wie schon einige Gruppen vor ihnen, würden sie zu Fuß die Allgäuer Alpen überqueren, auf Wegen, die schon vor hunderten von Jahren die sogenannten „Schwabenkinder“ benutzt hatten und dann über das Kleinwalsertal, eine österreichische Enklave, die ansonsten nur über Deutschland zu erreichen war, in die Bundesrepublik einreisen. Der Vorteil war, dass niemand damit rechnete, dass aus diesem Tal jemand kam, der es nicht von Oy-Mittelberg aus, wo auch die Autobahn endete, betreten hatte und deshalb eigentlich überhaupt nicht kontrolliert wurde, während alle anderen Grenzübergänge ja wegen der Flüchtlingsproblematik vermehrt von der Bundespolizei überwacht wurden, so dass sich die Schleuser ständig etwas Neues einfallen lassen mussten. Das Wetter war zwar nicht ideal und die Ausrüstung der Flüchtlinge ließ auch zu wünschen übrig, aber da konnte man nichts machen-Hauptsache die Kohle stimmte!

  • Am nächsten Morgen versammelten sich die drei Schneeschuhwanderer nach einem ausgiebigen Frühstück vor dem Hotel. Sie hatten Funktionsunterwäsche an und darüber Schneehosen, ein Langarmshirt und Anoraks, dazu Mützen, Sonnenbrille und Handschuhe. Vom Hotel bekamen sie Schneeschuhe mit griffigem Alurahmen und Stöcke mit scharfen Spitzen, die auch auf Eis einen Halt boten. Das Schuhwerk waren wasserdichte Trekkingstiefel eine Nummer größer als sonst, mit zwei Paar Socken darin, während ihr Führer richtige eisenbeschlagene Bergstiefel anhatte. Semir musterte die hochwertigen Schneeschuhe, als man sie ihm anpasste-mit so etwas war er auch noch nie gelaufen, aber er freute sich auf die Tour in der eiskalten, klaren Bergluft. Jeder bekam noch einen Rucksack mit einem Lunchpaket und Getränken vom Hotel, darin hatten sie noch je ein T-Shirt zum Wechseln und Ersatzwandersocken verstaut, denn sie würden schwitzen-so viel hatte ihnen der Hotelbesitzer versichert. „Aber sie werden sehen-die grandiosen Ausblicke werden sie für die Mühen entschädigen!“ versicherte er seinen Gästen und die bestätigten alle, dass sie durchaus fit seien und sich gerne ein wenig plagen würden.
    Der Führer musterte seine Truppe und nickte zufrieden. Dann bat er sie in den Kleinbus des Hotels, mit dem sie zum Ausgangs- und Endpunkt der Wanderung fahren würden, die von Warth aus beginnen würde. Noch war das Hochgebirgstal ein wenig finster, denn die Sonne musste erst einen gewissen Stand am Firmament erreichen, um ihre Strahlen dort hinein zu schicken und so stiegen sie am Parkplatz aus, schlüpften in die extra für sie eingestellten Bindungen der Schneeschuhe und schon liefen sie los. Der dritte Mitwanderer hieß Knut und kam aus Hamburg, aber auch er wirkte fit und trainiert und so begannen sie in gleichmäßigem Tempo hinan zu steigen.


    Anfangs war es etwas ungewohnt, denn die Schneeschuhe wogen gute zwei Kilo, aber als sie die Technik dann heraus hatten, kamen sie zügig voran. Durch die scharfen Alurahmen, die wie Steigeisen wirkten, hatten sie auf Eis, aber auch Fels einen exzellenten Halt, die Stöcke verliehen ihnen zusätzliche Sicherheit und als sie die ersten Schneefelder überwanden, wurden ihnen die Vorteile der Schneeschuhe erst so richtig bewusst. Da der Schnee hier oben in manchen Passagen meterhoch lag, würde man normalerweise einsinken und käme im weichen Neuschnee nur mühsam voran. Weil aber durch die Schneeschuhe die Oberfläche vergrößert wurde, sanken sie nicht ein und bewegten sich so sicher über den Schnee. Der Schweiß begann zu fließen und Ben, der ja durchaus fit war, bewunderte den Bergführer, der katzengleich über den Schnee schnürte und anscheinend keine Müdigkeit kannte.
    Nach einer guten Stunde machten sie die erste Rast, tranken im Stehen etwas und genau da brach die Sonne über die Berggipfel und flutete das zurückliegende Tal mit ihren hellen Strahlen. Es war, als wenn man das Licht angeknipst hätte und die Wanderer sahen staunend auf die Häuser und Autos unter ihnen, die sich dort wie in einem Spielzeugland fortbewegten. Menschen wirkten wie Ameisen und Ben kam sich plötzlich angesichts dieser wilden, grandiosen Bergwelt ziemlich klein und unbedeutend vor. Ja so ein Erlebnis war sicher gut, um zu begreifen wie unwichtig eigentlich ein Einzelner war! So eine Wanderung würde so Manchem gut tun, z.B. dem Polizeipräsidenten, oder manchmal der Chefin, oder der Schrankmann. Als er Semir seine Überlegungen mitteilte, musste der herzhaft lachen. „Na dann schlag das denen doch mal vor, vielleicht bringts ja was!“ spöttelte er und nun musste Ben bei der Vorstellung grinsen, wie der etwas übergewichtige und nicht mehr ganz junge Polizeipräsident hier wie eine Dampflok herauf schnaufen würde.


    Dann gingen sie weiter und ihr Führer berichtete immer mal wieder an bestimmten Passagen, wo man uralte Wege erahnen konnte: „Seit dem Mittelalter bis etwa zum zweiten Weltkrieg wurden auf diesen und natürlich auch anderen Wegen im März die Bauernkinder der bitterarmen Familien in den Dienst in der Landwirtschaft oder in Haushalte nach Oberschwaben, die Städte im Allgäu und Bayern geschickt. Zu Josefi am 19. März gab es dort regelrechte Kindermärkte, auf denen die Dienstboten für die Saison, die bis Martini am 11. November ging, vermittelt wurden. Meist wurden die Bauernkinder zwischen sieben und vierzehn Jahren von einem Pfarrer begleitet, der auch die Vermittlung als Hütebuben, Helfer in der Landwirtschaft oder als Dienstmädchen übernahm. Mit schlechtester Ausrüstung überquerten die auf den Wegen, die wir gerade gehen, mitten im Winter die Alpen, manche kamen sogar bis aus Südtirol, aber da die Böden in den kargen Alpentälern nicht so viel Erträge abwarfen, dass man alle Kinder satt brachte, war das für viele Familien die einzige Möglichkeit zu überleben. Sie wurden dafür im neunzehnten Jahrhundert sogar von der Schulpflicht befreit und für Ausländer gab es in Deutschland ebenfalls keine Schulpflicht. So wurden hier ungebildete Arbeitssklaven herangezogen, die in ihrem Leben nichts als Heimweh, Hunger und Entbehrungen kannten und meist früh starben.“ berichtete er, aber den Zuhörern, denen bei der Vorstellung richtig schlecht wurde, denn sie waren ja alle Familienväter und konnten sich nicht vorstellen, wie man Kindern so etwas antun konnten, fiel auf, dass diese Erklärungen wie auswendig gelernt klangen. Keine Emotionen und kein Mitleid schwangen in der Stimme des Bergführers und so wanderten sie schweigend weiter.


    Nachdem ihr Ziel ja nicht die Gipfel waren, sondern die Wege an sich, durchwanderten sie Felsspalten, passierten hoch gelegene Schneefelder und ließen sich dann auf einer Anhöhe zur Mittagsrast nieder. Übereinstimmend sagten sie, dass das eine wunderbare Idee gewesen war mit dieser Wanderung, auch wenn der Führer jetzt recht einsilbig geworden war und einfach stur vorne weg schnürte und immer wieder die Hänge über ihnen musterte. Ben sah bedauernd den Tiefschnee an, auf dem von den vorangegangenen Schneefällen eine dicke Schicht Pulverschnee war. Hui-das wären Tiefschneeabfahrten, aber leider hatten sie ja keine Skier dabei und Semir würde das sowieso überfordern. Immer mal wieder hatten sie eine Pinkelpause gemacht, aber Ben hatte zwar das Gefühl zu müssen, aber auch wenn er presste, kamen bei ihm nicht mehr als ein paar trübe Tropfen. Oh je-hatte Sarah vielleicht doch Recht gehabt mit ihrer Blasenentzündung, aber noch ging es ihm ansonsten gut. So liefen sie einfach weiter und langsam begannen sie ihre Muskeln zu spüren und zu ermüden, während der Bergführer immer noch in gleichmäßigem Tempo weiter lief.
    Ben sah auf die Uhr. „Sollten wir nicht langsam umdrehen?“ fragte er, denn inzwischen war es fast drei geworden und die Nacht in den Bergen fiel ja genauso schnell, wie die Sonne aufging. Außerdem hatte der zuvor strahlend blaue Himmel sich jetzt begonnen zuzuziehen und ein Wettersturz war das Allerletzte, was sie jetzt brauchen konnten. „Nur noch ein kurzes Stück-dort vorne ist ein genialer Aussichtspunkt-wenn sie wollen, mache ich dann mit ihren Handys Fotos!“ beruhigte sie der Führer und so händigten ihm alle drei ihre Mobiltelefone aus, damit er sie von vorne knipsen konnte. Er machte ein paar Bilder und sagte dann: „Ich steige jetzt ein wenig nach oben, wegen der Perspektive. Wenn ich ihnen ein Zeichen gebe, überqueren sie miteinander diesen Hang und ich filme sie dann von oben. Man sieht dahinter die Wolkenformationen und das Bergmassiv, das werden klasse Aufnahmen und dann gehen wir zurück!“ redete er ihnen voller Begeisterung zu und begann selber flink wie eine Gämse nach oben zu steigen. Semir und Ben sahen sich an, so hoch wie der Typ inzwischen war, brauchte er ja ein Teleobjektiv, um da ordentliche Aufnahmen zu machen, aber egal-diese letzte Erinnerung noch und dann freuten sie sich auf das Hotel.


    „Heute Abend gehe ich noch in die Sauna zum Entspannen!“ beschloss Ben und die beiden anderen schlossen sich an. „Morgen ist dann das Silvesterdinner-da freue ich mich schon drauf!“ plapperte Knut und die beiden anderen, die inzwischen vom Warten begannen kalte Füße zu kriegen, stimmten ihm zu. „Ja mein erstes Silvester in den Bergen!“ sinnierte Semir-„bisher war ich da immer in der Stadt, manchmal habe ich auch gearbeitet, da ist das jetzt mal was ganz Besonderes!“ und kaum hatte er das gesagt, winkte ihnen der Führer, der sich mit dem ersten Handy oben positioniert hatte, zu. Sie begannen im Gänsemarsch das Schneefeld zu überqueren und waren kaum in der Mitte, da überkam Ben plötzlich ein ungutes Gefühl und gleichzeitig war so ein Tosen und Rauschen in der Luft und dann löste sich die Welt um sie herum auf und das los getretene Schneebrett riss sie mit in die Tiefe.

  • Die syrischen Flüchtlinge waren noch am Vorabend ausgeladen worden und gingen unter der Führung des einen Schleusers los in die kalte, feindliche Bergwelt. Auch sie nutzten die Wege der Schwabenkinder und ihre Ausrüstung unterschied sich nicht maßgeblich von der der Kinder, die dort über hunderte von Jahren gelaufen waren. Es war glatt, rutschig und gefährlich und die einzige Sicherung die sie hatten, war ein langes Seil, an dem man wenigstens die Kinder anband, damit sie nicht so einfach in die Schluchten stürzen konnten. Ihr Schuhwerk war nicht geeignet sie froren und kamen nur äußerst langsam voran. Als die Nacht hereinbrach, setzte sich der Schleuser, der sich der Wege nun doch nicht mehr so sicher war-in der Dämmerung sah es hier irgendwie überall gleich aus und die letzten Gruppen hatte er hier immer im Sommer hinüber begleitet- mit seinem einheimischen Verbindungsmann in Verbindung. Der kam erst ein Stück mit einem Schneemobil, aber als die Wege für das dann nicht mehr passierbar waren, zu Fuß und führte sie zu einem Biwak, das hier oben als Zwischenstation für Hochgebirgstouren und die Bergsteiger, die im Sommer rege die Fernwanderwege über die Alpen nutzten, eingerichtet war.
    Es war mehr oder minder eine natürliche Höhle an die man eine Tür gebaut hatte, damit der Schnee nicht herein blies. Darin befand sich ein Gasbrenner mit Ersatzkartuschen, den man zum Heizen und für die Beleuchtung verwenden konnte. Ein Paar Skier mit Stöcken standen bereit, es waren einige Decken, Planen und Schlafsäcke hier, zwar eigentlich viel zu wenige für die vielen Leute, allerdings hatten die Tee im Gepäck, es gab Töpfe, Verpflegungspackungen des Bundesheeres und Suppengrundlage und so konnten sie sich aus geschmolzenem Schnee eine warme Suppe und Tee kochen und die Notrationen knabbern und als alle eng zusammen rückten, wurde es doch ein wenig wärmer. Nach Absprache mit dem einheimischen Bergführer wurde ausgemacht, dass sie am nächsten Tag langsam weiter gehen sollten und dass der Mann mit den verschlagenen Augen, der erst noch einen anderen Auftrag von ihrem gemeinsamen Arbeitgeber erledigen musste, danach ihre Führung über die Allgäuer Hochalpenwege übernehmen würde. Es gab noch weitere Biwaks und er würde sich später auch darum kümmern, dass die wieder so hinterlassen wurden, wie sie sie vorgefunden hatten, incl. frischer Gaskartuschen und Proviant-das war in den Bergen so üblich.


    Eines der größeren Kinder hatte einen fürchterlichen Husten und bekam in der Nacht hohes Fieber, so dass das am nächsten Tag, als sie aufbrachen, getragen werden musste und sie deswegen nur sehr langsam voran kamen. Hoffentlich würde der einheimische Bergführer, der, nachdem er ihnen das Biwak gezeigt hatte, wieder abgestiegen und mit seinem Schneemobil durch die mondhelle Nacht ins Tal gebraust war, bald kommen, denn die beiden Schleuser waren Türken aus dem Flachland und deshalb mit den Bergen auch nicht vertraut. Der eine war mit dem 7,5-Tonner durchs Lechtal ins Tannheimer Tal gefahren und hatte dort in einem Gasthof übernachtet. In zwei Tagen etwa würde er die Truppe im Kleinwalsertal wieder aufnehmen. Er war sich sicher, dass er bis dahin noch mehrfach kontrolliert werden würde, aber man würde nicht mehr als einige Planen und Taschen auf seiner Ladefläche finden, so dass man ihn dann wahrscheinlich unbehelligt ausreisen und auf die A7 fahren ließ. Auch hatte er den Verdacht, dass da einige Zollbeamte und Polizisten, die die Schleierfahndung im Grenzgebiet machten, ebenfalls von ihrem Chef, dessen Identität ihm aber nicht bekannt war, geschmiert wurden-anders war es nicht erklärlich, dass sie nur immer dann kontrolliert wurden, wenn die Flüchtlinge gerade nicht im Fahrzeug waren. Sie mussten alle paar Stunden ihre Position durchgeben und bekamen manchmal auch kurzfristige Routenänderungen mitgeteilt. Erst wenn sie ihre Fuhre in Köln bei ihren dortigen Verbindungsleuten abgeliefert hatten, würden sie ihr Geld bekommen, denn sie waren bloß zwei Mitarbeiter eines riesigen Schleuserrings, der die Menschen gut organisiert von überall her in den Kölner Raum brachte. Allerdings hatten sie ein regelmäßiges Einkommen und für Nachschub war immer gesorgt. Via Handy war er mit seinem Kollegen in Verbindung, allerdings mussten sie Akku sparen, da der ja unterwegs keine Möglichkeit hatte sein Handy aufzuladen und nicht überall in dem Bergmassiv hatte man überhaupt ein Netz.


    Semir kam langsam wieder zu sich. Reflexartig hatte er sich zusammen gerollt, als das Schneebrett sie erfasst und mit in die Tiefe gerissen hatte. Seine Welt verschwand in wirbelndem Weiß, er merkte wie er mit Macht abwärts gezogen wurde, irgendwann prallte er gegen irgendetwas und dann gingen ihm die Lichter aus. Als er zu sich kam, wusste er erst überhaupt nicht, wo er sich befand und was eigentlich los war, aber als er dann um sich tastete, wusste er sehr schnell wieder, was geschehen war. Dadurch dass er sich instinktiv zusammen gerollt hatte, hatte er erstens eine Kammer mit Luft zum Atmen und auch wenigstens ein bisschen Platz, sich zu bewegen. Er atmete ruhig und versuchte zu überlegen, was er über Lawinenunglücke wusste. Momentan war alles schwarz um ihn, aber als er seinen Handschuh auszog und die Augen vom Schnee befreite, konnte er doch ein bisschen was sehen-und zwar rund herum helles Weiß. Das bedeutete allerdings, dass er nicht sehr weit unter der Schneedecke begraben sein konnte, denn ansonsten wäre es ja stockfinster gewesen. Allerdings hatte er gerade keine Ahnung wo oben und unten war, so zusammengerollt, wie er in seinem eisigen Gefängnis lag. Die Panik wollte von ihm Besitz ergreifen, aber mit ruhigem Atmen brachte er sich selber wieder herunter. Wenn er sich, Ben und Knut, die hoffentlich auch noch lebten, befreien wollte, dann musste er Ruhe bewahren und logisch denken und vorgehen. Die Schwerkraft war sein einziger Anhaltspunkt und so schloss er die Augen wieder und versuchte herauszufinden, wie er im Raum lag. Eigentlich müsste sein Po der tiefste Punkt sein, wenn er das so analysierte und deshalb begann er jetzt erst mit minimalen Bewegungen und dann immer heftiger nach oben zu graben. Die Richtung stimmte, denn es wurde immer heller, allerdings wurde ihm jetzt sehr heiß und das Blut dröhnte in seinen Ohren. Vermutlich wurde der Sauerstoff gerade knapp und er erinnerte sich, einmal gelesen zu haben, dass man einfach still liegen bleiben sollte, bis die Retter eintrafen, denn die Lawinenrettung in den Bergen war sehr gut organisiert.

    Allerdings war der einzige, der wusste, dass sie verschüttet waren, der Bergführer und Semir war sich zwar nicht völlig sicher, aber er hatte das Gefühl, dass der die Lawine erst losgetreten hatte-ob mit Absicht, oder aus Versehen, konnte man gerade so nicht sagen. Normalerweise müsste der jetzt sofort einen Notruf absetzen und dann wären binnen Kurzem die Helfer mit dem Hubschrauber da, aber draußen war alles ruhig und die Sache mit den Handys war zweimal komisch. Warum hatte der ihnen unter dem Vorwand des Filmens alle Smartphones abgenommen-nein, das war kein Zufall!
    Inzwischen war Semir, der nun bereits ziemlich erschöpft war und nur langsam weiter grub, auf die gute Idee gekommen, seinen einen Schneeschuh dazu zu nehmen, dessen Bindung sich beim Absturz nicht gelöst hatte, aus dem er sich aber problemlos befreien konnte. Die scharfen Aluprofile fraßen sich durch den Schnee und plötzlich bekam Semir wieder Luft und eine große Erleichterung ergriff von ihm Besitz. Bisher hatte er es vermieden, darauf zu achten, wie schwer er wohl verletzt war, aber jetzt stellte er fest, dass er zwar sozusagen Ganzkörperschmerzen hatte, aber kein Körperteil sonderlich weh tat. Nach einer kurzen Verschnaufpause grub er weiter und kam so langsam an die Oberfläche. Als er aus seiner künstlichen Höhle gekrochen war, sackte er erst einmal vor Erschöpfung zusammen, aber dann konnte er sich endlich orientieren. Er war am Fuße des Steilhangs, den sie vorhin überquert hatten, etwa 200 Meter unterhalb der Absturzstelle. Einige Felsen hatten den Abrutsch des Schnees gebremst, allerdings ging es danach weiter endlos in die Tiefe-wer dort hinunter gesegelt war, hatte keine Chance. Hektisch blickte Semir um sich, auf der Suche nach seinem besten Freund. Dann lief es ihm eiskalt über den Rücken. Nur wenige Meter entfernt ragte eine leblose, bläulich verfärbte Hand aus dem Schnee und voller Panik robbte Semir darauf zu.

  • Der Patriarch der syrischen Familie blickte sorgenvoll auf sein hoch fieberndes Enkelkind. Er war in seiner Heimat ein Heiler gewesen, denn er hatte vor vielen Jahren ein paar Semester Medizin studiert, bevor sein Vater starb und er dann plötzlich seine Ausbildung abbrechen und als ältester Sohn das Familienunternehmen, eine große Weberei, übernehmen musste. Da hatte es auch keine Diskussionen gegeben-auch wenn er lieber Arzt geworden wäre. Arbeit war in seiner Heimat auch vor dem Bürgerkrieg schon ein kostbares Gut gewesen und weil in Syrien jede Frau durchschnittlich sieben Kinder hatte, hatte sich die Bevölkerung sprunghaft vermehrt, ohne dass das Land, auch durch viele Dürren und Missernten, seine Bevölkerung ernähren konnte. Eine völlig marode Verwaltung hatte es nicht geschafft die Güter gerecht zu verteilen und wie im politisch äußerst instabilen Griechenland, arbeiteten viel zu viele Menschen als Beamte und teilten sich großzügig selber die wenigen Steuereinnahmen zu. Die Arbeitslosigkeit betrug etwa 50 % und so bot ein Familienunternehmen das Arbeitsplätze bot, Steuern entrichtete und seine Waren auch ins Ausland-da vor allem nach Köln-exportierte, ein wertvolles Gut und sicherte bescheidenen Wohlstand für den Familienclan.

    Dann war ihr Dorf, wo auch die Produktionsanlagen standen vor einigen Wochen von IS-Truppen dem Erdboden gleich gemacht worden. Dieses Massaker, dem die halbe Großfamilie und viele ihrer Arbeiter zum Opfer gefallen war, bescherte den Überlebenden schreckliche Alpträume. Furchtbare Szenen hatten sich abgespielt, die Grausamkeit war nicht zu überbieten gewesen, denn die IS-Milizen hatten auch heraus gefunden, dass sie aramäisch sprechende, syrisch-orthodoxe Christen waren und sie deshalb als „Ungläubige“ reihenweise grausam hingerichtet. Die Frauen waren vergewaltigt, die Männer gevierteilt und aufgehängt worden. Manche hatte man gesteinigt und nur wer rechtzeitig geflüchtet war, war mit dem Leben davon gekommen. Die Heimat die sie kannten, gab es nicht mehr, obwohl im „alten“ Syrien vor dem arabischen Frühling Religionsfreiheit geherrscht hatte und die vielen verschiedenen Volksstämme und Glaubensrichtungen mehr oder weniger friedlich nebeneinander gelebt hatten, waren jetzt die Fronten verhärtet und nur der Islam wurde noch geduldet. Die Regierung kämpfte gegen ihre eigene Bevölkerung und es gab auch keine eine Opposition, sondern viele verschiedene Splittergruppen, die teilweise konträre Ziele verfolgten und auch von den unterschiedlichsten Strömungen im Hintergrund unterstützt wurden-teilweise aus Arabien, dann wieder von den USA-es war ein einziges unübersichtliches Durcheinander.
    Fakt war-wenn sie in die Heimat zurückkehren würden, stünden sie vor dem Nichts und würden vermutlich getötet werden, deshalb hoffte der Patriarch, dass ihr Asylantrag, wenn sie denn einmal in Köln angekommen waren, positiv beschieden wurde und sie dort ein neues Leben in Sicherheit beginnen konnten. Aber jetzt hatte er große Sorge um sein Enkelkind und ließ es sich nicht nehmen den kleinen fünfjährigen Murat immer wieder persönlich zu tragen. Der brauchte dringend Antibiotika, damit er keine Lungenentzündung bekam, aber er hatte leider keine dabei-nur sein Chirurgenbesteck, denn er hatte die letzten Jahre, als alles im Chaos versunken war, die medizinische Grundversorgung der Bevölkerung seiner Gegend übernommen, auch ohne komplett ausgebildeter Arzt zu sein.


    Der türkische Schleuser war unsicher-gings da vorne rechts oder links? Mann-wenn nur der einheimische Bergführer bald wieder bei ihnen wäre-dessen Auftrag dauerte wohl doch länger als erwartet! Vorsichtig versuchte er sein Handy anzuschalten und über Google Maps die richtige Richtung heraus zu finden, aber er hatte kein Netz und der Akkustand war auch schon ziemlich weit unten-so ein Mist! So folgte er seinem Gefühl, das ihn allerdings trog und so gingen sie im Endeffekt in einem großen Bogen zu ihrem Ausgangspunkt zurück.


    Semir hatte voller Entsetzen angefangen zu graben. Wie ein Wahnsinniger schaufelte er den Schnee weg-teilweise mit dem Schneeschuh und dann wieder mit den bloßen Händen, um den Mann, der da unter ihm in den Schneemassen begraben war, nicht zu verletzen. Ben und Knut hatten beide einen schwarzen Anorak getragen, so dass er immer noch nicht sagen konnte, wen er da gerade ausgrub. Endlich hatte er sich zum Kopf vorgearbeitet und konnte sehen, dass es Knut war, der aber kein Lebenszeichen mehr von sich gab. Trotzdem buddelte Semir verbissen weiter. Wie er im Erste-Hilfe-Kurs immer wieder lernte, waren Unfälle im kalten Wasser- oder eben Schnee- doch mit gewissen Überlebenschancen verbunden, da durch die Kälte der Sauerstoffbedarf sehr herunter gefahren war. Als er seinen Mitwanderer mühsam frei gelegt hatte, versuchte er einen Puls zu tasten, oder eine Atmung fest zu stellen-leider erfolglos. Trotzdem befreite er den Mund und die Nase vom Schnee und begann eine Herz-Lungen-Wiederbelebung. Als die aber nach wenigen Minuten keinen Erfolg zeigte, stellte er seine Bemühungen ein, denn jetzt gab es eine noch wichtigere Aufgabe, nämlich seinen Freund zu suchen. Er richtete sich auf, ließ seinen Blick schweifen und versuchte herauszufinden, wo sich der befinden könnte, aber es blieb nur die drängende Frage: Wo war Ben?

  • Die syrischen Flüchtlinge waren nach einer zermürbenden Wanderung, bei der sie immer wieder ausglitten, ihre klammen Hände ohne Handschuhe aneinander rieben und sie unter ihrer für dieses Gelände viel zu dünnen Kleidung verbargen, in einem großen Bogen wieder zurück gekommen. Der Patriarch hatte die Unsicherheit des Schleusers wohl bemerkt, aber auch er kannte sich hier nicht aus und so würden sie wohl auf das Eintreffen des einheimischen Bergführers warten müssen, damit der sie weiter in die richtige Richtung geleitete.

    Der hatte den Lawinenabgang von oben zufrieden beobachtet. Als ein Teil des Schnees unten an den Felsen zum Stehen kam und der Rest über die Abbruchkante sauste, nickte er zustimmend. Entweder waren die Körper jetzt an den Felsen zerschmettert, oder seine Opfer hatten den weiteren Absturz über viele hundert Meter nicht überlebt. Er wartete noch einen kurzen Moment und folgte dann dem Weg, den er mit dem Schlepper ausgemacht hatte, um seine anderen Kunden für diesen Tag zum nächsten Biwak zu bringen. Zuvor nahm er die Handys seiner Opfer, zerstörte sie mit zwei Steinen und warf sie ebenfalls in den Schnee den Hang hinunter. Wenn die Leichen geborgen wurden, würde er völlig entsetzt lamentieren, dass seine Kunden trotz seiner Warnungen diesen Hang hatte queren und sich dabei gegenseitig hatten fotografieren wollen. Auf die Frage, warum sie keine Lawinenpiepser bei sich getragen hatten, würde er antworten, dass nur eine leichte Schneeschuhwanderung in absolut sicherem Gelände geplant gewesen war, die Gruppendynamik und der Spaß am sportlichen Wettbewerb seine Kunden dann aber entgegen seinem Rat in schwieriges Gelände geführt hatte. Sein eigenes Handy hatte er wohlweislich nicht aufgeladen und das hatte auch keine Akkukapazität mehr, das konnte einem ja immer mal passieren, so dass er eine Begründung hatte, warum er nicht sofort die Bergrettung verständigt hatte. Er würde jetzt erst seine zweite Gruppe führen und dann mitten in der Nacht fix und fertig im Tal ankommen und sich zuvor selber leicht verletzen, was angeblich auch bei ihm in der Lawine passiert war, damit er eine Begründung hatte, warum er so lange gebraucht hatte, um Hilfe zu holen. So verließ er seinen Beobachtungsposten auf der Suche nach seiner zweiten Gruppe, die schon ein ganzes Stück Richtung Kleinwalsertal weiter gekommen sein musste und sah so nicht, wie kurz darauf Semir sich aus dem Schnee buddelte und das nächste Opfer frei legte.


    Ben war ebenfalls mitgerissen worden. Er machte zunächst Schwimmbewegungen, um weit oben im rutschenden Schnee zu bleiben, aber als es ihn dann doch hinunter drückte, rollte auch er sich zusammen und versuchte keinen Schnee in Mund oder Nase zu bekommen, bis plötzlich ein heftiger Aufprall ihm die Besinnung raubte. Als er wieder zu sich kam, war um ihn herum alles schwarz und er hatte ziemliche Schmerzen. Seine Schulter war vermutlich ausgekugelt, so wie sie schmerzte und auch sein Knöchel tat wahnsinnig weh, außerdem brummte sein Kopf und latent übel war ihm auch. Aber das Alles würde keine Rolle spielen, denn er sah nirgendwo etwas Helles, sondern war in seinem dunklen, eisigen Gefängnis begraben. Die Panik begann von ihm Besitz zu ergreifen, er wusste nicht wo oben und unten war, versuchte zu graben und sich so zu befreien, aber er hatte überhaupt keinen Plan, wohin er überhaupt sollte. Außerdem musste er jetzt-wie schon eine ganze Weile- ganz schrecklich dringend aufs Klo, aber auch als er beschloss, dass das jetzt schon egal war, wenn er sich einnässte und er daraus vielleicht sogar schließen konnte, wo oben und unten war, konnte er keinen Tropfen herauspressen, so sehr er sich auch bemühte.
    Mein Gott-seine Familie, die Gerkhan´s und auch Knut´s Frau und Kinder warteten jetzt im Hotel darauf, dass sie von einem wundervollen Ausflug zurück kamen und dabei war es vermutlich die letzte Tour, zumindest seines Lebens, gewesen. Auch wenn er fieberhaft nachdachte-der Schnee um ihn herum war so fest, er hatte keine Chance den ohne fremde Hilfe aufzubrechen-nur wenn die anderen mit dem Leben davon gekommen waren, konnte er noch auf Hilfe hoffen. Allerdings war auch ihm durch den Kopf geschossen, dass der Bergführer das Schneebrett wohl erst losgetreten hatte und wenn er jetzt daran dachte, wie der mit verschlagener Miene den Briefumschlag mit dem Geld von Winkler entgegen genommen hatte, dann war er sich jetzt ziemlich sicher, dass der der Auftraggeber dafür gewesen war, ihn aus dem Weg zu räumen. So wie Estelle ihm nachgestellt hatte und wie der schmerbäuchige Ehemann darauf reagiert hatte, war das ziemlich wahrscheinlich. Der würde eventuelle Nebenbuhler einfach aus dem Weg räumen und so geschickt wie er das eingefädelt hatte, würde dafür auch nie jemand zur Rechenschaft gezogen werden.
    Sie hatten alle Fehler gemacht, die man in den Bergen nur machen konnte. Sie hatten kurz hintereinander gehend, einen lawinengefährdeten Hang gequert-normalerweise ließ man da große Abstände, man hatte Ausrüstung dabei und zumindest einer konnte die Bergrettung verständigen, aber sie waren blindlings in ihr Verderben gerannt. Hoffentlich überlebten wenigstens die beiden anderen-wobei die dann vermutlich noch mit dem Bergführer kämpfen mussten, der sicher keine Zeugen übrig lassen würde und den Vorteil hatte, sich im Gelände und im Schnee auszukennen. Er allerdings begann langsam auf zu geben. Die Luft würde noch eine Weile reichen, aber dann würde er hier drinnen ersticken und er begann zu überlegen, ob es wohl sehr schlimm werden würde.


    Die syrischen Flüchtlinge waren aufgeschreckt, als eine ziemliche Strecke vor ihnen plötzlich eine Lawine abging. Sie waren schräg unterhalb der Schneemassen, aber da sie sich gerade in einem Felsmassiv befanden, konnten sie nicht mit gerissen und auch von oben nicht gesehen werden. Der Patriarch und auch der Schlepper waren sich inzwischen ziemlich sicher, dass sie im Kreis gelaufen waren, denn der Stand der Sonne, die sich jetzt langsam begann zurück zu ziehen und hinter den Gipfeln zu verschwinden, zeigte deutlich an, dass sie in die Irre gegangen waren. Sie mussten jetzt einfach auf den einheimischen Führer warten, der sie sicher finden würde, wenn er ihren Spuren folgte und der sie dann auf den richtigen Weg bringen würde. Allerdings brauchten sie jetzt ein Lager für die Nacht, denn vor allem die Frauen und Kinder waren erschöpft, der schwer kranke Murat phantasierte vor sich hin und in der Nacht in den Bergen unterwegs zu sein, war viel zu gefährlich. Allerdings müssten sie sich jetzt eigentlich wieder ganz in der Nähe ihres vorherigen Nachtlagers befinden-irgendwie kamen dem Syrer die Bergmassive um ihn herum bekannt vor!
    Angstvoll betrachteten sie aus der Ferne den Lawinenabgang und plötzlich sahen sie, dass da drei Menschen mitgerissen wurden. Entsetzt blieben sie stehen und versuchten zu verfolgen, wo die verschüttet wurden und als der Staub sich gelegt hatte, machten sich vier Männer der Gruppe eilig auf den Weg, um den Lawinenopfern zu helfen.

  • Im Hotel hatten sich Andrea und Sarah mit den Kindern einen ruhigen Tag gemacht. Sie hatten gespielt, waren geschwommen, die Größeren hatten draußen mit ihren Betreuern ein Iglu gebaut, was auch Tim unheimlich fasziniert hatte. Insgesamt ließen sie es sich einfach gut gehen. Ab etwa drei Uhr begann Sarah immer mal wieder unbewusst zur Tür zu sehen, ob nicht Ben und Semir bald eintrafen. Das Wetter war bisher ja herrlich gewesen, aber der lokale Wetterbericht sagte für den Abend und die Nacht einen Wetterumschwung mit Schneesturm voraus. Auch Estelle beobachtete immer wieder unruhig die Eingangstür, aber ihr Mann wirkte auffallend zufrieden und ging nur immer mal wieder in die Hotellobby, um dort auf dem Tablet Anweisungen zu geben und Standortberichte abzufragen.
    Allerdings hatte er zuverlässige Mitarbeiter in ganz Europa und seine illegale Firma war straff organisiert und jeder wusste, was er zu tun hatte. Die Bezahlung erfolgte in bar und zwar ausschließlich durch ihn oder seinen Stellvertreter, der offiziell auch als Makler in seiner Kölner Firma beschäftigt war. Sie vermittelten auch hin und wieder Wohnungen und Häuser, bezahlten dafür offiziell Steuern und hatten dort ein Saubermannimage aufgebaut. Wenn die Strafverfolgungsbehörden wissen würden, welche Summen durch die perfekt organisierten Schleuserdienste bewegt wurden, dann würden sie staunen. Allerdings musste man diese Menschen aus anderen Kulturkreisen auch bei der Stange halten und Mitarbeiter wie Kunden mussten wissen, dass Stillschweigen sozusagen das Wichtigste war. Wer den Mund aufriss und versuchte humanitäre Flüchtlingsorganisationen zu informieren, der starb einen grausamen Tod und Winkler hatte es sich nicht nehmen lassen, an drei syrischen Möchtegernverrätern ein Exempel zu statuieren, die sich, dummerweise für sie, an einen Mann gewandt hatten, der offiziell für das Deutsche Rote Kreuz arbeitete, aber ebenso auch auf Winkler´s Lohnliste stand. Auch heute noch kam er in Wallung und wurde sexuell stimuliert-was Estelle normalerweise gut abfing-wenn er daran dachte, welcher Geruch nach Angst und Schmerz die Lagerhalle am Kölner Hafen durchzogen hatte, als er den drei Flüchtlingen höchstpersönlich bei lebendigem Leib die Verräterzunge aus dem Mund geschnitten hatte, bevor sie seine Mitarbeiter im Rhein ersäuft hatten. Jedes Mal wenn Estelle wie zufällig zur Tür sah, wusste er, wen sie erwartete, aber das musste sie lernen-sie war sein Eigentum und niemand würde sie ihm abnehmen, schon gar nicht dieser gut aussehende Düsseldorfer Bauunternehmer!


    Semir ließ gehetzt seinen Blick schweifen. Wo um Himmels Willen sollte er nach Ben suchen? Als er dann an die Abbruchkante trat und nach unten sah, liefen ihm kalte Schauer über den Rücken. Wenn er dort hinunter gestürzt war, waren höchstens noch kleine Fitzel von ihm übrig, aber auch das Schneefeld über ihm, das doch mindestens 100m breit war, wo praktisch der ganze Hang gerutscht war, bot keinen Hinweis darauf, wo er beginnen sollte zu suchen. Er hatte kein Handy mehr, um Hilfe herbei zu holen, er besaß auch keine Lawinensonde um nach Ben zu stochern, sicher waren an Ben´s Jacke Recco-Reflektoren, aber man musste dazu ein Gerät haben, um ihn zu orten und er stand hier mitten im Hochgebirge und hatte nichts außer seinen Händen und einem Schneeschuh, um seinen Freund zu retten und die Zeit arbeitete gegen ihn! Vom Bergführer war auch keine Spur zu entdecken-entweder war der selber verschüttet und ihre Handys mit ihm, oder seine Vermutung stimmte und der war der Verursacher für den Lawinenabgang und hatte sich aus dem Staub gemacht. Die Verzweiflung wollte über Semir zusammenschlagen, da nahm er aus dem Augenwinkel plötzlich eine Bewegung wahr und sah dann vier Männer eilig auf sich zukommen. Unbewusst fasste er an seine Seite, wo normalerweise das Holster mit seiner Waffe saß, aber erst als da nichts war, fiel ihm ein, dass seine Dienstwaffe, wie auch die Ben´s im Tresor der PASt ruhte, bis ihr Urlaub vorbei war.


    Als die Männer näher kamen, sah er voller Erstaunen, dass die überhaupt nicht passend fürs Hochgebirge gekleidet waren. Sie trugen Jeans und handgewebte Tuniken über den T-Shirts-also einen bunten Mix aus westlicher und eher orientalischer Kleidung, allerdings war einfach anzunehmen, dass die das, was warm war, übereinander angezogen hatten, egal wie es aussah. Turbane waren so geschlungen, das der Kopf und die Ohren bedeckt waren und der dünne Stoff auch ein wenig Schutz vor dem Mund gegen die eiskalte Schneeluft bot. Das Schuhwerk war auch alles andere als geeignet fürs Hochgebirge, denn dünne, rutschige Ledersohlen saßen unter den handgenähten, ungefütterten Schuhen und darin nur dünne Socken, die sicher bei diesen Witterungsverhältnissen schon total durchnässt waren. Aber trotzdem gaben die Männer ihm Handzeichen, sie winkten ihm näher zu kommen, fielen auf die Knie und begannen alle miteinander an einer Stelle mit den bloßen Händen zu graben.

  • Semir hastete zu der Gruppe junger Männer und hielt fest seinen Schneeschuh umklammert, das einzige Werkzeug, das sie zur Verfügung hatten. Inzwischen hatte er gesehen, dass sie unbewaffnet waren und vermutlich den Lawinenabgang beobachtet hatten. Ihr zielgerichtetes Vorgehen konnte nur bedeuten, dass sie gesehen hatten, wo Ben in etwa verschüttet worden war und das war dessen einzige Chance. So fiel auch Semir auf die Knie und begann, indem er den Schneeschuh wie eine Schaufel benutzte, nach seinem Freund zu buddeln. Wenige Worte fielen und Semir verstand zwar die Sprache nicht, in der sich die Männer austauschten, aber der Klang war ihm vertraut, es hörte sich an, wie die Sprache seiner Kindheit, war aber kein Türkisch. Versuchsweise sagte er ein paar Worte auf Türkisch und die Männer sahen ihn überrascht an und antworteten. Sie unterhielten sich zwar untereinander auf Aramäisch, die Staatssprache in Syrien war Arabisch, aber viele von ihnen konnten auch Türkisch, denn das war ein Nachbarland zu Syrien. Wobei die Aramäer ja eigentlich mit den Türken nichts zu tun haben wollten, denn 1915 war ein wahrer Holocaust an armenischen Aramäern geschehen und damals war diese urchristliche Bevölkerungsgruppe, die auch die Sprache Jesu´ sprach von den Türken beinahe ausgerottet worden. Aber jetzt spielte das alles keine Rolle mehr, im Augenblick arbeiteten vier Syrer und ein Deutschtürke Seite an Seite, um das Leben eines Deutschen zu retten, den die vier Syrer nicht einmal kannten!


    Während sie tiefer und tiefer gruben, die Vier sich auch manchmal beratschlagten, ob sie auch wirklich genau dort gruben, wo sie Ben´s Körper zum letzten Mal gesehen hatten, dann aber übereinkamen, dass das so war, konnte Semir aus dem Augenwinkel erkennen, dass eine Gruppe Menschen, die gekleidet war wie seine Helfer, näher kam. Es waren außer zwei Männern, einem alten und einem jungen, der völlig westlich und auch winterfest gekleidet war, nur Frauen und Kinder, die herankamen-insgesamt so etwa 15 Menschen. Die kleineren Kinder wurden von ihren Müttern getragen und der ältere Mann hatte einen etwa Fünfjährigen auf dem Arm, der schrecklich krank aussah und immer wieder einen bellenden Husten hören ließ. Die Menschen wirkten erschöpft und ausgemergelt, man sah ihnen an, dass sie physisch wie psychisch so Einiges hinter sich hatten, aber trotzdem gruben seine Helfer voller Konzentration mit den bloßen Händen einfach weiter.
    Semir war schon beinahe verzweifelt-wenn Ben so tief unten lag, dann war der Sauerstoff vermutlich nicht ausreichend und das Ganze dauerte einfach viel zu lange, obwohl der türkische Polizist sein Zeitgefühl schon beinahe verloren hatte. Es wurde bereits finster, obwohl Semir eigentlich gar nicht gedacht hätte, dass es schon so spät war, aber als er einmal zufällig nach oben sah, konnte er den Grund für die zunehmende Dunkelheit erkennen. Da braute sich etwas zusammen und dunkle Gewitterwolken schoben sich vor die Sonne und gerade begann ein leichter Wind auf zu flauen.


    Mein Gott-wie musste Ben sich fühlen, wenn er denn noch bei Bewusstsein war? Mit einem Schlag fiel Semir ein, wie er schon einmal-da aber gemeinsam mit mehreren Kollegen- nach Ben gegraben hatte, als Wolf Mahler ein brutaler Verbrecher ihn lebendig begraben hatte und es ihnen nur durch Hartmut´s außerordentliche technische Fähigkeiten gelungen war, seinen Standort zu orten und ihn in letzter Sekunde zu befreien. Da war eine Kamera auf seinen Freund gerichtet gewesen und sein Todeskampf war live zu ihnen übertragen worden, um ihre Nerven zu zerrütten. Seitdem bekam Ben immer wieder Platzangst, wenn es eng um ihn wurde und auch die besten Psychologen hatten das nur unzureichend behandeln können.


    Genau diese Ängste hatten Ben gerade begonnen heim zu suchen. Er hatte zu zittern begonnen und verzweifelt versucht, sich gegen sein eisiges Grab zu stemmen. Er hatte gehofft, so etwas nie wieder erleben zu müssen, aber anscheinend war das so, dass man seinen größten Alptraum wieder und wieder erlebte-nur war das diesmal real und er würde nicht plötzlich schweißgebadet neben Sarah hochschrecken und die würde ihn liebevoll in die Arme nehmen und ihn trösten. Durch die Panik spürte er gerade keine Schmerzen, aber er war schon kurz davor auf zu geben und seinen baldigen Tod zu akzeptieren, der aber nicht friedlich sein würde, wie er es gehofft hatte, als er plötzlich über sich Stimmen hörte. Mit dem letzten Sauerstoff, der ihm noch zur Verfügung stand, rief er: „Hilfe!“ und nun hielt Semir plötzlich inne und hob die Hand, so dass seine Helfer ebenfalls verharrten und ihn fragend ansahen.
    Er hatte die Hoffnung inzwischen schon beinahe begonnen auf zu geben, dass sie Ben noch rechtzeitig fanden, denn die Zeit arbeitete gegen sie und sie hatten sich, während sie gruben, ein wenig verständigen können und er hatte erfahren, dass sie auch nur vermuteten, dass das dritte Opfer hier verschüttet war-es konnte unterirdisch auch ganz woanders hin gedriftet sein. Nur dass es über die Kante gestürzt war, das konnten sie ausschließen. Als er jetzt aber den Hilferuf vernahm, schrie er laut: „Ben, sag nochmal was-wir holen dich da raus!“ aber bei seinem Freund langte nun der Sauerstoff nicht mehr und gerade wurde dem bewusst, dass nun sein letztes Stündlein geschlagen hatte, dabei war die Rettung doch so nah und Semir hatte ihn nicht aufgegeben.


    Ein mühsames Ächzen kam nochmals über seine Lippen, bevor er das Bewusstsein verlor und nun grub Semir wie ein Wahnsinniger und plötzlich war sein Freund direkt unter ihm und er konnte dessen schwarzen Anorak durch die Schneemassen schimmern sehen. Mit den Händen schaufelten sie gemeinsam den Schnee beiseite und zerrten den jungen Mann, der kitzeblau und völlig schlaff in ihren Armen lag, ins Freie. Semir sah, dass er nicht mehr atmete und ohne auch nur einen Moment nachzudenken, überstreckte er Ben´s Kopf und blies ihm seinen Atem ein, bis der plötzlich die Augen aufriss und hustend zu sich kam. Semir, bei dem nun die Tränen der Verzweiflung, denen der Erleichterung wichen, als sich die Gesichtsfarbe normalisierte, nahm jetzt seinen Freund in die Arme, wie er ihn damals gehalten hatte, als sie ihn aus dem Sarg geholt hatten und der klammerte sich genauso verzweifelt wie damals an ihn, bis langsam die Schmerzen zurück kamen und er leise: „Aua!“ sagte und blass wurde.



    Im Hotel hatten inzwischen Andrea und Sarah besorgt den Himmel betrachtet, der plötzlich nicht mehr ruhig und still war. Wie im Gebirge so üblich, änderte sich schlagartig das Wetter, es wurde dunkel draußen und ein leichter Wind begann zu blasen. Man hatte die Kinder bereits aus ihrem selbst gebauten Iglu geholt und ins Hotel befördert und sowohl Andrea, als auch Sarah hatten schon mehrmals erfolglos versucht, ihre Männer anzurufen. Sofort ging die Mailbox ran, also hatten sie die Telefone vermutlich ausgeschaltet-aber warum nur? Voller Besorgnis gingen sie zum Hotelchef, der nun seinerseits versuchte den Bergführer auf dem Handy zu erreichen, was aber ebenfalls nicht gelang. „Hoffentlich ist nichts passiert!“ sagten Sarah und Andrea bestürzt und die Miene des Hotelbesitzers war nun ebenfalls ernst geworden. Nur Winkler sah selbstzufrieden aus dem Fenster und beobachtete das Hochgebirgsmassiv Richtung Deutschland, über dem sich jetzt dunkle Gewitterwolken aufbauten. Sein Plan schien zu klappen-wie fast immer hatte er bekommen, was er wollte!

  • Der etwa sechzigjährige ältere Mann übergab das kranke Kind an einen der jungen Männer. Die ganze Gruppe war näher gekommen und hatte die Rettung in letzter Sekunde miterlebt. Auch wenn es den Menschen selber schlecht ging, sie froren und sicher so einiges hinter sich hatten, lächelten sie alle miteinander glücklich. Sie hatten ein Leben gerettet und die beiden fremden Männer, die anscheinend enge Freunde waren, zeigten ihre Dankbarkeit, allerdings konnte man sehen, dass es dem jüngeren Verschütteten jetzt gar nicht gut ging.
    Der Patriarch mit den medizinischen Kenntnissen kniete sich nun neben ihn und bedeutete Semir, seinen Freund flach in den Schnee zu legen, was der auch sofort machte, denn eine unheimliche Ruhe und Souveränität ging von dem eindrucksvollen Mann mit den ergrauten Haaren aus. Der begann nun mit kundigen Händen Ben von Kopf bis Fuß zu betasten. Er schloss dabei die Augen, um besser fühlen zu können und Ben, dessen Kreislauf gerade begann verrückt zu spielen, ließ die Untersuchung bereitwillig über sich ergehen. Er spürte, dass dieser Mann genau wusste was er tat und das gerade seine einzige Chance war.

    Als der Heiler seine ausgekugelte Schulter berührte, sog er die Luft schmerzvoll ein. Erst vor drei Monaten war die bei einem Starkstromunfall draußen gewesen und man hatte ihn schon gewarnt, dass er aufpassen solle, weil so etwas jederzeit wieder passieren könne. Aber das mit dem Aufpassen war so eine Sache, wenn man von Tonnen von Schnee den Berg herunter geschoben wurde. Nichtsdestotrotz tat das schweineweh und als die kundigen Hände jetzt unter seinen Anorak glitten und dort erst den Brustkorb betasteten, der überall verprellt war, aber anscheinend sonst nichts abgekriegt hatte und dann zu seinem Bauch weiter wanderten, der sich schmerzhaft nach vorne wölbte, ließ er sich das ohne Gegenwehr gefallen.
    Der Patriarch runzelte die Stirn. Der Bauch war eindeutig prall gespannt und schmerzempfindlich. Freilich konnten da innere Verletzungen vorliegen, aber warum wölbte er sich dann so nach außen. Er öffnete den Gürtel der Schneehose und fasste tiefer. Ben stöhnte auf und sagte zwischen zusammen gepressten Lippen zu Semir: „Ich platze gleich-ich muss total notwendig pinkeln, aber das geht nicht!“ vertraute er seinem Freund an, der ihn fassungslos ansah. „Wie lange geht das schon so?“ wollte er wissen und war entsetzt als Ben antwortete: „Den ganzen Tag!“ Sie hatten immerhin mehrere Pinkelpausen gemacht und Knut, der Bergführer und er hatten sich dabei weg gedreht und erleichtert-immerhin hatten sie ja auch so einiges getrunken, aber dass Ben da nicht gekonnt hatte, war ihm nicht aufgefallen. Zögernd sagte Semir auf Türkisch zu dem älteren Mann. „Er konnte den ganzen Tag schon nicht Wasser lassen!“ und der nickte. Er griff fest in Ben´s Unterleib, so dass der einen Moment erschrocken und gequält aufschrie und meinte auf der Stelle zu platzen, aber der Mann hatte gefühlt, was die Ursache für den Harnverhalt war. Er musste es erst vom Aramäischen ins Türkische übersetzen, aber dann teilte er Semir mit: „Er hat einen riesigen Blasenstein, der den Ausgang verlegt!“ und nun starrte Semir ihn entsetzt an, während der Heiler nun noch das Becken auf knöcherne Verletzungen untersuchte, da aber Gott sei Dank nicht feststellen konnte.


    Als er nun noch die Beine betastete, schrie Ben auf und als man die Hose unten am seitlichen Reißverschluss öffnete, konnte Semir fast nicht hinsehen, denn der eine Fuß stand fast rechtwinklig weg. Oh Gott-das war doch das Bein, wo Ben noch eine Menge Metall drin hatte, das erst in einigen Wochen entfernt werden sollte. Anscheinend war es ein Stück oberhalb erneut gebrochen und Semir wollte sich nicht vorstellen, wie weh das tun musste. Ben ächzte und nun war seine Blässe durchaus nachvollziehbar und außerdem wurde ihm gerade der Schuh auch noch ausgezogen.


    Dazu kam, dass es nun dunkler und dunkler wurde und der Wind immer stärker auffrischte. Außerdem begann es nun wieder zu schneien und wenn sie nicht bald irgendwo ein Dach über den Kopf kriegten, waren sie alle miteinander dem Tod geweiht! Der türkische Führer hatte sein Handy gezückt und versucht einen Notruf abzusetzen-jetzt war es ihm egal, ob sie aufflogen und er ins Gefängnis kam, er wollte nur lebend von diesem Berg hinunter kommen, aber durch die Witterung war das nicht von Erfolg gekrönt und wenig später war der Akku völlig leer.
    „Wir müssen hier irgendwo in der Nähe unseres gestrigen Nachtlagers sein, das Bergmassiv kommt mir bekannt vor!“ sagte Kesenci und als seine Begleiter nun um sich sahen, konnten sie ihm nur zustimmen. Zwei davon machten sich mit dem türkischen Führer auf die Suche nach dem Biwak-dadurch dass es jetzt finster wurde und sie von der anderen Seite kamen, war es erst schwierig, aber letztendlich wurden sie fündig und der Heiler sah inzwischen Ben fest an. „Es wird jetzt weh tun, aber es muss sein!“ sagte er voller Überzeugung und bedeutete Semir, seinen Freund zum Sitzen auf zu richten und der übersetzte noch schnell. Ben nickte, das hatte er sich schon fast gedacht, aber trotz alledem vertraute er diesem Mann-er wusste nicht warum. Der Patriarch zeigte Semir, wie er seinen Freund am Anorak festhalten sollte und auch ein zweiter Helfer packte mit an. Nun ergriff der Heiler Ben´s Arm und während der laut seine Qual in den immer stärker werdenden Sturm schrie, renkte er mit einer geschickten Bewegung die Schulter wieder ein und Ben verstummte fast augenblicklich. Sofort war der Schmerz an diesem Ort besser und inzwischen hatte der Patriarch schon seine Blicke schweifen lassen und hatte zwei Stecken aus dem Schnee gezogen und zurecht gebrochen. Natürlich hatte die Lawine auch einige Latschenkiefern mitgerissen und das kam ihm jetzt sehr gelegen.


    Gerade hatte Ben sich schwer atmend von dem Schmerz in seiner Schulter erholt, der jetzt aber viel leichter war, seitdem das Gelenk wieder in seiner Führung lief, da ging es am verletzten Fuß weiter. Erneut hielten die Helfer von oben dagegen-man hatte den Verletzten jetzt wieder flach gelegt und der Arzt richtete den Bruch mit kundigen Fingern und Ziehen und Schieben ein und zurrte die beiden Stecken dann als provisorische Schiene mit einem Tuch fest. Ben hatte sich wieder die Seele aus dem Leib gebrüllt und darum gebettelt, ohnmächtig werden zu dürfen und Semir hatte ganz fest seine Hand gehalten, aber sein Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Allerdings ließ auch da der Schmerz wenigstens ein bisschen nach, als der Fuß endlich ruhig gestellt war und als nun der türkische Führer und die beiden jungen Männer von der erfolgreichen Suche nach dem Biwak zurück kehrten, brachten sie auch gleich eine stabile Plastikplane mit, auf die man Ben nun bettete und im immer stärker tosenden Sturm kämpfte sich nun die Gruppe zu der rettenden Höhle und Ben zog man wie auf einem Schlitten einfach mit.


    Im Hotel war inzwischen auch Knut´s Frau mit den schon etwas älteren Kindern vom Shoppen in Samnaun, einem Steuer befreiten Schweizer Ort, etwa eineinhalb Stunden Fahrt von ihrer Herberge entfernt, heim gekehrt und wunderte sich ebenfalls, dass ihr Mann noch nicht zurück war-aber die Wanderer würden hoffentlich bald eintreffen, denn es zog nun draußen komplett zu.

  • Obwohl das Biwak nur wenige hundert Meter entfernt war, hatte die Gruppe die größte Mühe, gegen den inzwischen tosenden Sturm anzukämpfen. Der Schnee war so dicht, dass man fast die Hand nicht vor den Augen sah, so wirbelten die dichten Flocken umher. Sie mussten achtgeben, dass sie den schmalen Weg, von dem man nun fast nichts mehr erkennen konnte, nicht verfehlten und alle miteinander ins Verderben rutschten. Die mit einem einfachen Seil aneinander gebundenen Kinder hielt man ganz fest und die Kleineren trug man, aber trotzdem wechselten sich die jungen Männer ab, die Plane auf der Ben lag, zu ziehen. Semir fasste natürlich auch kräftig mit an und obwohl er selber ja ebenfalls durch den Absturz in der Lawine von Kopf bis Fuß geprellt war, bemerkte er davon im Augenblick nichts, zu sehr floss das Adrenalin durch seine Adern. Er wusste auch nicht genau, wo es hin ging, denn die Flüchtlinge hatten nur etwas von einer Höhle erwähnt, aber es war egal-wenn sie vor dem tosenden Schneesturm keinen Schutz fanden, dann würden sie alle miteinander sterben und so kämpften sich die in Bergnot Geratenen Schritt für Schritt voran-und dann geschah es.
    Eines der Kinder glitt aus und hing plötzlich über der Schlucht, die direkt neben dem Weg verlief und bevor die Frauen, die das Ende des Seils festhielten, reagieren konnten, wurden drei weitere Kinder über die Kante gezogen. Die beiden Frauen schrien panisch und stemmten sich mit aller Kraft in das Seil, aber durch den glatten, abschüssigen Boden wurden auch sie in Richtung Abgrund gezogen, aber bevor sie los ließen und ihre Kinder abstürzen ließen, würden sie lieber selber sterben.


    Semir, der der Frauengruppe am Nächsten war und sich gerade ein wenig hatte zurückfallen lassen, um zu sehen, wie es Ben ginge, der ja schwer verletzt auf der Plane über den unebenen Boden holperte, schreckte auf, als er die Entsetzensschreie hörte. Ohne auch nur einen Augenblick zu überlegen hastete er zu den Frauen und stemmte sich mit aller Kraft in das Seil und konnte so für den Augenblick wenigstens den Absturz aufhalten, allerdings wurde auch er nun wie in Zeitlupe Richtung Kante gezerrt und Ben, der zwar schwer verletzt, aber bei Bewusstsein war, schrie panisch: „Semir!“ aber ihm war klar, der würde nicht loslassen, auch wenn er damit sein Leben verlor-und er hätte das genauso gemacht.
    Die beiden jungen Männer, die gerade die Plane zogen sahen sich entsetzt um, ließen los und stürzten dazu, um ihre Familien zu retten, aber auch sie konnten durch das ungeeignete Schuhwerk den Fall nur aufhalten, aber nicht die Kinder zurück ziehen. Semir war der einzige, der einigermaßen griffige Schuhe anhatte, aber auch er wusste im Moment nicht, was er machen sollt, außer mit aller Kraft das Seil fest zu halten. Ben, der gerade vor Aufregung auch keinen Schmerz spürte, sah den Schneeschuh, den sein Freund über die Schulter gehängt hatte und er teilte nun Semir seine Überlegung mit: „Semir-nimm den Schneeschuh, der hat ein scharfes Profil!“ rief er und tatsächlich gelang es seinem Freund nun irgendwie das Seil nur noch mit einer Hand zu stabilisieren, während die jungen Männer sich da mit aller Kraft dagegen stemmten. Er legte den Schneeschuh an und tatsächlich-die scharfen Kanten gruben sich wie Steigeisen in das Eis und unter Mobilisation unmenschlicher Kräfte gelang es Semir nun Millimeter um Millimeter die Kinder zurück zu ziehen. Sobald das Erste wieder rettenden Boden unter den Füßen hatte, wurde es leichter, weil sich ja das Gewicht verringerte und so gelang es nach und nach alle Abgestürzten wieder auf den Weg zurück zu befördern.

    In diesem Augenblick hasteten auch der Patriarch und der türkische Führer heran, die voraus gegangen waren und durch das Tosen des Sturms überhaupt nicht mitbekommen hatten, was sich hinter ihnen für ein Drama abgespielt hatte. Erst als sie am Biwak angekommen waren und dann entsetzt festgestellt hatten, dass ja die Hälfte der Gruppe fehlte, waren sie so schnell sie konnten, zurück geeilt. Die schluchzenden Mütter hielten nun ihre weinenden Kinder im Arm und einer der jungen Männer, der sich atemlos die Hände rieb, wo das Seil eingeschnitten hatte, dass das Blut floss, erzählte in kurzen, abgehackten Sätzen auf Aramäisch was geschehen war und praktisch Semir die Kinder gerettet hatte. Der Patriarch tröstete kurz seine Familienangehörigen, trieb sie aber dann auch zur Eile an, denn der Sturm hatte nun nochmals an Intensität zugelegt und trat dann zu Semir, der immer noch um Atem rang, nahm den kurz in den Arm und drückte ihn an sich. Die Szene bedurfte keiner Worte und nun fassten sie mit an, um Ben´s Plane zu ziehen und binnen Kurzem hatten sie die rettende Höhle erreicht.


    Der Bergführer war zügig den Spuren der Flüchtlingsgruppe gefolgt. Als er an der Wegkreuzung sah, dass die falsch abgebogen waren, seufzte er auf. Oh je-wenn man nicht alles selber machte! Aber er würde sie schon noch einholen und wieder auf den richtigen Weg zurück bringen. Als er allerdings gen Himmel sah, verdüsterte sich seine Miene. Der Wettersturz würde vermutlich schneller da sein, als er erwartet hatte, trotzdem heftete er sich routiniert auf die Spuren der Flüchtlinge, bis der Wind und der Schnee, der nun immer stärker zu fallen begann, die verwischte. Gut-wenn die abstürzten war es nicht schade-in seinen Augen waren das sowieso keine Menschen, sondern Abschaum, der gut in der Schlucht lag. Allerdings würde er so kein Geld von Winkler kriegen und ob der ihn in Zukunft nochmals als Führer buchen würde, stand dann auch in den Sternen und das war zu seiner sonstigen Tätigkeit als Bergführer und Skilehrer ein gutes Zubrot. Aber auf gar keinen Fall würde er sich wegen ein paar so Knoblauchfressern selber in Gefahr bringen und als der Sturm nun immer stärker wurde, suchte er ein weiteres Biwak, dessen Lage er sehr genau kannte, auf, kochte sich ein Süppchen und wartete darauf, dass das Wetter besser wurde.


    Der Hotelbesitzer war inzwischen zu Sarah, Andrea und Knut´s Frau getreten, die besorgt in der Hotellobby saßen und sich an ihren Kaffeetassen fest hielten. Die Kinder wurden gerade von den professionellen Betreuern bespaßt, nur Mia-Sophie strampelte neben ihnen vergnügt in der Wippe. „Meine Damen-ich habe soeben die Bergrettung verständigt, aber machen sie sich dennoch nicht allzu große Sorgen. Der Bergführer ist ein sehr erfahrener Mann und wenn sie vielleicht auch vom Wettersturz überrascht wurden, oder durch eine Verletzung oder einen Materialfehler nicht mehr rechtzeitig vom Berg herunter gekommen sind-in den Allgäuer Alpen gibt es überall Biwaks-die werden sich in so eines zurück gezogen haben und dort das Ende des Schneesturms abwarten. Leider muss das die Bergrettung ebenfalls tun, denn aktuell kann niemand aufsteigen und auch kein Hubschrauber starten, aber sobald das Wetter besser wird, macht sich das halbe Tal auf die Suche nach ihren Angehörigen!“ versuchte er sie zu trösten, aber die drei Frauen hatten nur entsetzt die Hände vor den Mund geschlagen.

  • Endlich waren alle Flüchtlinge, der türkische Schlepper und Semir und Ben in der Höhle angekommen. Mit Kraft mussten sie sich gegen die hölzerne Tür stemmen, um die zu schließen und einige Frauen hatten zuvor sogar noch zwei Töpfe mit Schnee gefüllt, damit man den schmelzen konnte und so Tee und Suppe machen. Die beiden Gasbrenner waren schon entzündet, der eine zum Kochen und der zweite für die Beleuchtung. Wie am Vortag holte man Planen und Decken heraus und durch die Menge an Menschen wurde es doch bald ein wenig warm in der Höhle. Semir hatte zunächst Angst wegen dem Sauerstoff, denn Fenster befanden sich keine in dem Unterschlupf, aber als ihm der eine der Flüchtlinge erklärte, dass sie die vorherige Nacht auch schon hier verbracht hatten, war er beruhigt-anscheinend gab es hier doch irgendwo Lüftungskanäle und außerdem schloss auch die hölzerne Tür nicht zu 100% dicht. Wenig später gingen Becher mit gesüßtem schwarzen Tee von Hand zu Hand und die Suppe begann ebenfalls zu köcheln. Semir hatte sich zu Ben gesetzt, den ein wenig an sich gelehnt und bot ihm zu trinken an, aber sein Freund schüttelte den Kopf. „Nein Semir-ich platze sowieso beinahe, wenn da nur ein Tropfen Wasser dazu kommt, dann ist es geschehen!“ sagte er und atmete mühsam. Sein Bauch fühlte sich an wie bei einer Schwangeren, sein Rücken schmerzte und sein ganzes Denken war nur davon ausgefüllt, dass er wahnsinnig notwendig aufs Klo musste.

    Der Patriarch hatte sich fürsorglich um den kleinen Murat gekümmert und ihm wenigstes ein wenig Tee eingeflößt, aber Semir sah den besorgten Gesichtsausdruck des Heilers. Wenn der kleine Junge nicht bald in medizinische Behandlung kam, würde er vermutlich sterben, denn seine Atemzüge waren mühsam geworden, seine Haut war von einer fahlen Blässe überzogen und er hatte hohes Fieber. Hoffentlich war der Sturm bald vorbei, denn solange der da draußen tobte, würden keine Rettungstrupps durchkommen und Semir war sich sicher, dass ihre Frauen und auch der Hotelbesitzer inzwischen schon einen Notruf abgesetzt hatten. Allerdings wusste er nicht genau, ob sie sich auch wirklich in dem Gebiet befanden, in dem sie die Winterwanderung geplant hatten, denn er war inzwischen davon überzeugt, dass der Bergführer das Schneebrett absichtlich los getreten hatte. Die Flüchtlinge hatten auch keine vierte Person in den Schneemassen entdeckt-den Höhenweg, wo der Bergführer hinauf gestiegen war, konnten sie aber von ihrem Standpunkt aus nicht einsehen.
    Wo der wohl steckte? Semir hoffte voller Insbrunst, dass der in dem Schneesturm da draußen umgekommen war-dieses Schwein hatte den Tod verdient, er hätte sie alle drei kaltblütig umgebracht, Knut hatte den heimtückischen Anschlag nicht überlebt und um Ben machte sich Semir ebenfalls große Sorgen! Wenn das Wetter aufklarte mussten sie unbedingt draußen einen Hinweis für den Hubschrauber auslegen, wo sie sich befanden, aber im Augenblick waren sie auf sich alleine gestellt.


    Als Murat in den Armen seiner Mutter eingeschlafen war, kam der Patriarch zu Semir und Ben und musterte seinen zweiten Patienten prüfend. Dann drehte er sich um, sah sich suchend in der Höhle um und kam dann mit einer leeren PET-Wasserflasche zurück, von der er kurzerhand den Flaschenhals mit einem scharfen Messer abschnitt. Er verdeckte Ben mit seinem Körper, öffnete erneut dessen Gürtel, schob die Schneehose und die lange Funktionsunterhose ein wenig nach unten und legte ihm die Flasche an. Nun bedeutete er seinem Patienten zu pinkeln zu versuchen, aber so sehr sich Ben auch mühte-wie schon den ganzen Tag klappte es nicht. „Der Blasenstein hat den Ausgang verlegt!“ erklärte er Semir, der das dann seinem Freund übersetzte.
    Inzwischen war es in der Höhle doch so warm geworden, dass man Ben´s Schneejacke ausziehen konnte und als nun der Heiler dessen Flankenpartie betastete, wurde seine Miene sehr ernst. „Der Harn staut sich bis in die Nieren zurück und wenn wir nichts unternehmen, werden die dauerhaft geschädigt werden. Außerdem besteht die akute Gefahr einer Blasenzerreißung und wenn es dann zu einer Bauchfellentzündung und einem Schock kommt, dann ist er hier oben verloren!“ erklärte er Semir und der vermied es im Moment zu übersetzen, denn er wollte Ben nicht noch mehr beunruhigen. Eigentlich hatte Semir gedacht, dass sie in aller Ruhe hier oben das Ende des Sturms abwarten konnten und dann die Patienten mit dem Hubschrauber in die Klinik geflogen würden und der Rest der Truppe mit den Bergrettern ins Tal absteigen konnte. Nun allerdings war guter Rat teuer und er wusste überhaupt nicht, was man in so einem Fall machen konnte. Aber jetzt erklärte der heilkundige Syrer was sein Plan war und Semir wurde zwar ganz anders, aber trotzdem übersetzte er Ben die Worte, denn so wie es aussah, hatten sie keine Alternativen.


    „Ich werde über den Damm den Blasenstein entfernen. Das war in alten Zeiten die gängige Operationsmethode, die heutzutage allerdings mit den Möglichkeiten der Endoskopie und der Lithotripsie, also der Steinzertrümmerung mit Schallwellen fast nicht mehr durchgeführt wird. Ich könnte auch den Zugang über die Bauchdecke wählen, aber da besteht die Gefahr den Darm zu verletzen und das wäre fatal. Seit dem frühen Mittelalter wurden Blasensteine so behandelt und es gab sogar die Zunft der sogenannten Steinschneider, denn ein Arzt machte sich früher mit so etwas die Hände nicht schmutzig!“ erklärte Kesenci. „Seitdem in unserer Heimat auch die medizinische Versorgung völlig zusammen gebrochen ist und wir als Christen sowieso nicht in einem Krankenhaus aufgenommen würden, habe ich solche Operationen in den letzten Jahren mehrfach durchgeführt!“ erklärte er. Was er allerdings verschwieg war, dass er trotzdem dort noch Zugang zu Narkosemitteln, oder zumindest Lokalanästhetika gehabt hatte, hier allerdings würde der Eingriff ohne jede Betäubung von statten gehen müssen. Semir übersetzte und Ben bekam zwar einen verzweifelten Gesichtsausdruck, als er hörte, was ihm bevor stand, aber letztendlich war vermutlich alles besser, als im wahrsten Sinne des Wortes zu platzen und deshalb willigte er ein.


    Im Hotel hatte Winkler derweil zufrieden registriert, dass die Schneeschuhwanderer immer noch nicht eingetroffen waren-also hatte der Bergführer wohl seinen Auftrag ausgeführt. Die Witterung spielte ihnen ebenfalls zu und so würde bald der nächste Umschlag mit Bargeld seinen Besitzer wechseln, aber diesmal zahlte er doch gerne-vor allem wenn er die besorgten Blicke seiner Frau sah, die ebenfalls wieder und wieder unruhig zum Eingang blickte.

  • Während der Patriarch nun begann die Vorbereitungen zu treffen, sagte Ben leise zu Semir: „Ich habe Angst!“ und der sah ihn liebevoll an. „Ich kann dich nur zu gut verstehen-ich habe ehrlich gesagt auch Angst, obwohl ich gar nicht operiert werden soll. Aber seine Erklärungen waren logisch und ich glaube, wenn du das Ganze hier überleben willst, ist es die einzige Chance, die dir bleibt-aber ich könnte es auch verstehen, wenn du jetzt nen Rückzieher machst!“ erwiderte er und Ben rang sich ein gequältes Lächeln ab. „Nichts lieber als das-aber ich glaube nicht, dass du dir vorstellen kannst, wie sich das anfühlt, wenn man kurz davor ist zu explodieren. Ich weiss jetzt was die Redewendung bedeutet: „Das Wasser steht mir bis zum Hals“ und das tut außerdem so weh, dass ich glaube einen kurzen starken Schmerz vorziehe, als das noch weiter auszuhalten!“ versuchte er seinem Freund zu erklären, warum er so einfach eingewilligt hatte und Semir nickte verständnisvoll. „Ich bin ja auch bei dir!“ sagte er dann und Ben nickte: „Ich weiss-und da bin ich sehr froh darüber, ich glaube nicht, dass ich es sonst aushalten kann.“ Und damit war alles gesagt.


    Der Patriarch hatte inzwischen zwei der jungen Männer-seine Söhne- von denen er wusste, dass sie starke Nerven hatten, herbei gerufen und ihnen kurz erklärt, was er nun machen würde und wie sie ihm dabei helfen sollten. Ein mitleidiger Blick streifte Ben, aber die Syrer wussten, dass ihr Vater mit Überlegung handelte und wenn er den Eingriff hier und jetzt durchführen musste, dann würden sie ihn dabei natürlich unterstützen. Auf sein Geheiß brachten sie Ben nun in den Bereich kurz hinter der Eingangstür, wo das Gefälle des Felsenbodens ein wenig Richtung Ausgang ging. Semir konnte die Überlegung nachvollziehen. Wenn Ben nun schon den ganzen Tag nicht gepinkelt hatte, waren da vermutlich ganz schöne Mengen an Urin in seiner Blase und der musste ja irgendwohin. Sie hatten leider nur das Allernötigste an Decken und Tüchern, die konnte man nicht verschwenden um Körperflüssigkeiten auf zu saugen. Der Heiler entledigte sich nun eines Teils seiner Kleidung und sowohl Semir als auch Ben beobachteten, wie er unter anderem eine altertümliche Pistole sorgfältig beiseitelegte.


    Zu Ben´s großer Erleichterung wurde nun eine Plane so quer durch die Höhle befestigt, dass die Frauen und Kinder und die drei restlichen Männer nicht hersehen konnten. So krank er war, hatte er trotzdem ein Schamgefühl und es war etwas anderes einem Arzt sein Eingemachtes sehen zu lassen oder sich in aller Öffentlichkeit zur Schau zu stellen. Vor Semir genierte er sich nicht, der kannte inzwischen jede Faser an ihm und die beiden Söhne-na ja-immerhin waren das auch Männer, da war das nicht ganz so schlimm. Seinen Anorak hatte man beiseitegelegt, denn aktuell war es ihm vor Aufregung warm und so hatte er obenrum nur noch das Funktionsunterhemd und ein Shirt an. Nun machten sich die beiden jungen Männer und Semir daran, ihm die Schneehose, den verbliebenen Schuh und die lange Unterhose auszuziehen. Durch die Schiene am gebrochenen rechten Unterschenkel war das ziemlich schwierig und Ben ächzte und stöhnte. Das Gaslicht und der Kocher waren auf ihrer Seite der Plane, denn der Operateur brauchte Licht und der hatte inzwischen sein Chirurgenbesteck, das in einem Lederbehälter war, der nebeneinander viele Fächer hatte, wo jeweils ein Instrument ruhte und der dann zu einer Rolle zusammengedreht war, ausgepackt und die benötigten Instrumente in einen Topf mit kochendem Wasser gelegt.


    Semir hatte nun noch eine Idee-wenn das hier ein Biwak war, gab es sicher irgendwo einen Verbandskasten und tatsächlich fand er nach kurzer Suche einen Autoverbandskasten, dessen Verfallsdatum zwar schon überschritten war, aber auf solche Kleinigkeiten konnten sie jetzt keine Rücksicht nehmen. Wenigstens hatten sie ein Paar Einmalhandschuhe und Verbandmaterial, das war besser als nichts! Die Instrumente lagen in dem Topf, aus dem man das Wasser abgegossen hatte bereit, einige Kompressen und Verbandpäckchen hatte man geöffnet und daneben bereitgestellt. Der Patriarch hatte nun seine Hände noch so gründlich wie möglich gewaschen und als er fertig war, bedeutete er seinen Söhnen und Semir ihre Plätze einzunehmen. Er hatte vorher noch ein flaches Stück Holz gefunden und das bedeutete er jetzt Semir, der Ben´s Oberkörper stützte und in den Armen hielt und nebenbei seine Hände fixierte, das in den Mund seines Patienten zu legen, damit er darauf beißen konnte und sich so die Zunge nicht verletzte. Die jungen Männer packten Ben´s angewinkelte, gespreizte Beine und hielten sie fest und der Heiler nahm dazwischen Platz. Der Patriarch sprach nun ein kurzes Gebet und die Operation begann.


    Ben´s gurgelnde Schreie hallten durch die Höhle und die Mütter hinter dem Vorhang drückten ihre Kinder eng an sich und erklärte ihnen flüsternd, dass der Opa dem Mann nur helfen wollte, aber trotzdem begannen einige der Kleineren mit zu weinen. Semir liefen ebenfalls Tränen des Mitleids aus den Augen, so nahmen ihn Ben´s Qualen mit, aber festhalten hätte er ihn nicht gemusst, denn Ben versuchte sich trotz allen Schmerzes nicht zu wehren-niemand wollte ihm hier schließlich etwas Böses. Mit dem linken Arm wäre es auch sowieso nicht gegangen, der hatte nach dem Auskugeln und wieder Einrenken der Schulter noch keine Kraft, aber trotzdem hatte Ben die Hände zu Fäusten geballt und seine Fingernägel gruben sich in die Handflächen, so heftig war der Schmerz. Als der Urin sich plätschernd auf den harten kalten Felsboden entleerte, auf dem Ben saß, erfuhr er für einen Moment ein wenig Erleichterung, aber danach wurde es nochmals richtig schlimm, bis der riesige Blasenstein endlich entfernt war.


    Völlig fertig bekam Ben kaum noch mit, wie man einen provisorischen Verband in seinem Tiefparterre befestigte und ihn dann wieder anzog. Man trug ihn nun zu der Gruppe, entfernte die Plane, die nun als weiterer Schutz über die Ruhenden kam und legte ihn auf ein halbwegs weiches Lager. Semir legte sich eng zu ihm und umfing ihn mit seinen Armen und nachdem Ben erst noch eine Weile gezittert und gebebt hatte, übermannte ihn dann doch der Schlaf und wenig später durchzogen ruhige Atemzüge vieler Schlafender die nun dunkle und einigermaßen warme Höhle und nur das keuchende Husten des kleinen Murat durchbrach gelegentlich die Stille.

  • In der Höhle war eine LED-Taschenlampe und wenn einer der Schlafenden aufstehen musste, um sich zu erleichtern, ging er mit der Lampe vor die Tür in den immer noch heftig wütenden Sturm. In den frühen Morgenstunden-es war zwar immer noch finster draußen, aber der Wind war ein wenig abgeflaut und es hatte auch aufgehört zu schneien-bemerkte Semir, dass Ben begann mit den Zähnen zu klappern und er zog ihn noch ein wenig enger an sich, um ihn zu wärmen. „Wie geht’s dir? Hast du starke Schmerzen?“ fragte er ihn flüsternd, als er bemerkte, dass sein Freund wach war. „Ben schüttelte leicht den Kopf. „Die Schmerzen sind auszuhalten, aber mir ist so kalt und ich bin untenrum völlig nass!“ teilte er seinem Freund mit und der überlegte, dass ja vermutlich der Urin jetzt einfach so aus dem Loch am Damm heraus laufen würde, also war das erklärlich. Trotzdem bat er im Flüsterton um die Taschenlampe und der junge Mann neben ihm, der sie zuletzt gehabt hatte, reichte sie ihm. Semir leuchtete unter ihre gemeinsame Zudecke und dann stieß er einen unterdrückten Ruf des Entsetzens aus. Ben schwamm in einer Blutlache und als er ihm nun ins Gesicht sah, bemerkte er, dass er käsebleich war und der kalte Schweiß seinen Körper überzog.

    Der Patriarch war ebenfalls erwacht und kniete nun auch schon neben seinem Patienten. Als Semir die Decke weg nahm und auf die Blutpfütze deutete, wurde der Gesichtsausdruck des syrischen Heilers ernst. „Das habe ich befürchtet!“ murmelte er und Semir bemerkte sofort, dass er nicht überrascht war. „Was kann man da tun?“ fragte er ein wenig hektisch, denn jetzt war es eh schon egal- inzwischen war die ganze Höhle wach. „Ich muss mir das zunächst einmal ansehen-bringen wir ihn wieder an die Tür, wo wir gestern operiert haben!“ beschloss der Patriarch und wie am Vorabend trug man Ben wieder bis kurz vor die Tür, stellte die Plane als Sichtschutz auf und entzündete den Gasbrenner mit dem Licht. Gemeinsam schälten sie den bebenden Ben aus seinen Hosen, die schwer vom Blut waren und ohne dass sie angewiesen werden mussten, nahmen die Söhne wieder seine Beine und Semir ging an Ben´s Kopfende. Allerdings konnte er diesmal seinen Oberkörper nicht anheben, da dem jungen Polizisten dann sofort schwindlig wurde und so kniete er neben seinem Freund, stopfte ihm seine Jacke als Kissen unter den Kopf, denn Semir war nun warm geworden vor Angst und Panik und außerdem war die Temperatur in der Höhle durch die vielen Menschen inzwischen recht angenehm.


    „Es wird alles gut werden-der Sturm hat aufgehört und bald wird es Tag-du wirst sicher in Kürze im Krankenhaus sein!“ versuchte er seinen Freund zu beruhigen, aber der sah ihn nun mit den Augen in tiefen Höhlen liegend, erschöpft an. „Ich glaube nicht, dass ich das hier überlebe!“ wisperte er und in Semir krampfte sich nun vor Angst um seinen besten Freund alles zusammen. Der Patriarch hatte inzwischen die Blutkoagel weg gewischt und nun konnte man sehen, dass das Blut in beständigem Strom aus Ben´s Körper floss-wenn er nichts unternahm, würde der in weniger als einer Stunde verblutet sein.
    Der Heiler hatte sich am Vorabend für diesen Fall schon einen Plan zurecht gelegt und nun bat er seine Söhne, Ben´s Beine momentan wieder abzulegen, er deckte ihn vorübergehend noch einmal zu, denn Wärme war bei Blutverlust sehr wichtig und dann ließ er sich den Gaskocher bringen und einen großen langen Schraubenzieher mit Holzgriff, den er für diesen Zweck ausgewählt hatte.
    Semir sah den Mann fragend an-der sah aus, als wüsste er, was zu tun war und wieder versuchte er den zitternden Ben zu beruhigen, hielt seine eiskalten Hände und strich ihm liebevoll eine verschwitzte Strähne aus dem Gesicht. „Was kann man jetzt tun?“ fragte Semir aufgeregt und versuchte die Panik, die ihn befallen hatte, nicht allzu deutlich hören zu lassen, aber alle Anwesenden waren mucksmäuschenstill, denn es lag eine gewisse Spannung in der Luft-man fühlte, hier ging es um Leben oder Tod! „Ich werde versuchen die Wunde auszubrennen und so das Blutgefäß zu verschweißen!“ sagte der Heiler nun entschlossen und Semir lief ein kalter Schauer über den Rücken. „Nein-das können sie nicht tun-das ist barbarisch!“ rief er entsetzt und voller Abwehr auf Türkisch und war froh, dass Ben nicht verstehen konnte, was für einen unglaublichen Vorschlag der Syrer gerade gemacht hatte. „Es ist seine einzige Chance-wenn wir die Blutung nicht stoppen, wird er den Sonnenaufgang nicht erleben!“ erwiderte der Heiler bedauernd, aber Semir schüttelte mit Tränen in den Augen den Kopf.


    „Ich denke sie sollten das übersetzen und dann soll er selber entscheiden!“ sagte der Patriarch ruhig und nun versuchte Semir in Worte zu fassen, was der Syrer ihm gerade erklärt hatte. „Ben, dein Behandler hat gerade den Vorschlag gemacht die Wunde auszubrennen und so die Blutung zu stoppen, aber ich kann es verstehen, dass du das nicht möchtest!“ sagte er heftig und Ben sah ihn und dann seinen Arzt mit unendlicher Müdigkeit im Blick an. „Gibt es denn eine andere Möglichkeit?“ fragte er, aber der Syrer schüttelte den Kopf. „Ich würde so gerne meine Kinder aufwachsen sehen, aber ich fühle es-das wird nicht möglich sein, wenn jetzt nichts gemacht wird-er soll es versuchen!“ flüsterte Ben, der merkte, wie mit jedem Tropfen Blut das Leben aus ihm heraus floss und schon hielt einer der Söhne auf Anweisung seines Vaters den Schraubenzieher in die Flamme des Gasbrenners, damit der heiß genug wurde, um seinen Zweck zu erfüllen.
    Der Syrer schob Ben wieder das Holzstück zwischen die Zähne, legte dann seine Hand auf seinen Kopf und segnete ihn. Dann griff er nach dem nun glühenden Schraubenzieher und seine Söhne nahmen nun die Decken weg, packten Ben´s Beine und hielten sie ganz fest.
    Semir liefen die Tränen übers Gesicht-er konnte das Unfassbare immer noch nicht begreifen, aber zugleich hielt er Ben´s Hände mit aller Kraft. Der hatte die Augen geschlossen und atmete stoßweise, aber als das Eisen sich zischend in seinen Damm bohrte und es in der Höhle begann nach verbranntem Fleisch zu riechen, brüllte er, wie er in seinem Leben noch nicht geschrien hatte, bis der Schrei abrupt abbrach, als eine gnädige Ohnmacht ihn umfing.


    Semir und alle anderen Anwesenden hatten sozusagen mitgelitten. Semir hatte zwar furchtbare Angst, dass sein Freund gerade unter seinen Händen gestorben war, als er plötzlich erschlaffte, aber irgendwie war alles besser, als diese unmenschliche Quälerei. Der Patriarch war ebenfalls froh, dass sein Patient nun nicht mehr bei Bewusstsein war und nahm eine gründliche Blutstillung vor. Dann legte er wieder einen Verband an und fühlte in der Leiste den Puls, der zwar schwach, schnell und fadenförmig war, aber bewies, dass sein Patient noch am Leben war. „Wir bringen ihn wieder auf seinen Platz zurück, legen ihn auf die Seite und halten ihn warm!“ ordnete er an und so deckte man Ben dann mit allen Decken und Tüchern zu, die man erübrigen konnte und alle Flüchtlinge gaben bereitwillig etwas ab, Semir legte sich wieder dicht hinter Ben, um ihm von seiner Wärme abzugeben, denn der Körper vor ihm war eiskalt und dann begannen die Frauen Tee zu kochen und gemeinsam warteten sie darauf, dass der Morgen anbrach.

  • Sarah, Andrea, Knut´s Frau und deren Kinder-soweit sie es schon rational verstehen konnten-hatten eine furchtbare Nacht. Erst waren sie noch lange nachdem sie die Kinder ins Bett gebracht hatten, zusammen gesessen und hatten sich gegenseitig Mut zugesprochen. Gott sei Dank waren die Kids vom Spielen im Schnee so müde, dass sie schliefen, obwohl ihre Väter nicht da waren, nur die kleine Mia-Sophie bemerkte stark den Kummer der Mutter und wollte mehrmals in der Nacht zum Trost an die Brust. Allerdings hatte Sarah sowieso kaum geschlafen, darum war das jetzt auch schon egal. Wo steckten sie wohl? Verzweifelt sah Sarah aus dem Fenster, vor dem der Schneesturm tobte. Sie lagen hier in den warmen weichen Betten und ihre Männer waren irgendwo da draußen-und niemand wusste, ob sie überhaupt noch am Leben waren und wenn ja-in welchem Zustand! Wenn sie im Freien waren, dann waren sie jetzt mit Sicherheit nicht mehr am Leben, also klammerte sich Sarah an den Gedanken mit dem Biwak.
    Der Hotelbesitzer hatte versucht beruhigend auf sie einzuwirken, aber auch der konnte ja nicht wissen was passiert war. Er hatte mehrmals versucht den Bergführer zu erreichen, aber kein Wunder-bei so einem Wetter war kein Empfang möglich. Wenn das Unwetter nachgelassen hatte, konnte man versuchen die Smartphones zu orten, aber nicht einmal das ging jetzt. Dennoch hatte Andrea am Abend noch in der PASt angerufen und Susanne, die zufällig Nachtdienst hatte, hatte zwar keine aktuelle Ortung durchführen können, aber immerhin sagen, dass die Handys von Semir und Ben sich zuletzt am Nachmittag gegen drei im Deutsch-Österreichischen Grenzgebiet in ein Netz eingewählt hatten. Als sie das dem Hotelbesitzer sagten, runzelte der die Stirn. Verdammt-wenn das stimmte, dann war hier irgendetwas ganz und gar nicht in Ordnung, denn die Gruppe hätte es ohne Skier von dieser Position aus nie geschafft, noch vor Einbruch der Dunkelheit ins Tal zu kommen, außerdem war das eigentlich eine ganz andere Route als der Bergführer vorgeschlagen hatte. Vielleicht hatte sich einer der Tourengeher verletzt und der Bergführer hatte sie daraufhin von vorne herein in eines der Biwaks dort oben geführt, weil er schon gesehen hatte, dass sie das rettende Tal nicht mehr erreichen würden, bevor das Unwetter herein brach? Auf jeden Fall war das merkwürdig und auch er wäre froh, wenn seine Gäste wohlbehalten wieder im Hotel waren! Immerhin hatte er die Tour ja sozusagen mit vermittelt und das warf auch ein schlechtes Licht auf ihn als Hotelmanager.
    Als gegen fünf Uhr morgens plötzlich der Schneesturm aufhörte und die tosenden Flocken einer eiskalten Nacht wichen, machten sich die ersten Bergretter fertig. Allerdings hatte es so viel geschneit, dass es extrem schwierig werden würde in das Suchgebiet einzusteigen, da die Wege einfach nicht mehr zu erahnen waren und der Hubschrauber konnte erst bei Tageslicht aufsteigen und da war noch ein paar Stunden hin. Dennoch machte sich ein Trupp der Bergrettung, der fast alle gesunden Männer im Tal angehörten, mit Schneeschuhen, Skiern, Stirnlampen und Seilen auf, um die Vermissten zu suchen. Sarah fand nun doch noch ein wenig Schlaf, der allerdings von schrecklichen Alpträumen gestört wurde.


    In der Höhle hatte Semir inzwischen versucht so viel Wärme und Zuversicht wie nur möglich an seinen Freund weiter zu geben. Er bildete sich ein, dass der nun nicht mehr ganz so kalt war und während die Teebecher mit dem stark gesüßten Schwarztee herumgingen und die Kinder Zwieback zu knabbern bekamen, hatte der Patriarch mehrmals die Tücher gelüpft und das Operationsgebiet kontrolliert, aber momentan stand die Blutung und irgendwann begann Ben sich auch wieder zu regen. Semir richtete sich auf. Gerade begann es draußen hell zu werden und der Schneesturm hatte aufgehört. Allerdings hatten sich nun die Männer fast gegen die Eingangstür stemmen müssen, so hohe Schneeverwehungen hatte es gegeben. Auch Semir war nach draußen gegangen um sich zu erleichtern und hatte dann verzweifelt das Gelände begutachtet. Von den Wegen war nichts mehr zu erkennen, sie saßen hier fest! Als er wieder hinein ging, versuchte der Patriarch gerade Ben ein paar Tropfen Tee einzuflößen, denn er hätte dringend Flüssigkeit gebraucht, aber Ben war zu schwach zum Schlucken und sobald man ihn auch nur minimal aufrichtete, verdrehte er die Augen und kollabierte. „Wenn er nicht bald in ein Krankenhaus kommt, war die Tortur umsonst!“ sagte der Patriarch ernst und nun reifte in Semir ein Entschluss-nun lag es an ihm, seinen Freund-und vermutlich auch den kleinen Murat, der hoch fiebernd da lag- zu retten.


    Der Bergführer hatte eine recht behagliche Nacht in dem anderen Biwak verbracht. Er hatte eine wunderbare Ausrüstung dabei und kochte sich nun Instantkaffee sogar mit Zucker und Kaffeeweisser, aß dazu eingedostes Vollkornbrot mit Marmelade und prüfte dann, frisch gestärkt, ob sein Revolver auch funktionstüchtig war. Dann streckte er sich, holte die dort lagernden Skier aus dem Biwak, denn anders hatte man bei diesen Schneemassen bergab keine Chance und machte sich-nachdem er sein Nachtlager ordentlich verlassen hatte-auf den Weg, um nach dem Verbleib der Flüchtlinge zu sehen. Wenn sie kein Biwak erreicht hatten, hatten zumindest die Frauen und Kinder die Nacht nicht überlebt, aber er würde sich zuerst davon vergewissern und was er mit dem Rest der Gruppe dann machte, würde er entscheiden, wenn er sie gefunden hatte.

  • Semir hatte sich die Skier, die auch in diesem Biwak lagerten, eine ganze Weile angesehen. Erst hatte er sich gescholten, dass das ein Blödsinn wäre, denn er hatte sich beim Skikurs vor ein paar Tagen ja nicht gerade gut angestellt. Allerdings war er die Abfahrt doch irgendwie herunter gekommen und nur das mit dem Bremsen hatte er nicht so richtig elegant hingebracht, aber Schneepflug würde seine Fahrt verlangsamen, das hatten auch die Kinder so geübt. Wenn er daran dachte wie der gerade mal gut zweijährige Tim den Berg runter gekurvt war, dann beschloss er, dass das nun wirklich kein Hexenwerk sein konnte. Leider hatten sie auch nur noch den einen Schneeschuh mit dem er Knut und Ben ausgegraben hatte-die anderen waren beim Lawinenabgang verloren gegangen. Ohne etwas unter den Füßen war es unmöglich im frischen, lockeren Tiefschnee voran zu kommen, soviel war klar!

    Semir hätte ja auch gewartet, bis der Hubschrauber kam, aber er hatte irgendwie die Ahnung, dass der Bergführer sie wo völlig anders hingeführt hatte, wie das zuvor ausgemacht gewesen war. Sie hatten ihm vertraut und keinen Gedanken daran verschwendet, dass der Böses im Schilde führen könnte. Semir war auch bis jetzt völlig unklar, warum der das Schneebrett los getreten hatte. Oder war es vielleicht doch Zufall gewesen und er war mit abgestürzt und lag jetzt irgendwo dort draußen unter Bergen von Schnee verschüttet? Natürlich würde man versuchen ihre Handys zu orten, aber wenn man der Hypothese nachging, dass der Bergführer ihren Tod-warum auch immer-geplant hatte, dann hatte er die vielleicht mit genommen und irgendwo völlig anders in die Schlucht geschmissen, so dass die Retter auf eine falsche Fährte geführt würden.
    Die Flüchtlinge mit ihrer miserablen Ausrüstung würden hier ohne fremde Hilfe nicht mehr weg kommen, der eine junge Mann hatte zwar eine gute Winterkleidung und Schuhe an-warum auch immer, aber der hielt sich immer irgendwie abseits-Semir war nicht ganz klar, welche Funktion der hatte. Er hatte ihn einmal angesprochen, aber er hatte so getan, als würde er ihn nicht verstehen, aber merkwürdig war der schon. Allerdings war das jetzt im Moment egal-sie würden nun zunächst alles was bunt war ins Freie schaffen und da eine Spur für den Hubschrauber auslegen, aber Semir hatte sich das Gelände genau angesehen-erstens konnte hier nirgendwo ein Heli landen und dann waren sie auch in einer Ecke des imposanten Hochgebirgsmassivs, wo gerade noch Schatten war-wenn man das Suchgebiet nicht eingrenzen konnte, würde es sicher eine ganze Weile dauern, bis sie entdeckt würden.


    Und wer sagte, dass nicht der Bergführer sogar ins Hotel zurück gekehrt war-vielleicht mit ihren Handys- dort die traurige Mitteilung gemacht hatte, dass sie alle miteinander bei einem Lawinenabgang ums Leben gekommen waren und die Helfer zur Leichenbergung in eine völlig andere Ecke des Bergmassivs schickte? Denn der ging sicher davon aus, dass von ihnen keiner überlebt hatte-wenn er denn selber noch am Leben war. Aber Zeit war genau das, was Ben nicht hatte-wenn er nicht bald in ein Krankenhaus kam, dann würde er sterben, so viel war sicher und Semir würde alles tun, damit das nicht geschah.

    So trank er nochmals einen Becher süßen Tee, schlüpfte versuchsweise mit seinen Bergschuhen in die Skibindung-na ja, es war nicht perfekt, aber es würde gehen, die Skier waren Carver und anscheinend Damenski und daher von der Größe her für ihn geeignet- und dann ging er nochmal zu seinem Freund, während die Flüchtlinge auf sein Geheiß draußen schon eine Spur für den Heli legten. „Ich fahre jetzt mit Skiern ins Tal und hole Hilfe, Ben!“ sagte er und als der schwach zu protestieren versuchte, legte er ihm den Finger auf den Mund. „Pscht, leise-ich bin vorsichtig, aber es geht auch um das kranke Kind, das muss sobald als möglich ins Krankenhaus!“ sagte er und damit nahm er Ben den Wind aus den Segeln. „Sei vorsichtig-und viel Glück!“ gab der ihm noch mit auf den Weg und dann machte Semir sich auf. Er packte fest die Stöcke, zog seine Mütze über die Ohren und fuhr einfach los, in die Richtung aus der sie gekommen waren. Er hatte eigentlich eine sehr gute Orientierung und war sich sicher, er würde den Weg zurück finden. Gefährlich war eher, wenn der Weg eng und steil wurde und an einer Abbruchkante entlang ging, aber dann würde er die Skier schultern und mit Hilfe der Stöcke ein Stück zu Fuß gehen, beschloss er und binnen Kurzem war er um das erste Bergmassiv verschwunden.


    Der Patriarch hatte dem kleinen Mann nachgesehen und sein Herz war von Dankbarkeit erfüllt. Der setzte sein Leben aufs Spiel, um sie alle miteinander zu retten, denn ohne fremde Hilfe würden sie von hier nicht mehr weg kommen. Eine tiefe Traurigkeit ergriff andererseits nun auch von ihm Besitz. Hiermit war ihre Flucht gescheitert. Österreich nahm aktuell überhaupt keine Flüchtlinge auf und sie würden postwendend wieder in ihre Heimat abgeschoben und dort vermutlich umgebracht werden. Aber das war wohl Gottes Wille-sie hatten es immerhin versucht und würden jetzt ihr Schicksal demütig annehmen und so versammelte er seine Familie zum Morgengebet und alle außer dem Schlepper, der ja dem Islam angehörte, beteten alle voller Inbrunst mit.


    Der Bergführer war, sobald die Morgendämmerung es erlaubte, mit eleganten Schwüngen Richtung Tal gefahren, wo auch das zweite Biwak lag. Immer rechnete er damit auf Leichen zu stoßen, denn wenn sie das nicht geschafft hatten, waren jetzt vielleicht keine Syrer mehr am Leben. Spuren konnte man jetzt auch keine mehr entdecken, denn der Schneesturm hatte alles verwischt. Als er allerdings um eine Ecke bog, sah er bunte Tücher vor dem Biwak draußen ausgelegt-die Menschen waren gar nicht dumm! Sie konnten zwar nicht wissen, dass vermutlich bald ein Heli auf der Suche nach den Leichen der Schneeschuhwanderer aufsteigen würde, aber es war auch die einzige Chance für die Flüchtlinge von hier weg zu kommen. Bei diesen Witterungsverhältnissen war ein Abstieg ins Tal ohne passende Ausrüstung unmöglich und auch er würde die Menschen nicht hier runter bringen. Er hatte noch ein Ersatzmagazin und würde sie einfach alle miteinander abknallen und dann in dem Biwak einschließen. Bis man sie im Frühjahr fand, waren die Leichen verwest und dann würde man ein erneutes Flüchtlingsdrama mit einem kollektiven Selbstmord vor Verzweiflung vermelden, denn natürlich würde er seine Waffe zuletzt dem Patriarchen in die Hand geben und das so arrangieren, als ob sich der als Letzter mit einem Kopfschuss getötet hätte. Die Tücher würde er dann ein sammeln , so dass keine Spur darauf hinwies, dass hier Menschen auf Hilfe gehofft hatten. Ob er den türkischen Schlepper am Leben lassen würde, konnte er noch nicht sagen, das würde er vor Ort entscheiden. Der konnte vielleicht mit den Ersatzskiern aus dem Biwak mit ihm abfahren und ihm helfen, das Winkler zu erklären. Vielleicht bekam er dann trotzdem von dem weiter Aufträge, aber wenn nicht, dann würde er schon andere Geldquellen auftun. So näherte sich der Bergführer mit eleganten Schwüngen dem Lager, während bereits einige hundert Meter tiefer Semir seinen privaten Kampf gegen den Schnee aufgenommen hatte.


    Ben sah völlig entkräftet an die Decke und lauschte dem murmelnden Singsang der Gebete, die der tiefgläubige Patriarch mit seiner Familie sprach. Irgendwie war er fast ein wenig neidisch, dass diese Menschen so viel Kraft aus ihrem Glauben schöpfen konnten und auch sicher waren, dass nach dem Tod noch etwas kam. War das wirklich so? Er hatte keine Ahnung und hoffte auch verzweifelt, das nicht so bald heraus finden zu müssen!

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