Pirun palvelijan - Diener des Teufels

  • Diese Geschichte ist der vierte Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:



    1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
    2.Fall: Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: -
    5.Fall: Blackout
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: Vertrauen
    8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
    9. Fall: Kalter Abschied

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    Veikko Lindström schob den Rollstuhl neben eine Bank und hob die dünne Wolldecke etwas höher, nachdem sie auf den Weg hierhin weggerutscht war. „Und? Willst du immer noch lieber in deiner muffigen Klinik bleiben?“, fragte er. Mikael lächelte. „Es hat geschneit“, sagte er mit einer noch etwas schwammig und undeutlich wirkenden Aussprache.
    Veikko setzte sich neben seinen Freund auf die Bank. „Ja, ich dachte den ersten Schnee im Jahr willst du vielleicht nicht verpassen. Unsere obligatorische Schneeballschlacht müssen wir allerdings verschieben.“ „Warum denn.“ Aus dem Augenwinkel sah er, wie Mikael eine Bewegung machte, die einem Bücken glich. Er streckte den rechten Arm aus und brachte ihn wieder in die aufrechte Position. „Mach keinen Mist. Ich sagte, dass wir keine Schneeballschlacht machen. Du musst dich noch etwas gedulden.“ Er vernahm ein leises Schnaufen und löste seine Hand nun wieder. Mikael war zwar ohnehin in dem Rollstuhl festgeschnallt, weil er noch viel zu schwach und unkoordiniert war um selbst zu laufen, aber riskieren wollte er dennoch nicht, dass sein Freund irgendeinen Blödsinn anstellte. Veikko sah sich die Umgebung an. Der Park war groß und in der Mitte befand sich ein kleiner Teich, dessen Ränder durch den ersten Frost, bereits angefroren waren. Drei Monate war Mikael nun schon hier, nachdem Eva ihn von Köln nach Helsinki geholt hatte. Nach einem Sturz hatte er sich eine schwere Schädelverletzung zugezogen, hatte mehrere Wochen im Koma gelegen und kämpfte sich nun täglich zurück ins Leben. Das es ein schwerer Weg werden würde, darüber waren sie sich alle bewusst, als sie die Diagnose gehört hatten. Wie schwer es tatsächlich war, merkten sie erst nachdem Mikael aus dem Koma aufgewacht war. Die ersten Tage konnte er überhaupt nicht sprechen, dann waren die Worte kaum zu verstehen. Durch das Sprachtraining wurde es inzwischen immer besser. Auch kehrten seine geistigen und körperlichen Fähigkeiten zurück. Ob es am Ende allerdings alle sein würden, dass konnte man weiterhin nicht sagen, vor allem weil er seit knapp einer Woche fast stagnierte. Er hatte eine linksseitige Lähmung, die noch nicht ganz zurückgegangen war, war verwirrt und wirkte manchmal weit weg in seiner eigenen Welt. Aus seinem Blickwinkel tat sich überhaupt nichts mehr. Es schien nicht vorwärts zu gehen, aber der Arzt hatte ihnen versichert, dass es kleine Fortschritte gab. Es hieß weiter Geduld haben.


    Sein Handy klingelte und er entfernte sich ein Stück, ohne dabei seinen Freund aus den Augen zu lassen. „Lindström.“
    „Veikko, ich wollte dich nur an unsere Feier erinnern. In zwei Tagen.“ Es war sein Vater. „Ich kann nicht, Papa. Das habe ich dir doch erzählt.“
    „Du weißt, dass es für unser Ansehen in der Gemeinschaft von Bedeutung ist? Du bist doch Teil dieser Familie, oder nicht?“
    Er seufzte und versuchte seine Stimme in Zaum zu halten. „Papa, du weißt, dass ich nichts mehr damit zu tun haben will.“
    „Der Meister hat also Recht. Es könnte sein, dass der Teufel in dir wohnt, sagt er.“
    Veikkos Hand begann mit den scharfen und gleichzeitig ängstlichen Worten seines Vaters zu zittern. „Du weißt, dass das Quatsch ist, Papa. Ich bin reinen Glaubens“, antwortete er mit starker Stimme.
    „Er hat mir erzählt, wie du wirklich lebst. Wer deine Freunde sind!“, kam es vom anderen Ende der Leitung.
    „Wovon redest du?“
    „Du bist bei der Polizei! Du bist vom Bösen umgeben, den ganzen Tag. Es ist nur natürlich, dass der Teufel in dir steckt, aber wir werden ihn vertreiben. Kommst du freiwillig oder muss ich dich holen lassen?“
    „Wirklich! Scheiße Papa, ich bin dein Sohn. Steckst du wirklich schon so tief in diesem Schwachsinn, dass du es nicht checkst!“
    „Du hast jemanden umgebracht, sagt er!“
    „Sagt er!“ Er legte auf und steckte das Handy wütend in seine Hosentasche. „Zum Teufel mit diesem Scheiß!“, fluchte er laut. Er atmete tief durch und setzte sich dann wieder neben Mikael. „Bist du sauer?“ „Es war mein Vater. Labert mich wieder mit seinem Gotteskram voll“, antwortete er wahrheitsgemäß. Allerdings wusste er, dass es sein Freund wohl ohnehin nicht behalten würde. Er hatte heute einen der schlechteren Tage und nahm nicht wirklich viel von dem auf, was er ihm erzählte. Er hatte schon drei Mal gefragt, ob Eva heute auch kommen würde und er hatte drei Mal geantwortet, dass sie es erst am Abend schaffte.


    „Sollen wir wieder rein gehen? Du bist sicherlich müde.“
    „Etwas.“
    Er lächelte. „Etwas? Du hast schon ganz kleine Augen.“ Veikko stand auf und umgriff die Schiebgriffe des Rollstuhls. „Ich soll dich übrigens von der Mordkommission grüßen und von den Jungs der KTU. Wir vermissen dich im Präsidium. Alle fragen immer zu, wie es dir geht.“ „Kasper Kramsu ist mein Ersatz“, hörte er von vorne. „Ja. Das musst du nicht gerne gehört haben, nicht? Aber er ist okay, er hat sich seit damals geändert.“
    „Er hat dich ver …“ Mikael blieb stumm. Ihm schien das passende Wort nicht mehr einzufallen. „Verprügelt?“, fragte er nach als einige Sekunden verstrichen waren.
    „Ja.“
    Er lachte. „Er hatte seine Gründe. Es ist okay. Wir treffen uns sogar manchmal, aber Psst nicht weitersagen.“
    „Er war mal mit Eva zusammen.“
    „Darüber machst du dir Sorgen? Sie liebt nur dich!“
    „Ich liebe sie auch“, sagte Mikael.
    „Das sieht man. Du lächelst immer zu, wenn sie da ist.“


    Sie hatten inzwischen das Klinikgebäude wieder erreicht und Veikko drückte den Türöffner, woraufhin die Tür mit einem leisen Summen aufging und er den Rollstuhl in das helle und freundlich gestaltete Foyer schob.
    „Was ist mit Eva? Weißt du, ob sie heute noch kommt?“, hörte er Mikaels Stimme.
    Veikko atmete tief durch und gab sich Mühe, nicht genervt zu wirken. Mikael konnte ja nichts dafür, dass er es vergessen hatte. „Ja, heute Abend. Es ist erst Nachmittag. Du musst noch ein paar Stunden Geduld haben.“
    „Heute Abend“, wiederholte der Schwarzhaarige leise und Veikko nickte. „Ja, heute Abend. Vielleicht bringt sie ja Oskari mit. Vermisst du ihn?“
    „Ja.“ Er lächelte. Na immerhin hatte sich bei Mikael nicht der Teil des Gehirns in Brei verwandelt, der für seinen Charakter verantwortlich war. Er mochte immer noch die gleichen Sachen und er hasste immer noch die gleichen Sachen.


    Veikko brachte Mikael noch in sein Zimmer und half ihm gemeinsam mit einer Schwester wieder in das Bett. Er würde es sicherlich inzwischen auch schon alleine schaffen, da sein Freund seinen Körper schon deutlich besser im Griff hatte, als noch vor ein paar Wochen, wo er nicht einmal selbstständig aufrecht sitzen konnte, aber er fühlte sich sicherer, wenn jemand dabei war, der wusste, wie es ging. „Soll ich dir beim nächsten Mal etwas bestimmtes mitbringen?“, fragte er nach, als die Schwester das Zimmer verlassen hatte.
    „Ich weiß nicht“, murmelte Mikael müde, während ihm die Augen zufielen.
    „Schokolade, wie klingt das?“
    „Hmm.“
    Kurz darauf ertönten nur noch leise Schlafgeräusche. Er drückte Mikaels Arm. „Ciao Kumpel. Ich bring dir dann Schokolade mit. Nuss, wie du sie magst.“
    Vorsichtig schob er seinen Stuhl zurück und stand dann auf, um seine Jacke vom Haken zu nehmen. Danach verließ er so leise, wie möglich das Zimmer und begab sich auf den Heimweg.


    Er war mit dem Mountainbike gekommen, wie immer. Er fuhr viel mit dem Fahrrad und hatte bereits die Räder mit Spikes aufgezogen, damit er im Winter nicht zum rutschen kam. Es war zwar erst Oktober, aber in diesem Jahr ein besonders kalter. Die Temperaturen erreichten in einigen Nächten bereits die Nullgradgrenze. Er dachte an das Gespräch mit seinem Vater und überlegte inzwischen ernsthaft, ob er nicht wirklich zu dieser Familienfeier gehen sollte. Er musste sehen, wie es seinem Vater ging. Das am Telefon hatte sich nicht gut angehört und er machte sich Sorgen, dass seine Familie noch tiefer in die Fänge dieser Sekte geraten könnte.


    Zu Beginn ließ er es langsam angehen, erst dann beschleunigte er seine Geschwindigkeit. In seinem iPod hatte er sein Lieblingslied ausgewählt, dass er nun laut mitsang. Das ließ ihn zumindest den Ärger vergessen. Es war kurz vor 17:00 Uhr und es wurde langsam dunkel. Neben ihm tauchte auf der Straße immer wieder ein Lichtkegel auf, wenn ein Auto vorbeifuhr.


    Ein Wagen hielt neben ihm an und das Fenster öffnete sich ein paar Zentimeter und er hörte eine Frau schreien. Er blieb nun ebenfalls stehen. „Können Sie mir vielleicht helfen, wissen Sie wie ich zum Helsinkier Dom komme?“ Veikko stieg von seinem Mountainbike und lehnte es an einen Leitpfosten. Er ging ein paar Schritte auf den Wagen zu und stützte sich mit den Händen an dem geöffneten Fenster ab. „Von hier ist es nicht besonders schwer, wenn sie auch noch sehr weit außerhalb der Innenstadt sind. Sie müssen einfach weiter geradeaus fahren und danach …“ Er erstarrte als sich urplötzlich von seinem Arm Schmerzen ausbreiteten. Er sah hinab und verfolgte, wie die Frau den Kolben einer Spritze runter drückte und eine durchsichtige Flüssigkeit in seiner Blutbahn verschwand. Er merkte, wie er langsam müde wurde. Seine Beine schienen plötzlich aus Wackelpudding zu sein, gaben unter ihm nach. Er hielt sich krampfhaft an der Tür fest. "Was?", nuschelte er verwirrt, doch bekam keine Antwort, bevor er das Bewusstsein verlor.

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  • Sie hatte blondes schulterlanges Haar, ein schmales Gesicht mit hohen Wangenknochen und Grübchen in den Mundwinkeln, wenn sie lächelte. Ihre Augen waren hellblau und wenn er hineinsah, da glaubte Ben in einem Ozean zu versinken. Heute jedoch, sah sie traurig aus. „Was ist?“, fragte er und zwang sie dazu ihn anzusehen indem er ihr Kinn mit seiner rechten Hand ein Stück anhob. „Es geht um meinen Bruder“, antwortete sie leise und bedrückt.
    Seine Augen weiteten sich überrascht. „Du hast einen Bruder? Ich habe ihn noch überhaupt nicht kennengelernt.“
    „Er lebt nicht in dieser Gemeinschaft.“
    „Es gibt also noch weitere Gemeinden?“
    Sie lachte. „Schon, aber er lebt in keiner. Er hat uns verlassen. Er lebt in der Stadt.“ Sie sah auf die Erde und spielte mit ihrer Kette. Zwei ineinander verschlungene Engelsflügel. „Vater glaubt, dass er vom Teufel besessen ist.“
    Er sah sie lange stumm an und versuchte die passende Antwort zu finden. Was sagte man auf so etwas? Wie drückte man sich in diesen Kreisen aus? „Das glaube ich nicht Enni. So etwas kann doch in eurer Familie nicht vorkommen. Ihr seid doch so rein.“
    Enni lachte. „Du bist noch neu, du verstehst das alles noch nicht!“ Sie griff nach seiner Hand und drückte sie sanft. „Die Versuchung des Bösen ist groß und nur die Stärksten kommen gegen sie an!“
    Er nickte. „Du hast Recht, ich brauche wohl noch Zeit. Ich werde mich sicher noch hier zurecht finden.“
    „Mein Vater hält große Stücke auf dich. Er sagt, dass du es zu was bringen wirst!“ Die Traurigkeit in ihrer Stimme war verschwunden und nun klang sie stolz.
    „Das ehrt mich.“


    Armes Ding, dachte er. Sie schien wirklich daran zu glauben, was hier praktiziert wurde. Er hätte diesen komischen Undercovereinsatz vielleicht doch nicht annehmen sollen, als die Sonderkommission aus deutschen und finnischen Beamten vor drei Wochen auf ihn zugetreten war, nachdem Antti – Hauptkommissar bei der Mordkommission und Mikaels früherer Partner - ihn empfohlen hatte. Es war kein Problem gewesen, diesen Gottesfanatikern beizutreten und sie von seinen ehrlichen Absichten zu überzeugen, aber dennoch war Ben mulmig zumute. Auch weil es hier niemanden zu geben schien, der ernsthaft zweifelte. Niemand stellte das in Frage, was in den täglichen Gebeten gepredigt wurde. Niemand zweifelte daran, dass es so etwas wie den Teufel gab. Die Gemeinde, die sich die Gottesdiener nannte, lebte von der Außenwelt abgeschnitten und doch war Ben hier, weil eine Gruppe von Spezialisten glaubte, dass sie eine Gefahr darstellen könnten. Ihr Anführer, ein gewisser Erik Blomling, hatte vor einigen Monaten gewechselt und schien waghalsige Ideen zu haben, wie er die Welt von allen Bösen befreien konnte. Bisher hatte Ben diesen Meister nicht kennengelernt oder zu Gesicht bekommen, noch hatte irgendwer über diese Ideen des Meisters geredet. Der Kontakt nach draußen war ebenfalls eine Herausforderung. Er hatte zwar ein Handy mit, aber die Funkwellen wurden auf dem Gelände der Sekte gestört. Er bekam keinen Empfang. Es gab nur wenige Momente, in denen er die Möglichkeit hatte über das Haustelefon mit dem leitenden Ermittler Kontakt aufzunehmen und selbst dann musste es verschlüsselt passieren. Er konnte quasi nichts nach draußen mitteilen und fragte sich langsam wirklich, wie er überhaupt den Einsatzleiter darüber informieren sollte, wenn diese Menschen etwas planten? Bis er die Möglichkeit hatte, könnten die ihren Plan bereits umgesetzt haben.


    Er hatte nicht einmal Ahnung, wo genau sich die Gebäude dieser Sekte befanden. Es war ein größerer Bauernhof mit einem Haupthaus und vielen kleineren Gebäuden auf dem Gelände. Er wusste, dass es in Finnland war und er wusste, dass es wohl nicht weit von Helsinki lag. Zumindest war er nicht weit bis hierhin gefahren. Diese Leute waren so paranoid gewesen, dass sie ihn eine Augenbinde aufgezogen hatten. Der Grund, der zum Hof gehörte, war ziemlich weitläufig. Ben war es vor einigen Tagen einmal abgelaufen und hatte sich ein Bild gemacht. An der einen Seite gab es einen großen Wald, zu der anderen Seite führte eine kleine Straße hinaus, gesäumt mit einem großen prachtvollen Tor. Drei Wochen, dachte er. Er war davon ausgegangen, dass er schneller alle Beweise beisammen gehabt hätte. Er hoffte, dass Mikael ihm nicht böse sein würde, dass er ihm nun plötzlich nicht mehr beistand. Natürlich hatte er es seinem Freund erklärt, aber Mikael war nicht wirklich bei der Sache gewesen. Vielleicht war es ihm überhaupt nicht mehr bewusst, wohin er verschwunden war? Er hoffte, dass er weiterhin Fortschritte machte, auch wenn er sie nun nicht mehr vom Nahen beurteilen konnte. Er musste doch Fortschritte gemacht haben? Es war doch schon drei Wochen her, seit er ihn das letzte Mal gesehen hatte.
    Eine Hand umfasste seine Wange und holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. „Woran denkst du?“, fragte Enni. „Einen Freund“, antwortete er. „Er hatte einen schweren Unfall.“ „Gott wird ihm die Kraft geben!“ Wenn Mikael denn an Gott glauben würde, fügte er in seinem Inneren hinzu. Denn das wusste er, sein Freund glaubte nicht an eine übergeordnete Macht, die sein Leben lenkte.
    Er lächelte. „Das denke ich auch. Ich werde in mein Zimmer gehen, wenn es dich nicht stört.“
    „Nein, natürlich nicht. Ich wünsche dir einen guten Abend.“
    „Danke.“ Er stand auf, verließ den Gemeinschaftsraum und begab sich in Richtung seines kleinen Zimmers. Dort legte er sich auf das Bett und sah an die Decke. Inzwischen ärgerte er sich, dass er so leichtfertig diesen Fall angenommen hatte. Er hatte keine Hinweise, noch hatte er Zugang zu den wirklich wichtigen Menschen. Ennis Vater war ein wichtiger Mann und so hoffte er über sie an ihn heranzukommen. Enni hatte ihn in zwei Tagen zu einem Familienessen eingeladen. Vielleicht würde sich ja dann etwas ergeben? Er brauchte langsam wirklich ein kleines Erfolgserlebnis.


    *


    Semir setzte den letzten Punkt in seinem Arbeitsbericht des heutigen Tages und schaltete den Computer dann aus. Auf dem Nachhauseweg machte er, wie üblich, einen kleinen Umweg und sah bei Ben nach dem Rechten und holte die Post rein, damit niemand anhand eines überfüllten Briefkastens feststellen konnte, dass er nicht Zuhause war. Semir stellte seinen silbernen BMW direkt vor dem Hauseingang ab. Dann ging er in den Wohnkomplex, sammelte die Briefe des Tages ein und stiefelte die Treppen hoch und öffnete die Wohnungstür. Die Tagespost legte er feinsäuberlich auf die Anrichte in der Küche, so wie er es immer tat. Und jedesmal blieb sein Blick wieder auf dem Foto am Kühlschrank hängen. Er war es, der es aufgenommen hatte. Ben lächelte in die Kamera und hatte seinen Arm um Mikaels Schulter gelegt. Der Schwarzhaarige Mann, der etwas jünger war als sein Kollege, lächelte ebenfalls, wenn auch nicht so breit wie Ben. Ein zurückhaltendes, aber dennoch ehrliches Lächeln, so würde er es beschreiben.


    Semir gab sich Mühe, sich über Mikaels Fortschritte am Laufen zu halten. Er hoffte, dass er diesen Unfall überstand ohne Schäden davonzutragen. Bei ihrem letzten Telefonat hatte Eva verzweifelt geklungen, weil ihr Freund kaum noch Fortschritte machte. Er hatte versucht sie zu beruhigen, dass es sicherlich nur eine kurze Phase sei und sie weiter Geduld haben musste, aber tief in ihm da war sie ebenfalls, diese Angst, dass Mikael nicht mehr zurückbekommen würde, als er gerade hatte. Bei seinem letzten Besuch mit Ben in Finnland war Mikael oft zwischen den Sprachen gesprungen, in denen er geredet hatte und schien fürchterlich verwirrt was Tageszeiten und Wochentage anbelangte. Dazu hatte er sich immerzu wiederholt. „Warum nur macht dein Schutzengel auch im entscheidenden Moment eine Pause“, flüsterte er leise. Es waren vielleicht Sekunden gewesen, in denen Mikael nicht auf den Verdächtigen geachtet hatte und ihm damit die Möglichkeit gab, ihn einen Abhang herunterzustürzen. Semir löste sich wieder von dem Bild und nahm sich vor, dass er Mikael bald wieder besuchen würde. Vielleicht würde das ja auch sein unangenehmes Bauchgefühl beruhigen.


    Als er nach Hause kam, wurde er von seinen beiden Töchtern begrüßt, die ihm sofort ins Wohnzimmer zerrten und ihm von ihrem Tag berichteten.

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  • Veikko wagte es nicht die Augen zu öffnen. Er wusste bereits durch den Geruch, wo er gelandet war. Er versuchte den Arm zu heben, doch vergebens. Auch bei seinen Beinen hatte er keinen Erfolg. Sie schienen ihn festgebunden zu haben. Er atmete einmal tief ein und öffnete die Augen. „Willkommen in der Hölle“, nuschelte er leise zu sich selbst, als er auf die kahlen Putz-Wände des Raumes blickte. Seine Augen fielen auf die Riemen, mit denen er auf einer schmalen Pritsche festgemacht war. Er hörte die Schritte, eine Frau weinte bitterlich. Er sah zur Seite und erkannte seine Mutter, die auf ihn zukam. „Mama, mach mich sofort los!“, schimpfte er wütend. „Ich bin nicht der Diener des Teufels. Mama, nur weil das irgendjemand erzählt, ist es noch lange nicht wahr!“ Er versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er Angst hatte, doch es war eine Lüge. Er wusste genau, was passieren würde und das bereitete ihm Angst. Wenn er seine Eltern nicht vom Gegenteil überzeugen konnte, würden sie ihn hier unten einsperren, sie würden versuchen ihm den Teufel auszutreiben und das machte ihm Angst. Denn er wusste, was dann zwangsläufig mit ihm passieren würde.


    Seine Mutter lächelte sanft und strich ihm über die Wange. „Das denkst du jetzt, aber du wirst dankbar sein, wenn wir ihn besiegt haben. Ich werde jetzt dem Meister berichten dass du wach bist.“ Ihre Hand löste sich von seinem Gesicht und sie stand auf. „Mama!“, schrie er, doch sie hörte ihn nicht mehr. „Scheiße“, fluchte er leise, als die Tür ins Schloss fiel. Es würde Stunden dauern, bis ihn jemand vermisste und selbst dann würden sie vielleicht nicht darauf kommen, wo er war. Er hatte doch kaum jemanden davon erzählt, dass seine Familie in dieser Sekte war. Mikael wusste es und er hatte auch den Anruf mitbekommen, aber im Augenblick konnte er nicht – wie sonst – auf das Gehirn seines Freundes bauen. Es war nicht einmal sicher, ob Mikael sich daran erinnerte, dass sein Vater ihn angerufen hatte. Er war in diesem Augenblick viel zu sehr mit der Freude über den Schnee beschäftigt gewesen, als das ihm dieser winzige Moment von nur wenigen Minuten hätte im Gedächtnis bleiben könne. Kasper wusste davon, aber auch bei ihm war er nicht sicher, ob er zusammenbekommen würde, wenn es hieß, dass er verschwunden war. Auch seine Ex-Frau, Laura, war in diesem Fall keine Option. Sie war verreist mit ihrer gemeinsamen Tochter und da sie ohnehin nicht täglich telefonierten, würde sie es sicherlich nicht bemerken. Verbissen zerrte und ruckte er an den Schnallen an seinen Gelenken, musste aber feststellen, dass sich nichts tat. Er war gefangen und hatte keine Chance auf Flucht. Er war der Situation hilflos ausgeliefert und so etwas mochte er überhaupt nicht.


    Er wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, als sich die dicke Holztür abermals öffnete. Seine Eltern traten zuerst herein, dahinter folgte ein großer blonder Mann, den er nicht kannte. Vermutlich war das der neue sogenannte Meister. Derjenige, der das Oberhaupt der Gemeinschaft war. Seine Augen fixierten das Skalpell in der rechten Hand des Mannes. Er wusste was nun kam und er wusste, dass er dem nicht entkommen konnte. „Mama, Papa … Bitte!“, appellierte er an seine Eltern, auch wenn er wusste, dass er sie nicht mehr erreichen würde in ihrer eigenen Welt. Immerhin war das doch der Grund, weshalb sie kaum noch Kontakt hatten. Er war dieser Sekte entkommen, während sie immer tiefer in diese Scheinwelt hineingeraten waren. Zu tief, wie sich herausstellte. Sie mussten doch wissen, dass sich nichts geändert hatte. Er war doch immer noch derselbe, wie vor wenigen Jahren. Er liebte seine Familie, doch zur gleichen Zeit hatte er begonnen sie zu fürchten.
    Der Mann kam auf ihn zu und lächelte. „Bist du bereit Veikko Henrik?“ „Lassen Sie das! Rühren Sie mich nicht an! Ich gehöre nicht mehr zu Ihrem kranken Verein!“, schrie er wütend uns zerrte abermals an den Handfesseln, auch wenn es nur war, um seine Gegenwehr zu demonstrieren. „Haltet ihn fest, ich will ihn nicht verletzten!“, forderte der Blonde und er sah wie seine Eltern nickten und nun ebenfalls näher kamen. „Nicht verletzten? Das ist doch genau das, was ihr nun tun werdet!“ Sein Vater drückte ihn an den Schultern gegen die harte Matratze, während seine Mutter ihn an den Beinen packte. „Nein! Bitte, nein!“


    Der Unbekannte riss mit einer heftigen Bewegung den Reißverschluss seines Pullovers herunter und knöpfte dann sorgsam das darunterliegende Hemd auf. Seine Atmung wurde hektischer und er sah auf seinen Vater. Immer wieder formten seine Lippen das eine Wort. Bitte.
    Dann senkte sich das Skalpell auf seinen Brustkorb. Er sah zu, wie er mit dem Chirurgenmesser eine Linie in seine obere linke Brust ritzte. Er zuckte als die Spitze ein Stück tiefer gedrückt wurde, hatte aber dennoch alle Gegenwehr aufgegeben, um nicht zu riskieren, dass es noch tiefer drang, als vorgesehen. Blut, leuchtend rot, quoll hervor und perlte an seiner Seite herunter auf die Matratze. Die Angst packte ihn erneut mit ihren eisigen Krallen und er drückte den Kiefer zusammen, damit ihm auch ja kein Schmerzensschrei entkommen konnte. Er wünschte, dass es schnell vorbeiging, doch er wusste, dass dem nicht so sein würde.


    Als er mit seinem Skalpell endlich von ihm ließ, zog er aus einer Tasche seiner Jacke eine Spritze und eine Ampulle hervor. Er brach knackend die Ampulle ab, zog eine Spritze auf und stieß sie Veikko in die Armbeuge. „Mama!“ Seine Stimme wurde lauter, fordernder. „Papa!“


    Plötzlich breitete sich ein unbeschreiblicher Schmerz in seinem Körper aus. Hitze stieg in ihm hoch, um wenig später von Kälte abgelöst zu werden. Es hatte begonnen. Er versuchte sich zu beruhigen und gleichmäßig zu atmen. Es war erst die kleine Dosis, doch der Schmerz ließ ihn bereits jetzt laut aufschreien. Zwischen den Schmerzschüben vernahm wie seine Mutter weinte. „Es ist das Beste für dich mein Baby“, flüsterte sie immer wieder leise, während sie ihm über seine Wange strich. „Alles wird wieder in Ordnung kommen, bald ist alles wieder in Ordnung.“
    Nichts ist in Ordnung, schrie er im Inneren. In seinen Ohren dröhnte es und vor seinen Augen drehte sich alles. Das Atmen fiel ihm unglaublich schwer. Nur 30 Sekunden nach der Injektion, hatte er das Gefühl, als wären seine Lungen verschlossen und kein Atemzug käme mehr hinein.
    Dann explodierte seine Welt mit einem gleißenden Licht. Ein spastisches Zucken durchlief seinen Körper. Er hatte das Gefühl, als würde eine eiserne Hand sein Herz zusammenquetschen. Kurz darauf fühlte es sich hingegen so an, als würde sein Herz rasen wie verrückt. Er hatte Tränen in den Augen und war zu keinen zusammenhängenden Gedanken mehr fähig. Da waren nur sein Körper und die Schmerzen.

  • Es dauerte etwa zwei Stunden bis die Schmerzen vorbei waren. Ob es wirklich zwei Stunden waren, konnte Veikko allerdings nicht beurteilen. Er hatte immer mitgezählt – damals als er als kleiner Junge zusehen musste. Jetzt war er nicht fähig gewesen überhaupt etwas zu denken. Es schien, als gäbe es nur noch diese Schmerzen, die seinen Körper beherrschten. Er hörte Schritte neben sich und sah zur Seite. Seine Mutter kniete sich neben ihn hin und lächelte. „Das hast du gut gemacht mein Schatz“, flüsterte sie und wollte einige schwitzige Strähnen aus seinem Gesicht wischen. Er drehte störrisch den Kopf in die andere Richtung und hörte, wie ihr daraufhin ein kläglicher Laut entfuhr. Sie begann wieder zu weinen. „Mein armes Baby … mein armer Junge“, schluchzte sie hervor. „Halte nur durch, bald wirst du das alles verstehen!“


    Kurz darauf spürte er etwas Kühles und nasses auf seiner Brust. Sie wusch ihm den Schweiß von Körper. Sie würden ihn hier nicht finden, dass wusste er. Er hatte zwar einen sichtbaren Hinweis für alle Fälle hinterlassen, aber dummerweise hatte er darauf geachtet, dass er dennoch nur einigen Menschen auffallen würde, die detailverliebt waren. Und leider war genau dieser Beamte seines Vertrauens gerade nicht dazu fähig irgendein Detail aufzunehmen oder es in diesen Zusammenhang zu bringen. Er musste also die Energie seines Körpers sparen und auf den passenden Moment warten. Natürlich wusste er, dass seine Chance zur Flucht sehr gering war, aber er wollte es wenigstens versucht haben. Er wollte sich seinen Eltern und dieser Sekte nicht kampflos geschlagen geben. „Wir werden das schaffen Veikko Henrik … ich weiß das du das kannst. Du bist doch unser Sohn und wir, wir haben die Kraft Gottes in dich gepflanzt. Komm, du musst etwas essen.“ Er merkte, wie sich die Fesseln von seinen Armen lösten und er wusste, dass es seine wohl einzige Chance war diesem Ritual zu entkommen. Die Tür war weit offen, seine Mutter noch unvorsichtig und seinen Vater und diesen Meister konnte er nirgends hören. Vermutlich waren sie während des Rituals gegangen.


    Er sprang ruckartig auf und rannte einfach los. Schon nach wenigen Metern begannen seine Beine zu wackeln und ihm wurde schwindelig. Er spürte, wie schwach sein Körper nach den letzten Stunden wirklich war, aber es war seine einzige Chance! Er würde es schaffen, er kannte jeden Winkel des Gebäudes. Er hechtete aus der Tür seines „Verlieses“ und rannte den langen dunklen Gang herauf. Er hörte gedämpfte, schnelle Schritte hinter sich. Sich umzusehen, dass traute er sich aber nicht. Zu groß war seine Befürchtung, dass seine Mutter näher hinter ihm war, als ihm lieb war. „Veikko bleib stehen! Du machst alles nur noch schlimmer. Veikko Henrik lass den Teufel nicht deinen Körper übernehmen!“ Die aufgeregte Stimme seiner Mutter halte in den Gängen des Gemäuers wieder. Er schenkte ihr keine Beachtung und rannte, mehrere Stufen auf einmal nehmend, eine alte Holztreppe herauf. Er betete, dass die dicke eiserne Tür am Ende nicht verschlossen war. Dann wäre alles umsonst gewesen, dann würde alles vielleicht nur noch schlimmer werden. Oben angekommen, riss er mit klopfendem Herzen die Klinke herunter und drückte seinen Körper gegen die Tür, die sich mit lautem Quietschen öffnete. „Veikko Henrik!“ Er hörte ihre Schritte auf der Treppe und hechtete schnell ins Freie. Es war stockdunkel, nur an einigen Stellen hüllten die Laternen und das Mondlicht den großen Hof in ein fahles Licht. Veikko versuchte sich zu orientieren und auszumachen, wie viele Menschen zu dieser Zeit vielleicht draußen waren. Zwei Männer konnte er vor dem großen Haupthaus ausmachen. Einen weiteren an dem Tor. Er musste also einen anderen Fluchtweg wählen. Sein Blick fiel in Richtung Wald. Er hatte dort als kleiner Junge immer verstecken gespielt und er war gut darin gewesen. Außerdem hatte er ohnehin keine Wahl, wenn er entkommen wollte. Schnell rannte er in Richtung des Waldes, denn er wusste, dass spätestens wenn seine Mutter auf den Hof treten würde, dann hätte er mehr als nur einen Verfolger.


    „Wir müssen ihn aufhalten! Veikko Henrik will flüchten!“, hörte er seine Mutter nur unmittelbar danach schreien. Hinter ihm erklangen mehrere hastige Schritte. Stimmen riefen seinen Namen. Er beschleunigte sein Tempo. Jedes Mal wenn er Luft holte, stach es ihn in den Lungen. Er stolperte über einen Pflasterstein, der schon vor Jahren etwas höher im Boden stand, als die restlichen, kämpfte sich wieder hoch und rannte einfach weiter. Die Stimmen kamen näher und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er merkte, dass er immer langsamer wurde. Sein Körper hatte nach dem Ritual nicht mehr die Kraft um auf Hochtouren zu laufen. Du musst es nur bis in den Wald schaffen, dachte er. Doch der Wald, der eigentlich nur einige hundert Meter entfernt lag, schien urplötzlich Kilometer entfernt. Die dunklen Schatten der Bäume wollten und wollten nicht näher kommen. Die Schritte hinter ihm kamen hingegen dichter, die Stimmen wurden lauter. Er stolperte abermals, riss sich Haut an den Händen auf. Steh auf! Lauf! Veikko spürte, wie sein Herz in seiner Brust stolperte und krampfartige Schmerzen verursachte. Er wusste, dass dieses Mittel dafür verantwortlich war und dass er es verschlimmert würde, wenn er seinen Körper weiter beanspruchte. Doch die Hoffnung auf Freiheit hatte er seine Priorität gesetzt. Er richtete sich wieder auf und setzte seine Flucht fort, getrieben von denen, die mal seine Freunde waren.


    Er hätte seine Eltern aus den Krallen dieser Sekte befreien sollen, als sie noch einigermaßen bei Verstand gewesen waren, nun jagten sie ihn, wie ein wildes Tier!

  • Ben lag auf seinem kleinen und eigentlich recht unbequemen Bett, als er Schreie von außerhalb des Gebäudes vernahm. Neugierig setzte er sich auf und begab sich zu dem kleinen Fenster unter dem ein schmaler Schreibtisch stand. Er konnte im faden Mondlicht kaum etwas erkennen, aber er meinte zu sehen, wie einige Männer rannten. Einer weiter vorne, fünf oder sechs weitere einige Meter dahinter. „Er flüchtet!“, stellte er mit Erschrecken fest. Er biss sich auf die Unterlippe. Was sollte er tun? Tief in sich drin, da wusste er, dass er diesem Mann irgendwie helfen musste. Aber das würde gleichzeitig auch bedeuten, dass er seinen Einsatz hier drin gefährdete. Konnte er das wirklich riskieren? Ehe er seine Entscheidung treffen konnte, wurde der Flüchtende von zwei Männern zu Boden gerissen. Er wehrte sich mit allem was er hatte, doch als immer mehr Männer hinzukamen, schien er sich mit seinem Schicksal abzufinden. Er wurde hochgezogen und in einem engen Klammergriff zurück zu einem kleinen Gebäude gegenüber von dem Haupthaus geführt. Auch als die Tür geschlossen war und für lange Zeit niemand heraustrat, konnte er seinen Blick nicht mehr davon lösen. Bisher war alles bei seinem Undercover-Einsatz glatt gegangen, doch langsam war er sich nicht mehr sicher, ob er es wirklich so locker durchstehen könnte, wie er geglaubt hatte. Dieser Mann war offensichtlich nicht freiwillig mitgekommen. Was also machten die mit ihm?


    Ben vernahm ein Klopfen an der Tür. Er löste seine Augen von dem gegenüberliegenden Gebäude und drehte sich um. „Ja.“ Die Tür öffnete sich mit einem leisen Quietschen und Enni kam herein. „Ich wollte sehen, ob du noch wach bist“, sagte sie und lächelte.
    Ennis Blick war müde. Ihre Augen waren rot unterlaufen, als hätte sie kürzlich geheult. „Was ist? Du siehst bedrückt aus.“
    „Es geht um meinen Bruder“, antwortete sie nun schon fast unsicher. Ben ging einige Schritte auf sie zu und zog die Mundwinkel nach oben. „Was ist denn mit ihm?“ Er sah, wie ihre Hände zu zittern begannen. Sie schluckte schwer. „Es stimmt … der Teufel wohnt in ihm!“, presste sie voller Verzweiflung heraus. Ben blieb stumm. Quälend lange Sekunden fiel ihm nichts Passendes ein, was er darauf erwidern könne, ohne das er nun womöglich auffliegen würde. „Mama und Papa haben ihn herholen lassen“, fuhr Enni dann fort. „Der Meister hat es bestätigt!“
    Diese Anmerkung holte Ben zurück ins Hier und Jetzt. „Der Meister ist hier?“
    „Ja, als mein Vater sich an ihn gewendet hat, ist er sofort gekommen. Wir sind immerhin eine der hohen Familien!“ Er nickte. Natürlich. Ennis Familie hatte einen hohen Status. Das war der Grund, weshalb er sich auch an sie gehalten hatte. Er hatte die Hoffnung gehabt durch sie schneller an den Meister heranzukommen.
    „Er sagt, dass wir jetzt stark sein müssen. Das Ritual, um den Teufel zu vertreiben ist zwar anstrengend, aber er wird es schaffen!“ Enni griff nach seiner Hand. „Stell dir vor, heute Abend wollte er flüchten. Carl hat es mir gerade erzählt.“
    Er nickte leicht. „Ja, ich glaube ich habe es gesehen. Gerade als ich am Fenster stand.“
    „Er muss sich fürchterlich gewehrt haben und geflucht soll er auch haben! Es muss wirklich schlimm gewesen sein!“, berichtete sie weiter aufgeregt und drückte dabei seine Hand immer fester. Ben war klar, dass sie sich zu ihm hingezogen fühlte, aber er war gewillt dieser Versuchung zu widerstehen. Natürlich fand auch er sie irgendwie anziehend, aber er konnte den Beruf und das Private nicht vermischen und sie schien außerdem dieser Welt nicht entkommen zu wollen. Er würde sie nie ganz haben können und mit diesen verrückten Gottesfanatikern wollte er sie auch nicht teilen.
    „Ich bin mir sicher, dass er wieder in Ordnung kommt.“ Er lächelte und fuhr sanft mit seinem Daumen über ihren Handrücken. „Morgen sieht sicher alles schon wieder ganz anders aus.“
    „Ja bestimmt! Er muss es einfach schaffen und dann, dann werden wir wieder eine glückliche Familie sein.“
    „Da bin ich mir sicher!“, bestätigte er.
    Enni blieb noch eine Weile bei ihm, ehe sie sich dann verabschiedete und ihn wieder mit seinen Gedanken alleine ließ. Der Mann, den er da draußen gesehen hatte, war also ihr Bruder gewesen. Dennoch änderte das nichts daran, dass er unfreiwillig hier war. Herholen lassen, so hatte es Enni immerhin ausgedrückt. Das hieß doch, dass man ihn entführt hatte und nun festhielt. Dann dieses Ritual. Was wurde da gemacht? War es schlimm? Konnte man dabei vielleicht sogar sterben? Er fuhr sich mit der rechten Hand durch die Haare. „Verdammt, ich hätte sie das fragen sollen!“ Ben machte sich eine gedankliche Notiz, dass er das sofort morgen nachholen würde. Er musste alles darüber erfahren und dann, dann würde er versuchen Kontakt nach Draußen aufzunehmen und über die Neuigkeiten berichten. Auch war er sich im Klaren darüber, dass er irgendwie versuchen musste mit Ennis Bruder zu reden. Er musste sehen, ob es diesem Mann gut ging.



    *


    Semir gab Ayda einen Kuss auf die Stirn, deckte sie zu und verließ dann das Zimmer. Andrea wartete auf den Wohnzimmersofa auf ihn und hatte sich einen Wein aufgemacht, während sie ihm eine Bierflasche hingestellt hatte. „Danke mein Schatz.“ Er setzte sich zu ihr und nahm einige Schlucke von seinem Getränk.„Ich habe heute mit Eva telefoniert.“ Semir sah zur Seite. „Was sagt sie?“
    Seine Frau seufzte und lehnte sich an seiner Schulter. „Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit ihr beizustehen. Es muss unheimlich schwer sein. Einerseits klang sie sehr froh über seine kleinen Fortschritte … stell dir vor, heute durfte er laufen üben.“
    „Das ist großartig“, bestätigte Semir.
    „Ja, nicht? Sie sagte zwar, dass es nur ein paar Schritte waren und auch nur mit viel Hilfe, aber immerhin. Sie macht sich auch Sorgen. Er wiederholt immer noch sehr oft Dinge und ist so verwirrt. Er kann nicht wirklich verstehen, warum Ben schon so lange nicht mehr bei ihm war.“
    Semir spielte mit einer Haarsträhne von Andrea. „Ich glaube, es ist wirklich Zeit, dass wir hinfliegen. Vielleicht hilft es ja, wenn ich zu Besuch komme.“
    „Vielleicht. Zumindest würde es Eva helfen. Wir müssen ihr doch zeigen, dass sie nicht alleine ist in dieser Situation, nicht?“
    Er lachte leise. „Nun übertreibst du, Schatz. Sie hat Antti und die anderen Kollegen. Ihre Eltern kümmern sich ja auch.“
    „Das sind doch alles Männer. Sie braucht eine Frau an ihrer Seite!“, widersprach Andrea.
    „Das stimmt natürlich“, gab er zu. Eva war sehr gut mit der Ex-Frau von einem Kollegen von Mikael befreundet, aber die war derzeit mit ihrer Tochter in Nordfinnland, um sich um ihre Eltern zu kümmern.
    „Wie wäre es, wenn ich nach günstigen Flügen sehe?“ Andrea löste sich von ihm, doch er zog sie wieder zurück. „Das kann doch bis morgen warten!“ Er drehte sie zu sich und gab ihr einen Kuss. „Der Abend ist doch noch jung und Ayda und Lilly schlafen gerade.“
    „Dann schieben wir es wieder vor uns her! Nein, wir sollten es sofort erledigen!“, kündigte sie an und befreite sich aus seinem Griff, um kurze Zeit später mit einem Laptop wieder zurückzukommen. „Meinst du, dass du freibekommen kannst?“
    „Kommt darauf an, wann du fliegen willst.“
    „Wie wäre es am Wochenende.“
    Seine Augen weiteten sich. „Andrea, das ist schon in drei Tagen!“
    Sie lächelte. „Ihr habt doch derzeit ohnehin keinen wichtigen Fall. Du sitzt doch nur deine Zeit ab!“

  • Ben absolvierte die morgendliche Routine in der Gemeinde inzwischen ohne Unsicherheiten. Zunächst stand ein kleines Frühstück an, danach wurde gemeinsam auf lateinisch gebetet. Hatte er am Anfang die Gebete nur leise mitgemurmelt, konnte er sie nun voller Inbrunst aufsagen, auch wenn er den Inhalt sicherlich nicht befürwortete. Durch Enni hatte er inzwischen einiges über die Geschichte der Sekte erfahren – oder Gemeinschaft, wie sie es zu sagen pflegte. Die Diener Gottes gab es im Grunde noch nicht wirklich lange und wie er es verstanden hatte, gehörte ihre Familie zu den ältesten Mitgliedern. Die meisten Glaubensbrüder und Schwestern kamen aus Finnland, Schweden und eben Deutschland, weshalb man auch ihn für diese Aktion ausgewählt hatte. Sie hielten sich für Bürger reinen Glaubens, die dafür bestimmt waren, die Welt von allem Bösen zu retten. Wie Retter kamen ihm die Menschen allerdings weniger vor, denn im Grunde hatten viele hier sogar panische Angst vor allem Bösen. Enni zum Beispiel, fürchtete sich sogar vor der Stadt, da sie der Meinung war, dort würde die Versuchung des Teufels an allen Ecken lauern. Hier drin, da fühlte sich das Mädchen wohl. Von seinem Platz in dem Gemeinschaftsraum, wo sie immer gemeinsam die Morgenandacht hielten, beobachtete er unauffällig Enni. Während sie betete, da lächelte sie immer.


    Als die Andacht beendet war, wartete sie, wie immer, auf ihn. „Guten Morgen Ben.“
    „Morgen.“
    Sie griff nach seiner Hand. „Willst du mit ihn besuchen?“ Er fuhr aus seinen Gedanken hoch. „Wie?“ Sie lachte. „Meinen Bruder! Ob du mit möchtest? Ich werde heruntergehen und ihn besuchen. Mit ihm reden, ihn zur Vernunft bringen!“
    „Ähm …“
    „Komm schon!“ Sie setzte sich in Bewegung und zog ihn mit in Richtung eines kleinen unscheinbaren Hauses, ohne das er Widerworte geben konnte. „Wir müssen nur die Treppen herunter!“, ließ sie ihn wissen und führte ihn eine alte Holztreppe hinunter.
    Die Kellergewölbe waren dunkel und feucht. Das Licht an der Decke flackerte, wie in einem schlechten Horrorfilm. „Ich habe Pettu doch schon so oft gesagt, er soll es austauschen“, hörte er neben sich Ennis sanfte fröhliche Stimme, die überhaupt nicht zu dem Ganzen zu passen schien. An einigen Stellen blätterte Putz von der Wand des Kellers. Anders als im Haupthaus schien man sich hier nicht großartig um einen guten Zustand des Gebäudes zu kümmern. Knapp in der Mitte eines langen Ganges blieb sie stehen und öffnete dann eine dicke hölzerne Tür. Es war dunkel im Inneren des Zimmers, doch als Enni den Lichtschalter drückte und der Raum durch eine von der Decke baumelnde Glühbirne hellerleuchtet wurde, blieb ihm für einen Augenblick die Luft weg. Da lag ein Mann, etwa in seinem Alter, nass geschwitzt und blutverschmiert auf der Pritsche. Schwarze Haare mit grünen Strähnen, Jeans, Converse-Schuhe. Sein Herz begann aufgeregt in seiner Brust zu schlagen. Er kannte diesen Mann. Es war Veikko. Einer von Mikaels Freunden, mit denen er auch eigentlich bisher ganz gut zurecht kam. Was hatte das alles zu bedeuten? Warum hatte man ihn darüber nicht informiert? Warum hatte Antti darüber kein einziges Wort verloren? Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, während Enni ihren Bruder ansprach und irgendetwas vom Teufel redete. Zumindest war es das einzige Wort, welches er inzwischen auch im Finnischen ausmachen konnte. Veikkos Blick hatte sich in keinem Augenblick zu ihnen gewandt. Er sah starr nach oben.
    „Veikko Henrik!“ Ennis Stimme wurde härter und nun löste der Mann seinen Blick von der Decke und sah sie an. Ben konnte es sehen, wie sich seine Augen vor Überraschung kurz weiteten, dann jedoch sah er Enni in die Augen. „Das hier ist eine falsche Welt und du merkst es nicht einmal!“, begann er und wechselte zu Bens Überraschung nun ins Deutsche, als wolle er, dass auch er dieses Gespräch verstand. Ein großes Risiko. Immerhin wusste Enni nicht, dass sie sich kannten und eigentlich konnte ja Veikko nicht wissen, dass er aus Deutschland kam. Diese schien es allerdings nicht zu bemerken und sprach nun ebenfalls auf Deutsch. Sie sprach es, wie Veikko, auf einem hohen Level. Sie hatte ihm mal erzählt, dass ihre Großmutter der Liebe wegen aus Deutschland hergekommen war. Sie hatte mit ihren Enkeln immer Deutsch geredet.
    „Du merkst nicht, wie der Teufel deinen Geist einnimmt!“, widersprach die blonde Frau und trat nun an das Bett heran. Ihre Hand senkte sich auf den nackten und blutverschmierten Oberkörper ihres Bruders. „Aber du wirst ihn besiegen und dann ist unsere Familie wieder vereint.“
    „Das ist Blödsinn, Enni! Das alles hier, dass ist doch nichts weiter als Schein. Es gibt keinen Teufel und der nistet sich schon lange nicht in Menschen ein. Scheiße nochmal!“
    Ihre Hand fuhr erschrocken zurück. „Wie du redest“, flüsterte sie mit dünner Stimme.
    „Mach mich los!“, forderte Veikko.
    Sie schüttelte energisch den Kopf. „Nein! Niemals. Du wirst mich angreifen! Du weißt, wie gefährlich das ist! Niemals!“
    „Warum bist du dann hier?“
    Sie bückte sich und hielt eine Flasche Wasser in seine Richtung. „Ich dachte, dass du vielleicht durstig bist!“
    „Bitte Enni, mach mich los!“, forderte Veikko ein weiteres Mal.
    Die Augen der jungen Frau füllten sich mit Tränen. „Ben wird dir etwas zu trinken geben“, presst sie hervor und drückte ihm die Flasche in die Hand. „Entschuldige mich! Ich bin nicht stark genug!“


    Als Enni verschwunden war, stand Ben einige Zeit stumm an der gleichen Stelle und sah Veikko einfach nur an. Dieser nickte in Richtung Tür und Ben setzte sich schließlich in Bewegung, um sie zu schließen. „Was zur Hölle machst du hier?“, fragte der Finne.
    „Solche Worte solltest du vielleicht nicht …“, gab Ben zu bedenken, kam allerdings nicht zum Abschluss. Veikko lachte leise auf und schüttelte den Kopf. „Das ist also der ultrageheime Undercovereinsatz? Fanatische Sektenmitglieder?!“
    „Es gibt Hinweise, dass sie etwas Großes planen.“ Ben trat näher an das Bett und löste nun die Fesseln.
    Veikko massierte sich die Handgelenke, während er sich langsam aufsetzte. „Du bist also Ennis Bruder?“
    „Richtig erkannt Sherlock!“
    Dem deutschen Kommissar entkam ein sarkastisches Lachen. „Witzig.“
    Veikko hob beschwichtigend die Arme. „Komm schon, lass mir meinen Spaß. So viel werde ich die nächste Zeit wohl nicht haben!“
    Ben reichte dem Finnen die Flasche Wasser und der Schwarzhaarige trank gierig einige Schlucke. „Diese Arschlöcher haben mich überrumpelt, als ich gestern von Mikael auf den Weg nach Hause war. Es war doch gestern oder?“
    „Ich denke schon“, antwortete Ben und setzte sich nun neben Veikko. „Diese Wunde auf der Brust.“
    „Es ist nichts Wildes. Da wird noch was hinzukommen.“
    Bens Augen weiteten sich. „Wie?“
    „Du hast schon richtig verstanden. Meine Familie hat die warnwitzige Vorstellung, dass ich vom Teufel besessen bin. Es gibt ein spezielles Ritual, wie man den Teufel austreibt.“
    „Was für ein Ritual?“
    Der Finne zeigte auf den Schnitt. „Es soll dabei helfen, dass sich die Seele des Teufels von deinem Herzen löst. Aber das schlimmste sind die Schmerzen durch dieses komische Zeug, was die einem spritzen. Die Dosis wird immer höher und dein Körper gleichzeitig immer schwächer.“
    „Woher weißt du das?“
    „Als ich noch Klein war, war ich ein Mal dabei und später, da hab ich es mir mal selbst gespritzt.“ Veikko seufzte. „Kurz darauf bin ich abgehauen und habe diese Sekte verlassen.“
    Der Schwarzhaarige stand auf und stellte sich auf Zehenspitzen um durch das kleine vergitterte Fenster zu sehen. „Wir müssen hier raus. Ich hab kein Bock, dass irgendwann mein Herz aufhört zu schlagen.“
    Ben konnte nicht fassen, was Veikko gerade gesagt hatte. Seine Augen weiteten sich vor Schreck und er merkte, wie ein kalter Schauer seinen Körper überfiel. „Whow! Sag das noch einmal.“
    Veikko drehte sich zu ihm. „Du hast wirklich keine Ahnung, worauf du dich eingelassen hast oder?“
    „Klär mich halt auf. Was ist das für ein Teufelsguru-Scheiß.“
    „Du musst tot sein, damit der Teufel aus dir weichen kann. Die Seele muss sich für einen winzigen Augenblick von seinem Körper lösen.“
    Ben schluckte. „Dein Herz wird aufhören zu schlagen von dem Zeug da? Wann? Wie viel Zeit haben wir?“
    „Keine Ahnung. Es ist unterschiedlich. Einige halten länger durch, andere kürzer.“
    „Fuck!“
    Veikko lachte leise. „So kann man es natürlich auch ausdrücken!“

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  • Semir saß nachdenklich hinter dem Steuer seines BMW und absolvierte die morgendliche Streife. Er hatte Andrea am Frühstückstisch versprochen, dass er mit der Chefin sprechen würde, was ein paar Tage Urlaub anbelangte. Es stimmte schon, gerade jetzt brauchten Eva und Mikael sie. Er selbst hatte sich immer wieder von Antti auf den neusten Stand bringen lassen und sein Kollege aus dem hohen Norden befürchtete, dass Mikael den Antrieb verlor und diese Hürde nicht bewältigen konnte. Außerdem verhoffte Semir sich, dass er so auch ein paar Infos darüber bekam, wie es Ben erging. Antti hatte seinen Kollegen zwar vorgeschlagen, aber mehr in einem Gespräch in der Kantine, als dass er wirklich in dieser Soko mitarbeitete und das bereitete ihm ein ungutes Gefühl. Der Leiter der Soko hatte ihn immer wieder abgeschmettert, wenn er sich erkundigt hatte. Vielleicht würde er ja bei einem persönlichen Gespräch etwas mehr verraten?


    Als er schließlich in die Dienststelle zurückkam, führte sein Weg direkt zum Büro der Chefin. Er klopfte vorsichtig und wurde dann hereingebeten. „Was kann ich für Sie tun Herr Gerkhan?“, wollte Kim Krüger wissen, während er sich auf einen der Besucherstühle setzte. Er knetete sich die Hände. „Nun ja, die Sache ist … ich wollte fragen, ob es eventuell möglich wäre ab Freitag ein paar Tage Urlaub zu bekommen? Ich würde gerne nach unserem Kollegen Herrn Häkkinen sehen.“
    Die Chefin der PASt nickte. „Kaum zu glauben, dass es nun schon fast dreieinhalb Monate sind seit diesem Unfall.“
    „Ja, es ist eine harte Zeit. Wir haben natürlich damit gerechnet, dass es schwer wird, aber nicht so schwer.“ Er sah auf seine Hände. „Wie es im Augenblick aussieht, wird Mikael nicht wieder im Polizeidienst arbeiten können.“
    Die Brünette atmete hörbar durch. „Kaum zu glauben, was eine kleine Unachtsamkeit anrichten kann.“ Sie lehnte sich zurück. „Aber zurück zu Ihrer Anfrage. Das Problem ist natürlich, dass Herr Jäger sich im Augenblick in diesem Undercovereinsatz befindet, somit fällt ein Hauptkommissar aus, der Sie ersetzen könnte.“
    Semir sah seine Hoffnungen auf ein paar Freitage bereits dahinschmelzen. „Aber ich denke, einige Tage werden wir den Laden auch ohne Sie schmeißen können, Herr Gerkhan.“
    Ein Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus. „Danke Frau Krüger, Danke. Ich weiß diese Geste wirklich zu schätzen!“
    „Richten Sie Herrn Häkkinen einen Gruß aus“, ließ sie ihn wissen und er nickte eifrig, während er aufstand. „Natürlich! Er wird sich freuen, dass sie an ihn denken!“


    Als Semir das Büro verlassen hatte, griff er zum Telefon und ließ Andrea sofort die Neuigkeit wissen. Seine Frau war natürlich mehr als begeistert und begann bereits in ihrem gemeinsamen Telefonat zu planen. „Die Kinder können wir zu meiner Mutter bringen. Das habe ich bereits abgesprochen und ich werde gleich den Flug buchen“, berichtete sie ihm. „Sollen wir Eva anrufen oder sie überraschen, was meinst du?“
    „Vielleicht ist es besser ihr Bescheid zu geben. Sie hat schließlich sehr viel um die Ohren im Augenblick.“
    „Ja, du hast Recht“, stimmte Andrea zu und ließ ihn noch wissen, dass sie heute Abend die Details mit ihm besprechen wollte. Als sie sich verabschiedet hatten, schüttelte er leicht den Kopf. Es waren doch nur ein paar Tage Urlaub, was brauchte es da großartig zu planen? Es war immerhin inzwischen nicht mehr eine Seltenheit, das sie in den hohen Norden aufbrachen, auch wenn sich Semir eingestehen musste, dass er von der Stadt selbst noch nicht viel gesehen hatte.



    *


    „Und hast du einen Plan?“, fragte Ben.
    „Nicht wirklich“, gestand sich Veikko neben ihm ein. „Meine Flucht ist gehörig in die Hose gegangen, nun werden die mich sicherlich nicht noch einmal aus den Augen lassen.“
    „Ich könnte dich gleich jet…“, begann Ben, wurde aber zugleich unterbrochen. „Hast du dich auf dem Hof umgesehen? Überall stehen Leute. Ich würde nicht weit kommen und außerdem …“ Veikko packte ihn an den Schultern. „Egal wie es mir geht, wag es nicht dich schützend vor mich zu stellen!“
    Ben schlug die Hände von seinen Schultern. „Was!? Du glaubst doch nicht, dass ich zusehen werde, wie sie dir dieses Zeug spritzen!“
    „Du musst! Wenn du auffliegst, dann hilft mir das nicht hier raus!“
    Der deutsche Kommissar schnaufte. „Weiß wenigstens jemand, wo er dich suchen muss?“
    Veikko lächelte. Ein Lächeln, was Ben allerdings wenig gefiel. „Also nicht?“
    „Mikael hat einen Anruf von meinem Vater mitbekommen, aber ich glaube nicht, dass er sich daran erinnert.“
    Bens Wut verschwand und nun bildete sich Sorge in seinen Gesichtszügen ab. „Ist es noch so schlimm mit dem vergessen?“
    „Er vergisst noch ziemlich viel, ja“, antwortete ihm der Finne und nahm daraufhin wieder etwas Wasser zu sich. „Daher können wir nicht auf ihn bauen. Dann bleibt noch Kasper, ob er allerdings Eins und Eins zusammenzählen wird? Sie haben mir immerhin über Jahre nichts getan.“
    „Kasper?“
    „Der Kommissar, der Mikaels Stelle übernommen hat“, wurde Ben aufgeklärt. „Seine Schwester … sie war als Jugendliche ebenfalls in dieser Sekte. Sie starb vermutlich bei dem Ritual. Man weiß es nicht und ich konnte für ihn auch nicht wirklich viel herausfinden. Damals war ich schon nicht mehr hier.“
    Ben lehnte den Kopf gegen die Wand. „Ihr habt aus eurem scheiß Präsidium zwei Leute, die diesen Haufen hier kennen und schickt trotzdem mich hierhin?“
    „Ehrlich gesagt, ist diese Sekte nichts, womit du deine Kollegen unterhältst. Es wissen nur Mikael und Kasper davon, dass ich hier mal drin war. Von Kaspers Schwester weiß nur ich. Für alle anderen ist sie einfach an einer Überdosis gestorben.“
    „Ihr habt echt ein Vertrauensproblem“, merkte Ben sarkastisch an.
    „Du erzählst also jedem, dass dein Vater ein reicher Sack ist“, widersprach Veikko. „Eigentlich wollte ich es Antti ja erzählen, aber dann kam die Sache mit Mikael dazwischen.“
    „Wie geht es ihm genau? Macht er Fortschritte?“
    „Ja, aber nur noch sehr kleine. Er …“ Veikko verstummte. „Da kommt jemand!“ Ben hielt ebenfalls inne. Tatsächlich, da waren Schritte.
    „Mach mich wieder fest!“, forderte der Finne und schob ihn eilig von der Pritsche herunter. „Und denk daran! Egal was passiert, du gehst nicht dazwischen!“


    Ben hatte Veikko gerade mit einem unguten Gefühl an der Pritsche festgeschnurrt, als sich die Tür öffnete und zwei Männer hereintraten. Den einen kannte er, dass war Veikkos Vater, Matti. Den anderen hatte er hier noch nie gesehen. Er war groß und blond. Matti sah ihn zunächst misstrauisch an, lächelte dann jedoch. „Enni hat mir berichtet, dass du ihre Arbeit hier übernommen hast. Möchtest du als Dank dem Ritual beiwohnen? Erik hat dem zugestimmt.“ Ben schluckte. Sein Herz schlug bis zum Hals, das Blut rauschte in seinen Ohren. Er sah auf Veikko, der nun wieder starr an die Decke blickte. Er konnte unmöglich dabei zusehen, wie sie ihm Schmerzen zufügten. Er konnte doch nicht daneben stehen, während sein Freund dort vor ihm leiden würde. Ben dachte an die Worte von Veikko zurück. Im Augenblick war es wohl wirklich die einzige Chance. „Es wäre mir eine Freude“, presste er heraus und hoffte, dass man ihm all seine Unsicherheit nicht anmerkte.

  • Ben hatte das Gefühl, sein Herz würde gleich zerspringen. So sehr klopfte es in seiner Brust. Er sah zu, wie dieser Erik Blomling ein Skalpell hervorzog und dann einen tiefen Schnitt auf Veikkos Brust vollzog. Ben hatte das Bedürfnis dazwischen zu springen, seinem Freund zu helfen, doch er besann sich auf Veikkos Worte. Er musste mitspielen, wenn sie eine Chance zur Flucht haben wollten. Veikko biss die Zähne zu zusammen, kein Schrei entkam seinen Lippen. Dann zog der blonde eine Spritze hervor, zog sie auf und setzte sie routiniert in die Armbeuge von Veikko. Zwanzig, dreißig Sekunden später begann es. Veikkos Körper verkrampfte sich. Die Arme rissen so heftig an den Fesselungen, dass die Muskeln hervortraten. Die Nasenflügel vibrierten, weil der junge Techniker begonnen hatte die Luft hektisch in seine Lungen zu pumpen. Ben sah, wie die Atmung schneller wurde. Ein markerschütternder Schrei hallt durch den Raum. Der deutsche Kommissar wollte die Augen schließen. Er wollte das nicht sehen! Er wollte nicht zusehen, wie jemand solche Schmerzen leiden musste. Veikko warf den Kopf hin und her, Schweiß trat aus den Poren. Immer wieder schrie er auf, Tränen traten in seine Augen. „Er kämpft mit dem Teufel“, hörte er Matti Lindström hinter sich sagen. Wohl eher mit eurem Mistzeug, widersprach Ben in seinem Kopf. Er wollte nicht wissen, wie groß die Schmerzen von Veikko waren. Es musste furchtbar sein!


    Es dauerte eine Stunde, ehe Veikkos Körper erschöpft auf dem Bett ruhte. Seine Augen waren geschlossen und das einzige, was noch zu vernehmen war, waren unruhige Atemzüge. „Wasch ihn und gebe ihm zu trinken“, sagte Matti zu ihm und wenig später hörte Ben, wie sich die beiden Männer aus dem Raum bewegten und die Tür geschlossen wurde. Er hatte das Gefühl, als würde er dennoch eine Ewigkeit an der gleichen Stelle verharren, ehe er endlich zu der Pritsche ging und sich zu Veikko herunter kniete. Er öffnete nicht die Augen. Vorsichtig tätschelte Ben die Wangen und erschrak im gleichen Augenblick, wie warm der Finne war. „Veikko, hey … komm aufwachen!“, flüsterte er verzweifelt. „Komm schon!“ Die Augenlider flackerten. „Hörst du mich Veikko?“
    „Hmm.“ Der Finne öffnete die Augen einen Spalt und sah ihn erschöpft an.
    „Das nächste Mal werde ich dazwischen gehen!“, schimpfte Ben nun laut. „Ich werde das nicht noch einmal zulassen!“
    „Du musst“, murmelte Veikko leise. „Bitte!“
    „Sieh dich an! Sieh was das Zeug mit dir gemacht hat!“
    „Hast du Wasser?“ Veikkos Stimme klang so dünn, dass Ben sich Mühe geben musste, ihn überhaupt zu verstehen. „Ja“, sagte er. Danach öffnete er die Fesseln und hob Veikkos Oberkörper ein Stück an, während er ihm die Wasserflasche an die Lippen hielt und er trank langsam, mühevoll. Danach half er ihm in die sitzende Position. Veikko lehnte sich an die kühle Steinwand und bemühte sich einige Male tief ein und auszuatmen.
    Ben tauchte seinerseits ein Tuch in einen Eimer, der mit kaltem Wasser gefüllt war. Zum ersten Mal merkte er, wie seine Hand zitterte. Die letzte Stunde hatte seine Nerven doch sehr zugesetzt und jetzt, wo die ganze Anspannung von ihm wich, wurde er sogar noch nervöser, als er es während des Rituals gewesen war. Er hob den Lappen heraus und wrang ihn aus. Doch ehe er mit dem Lappen Veikkos Oberkörper erreichte, packte der Finne zu. „Das mache ich selbst. Ist mir sonst etwas unangenehm.“ Er lächelte und reichte Veikko den Lappen.
    „Du kannst das unmöglich weiter machen. Du bist vollkommen hinüber und ich will nicht wissen, wie es nach weiteren Spritzen ist!“, bat Ben nach einer Weile, während er dabei zusah, wie Veikko sich mühevoll den Schweiß und das Blut vom Körper wusch.
    „Ben, können wir die Diskussion bitte lassen? Ich habe dir doch jetzt schon oft genug erklärt, was passieren wird, wenn du nicht mitspielst!“
    „Aber du hast Schmerzen! Erzähl mit nicht, dass die letzten Stunden einfach so an dir vorbeigegangen sind!“
    Veikko blieb stumm und reichte ihm den dreckigen Lappen. Ben säuberte ihn und gab ihn dann zurück. „Du musst dennoch still halten und das Spiel mitspielen. Was denkst du, was passiert mit dir, wenn die rausbekommen, weshalb du hier bist?“
    „Darum können wir uns dann kümmern!“, widersprach der deutsche Polizist. Für ihn zählte nur, dass man Veikko nicht weiter so unmenschlich quälte.
    Der Schwarzhaarige stöhnte. „Und ich dachte Mikael wäre ein Dickschädel! Himmel, mach es einfach. Nur bis du Kontakt nach draußen hast und sie über die Situation aufklären kannst.“
    „Du willst also, dass ich dir dabei zusehe, wie du vielleicht stirbst?“ Ben suchte den Augenkontakt mit Veikko. „Wie geht es dir wirklich? Sag schon? Du hast gesagt, dass der Körper immer schwächer wird, merkst du das schon?“
    „Was willst du hören?“, kam es leise von dem Finnen.
    „Die Scheißwahrheit!“
    Veikko drückte ihn den Lappen in die Hand. „Ja, ich bin fürchterlich Müde und ich merke …“, er stockte, „ich merke, wie irgendwas mit meinem Herz nicht stimmt. Es ist, als würde es ab und an stolpern. Aber es wird vorbeigehen. Das Ritual ist gerade erst vorbei … ich werde noch ein paar Tage durchhalten!“
    Ben stand auf und ließ den Lappen in den Eimer fallen. „Ich werde das nicht zulassen können, Veikko. Nicht weil ich möchte, dass Mikael nicht wieder jemanden verliert, sondern weil du mein Freund bist. Das kann ich nicht. Ich kann nicht zusehen, wie sie dir immer wieder dieses Zeug spritzen.“
    Veikkos Mund öffnete sich, doch diesmal ließ Ben ihn nicht zu Wort kommen. „Nein. Es gibt keinen Grund zur Widerrede. Es ist mir egal, dass ich dadurch vielleicht mein Leben riskiere. Ich kann und werde es nicht zulassen!“
    „Du musst Ben!“
    „Müssen tue ich überhaupt nichts!“, schimpfte der Braunhaarige.
    Veikko legte sich wieder rücklings auf die Pritsche. „Du willst also, dass Mikael gleich zwei Freunde verlieren könnte?“
    Ben sah den Finnen an und zog die Augen zu Schlitzen zusammen. „Das sind schmutzige Tricks. Natürlich will ich das nicht!“
    „Dann spiele mit.“
    Der deutsche Kommissar fuhr sich durch die Haare. „Es geht dir schlecht und ich … nein, ich werde das nicht zulassen.“
    Der Schwarzhaarige ging nicht darauf ein. „Mach mich wieder fest!“, forderte Veikko stattdessen.
    „Veikko, bitte! Du kannst das nicht von mir verlangen!“
    „Ich tue es gerade. Mach mich wieder fest, Ben!“

  • Antti sah von seinem Schreibtisch auf, als jemand nach einem kurzen Klopfen in sein Büro trat. Janne Päkkinen, Chef der Kriminaltechnik stand in seiner Tür. „Was gibt es? Hat wieder jemand meiner Beamten deinen Tatort verunreinigt?“ Es war ihr kleines Streitthema. Immer wieder musste er sich von Päkkinen anhören, dass sie sich am Tatort, wie die Elefanten im Porzellanladen benahmen und wichtige Spuren zerstörten. Doch diesmal schüttelte Päkkinen den Kopf. „Es geht um Veikko. Hast du ihn gesehen?“
    „Er gehört zu deiner Mannschaft, warum sollte er hier oben sein und nicht in eurem schnuckeligen Keller?“ Antti senkte seinen Blick wieder auf die Akte, die vor ihm lag. Ein sogenannter Samstagsmord. Zwei Besoffene waren mit dem Messer aufeinander losgegangen, einer davon starb wenige Stunden später im Krankenhaus. Nichts großes, aber auch das gehörte nun einmal zu seinen Aufgaben.
    Päkkinen stöhnte. „Er ist nicht zum Dienst erschienen. Ich dachte, vielleicht war er hier, immerhin liebäugelt er doch mit der Mordkommission oder nicht?“
    Antti zog die Augenbraue hoch und sah wieder auf. „Wie? Das ist mir jetzt neu.“
    „Es wird doch was frei, wo Rynnänen bald in Rente geht. Ich glaube, er denkt, dass er so Häkkinen einen Platz freihalten kann.“ Der Hauptkommissar der Mordkommission nickte. Das Veikko auf eine solch dumme Idee kommen könnte, dass konnte er sich sogar vorstellen. „Wie geht es Häkkinen?“, fragte Päkkinen nun.
    Das entlockte Antti ein Lachen. „Scheiße ihr seid alle so scheinheilig. Vor ein paar Monaten habt ihr noch über ihn getuschelt und nun tut er euch allen leid.“
    „Du weißt, dass ich nie schlecht über ihn geredet habe“, wehrte sich Päkkinen.
    „Es geht beschissen Janne. Es gibt Tage da wiederholt er Dinge wieder und wieder, dass du ihn am liebsten packen würdest und schütteln, dass er sich doch bitte für einen Augenblick konzentrieren soll. Manchmal da denkst du es geht aufwärts und kurz darauf macht er fünf Schritte zurück.“
    Janne Päkkinen setzte sich auf einen der Stühle, die vor Anttis Schreibtisch standen. „Veikko könnte nicht bei ihm sein? Vielleicht hat er vergessen sich abzumelden. Er ist ja oft bei ihm.“
    „Wann fing sein Dienst an?“
    „Heute Morgen um acht Uhr.“
    Antti nickte und griff nach seinem Telefon. „Ich kann in der Klinik nachfragen, ob Mikael heute schon Besuch hatte. Allerdings ist es fast Mittag, so langer Besuch ist doch etwas anstrengend für Mikael und eigentlich hat er morgens auch immer viel Programm.“
    Der Hauptkommissar wählte die Nummer der Klinik und erkundigte sich nach Veikko. Nachdem er sich durchgefragt hatte und die Infos bekam, legte er wieder auf. „Er war heute noch nicht da. Sein letzter Besuch bei Mikael war gestern Nachmittag.“
    „Ja, er hatte gestern darum gebeten kurzfristig freizubekommen. Er hat irgendwas von Schnee, der nicht wegschmelzen soll, erzählt“, bestätigte Päkkinen.
    „Schnee?“
    „Ja, du weißt schon. Der erste Schnee des Jahres. Der kam dieses Jahr aber auch reichlich früh. Schickst du jemanden bei Veikko vorbei?“
    „Und er kann nicht einfach verschlafen haben?“
    „Er verschläft niemals!“
    Antti nickte. „Gut, ich werde es gleich selbst machen. Wir haben ohnehin gerade nichts zu tun. Es gibt eine Messerstecherei, aber darum kann sich auch ein Kollege kümmern und Kramsu hat Urlaub.“
    „Mikaels Ersatz?“
    „Ja. Er ist ganz fähig, aber es ist schwer, sich wieder auf einen neuen Kollegen einzulassen. Ich hatte mich gerade an Mikaels Art gewöhnt.“
    Päkkinen lächelte. „Es wird schon werden Antti.“
    „Hoffentlich.“ Der ältere Kommissar lachte. „Immerhin muss ich Kasper nicht alle drei Tage das Wort ‚Team‘ erklären. Er weiß sehr gut, was es bedeutet, auch wenn er noch etwas steif und karrierehungrig ist, aber was will man von einem Richtersohn erwarten?“
    Sein Gegenüber nickte. „Ich glaube, Mikael hat es nicht mit Absicht gemacht. Das Miteinander, sowas lernt man doch wenn man aufwächst und wenn man seinen Lebenslauf kennt. Wenn du immer auf dich alleine gestellt bist, vertraust du dann nicht irgendwann nur noch dir?“
    „In dir steckt ein Philosoph Päkkinen“, ließ der blonde Finne verlauten.
    Päkkinen stand dann auf. „Ich danke dir, Antti. Ich weiß, dass du als Beamter vom Mord eigentlich nicht für meine vermissten Techniker zuständig ist.“
    Antti winkte ab. „Ach was, er ist auch ein guter Freund. Keine Bange, der hat sicher verschlafen.“


    1 ½ Stunden später trat Antti in die Wohnung von Veikko. Als er vor einer halben Stunde geklingelt hatte, hatte ihm niemand geöffnet und er hatte sich darum bemühen müssen einen Hausmeister zu finden. Es war keine besonders große Wohnung und auch nicht wirklich aufgeräumt, aber damit hatte er bei Veikko auch eigentlich nicht gerechnet. Er sah sich um. Es war lange her, seit er das letzte Mal hier gewesen war und damals hatte er in Begleitung von Mikael auch nur etwas abgeholt. Nun versuchte er sich daran zu erinnern, ob etwas anders war. Er ging weiter in das Wohnzimmer und erkannte sofort, dass das Mountainbike nicht an der Wandhalterung hing. Damit war Veikko besonders eigen. Er schleppte es sogar im Präsidium all die Stufen in den Keller herunter, weil er Angst hatte, dass es ihm sonst geklaut würde. Er schluckte und machte sich gedanklich eine Notiz über den Computer nachzuprüfen, ob es in der gestrigen Nacht Unfälle gab, wo ein Radfahrer beteiligt gewesen war. Antti schritt weiter durch die Wohnung. Im Schlafzimmer fand er ihn ebenfalls nicht vor. Das Bett war durchfühlt und es lag eine Geige darauf. Davor stand ein Skateboard auf dem Boden. Also war er auch nicht in den Skatepark gefahren. Antti verließ das Schlafzimmer wieder und blieb vor den Anrufbeantworter stehen. Er hatte eine ungehörte Nachricht.


    Es war ein altmodisches Gerät, das eigentlich so überhaupt nicht in die Wohnung von Veikko passte, der sonst immer alles technisch auf dem neusten Stand brauchte. Er drückte die Abhörtaste und kurz darauf hallte Evas Stimme durch die Wohnung: „Danke, dass du mit ihm draußen warst. Er redet von nichts anderem. Ich wünsche dir noch einen tollen Abend!“ Er lächelte. Auch wenn Eva nicht erwähnt hatte, worum es ging, wusste er doch, was Mikael so gefreut hatte. Der erste Schnee des Jahres. Das sie Veikko allerdings einen tollen Abend wünschte, löste in ihm Unbehagen aus. Denn das würde bedeuten, dass der Kollege von der KTU niemals in seiner Wohnung angekommen war. Er seufzte. Er kam wohl nicht Drumherum und musste Mikael fragen, ob sich Veikko auffällig benommen hatte. Sollte sich der Verdacht bestätigen, dass Veikko etwas zugestoßen war, musste er wohl ohnehin den Fall an eine andere Abteilung abgeben. Die Mordkommission war wohl kaum für verschwundene Kollegen zuständig und er hoffte, dass er in diesem Fall auch nicht zuständig würde, denn das würde bedeuten, dass sein Kollege nicht mehr unter ihnen weilen würde.

  • Ben lauschte dem Regen, der gegen sein Fenster schlug. Das Herbstwetter in Finnland war wirklich zum verrückt werden, dachte er. Gestern hatte es noch geschneit, heute regnete es ununterbrochen. Seit einer Stunde lag er nun auf seinem Bett und starrte an die Decke, ohne aber eine Antwort zu finden. Eine Antwort darauf, was er nun tun sollte. Er hatte zusehen müssen, wie Veikko vor Schmerzen geschrien hatte, wie sein Körper kraftlos auf die Pritsche gesunken war und er war sich sicher, dass er das nicht noch einmal durchstehen würde. Er würde nicht noch einmal tatenlos danebenstehen. Das konnte Veikko unmöglich von ihm verlangen. Ben verschränkte den rechten Arm hinter seinem Kopf. Wie nur konnte er Veikko helfen, ohne das er dabei auffliegen würde? Vermutlich überhaupt nicht. Er musste sich entscheiden, was ihm wichtiger war. Und diese Entscheidung war im Grunde keine schwere. Er kannte Veikko zwar noch nicht sehr gut, aber er wusste, dass es ein Mensch war, auf den man sich verlassen konnte. In den letzten Monaten war er jeden zweiten Abend bei Mikael gewesen, hatte ihn aufgebaut und unterstützt. Er seufzte. Ob Mikael wohl auffallen würde, wenn Veikko nicht mehr kam? Würde er sich vielleicht Sorgen machen? Würde Antti Mikael nach Veikko ausfragen? Er schüttelte resigniert den Kopf. Antti würde ihn vielleicht fragen, aber er würde es nicht zu weit treiben. Er würde nicht unerbitterlich nachbohren. Dafür war der Beschützerinstinkt des älteren Kollegen zu groß.


    Ben stand auf und stellte sich jetzt an das Fenster. Er beobachtete, wie die Tropfen an der Scheibe abperlten und Richtung Fensterbrett flossen, wo sie sich zu einer Pfütze zusammentaten und von dort in Richtung Boden tropften. „Wie es ihm wohl geht?“, flüsterte er leise. Es war eine Frage, die immer zu an ihm nagte. Ab und an hatte er sogar ein schlechtes Gewissen, dass er diesen Einsatz angenommen hatte. Eigentlich hätte er doch jetzt an der Seite von Mikael sein müssen, oder nicht? Natürlich hatten Semir und Antti ihm vor dem Einsatz diese Schuldgefühle ausgeredet und er wusste auch, dass Mikael Leute um sich hatte, denen er vertrauen konnte, aber inzwischen kam das Gefühl zurück, dass er ihn im Stich ließ, wo er ihn brauchte. Immerhin war es doch sein Versprechen gegenüber Joshua gewesen, als dieser vor ein paar Jahren in seinen Armen starb. Er hatte Mikaels bestem Freund versprochen, dass er auf ihn aufpasste. Er hatte bereits einmal versagt, noch einmal wollte er das nicht zulassen.


    Veikko hatte nicht aussprechen können, als er nach Mikael gefragt hatte und danach hatte Ben diese Frage aus seinem Kopf verdrängt. Jetzt, wo er zur Ruhe gekommen war, da war sie wieder da. Diese Ungewissheit. Mikael war noch immer verwirrt, so viel wusste er. Die Fortschritte waren nur noch klein, auch das hatte ihm Veikko sagen können. Aber was hieß das genau? Mikael hatte mehrere Anläufe gebraucht, bis er überhaupt wieder voll bei Bewusstsein gewesen war. Noch Wochen später war an eine selbstständige Fortbewegung nicht zu denken gewesen. Sogar das Aufrichten des Kippbettes, um den Kreislauf zu trainieren, war für seinen Freund unglaublich anstrengend. Es war eine skurrile Situation, jemanden wie Mikael in dieser Lage zu sehen. Sein Freund war sportlich, hatte jeden morgen viele Kilometer gejoggt und nun war von den kleinsten Bewegungen vollkommen erschöpft. Als er den Auftrag angenommen hatte, hatte Mikael noch Bewusstseinseintrübungen gehabt und nicht jede Situation wahrgenommen. War es inzwischen anders? Er hoffte es zumindest. Mikael hatte es verdient sein Leben zurückzubekommen.


    Der Regen wurde immer heftiger und dennoch konnte er sehen, wie zwei Männer draußen an dem großen Tor standen. Veikko hatte wohl Recht. Ihnen würde nicht einfach so aus dem Stegreif eine Flucht gelingen. Das Gelände war zu gut bewacht. Aber was hatten sie dann für eine Wahl? Einfach nur abwarten, bis man sie fand? Ihm würde das sicherlich nicht gelingen. Er schüttelte den Kopf. Veikko war wahrlich niemand, der hierher passte. Er konnte ihn sich hier einfach nicht vorstellen. Veikko war jemand, der voller Lebensfreude war, immer zu seinem Scherz aufgelegt und der sich nicht darum zu kümmern schien, was andere Leute von ihm dachten. „Naja ausgenommen dem Sekten-Guru-Scheiß“, widersprach Ben seiner These selbst laut. Enni auf der anderen Seite, schien diesem überchristlichen Glauben dieser Sekte vollkommen verfallen zu sein. Sie merkte nicht, dass es falsch war, was ihrem Bruder passierte. Sie glaubte felsenfest daran, dass das alles nur zu seinem besten geschah.


    Er seufzte und löste sich von dem Fenster. Die Mittagspause war bald vorüber und dann würde er sich wieder den Arbeiten der Gemeinschaft widmen müssen. Für ihn hieß das Draußen einige Reperaturarbeiten verrichten. Vor denen schauderte es ihn bereits jetzt. Das Wetter war grauenhaft, da würde er sicherlich bald durchgefroren sein. Als er aus dem Zimmer trat, blickte er in das Gesicht von Enni. Sie lehnte an der Wand und lächelte. „Ich-ich wusste nicht, ob ich stören darf“, sagte sie schüchtern. Ben schluckte. Hatte sie vielleicht gehört, was er über diese Sekte gesagt hatte? „War es schlimm?“
    „Wie?“
    „Mein Bruder. Ich meine … dieses Ritual. Es ist doch immer wieder fürchterlich anzusehen, wie ein Mensch mit dem Teufel kämpft.“ Sie griff nach seiner Hand und er ließ es geschehen. Enni begann zu lächeln. „Vater hat mir gesagt, dass er sehr stolz auf dich ist. Morgen will er dich wieder dabei haben!“
    „Mich? Ich habe ja nichts Großartiges gemacht und …“
    Sie drückte seine Hand fester. „Er ist ganz begeistert von dir! Du wirst sehen, du wirst in der Gemeinschaft ganz schnell aufsteigen! Da bin ich mir sicher!“
    Enni beugte sich nach vorne und gab ihm einen Kuss auf die Wange. „Ich bin so froh, dass dich das Schicksal hierher geholt hat. Die Gemeinschaft hat Großes mit dir vor!“
    „Enni … wir sollten es langsam angehen lassen“, sagte er behutsam und löste seine Hand vorsichtig aus ihrer. Sie sah verlegen zu Boden. „Oh, natürlich. Es-es tut mir leid, Ben. Ich habe wohl einige deiner Gesten falsch gedeutet.“
    „Du bist eine wunderbare Frau, Enni. Aber ich bin gerade erst drei Wochen hier. Ich denke, dass wir uns erst besser kennenlernen müssen. Ich hoffe, du verstehst das nicht falsch.“
    „Nein, wie könnte ich.“ Sie lächelte breit, ehe sie sich von ihm verabschiedete und den Gang hinaufging. Er sah ihr hinter und atmete tief durch. Er würde darauf achten müssen, dass er ihr nicht unnötig wehtat. Natürlich fand er sie hinreißend und anziehend, aber sie war sicherlich nicht die Frau mit der er sein Leben verbringen wollte und er befürchtete, dass sie eben das wünschte.

  • Als Antti in Mikaels Zimmer trat, fand er seinen Freund wach im Bett vor. Die Gesichtszüge allerdings waren versteinert - wie so oft in den letzten Tagen. Mikael wurde zunehmend frustrierter, umso länger er in der Klinik war. Aber es ließ sich nicht ändern. Er konnte unmöglich nach Hause, dafür war er noch nicht wieder gesund genug.
    „Mikael?“ Es dauerte wie üblich seine Zeit, bis er eine Reaktion zeigte. Alles schien im Augenblick in seinem Gehirn in Zeitlupe abzulaufen. Aber immerhin war es besser geworden. Auch wenn es immer noch eine Ewigkeit zu dauern schien, so reagierte er doch inzwischen schon etwas schneller.
    Er drehte seinen Kopf zu ihm. „Antti.“
    „Was ist los?“, fragte er und holte sich einen der Stühle, die an einem kleinen Tisch in einer Ecke des Raumes standen, ans Bett. „Du siehst wütend aus.“
    „Nichts.“
    „Nichts? Das soll ich dir glauben?“
    „Ich will hier raus!“, schimpfte Mikael nun. „Ich will das nicht mehr. Es macht keinen …“ Der Schwarzhaarige verstummte einige Sekunden, ehe ihm das Wort einfiel, welches er sagen wollte. „Spaß.“ Antti lächelte gezwungen. Mikael schien zwar das richtige Wort in den Sinn gekommen zu sein, allerdings hatte er es dann auf Deutsch ausgesprochen und nicht auf Finnisch. „Aber du musst doch wieder gesund werden und deshalb musst du auch noch etwas hierbleiben.“
    „Ich will nach Hause!“, widersprach Mikael störrisch.
    „Das verstehen wir alle, aber noch ist es zu früh.“
    „Wo ist Ben?! Warum kommt er nicht mehr!“
    „Er kann nicht kommen, das weißt du doch. Er hat einen Fall, der ihn beschäftigt.“
    „Ich will ihn anrufen!“
    „Das geht doch jetzt nicht Mikael. Er muss arbeiten.“
    Der Schwarzhaarige brachte sich in eine aufrechte Position. Antti sah, wie sich die Gesichtszüge verzogen und Mikaels Hand hilflos versuchte irgendwo Halt zu finden. Er stand auf, griff nach den Schultern und lehnte ihn vorsichtig zurück in die Kissen. „Ist dir schwindelig? Hast du Schmerzen?“
    Er hörte ein undeutliches „Ja“ aus dem Bett. „Du hast es übertrieben. Du bist zu schnell aufgestanden Junge.“
    „Ist er sauer?“ Die Stimme des Schwarzhaarigen war weiterhin noch undeutlicher, als ohnehin schon.
    „Nein, warum sollte er sauer sein? Er hat nur gerade wenig Zeit. Bald wird er wieder zu Besuch kommen. Weshalb ich hier bin. Veikko, er war doch gestern hier, nicht?“
    Mikael überlegte lange. Immerhin war die Einordung von Tageszeiten und Tagen für ihn noch immer nicht leicht. „Ja. Wir waren im Schnee“, antwortete er dann und lächelte.
    „War er anders als sonst?“
    „Wie anders?“
    „Hat er sich auffällig verhalten, gab es irgendwas, was nicht normal war?“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Er wollte keine Schneeballschlacht machen. Dabei ist es doch auf seiner kindischen Idee erwachsen, dieses Ritual.“
    „Sonst war nichts?“
    „Nein.“
    „Und er hat nicht nervös gewirkt. Irgendwie?“
    „Nein.“
    „Der erste Schnee des Jahres, hat er gesagt“, ertönte Mikaels Stimme erneut. Er nickte.
    „Wie war deine Krankengymnastik heute?“
    „Wir haben das aufstehen geübt“, kam es aus dem Bett. Antti lächelte. „Siehst du, wenn du immer weiter Fortschritte machst, dann kommst du bald nach Hause. Eva hat mir erzählt, dass ihr einen Hund haben wollt.“
    Mikael sah ihn stumm an. Er schien sich also nicht mehr an das Gespräch mit Eva zu erinnern oder zumindest schien er es nicht zuordnen zu können. „Toivo hieß er“, fügte er nach einer Weile hinzu und nun nickte sein Freund. „Ja. Er ist schon älter, aber er hat ja dennoch ein Recht darauf eine Familie zu haben, nicht?“
    „Ja … ich bin mir sicher, dass ihr alle Voraussetzungen erfüllt, damit er zu euch kann.“


    Antti beobachtete, wie Mikaels Augen immer wieder zu fielen. Es war wohl Zeit zu gehen. Er griff nach dem Arm des Jüngeren. „Ich werde jetzt fahren, ja? Du bist sicher erschöpft von deinem Programm heute morgen nicht?“
    „Ja“, murmelte der Schwarzhaarige leise und nun schlossen sich die Augen endgültig und er war eingeschlafen. Antti stellte den Stuhl vorsichtig zurück und verließ dann so geräuschlos wie nur möglich das Zimmer.


    Er versuchte auf der Heimfahrt die neuen Informationen zu sortieren, allerdings waren da ja kaum welche. Mikael hatte ihm nicht weiterhelfen können. Wie sollte ihm auch in seinem Zustand etwas auffallen? Er war naiv zu glauben, dass Mikael etwas hätte sehen können an Veikkos Benehmen. Er sah, wenn jemand glücklich war oder traurig, aber er sah nicht mehr das, was er noch vor wenigen Monaten sehen konnte. Außerdem waren es plötzlich Kleinigkeiten, die seine ganze Aufmerksamkeit aufzogen, während er andere einfach vergaß. Als schien der junge Mann, der sich so viele Dinge gleichzeitig merken und analysieren konnte, ein ganz anderer gewesen. „Scheiße aber auch“, fluchte er leise. Er hatte sich bemühen müssen, Mikael nicht anzuschreien, warum er sich nur für diesen beschissenen Schnee interessiert. Veikko musste doch etwas gesagt haben, etwas getan haben! Immerhin war es die letzte Tätigkeit, die man ihm mit Bestimmtheit zuordnen konnte.


    Er drückte auf das Bremspedal. Irgendetwas am Straßenrand hatte für wenige Sekunden nach seiner Aufmerksamkeit geschrien. Er löste den Gurt und stieg aus. Es war kalt und nass. Regen durchnässte ihn binnen weniger Sekunden und er wünschte sich, dass er in seiner Hektik daran gedacht hatte, sich seinen Wintermantel überzuziehen, der auf der Rückbank lag. Der Finne holte das zwar nach, die Kälte hatte sich aber dennoch bereits in seiner Glieder gefressen. Er lief die letzten Meter noch zu Fuß ab und da sah er den Gegenstand, was ihn bei der Autofahrt plötzlich ins Auge gefallen war. Ein Mountainbike. Eines, welches er nur zu gut kannte. „Verdammte!“ Sein Herz begann schneller zu schlagen und er suchte die Umgebung ab. Hatte Veikko einen Unfall gehabt? Er schüttelte den Kopf. Nein. Das Rad war unversehrt und es gab keinerlei Spuren auf der Straße, die darauf hindeuteten. Er ging den Straßenverlauf einmal nach Norden und einmal nach Süden einige Meter entlang. Er stockte, als er eine Spritze sah und hob sie auf. Er drehte sie vor seinen Augen hin und her. Vielleicht hatte ihn ja jemand entführt, was auch immer man von einem Techniker wollte. Vielleicht war es aber auch nur Müll, denn irgendwer aus dem Auto geworfen hatte? Er fuhr durch seine nassen Haare. Es half wohl nichts. Antti zog sein Handy aus der Tasche und verständigte die Spurensicherung. Er brauchte endlich Antworten!

  • Nur wenig später beobachtete Antti, wie die Spurensicherung akribisch ihrer Arbeit nachging und jeden noch so kleinen Hinweis dokumentierte. „Ich werde die Vermisstenstelle damit beauftragen Päkkinen. Es scheint wohl wirklich etwas Ernsteres zu sein“, sagte er zu dem Mann neben sich. „Ja. Das ist doch alles sehr komisch. Wir sprechen hier immerhin von Veikko.“
    Antti nickte. „Weißt du was, ich fahre noch einmal zu seiner Wohnung und sehe nach, ob es nicht doch etwas gibt, das uns sagt, wieso Veikko verschwunden und wer dafür verantwortlich ist.“
    „Okay, wenn es etwas gibt, wofür du meine Jungs brauchst, du hast ja meine Nummer.“ Antti nickte und begab sich zu seinem Wagen.


    Knapp 40 Minuten später streifte er zum wiederholten Mal durch Veikkos Wohnung. Noch einmal sah er gründlich alles durch. Auf der Suche nach diesem einen kleinen Hinweise. Etwas schämte er sich schon, dass er so in den Privatsachen eines Freundes herumwühlte, aber er tat es ja schließlich, um ihn zu finden. Er hoffte nur, dass nichts Schlimmes passiert war. Veikko war ihm über die Jahre ans Herz gewachsen. Er hatte immer gute Laune versprüht, wenn sie sich begegnet waren. Ein solch fröhlicher Mensch gab es wohl selten und er wollte diesen Menschen nicht mehr missen. Er hatte bereits im Schlafzimmer geschaut, dort aber nichts Auffälliges gefunden. Nun war er wieder im Wohnzimmer angekommen.


    Antti ging zum Schreibtisch und setzte sich auf den Drehstuhl. Dann zog er die unterste Schublade auf und sah grob die Dinge durch, die sich darin befanden. Computerspiele, Schraubenzieher und Stifte lagen wild durcheinander. Was seine Aufmerksamkeit jedoch magisch anzog, war ein Kästchen, das ganz hinten an der Schubladenwand stand. Er hob es heraus und stellte es auf den Tisch. Es schien ziemlich edel zu sein. Er machte den Deckel auf und zog eine dünne, silberne Kette hervor. Sein Blick blieb auf dem Anhänger hängen. Ein paar Engelsflügel. Mit einmal wurde die Unruhe in seinem Körper um ein vielfaches größer. Er legte die Kette auf den Schreibtisch und wühlte nun hektisch die anderen Schubladen durch. Nach fünf Minuten lehnte er sich zurück und drehte den Stuhl um seine eigene Achse. „Die Diener Gottes“, murmelte er leise, griff nach der Kette und ließ den Anhänger vor seinen Augen baumeln. Nie hätte er geglaubt, dass Veikko Mitglied in einer solchen radikalen Sekte sein könnte. Und die Kette war sogar Beweis dafür, dass er ein ranghohes Mitglied war.


    Er hielt in seiner Bewegung inne, als er Schritte hörte. Dann quietschte die Wohnungstür. Schnell stand er auf und platzierte sich hinter der leicht geöffneten Tür von Veikkos Wohnzimmer. Seine rechte Hand griff nach einer Waffe und er entsicherte sie, so leise es möglich war. Adrenalin durchflutete seine Adern. Seine Atmung beschleunigte sich. „Veikko, bist du da? Deine Wohnungstür war nur angelehnt. Der Geburtstag von Kiira. Erinnerst du dich? Wir wollten das heute besprechen.“ Antti atmete erleichtert aus. Er kannte den Träger dieser Stimme. Er sicherte die Waffe wieder und trat aus seinem Versteck. „Veikko ist verschwunden, Hagenström“, sagte er laut und beobachtete, wie der blonde, großgewachsene Mann vor ihm zusammenzuckte. „Himmel!“, schimpfte er laut, als er ihn sah. „Heikkinen, du hast mich zu Tode erschreckt!“
    „Gleiches könnte ich von dir behaupten“, gab er trocken zurück.
    „Wie verschwunden?“ Max Hagenström, seines Zeichens Journalist und langjähriger Lebenspartner von Veikkos Exfrau Laura, verschränkte die Arme vor dem Körper und sah dann an ihm vorbei auf den Schreibtisch, dessen Schubladen noch immer geöffnet waren. „Haben die damit zu tun?“, fragte er.
    „Du weißt, dass er bei diesem Verein Mitglied ist?“, entkam es Antti erstaunt. Ausgerechnet einem Enthüllungsjournalisten schien Veikko sein Geheimnis also anzuvertrauen.
    „Es betrifft immerhin meine Freundin“, erwiderte Hagenström. „Außerdem ist er ja überhaupt nicht mehr in dieser Sekte. Schon lange nicht mehr …“
    Antti fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Wie wäre es mit einem Kaffee? Ich fürchte, dass du mir alles von vorne erklären musst.“
    Wenig später saßen die Beiden in Veikkos Küche und Max Hagenström berichtete ihm davon, wie Veikkos Eltern in diese Sekte eingetreten waren, als Veikko noch ein Kind war. Er erzählte ihm davon, wie er schließlich mit 16 aus der Gemeinde verschwunden war, aber nie den Mut hatte seinen Eltern zu sagen, was er tatsächlich machte. „Der Umgang mit Leichen, musst du verstehen, ist in dieser Sekte eine hohe Gefahr, dass er Teufel sich diese Person schnappt und einnimmt.“ Hagenström umklammerte seine Tasse. „Hinzu kommt die Notwehr in Veikkos Ausbildung zum Kommissar. Ein Mord, musst du verstehen, wird nie verziehen. Er ist das Zeichen, dass das Böse in dir wohnt.“
    „Du denkst, dass sie ihn haben?“, fragte Antti nach einer Weile nach, während er noch immer die Informationen verarbeitete, die er gerade bekam.
    „Es wäre zumindest denkbar, wenn seine Eltern herausbekommen, dass er kein Mathegenie in einem Labor ist, sondern bei der Polizei. Er sagte mal, dass seine Eltern diesem Wahnsinn immer mehr verfallen.“
    Antti klopfte mit den Fingern nervös auf der Tischplatte. „Was ist?“, hörte er Hagenströms Stimme.
    „Ich muss nachdenken“, murmelte er und stand auf. Er tigerte im Raum auf und ab. Erst nach links, dann nach rechts, dann wieder zurück. Wenn es tatsächlich stimmte, was Hagenström vermutete, hatten sie ein Problem und zwar ein Großes. Nicht nur Veikko war in Gefahr, sondern auch Ben. Der war bei diesen Leuten und wenn die Beiden aufeinander stoßen würden, dann würde er ohne Zweifel auffliegen. So viel Menschenkenntnis hatte Antti, so dass für ihn feststand, dass Ben unmöglich still halten könnte, wenn er herausfand, dass Veikko dort ohne seinen Willen festgehalten wurde. „Was haben die mit Veikko vor? Was denkst du?“, fragte er in den Raum. Hageström saß noch immer am Tisch und zuckte mit den Achseln. „Teufelsaustreibung würde ich tippen, aber ich will mich nicht festlegen.“
    „Das heißt?“
    „Heikkinen, wirklich, so im Detail hat mir das Veikko alles jetzt auch nicht erzählt.“
    Antti schnaufte. „Du bist doch der Enthüllungsjournalist! Himmel, worüber berichtest du eigentlich!“
    Max Hagenström sah verlegen auf den Tisch. „Ich rühre grundsätzlich keine Stories an, in denen meine Familie verwickelt ist. Hier geht es auch um Laura und Kiira … Gott sei Dank sind sie bei Lauras Großeltern!“
    „Hat er denn darüber überhaupt nichts gesagt? Also diese Teufelsaustreibung?“
    „Nur das es fürchterliche Schmerzen sind … wirklich Antti, er hat darüber nicht sehr gerne gesprochen.“ Der Journalist lehnte sich zurück und sah aus dem Fenster. „Und ich kann es ihm auch nicht verübeln.“
    Antti lief weiter nervös auf und ab, zog sein Handy hervor, steckte es wieder ein, um es dann wieder hervorzuziehen. Er blätterte in seinen Kontakten. Sollte er das wirklich tun? Sollte er noch einen weiteren Menschen in Aufregung versetzen? Er seufzte und wählte die Nummer an, die er ausgewählt hatte. Es war immerhin Semirs gutes Recht von den ‚Problemen‘ zu erfahren, die sich für Ben ergeben hatten.



    *


    In Semirs Hals bildete sich ein dicker Kloß, als er mit Antti telefonierte. Sein Kollege aus Finnland hatte ihm berichtet, dass Veikko mal Mitglied dieser Sekte war, wo Ben sich gerade aufhielt, und dass er nun womöglich von eben dieser entführt worden war. Zumindest fehlte jede Spur von dem jungen Mann der Spurensicherung. Er machte sich dabei nicht nur Sorgen um Veikko, den er durch die Besuche in Finnland eigentlich schon recht gut kannte, sondern auch um Ben. Würde Ben seine Tarnung aufrecht erhalten, wenn er Veikko über den Weg lief? War sein Freund wirklich stark genug dazu, diesen Undercover-Einsatz durchzuziehen, wenn es bedeuten würde, zuzusehen, wie jemand Bekanntes dort gegen seinen Willen festgehalten wurde? „Ich hätte Ben nicht vorschlagen sollen, Semir“, holte ihn Anttis Stimme zurück ins Hier und Jetzt. Antti war es gewesen, der Bens Namen vor einigen Wochen ins Spiel gebracht hatte, als bekannt wurde, dass die Sekte auch einen Ableger in Deutschland hatte. „Du konntest doch nicht wissen, dass so etwas passiert“, widersprach Semir und wundere sich gleichzeitig darüber, wie dünn seine Stimme gerade klang.
    „Ja, ich weiß. Ich hol die Jungs daraus Semir! Ich werde jetzt gleich bei der Soko aufkreuzen und denen sagen, dass die egal wie eingreifen sollen.“
    „Wissen die denn, wo sie sich aufhalten?“
    Der Finne stöhnte. „Was weiß ich! Aber diese bescheuerten Diener Gottes gehen mir langsam gehörig auf die Nerven!“
    „Ich werde versuchen zu kommen! Es geht immerhin um Ben“, beschloss Semir. „Am Wochenende hatten Andrea und Ich eh eine Reise nach Finnland geplant. Ich werde die Chefin schon dazu bekommen, mich früher zu schicken!“
    „Soll ich für dich schon einmal die Flüge checken?“
    Semir nickte. „Das wäre super, wenn du mir diese Aufgabe abnehmen würdest.“


    Semir atmete tief durch, als er sich von Antti verabschiedet hatte. Als er das Handy auf den Tisch legte, merkte er, wie seine Hand von feinem Schweiß bedeckt war. Die Nachricht seines Kollegen hatte ihm Angst gemacht. Es hatte sich alles nach einem leichten Einsatz angehört, der nun aus dem Ruder laufen könnte. Er sprang regelrecht aus seinem Stuhl hoch und ging mit eiligen Schritten in Richtung des Büros von Kim Krüger. Seine Hand umgriff die Klinke und er drückte die Tür auf. „Ich muss sofort nach Finnland Frau Krüger!“, begann er ohne Umschweife. Seine Chefin sah ihn irritiert an. „Wie bitte?“
    „Es geht um Ben! Etwas ist schiefgelaufen. Bitte Frau Krüger! Ich meine, ich habe ja ohnehin in ein paar Tagen Urlaub und wäre hoch, aber das ist jetzt ein Notfall.“
    Sie sog die Luft hörbar ein. „Wie wäre es, wenn Sie sich setzen und mir alles in Ruhe erklären. Was ist mit Herrn Jäger? Weshalb müssen Sie nach Finnland?“
    Aufgeregt begann Semir seiner Vorgesetzten von dem Telefonat mit Antti zu berichten und was diese Vermutung für Ben bedeuten könnte. Kim Krüger hörte aufmerksam zu. Ab und an nickte sie oder schüttelte den Kopf, unterbrach Semir allerdings nie. „Und deshalb muss ich jetzt sofort hochfliegen. Wir müssen diesen Ort finden oder zu Ben Kontakt aufnehmen. Ich muss doch sicher gehen, dass ihm nichts passieren kann!“, beendete er seine Ausführung und zappelte nervös mit den Füßen. „Sie lassen mich doch fliegen?“, hängte er nach einer Weile an, als Kim Krüger immer noch keine Antwort gegeben hatte.
    „Wie gesichert ist diese Vermutung denn?“, fragte die Leiterin der PASt dann.
    „Antti ist sich ziemlich sicher, dass diese Menschen seinen Kollegen haben.“
    „Und Herr Heikkinen hat das auch schon mit der Soko abgesprochen?“
    Semir mied den Blickkontakt. „Er ist gerade dabei. Aber hören Sie, Frau Krüger. Egal ob die uns da mitmachen lassen oder nicht, ich muss Ben helfen!“
    „Ihnen ist doch hoffentlich klar, dass Sie einen offiziellen Gesuch der finnischen Polizei benötigen, damit Sie dort tätig werden dürfen?“
    „Es ist mir egal! Es geht doch um Ben!“
    Kim Krüger faltete ihre Hände auf den Schoß und sah ihn streng an. „Ich verstehe ja ihre Sorge Herr Gerk…“
    „Es geht um Ben!“, wiederholte er abermals. „Ich kann ja nicht zulassen, dass ihm etwas passiert!“
    Semir raufte sich durch seine kurzen Haare. „Bitte, lassen Sie mich hochfliegen! Bitte!“
    Sie lehnte sich in ihrem Stuhl zurück. „Ohne offizielles Gesuch, kann ich da nichts machen.“ Er wollte erneut protestieren, doch sie hob die Hand und er verstummte. „Aber es liegt natürlich auch in meinem Interesse, dass Herrn Jäger bei diesem Einsatz nichts zustößt. Die einzige Möglichkeit, die ich ihnen anbieten kann, falls Finnland nicht sein okay gibt, wäre ein paar Urlaubstage mehr.“
    Er nickte. „Das ist mir egal, solange ich Ben helfen kann.“
    Sie lächelte. „Dann werden wir das so machen. Sie werden jetzt in ihr Büro gehen und ich werde mit Finnland telefonieren, wie klingt das?“
    Er nickte abermals. „Und danach werde ich Sie über das Ergebnis informieren.“
    Semir stand auf. „Danke Frau Krüger!“
    „Noch habe ich nichts getan“, gab sie zu bedenken und lächelte.

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  • Antti Heikkinen drückte ohne zu klopfen die Tür auf. „Likpi! Du musst diese Aktion abbrechen!“, begann er ohne Umschweife. Jaakko Likpi, Einsatzleiter der Sonderkommission, sah von seiner Akte auf und zog die Mundwinkel ein Stück nach oben. „Heikkinen“, begrüßte er ihn und zeigte auf den Stuhl. Er schüttelte energisch den Kopf. „Ich will nicht plaudern. Ich will, dass du den Einsatz gegen die Diener Gottes einstellst!“
    „Und warum?“
    „Veikko Lindström wurde von denen entführt!“
    Likpi schien nicht zu begreifen. Er sah ihn mit hochgezogener Augenbraue an. „Wer?“
    „Veikko Lindström.“ Sein Gegenüber schien ihn immer noch nicht zu verstehen. „Der Techniker mit den grünen Strähnen im Haar“, sagte er nun. Jetzt nickte Jaakko Likpi. „Wieso sollten die ihn entführen?“
    „Seine Eltern sind wohl Mitglieder dieser Sekte, ein Freund von Veikko hat es so erzählt.“
    „Hmm.“
    Antti verlor die Geduld und beugte sich über den Schreibtisch. „Verdammt, er kennt Ben Jäger! Also blas die ganze Aktion bitte sofort ab! Auf der Stelle!“
    „Weil die Beiden sich kennen?“ Likpi lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Ich glaube, dass die Beiden professionell genug sind, um den Ernst ihrer Lage einzuschätzen oder nicht?“
    Antti lachte auf. „Wirklich? Ich denke das nicht. Ich glaube, dass Jäger ein ausgesprochen ausgeprägtes Helfersyndrom hat und nicht zusehen wird, wie Veikko Schaden zugefügt wird!“ Seine Faust knallte auf den Tisch. „Himmel! Likpi, mach was!“
    „Du weißt, dass du keine Befugnisse hast, mir Vorschriften zu machen.“ Jaakko Likpi ließ sich durch seinen Wutanfall nicht aus der Ruhe bringen. „Setz dich bitte und erkläre mir den Sachverhalt noch einmal in Ruhe.“
    Der Hauptkommissar der Mordkommission stöhnte auf, folgte dann aber dem Wunsch seines Kollegen. Er setzte sich hin und berichtete, was im Laufe des Tages vorgefallen war. Likpi fuhr sich mit der Hand über das Kinn. „Das ist mir alles zu wage Antti. Die Beiden sind doch keine Grünschnäbel mehr. Sie wissen, wie sie sich verhalten müssen.“
    „Wir reden doch hier von keinen professionellen verdeckten Ermittlern! Wir reden von zwei Freunden.“
    Jaakko Likpi lächelte. „Wie viel Erfahrung hast du mit so etwas?“
    Antti stöhnt auf. „Kommst du mir jetzt mit so was? Nur weil ich bei der Mordkommission bin, heißt das doch nicht, dass ich mich nur mit toten Menschen auskenne!“ Er lehnte sich nach vorne. „Du weißt, bei wem und wo ich meine Ausbildung absolviert habe. Ich weiß sehr wohl worum es hier geht und was für dich auf dem Spiel steht. Aber ich appelliere an dich. Das sind zwei junge Kollegen, riskiere nicht zu viel für deinen Erfolg!“
    „Du denkst also, dass ich mich profilieren will?“
    „Ja, genau das denke ich.“
    Likpi verschränkte die Hände vor seiner Brust. „Vergiss es Heikkinen. Ich bin Leiter dieser SOKO und ich werde nichts unternehmen aufgrund von Behauptungen. Bring mir Beweise, dass die Zwei in Gefahr sind und ich unternehme was.“
    „Beweise?“ Anttis Hand fuhr nach vorne und packte Likpi am Kragen seines Hemdes. „Beweise?! Woher soll ich Beweise bekommen.“
    „Du solltest mich los lassen!“
    Er lockerte den Griff wieder. „Ich schwöre dir, wenn Ben oder Veikko etwas passiert, dann wirst du untergehen!“ Er drehte sich von Likpi weg und verließ das Büro mit einem lauten Türknallen. „Blöder Wichtigtuer!“, schimpfte er laut, während seine Hand gegen die Wand knallte.


    Wütend stampfte er zur Treppe und ging runter in seine Abteilung. Als in sein Büro trat, staunte er nicht schlecht. Sein Chef saß hinter seinem Schreibtisch und sah ihn ernst an. „Warum kommst du mit sowas nicht zu mir, Antti?“
    „Likpi hat dich also sofort angerufen“, stellte er fest. Ville Rautianen nickte. „Natürlich hat er das. Wir beide kennen Likpi und seine Eigenheiten.“
    „Hast du mir kein Vertrauen geschenkt, oder warum muss ich von ihm über die Sache mit Lindström erfahren?“
    Er ließ sich auf den Besucherstuhl fallen und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. „Ich war wohl einfach unter Strom, Ville“, gab er zu. „Du kennst mich, wenn mich etwas beschäftigt, dann muss ich das sofort erledigen und es geht immerhin um Veikko. Er ist in den letzten Jahren ein wichtiger Freund geworden.“
    Sein Chef nickte und griff mit der Hand nach einem Foto, was auf seinem Schreibtisch stand. Mikael und er waren darauf abgebildet. „Likpi meint, dass dir die Sache mit Häkkinen zu Kopf steigt. Er sagt, dass du dich deshalb nicht mehr im Griff hast.“
    „Das ist Blödsinn und das weißt du auch!“, widersprach er.
    „Es setzt dir also nicht zu?“, kam die Gegenfrage.
    Antti sank tiefer in den Stuhl. „Natürlich tut es das, Mikael bedeutet mir sehr viel. Aber das Eine hat mit dem Anderen nichts zu tun.“
    „Hat es das nicht?“
    „Was soll das werden Ville? Was willst du von mir hören?“
    „Denkst du darüber nach, ob Mikael auch nach Deutschland geflogen wäre für den Fall Westhof, wenn du dich dagegen ausgesprochen hättest?“
    „Nein, eigentlich nicht.“ Er richtete sich in seinem Stuhl auf und sah seinen Chef in die Augen. „Und weißt du auch warum nicht?“
    „Nein, klär mich auf.“
    „Weil Mikael auch gegen meinen Rat geflogen wäre und warum? Weil er geglaubt hat, dass er sich beweisen muss, nachdem man ihn hier nicht mehr ernst genommen hat. Er war nur noch Hansen Sohn, nichts weiter.“
    Ville Rautianen lächelte. „Darf ich dich daran erinnern, was du damals gesagt hast, als ich ihn in diese Abteilung holen wollte?“
    Er stöhnte. „Mir ist bewusst, was ich gesagt habe. Aber du hast mich ja überzeugt. Aber wie gesagt, dass hat nichts mit Veikko und Ben zu tun.“
    „Du hast Angst, dass Mikael noch jemanden verlieren wird. Du willst nicht, dass er wieder abstürzt, wie nach Joshua Lehtos Tod.“
    Antti verstummte. Er wusste, dass sein Chef Recht hatte. Er wollte nicht noch einmal erleben, wie Mikael abstürzte. Als Joshua starb hatte er sich nicht nur einmal maßlos betrunken und noch heute ging ihn der Abend nicht aus dem Sinn, an dem es fast zu viel für den jungen Kollegen geworden war. Er hatte Stillschweigen darüber bewahrt. Niemand außer ihm und Mikael wusste, was in dieser Nacht fast passiert wäre. Mikael hatte das Gleichgewicht auf dem dünnen Drahtseil verloren und war in die Tiefe gestürzt.
    Er sah seinen Chef herausfordernd an. „Lässt du mich ermitteln oder nicht?“ Ville Rautianen war für viele Jahre sein Partner gewesen, er wusste, wie er tickte und er wusste, dass er ihn ermitteln lassen würde, egal was Likpis Meinung war.
    Rautianen stand auf und ging in Richtung Tür. „Könnte ich dich davon abhalten? Ich möchte, dass du mich informierst, solltest du etwas Neues haben.“ Ehe Antti antworteten konnte, hatte sein Chef die Bürotür aufgezogen und war verschwunden. Er stand auf, ging um seinen Schreibtisch herum und setzte sich nun auf seinen Stuhl. Danach griff er nach dem Telefon und machte sich daran einen Flug für Semir zu buchen.

  • Semir saß nervös in seinem Stuhl und sah mit starrem Blick auf das Büro von Kim Krüger. Es war nun schon eine halbe Stunde vergangen und er hatte noch nichts gehört. Was konnte denn da solange dauern? Er lehnte sich zurück und sah an die Decke, um wenig später allerdings die Lehne wieder nach vorne schnellen zu lassen und nach einem Kugelschreiber zu greifen. „Wenn die sich nicht bald meldet, dann …“, schimpfte er laut. Wie auf Kommando, zappelte das Handy rhythmisch auf dem Tisch und kündigte einen Anruf an. Er zögerte nicht lange und meldete sich kurz darauf aufgeregt mit seinem Namen. Am anderen Ende war Antti und sein Freund hatte keine guten Nachrichten für ihn. „Das kann er doch nicht machen!“, beschwerte er sich, als er ihm mitteilte, was Likpi gesagt hatte. Der Meinung war natürlich auch Antti, aber der Kollege musste auch zugegeben, dass ihm die Hände gebunden waren. Das Einzige, was er noch machen konnte, ist auf eigene Faust zu ermitteln, um Lipki die Beweise zu bringen, die er haben wollte.
    Semir lauschte den Worten von Antti und sah dabei wieder in das Büro der Chefin. Sie telefonierte ebenfalls und das Gespräch schien nicht in die Richtung zu laufen, die man Positiv nennen könnte. „Hast du nach einem Flug geschaut?“
    „Ja, in drei Stunden geht etwas. Schaffst du den?“, ertönte es aus dem Lautsprecher des Handys. Er nickte. „Ja, das sollte machbar sein.“
    „Gut dann werde ich ihn buchen. Du landest um 19 Uhr. Ich holte dich dann vom Flughafen ab.“
    „Ich hol dich dann ab“, verbesserte Semir seinen Freund.
    Dieser lachte laut. „Ja natürlich. Man sollte meinen, dass gerade wir Finnen mit unseren 15 Fällen es hinbekommen sollten ...“
    „Danke Antti. Bis heute Abend dann.“ Er wollte auflegen, doch dann ertönte die Stimme des Finnen erneut. „Ich verspreche dir, wir holen die Beiden daraus.“
    „Das weiß ich Antti. Mach dir keine Sorgen, es wird alles gut werden.“
    „Das hoffe ich“, kam es vom anderen Ende der Leitung, ehe Antti das Gespräch beendeten.
    Semir legte sein Handy auf den Tisch uns sah wieder in das Büro von Kim Krüger. Sie war immer noch am telefonieren. Er seufzte, stand auf und machte sich auf den Weg in Richtung des Büros. Als er angekommen war, legte seine Chefin gerade den Hörer auf die Gabel. „Ich habe leider keine guten Nachrichten, Herr Gerkhan“, sagte sie.
    Er nickte. „Ich weiß. Der Kollege aus Finnland, Antti Heikkinen, er hat mich bereits angerufen.“
    „Ich nehme an, Sie werden dennoch fliegen?“
    „Wenn ihr Angebot noch steht.“
    Sie lehnte sich in ihren Stuhl zurück. „Dieser Likpi ist ein sturer Bock, falls sie ihn begegnen, sagen Sie ihm das.“
    Semir lächelte. „Ich nehme an, dass heißt ja?“
    „Aber benehmen Sie sich dennoch. Falls sie dort Probleme bereiten, dann kann ich ihnen nicht helfen, dass ist Ihnen hoffentlich klar!“
    Er hob beschwichtigend die Hände. „Natürlich Frau Krüger, natürlich. Ich werde mich vorbildlich verhalten, so wie Sie es von mir gewöhnt sind.“ Semir bedankte sich abermals, ehe er sich eilig seiner Waffe in den Schließfächern der Wache entledigte und dann nach Hause fuhr. Er hatte noch knapp drei Stunden, ehe er der Flieger gehen würde, da würde er sich beeilen müssen. Er musste immerhin noch packen und die Fahrt zu Flughafen konnte bei Stau auch länger dauern, als berechnet.


    „Was ist los? Wieso musst du so plötzlich nach Finnland? Ist etwas mit Mikael?“, prasselten die Fragen seiner Frau auf ihn ein, als er durch die Haustür kam und ihr berichtete, dass er einige Tage früher nach Helsinki musste. „Nein. Mikael geht es gut, also glaube ich zumindest.“ Er ging in das Schlafzimmer durch, krame eine Reisetasche hervor und legte sei auf das Bett. Er drehte sich nun zu Andrea. „Es geht um Ben. Er ist vermutlich in Gefahr, verstehst du? Ich muss ihn daraus holen!“
    „Bei diesem Undercovereinsatz?“ Andreas Stimme war leise geworden. Sorge spiegelte sich darin wieder. Ben war so etwas wie ein Familienmitglied. Nicht nur ihn, sondern auch Andrea und die Kinder verband viel mit dem jungen Mann.
    „Ja. Ein Kollege von Antti wurde ebenfalls entführt. Dieser junge Mann mit den grünen Strähnen – du hast ihn mal gesehen, als wir in Finnland waren“, erklärte er.
    „Warum? Ich meine … wieso wurde dieser Mann entführt?“
    „Seine Eltern sind wohl Teil dieser Sekte.“ Er löste sich von Andrea. „Aber ich habe jetzt keine Zeit, dir das alles bis ins Detail zu erklären, ich muss schnell los. Wir wollten keine Zeit verlieren!“
    „Warum wurde er entführt?“, fragte seine Frau.
    „Und was wollen sie mit ihm?“
    „Das weiß ich nicht. Schatz, ich habe wirklich kaum Zeit, bis mein Flieger geht.“ Er packte eilig das Gröbste an Klamotten und Hygieneartikel in seine Tasche. Er drückte seiner Frau einen Kuss auf den Mund und verabschiedete sich dann noch von den Kindern, die im Wohnzimmer spielten. „Ich melde mich“, ließ er seine Frau wissen und küsste sie abermals, ehe er in Richtung Flughafen verschwand.

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  • Eva hob die Kapuze ihres dunkelgrünen Mantels über den Kopf und schob die behandschuhten Hände in ihre Manteltaschen. Der Winter hatte Helsinki zwar noch nicht ganz mit seinem kalten unbarmherzigen Griff gepackt, aber durch den schneidenden Wind, fühlte es sich bereits so an. Der Wellengang war stark und das Wasser schlug gegen die Felsen am Stand. Es war, als würde das Wetter all ihre Gefühle ausdrücken. Es war lange her, dass sie sich vollkommen befreit und glücklich gefühlt hatte. Vielleicht, ja, vielleicht war es der Augenblick gewesen, als Mikael aus dem Koma aufgewacht war und seine Finger die ihren umgriffen hatten. Er hatte sie angesehen und sie hatte gewusst, dass er sie nicht vergessen hatte. Seit diesem Augenblick schien alles sie erdrücken zu wollen. Sie fühlte sich der Situation nicht gewachsen und doch hatte sie es bisher geschafft vor dem Mann, den sie liebte, stark zu sein.


    „Was sagen denn die Ärzte?“, fragte ihr Vater neben ihr.
    „Das wir Geduld haben müssen. Viel Geduld.“ Sie zog die rechte Hand aus ihrer Tasche und hakte sich bei ihm ein. Nachdem das mit Mikael passiert war, war sie zumindest vorrübergehend wieder zu ihren Eltern gezogen. So war es einfach leichter Oskari und Mikael unter einen Hut zu bekommen. Ihre Eltern halfen ihr, wo sie konnten und sie hatte auch ein kleines bisschen das Gefühl, als würde dieser Schicksalsschlag ihre Eltern wieder näher zusammenbringen, nachdem ihre Ehe eigentlich schon vor dem Aus gestanden hatte. Auch schien ihr Vater aufgehört haben Mikael aus dem Weg zu gehen. Er hatte zum ersten Mal das Privatleben vor den Beruf gestellt und das bedeutete ihr viel.
    „Und er will wirklich nicht, dass du seine Familie verständigst?“, fragte ihr Vater.
    „Ich kenne sie doch nicht einmal, Papa. Ich wüsste überhaupt nicht, wo ich sie finden kann.“
    „Du bist Polizistin.“
    „Er hatte seit seinem 17. Lebensjahr keinen Kontakt mit der Familie und ich denke, dass er ihn auch jetzt nicht haben will.“
    Er schien erstaunt und wurde für einige Meter langsamer, ehe er seinen Laufschritt wieder beschleunigte. „So lange schon, hmm? Ist man dann nicht einsam, so ganz ohne Familie?“
    „Ich glaube nicht, dass er deshalb jemals einsam war.“ Sie machte eine Pause. „Wobei ich glaube, dass er seinen Vater sehr vermisst hat.“
    „Diesen Verbrecher?“
    Sie lachte und drückte sich näher an ihren Vater. „Ach komm, du weißt, dass es diesen einfache Modell von Gut und Böse nicht gibt! Er hat so ein kleines Fotoalbum im Schrank versteckt. Auf den Fotos darin ist er mit Andreas zu sehen und er sieht glücklich aus.“
    „Versteckt?“
    „Ich weiß nicht, ob bewusst oder nicht. Vielleicht versteckt er es sogar vor sich selbst. Ich habe es mal in der hintersten Ecke gefunden, als ich sein Chaos beseitigt habe.“ Sie seufzte. „Ich glaube manchmal, er will ihn aus seinem Leben streichen, schafft es aber einfach nicht.“
    „Hast du ihn denn nicht darauf angesprochen?“
    Sie sah ihren Vater an. „Er wird immer so abweisend, wenn man ihn auf die Vergangenheit anspricht, also habe ich damit aufgehört. Es ist doch die Gegenwart, in der wir leben wollen und nicht die Vergangenheit.“


    Sie setzten sich auf eine Bank und sahen auf das Meer hinaus, dessen Brandung tosend gegen die Uferklippen schäumte. „Mit Mikael war ich oft hier“, sagte sie und spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte. Sie schluckte und merkte gleichzeitig, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten. Eva konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie hier zum ersten Mal mit Mikael gesessen hatte. Es war nicht lange nach Joshuas Tod gewesen. Er hatte stumm neben ihr gesessen und dann irgendwann nach ihrer Hand gegriffen und sie umklammert, als könnte sie ihn retten, falls er in die Tiefe sank. Auch wenn er nach Außen so hart und manchmal egoistisch wirkte, hatte sie schnell begriffen, dass das alles nur Fassade war. Er war sensibel und nachdenklich. Wenn man ihm das Gefühl gab, dass er so sein dürfte wie er war, dann war er voller Wärme und Nähe. Sie wollte ihn nie wieder an ihrer Seite missen und dennoch hatte sie fürchterliche Angst vor der Zukunft.
    „Ich … Papa, ich weiß nicht, ob ich das schaffen kann. Ich weiß nicht, ob ich stark genug bin dafür.“ Samuel Järvinen zog seine Tochter näher an sich heran. „Ich weiß, dass du stark genug bist. Bald wird es wieder besser gehen, Schatz. Du wirst sehen.“
    „Er ist manchmal so teilnahmslos und dann … vorgestern, da hat er mich angerufen und mir erzählt, dass er ständig diesen Traum hat, er sei in einem Krankenhaus und ich musste ihm sagen, dass es kein Traum ist, sondern die Wirklichkeit. Wieso nur musste das passieren, Papa?“
    Ihr Vater wischte ihre Tränen weg. „Es wird alles wieder gut werden. Diese Zeit, die wird eure Beziehung auch unheimlich stärken, da bin ich mir sicher.“
    Er löste sich von ihr. „Komm Schatz, lass und nach Hause gehen. Deine Mutter wartet sicherlich schon mit dem Essen.“
    Sie nickte. „Du hast Recht“, antwortete sie leise.


    Als sie nach Hause kamen, wurden sie bereits von ihrer Mutter empfangen, die Oskari im Arm auf und ab wog. Das Baby schrie und ließ sich wohl nicht so einfach beruhigen. „Er will wohl nur dich“, sagte ihre Mutter und seufzte. Sie nahm den Jungen entgegen und sofort verstummte das Gebrüll. Sie lächelte, während Oskari nach ihren blonden Haaren griff. „Du musst es doch der Oma nicht so schwer machen, Schatz“, sagte sie liebevoll und gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange. „Ich werde ihn wohl besser mit zu Mikael nehmen.“
    Ihre Mutter lachte. „Du warst in dem Alter nicht anders. Du hattest fürchterliche Angst, dass ich nicht wiederkommen würde.“
    „Es wird ihm ohnehin gut tun, wenn Oskari mitkommt. Es gibt ihm Kraft, zu wissen, dass da so ein kleines Würmchen ist, das ihn braucht.“ Sie sah in das Gesicht ihres Kindes. Er hatte Mikaels Augen, kam aber ansonsten nach ihr. Seine Gesichtszüge glichen eher denen ihres Vaters, seine Haare waren Blond. „Na dann lass uns hoffen, dass Papa heute länger wach ist und deinen Besuch auch genießen kann, nicht Oskari?“ Das sieben Monate alte Baby gluckste zufrieden.
    „Ich habe etwas für das Abendessen vorbereitet. Wollen wir reingehen?“, fragte ihre Mutter, wartete aber nicht lange auf ihre Antwort und war bereits auf dem Weg ins Haus. Ihr Vater und sie folgten ihr mit etwas Abstand.

  • Matti Lindström sah Erik Blomling an. Der Meister lehnte an dem Fensterrahmen und blickte hinaus in den Regen. Sein Gesicht war versteinert, ließ nicht erkennen was in ihm vorging. „Nicht mehr lange und wir werden uns wehren!“, brach es nach einer Weile dann jedoch aus ihm heraus. Er ballte die Hand zur Faust. „Du und ich, Matti, wir werden dafür sorgen, dass die Welt von den Unreinen gereinigt wird.“
    „Wie lange willst du noch warten?“, fragte er mit leiser Stimme nach.
    Erik Blomling löste den Blick von dem Fenster und sah ihn nun an. Sein Gesicht schmückte nun ein Lächeln. „Du machst dir Sorgen, dass dein Sohn uns nicht unterstützen kann?“
    „Was, wenn sein Kampf mit dem Teufel länger dauert als erwartet?“, presste Matti mit bebender Stimme heraus. „Ich … Meister … ich wünsche mir nichts sehnlicher, als das Veikko an unser Seite diese Mission durchführen kann.“
    „Willst du, dass wir ihm bereits heute Abend die nächste Spritze geben?“, hakte Erik nach.
    Er schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin mir bewusst, dass er dafür zu schwach wäre.“
    Erik legte die Hand auf seine Schulter. „Vertraue mir Matti, dein Sohn wird dabei sein, wenn unsere Bombe über Helsinki erstrahlt.“
    „Ich vertraue dir, Erik“, antwortete er voller Inbrunst. Er war diesem Mann mehr als dankbar. Er hatte sofort gehandelt, als er ihm von Veikko berichtet hatte. Er hatte nicht gezögert, sondern geholfen. Erik hatte ihm das Versprechen gegeben, dass er ihm seinen Sohn zurückbringen würde. Dass es Gottes Wille sei, dass Veikko wieder einen Platz in der Mitte der Gemeinschaft bekam. Und er glaubte ihm. „Kümmerst sich Enni um Ben?“, fragte Erik ihn.
    „Ja. Sie beschäftigt ihn und ich habe verboten, dass sie zu Veikko gehen.“
    Erik nickte und sah nun wieder hinaus in den Regen und in die Dunkelheit, die sich über das Land gelegt hatte. Es war inzwischen 18:00 Uhr.
    „Wir müssen sicher gehen, ob er reinen Glaubens ist“, berichtete Erik neben ihm. „Die Recherchen machen ihn verdächtig.“
    „Weil er Polizist ist?“, hakte Matti nach.
    „Mehr als das“, erklärte ihm der Meister. „Ich habe da noch etwas gefunden.“
    „Was genau?“ Erik hatte ihm gegenüber nicht viel gesagt über Ben Jäger. Nur das er Polizist war und man ihn deshalb besonders im Auge haben sollte. Sicher gab es in der Sekte auch einige Menschen, die in ihrem vorherigen Leben Polizeibeamte waren, aber der Zufall war doch zu groß, wo die Polizei sie nun seit einigen Wochen intensiv beobachtete. Deshalb hatten sie einige Kilometer vom Hof sowie vor dem Haupttor Kameras angebracht. So würde ihnen kein Eindringling entgehen. Bisher schien es Ben ernst zu meinen und er kam auch aus keiner Position, wo man Umgang mit Leichen pflegte. So ging von ihm dahingehend keine Gefahr aus. Er würde nicht den Teufel mit in ihre Gemeinschaft bringen. Ihm hatte man dennoch nicht erlaubt ohne Erlaubnis zu Veikko gehen. Würde er es dennoch tun, würden ihn die Wachen vor dem Nebenhaus davon abhalten. Sicher war sicher.
    „Er und Veikko haben einen gemeinsamen Freund“, antwortete Erik neben ihm, wobei er das Wort Freund besonders betonte.
    „Was für einen Freund?“
    Erik griff in seine Tasche und reichte ihm ein Foto von einem schwarzhaarigen Mann, der wohl etwa in dem Alter seines Sohnes war. „Wer ist das?“, fragte er.
    „Mikael Häkkinen. Er war Hauptkommissar bei der Mordkommission hier in Helsinki.“
    „Mord-Mordkommission … hier in Helsinki … was heißt, war?“ Matti konnte nicht verhindern, dass seine Stimme vor Angst zu beben begann.
    „Er hatte einen Unfall, wird wohl nicht wieder diesen Job ausüben. Aber er ist nicht nur das, Matti.“
    Er schluckte. „Nicht nur das? Was ist denn da noch mit diesem Mann außer das er offensichtlich von Leichen umgeben ist?“
    „Meine Quellen sagen, dass sein Vater mit allem gehandelt hat, was man sich vorstellen kann. Drogen, Waffen … übrigens ist er nicht besonders gläubig, wenn du mich fragst.“
    Mattis Hand begann zu zittern und er reichte Erik das Foto so schnell zurück, als würde von der Fotografie ein Fluch ausgehen.
    „Ist ja furchtbar!“, stieß er aus.
    „Daher bin ich skeptisch, was die wahren Motive von Ben angeht. Wer einen solchen Umgang pflegt …“
    „Du hast Recht. Dieser Mensch könnte gefährlich sein!“
    Erik steckte das Foto wieder ein und sah ihn eindringlich an. „Wir warten noch ab, wie er sich bei den weitern Ritualen deines Sohnes verhält. Wenn er dazwischen geht, werden wir uns um ihn kümmern.“
    Matti atmete einige Male tief durch. Sein Körper war noch vollkommen aufgewühlt von den Sachen, die er gerade erfahren hatte. Nur langsam verflog die Angst aus seinen Adern und er konnte wieder klar denken. „Ist Enni durch ihn in Gefahr?“
    „Nein. Ich denke nicht“, beruhigte ihn Erik und lächelte. „Mache dir keine Sorgen, Matti. Es wird alles gut gehen. Bald wird Veikko wieder zu deiner Familie stoßen – nein, zu uns allen. Und dann, dann werden wir der Welt aufzeigen, dass man uns ernst nehmen sollte!“ Er begann zu lachen. „Es ist Zeit, dass wir das Unreine zerstören!“
    Matti nickte eifrig. „Ja! Du hast Recht! Alles wird in Ordnung kommen!“
    Erik löste aus seiner Haltung und drehte dem Fenster den Rücken zu. „Ich werde nun in mein Zimmer gehen. Ich vertraue darauf, dass du dich um Ben kümmerst. Und lasse ihn die nächsten Tage nicht telefonieren, ja?“
    „Natürlich Erik“, antwortete er, ehe er sich ebenfalls zurück in die Zimmer begab, die seiner Familie zugeteilt waren.


    Ehe er mit seiner Frau zu Abend aß, war er noch in dem Raum gewesen, wo Veikko früher sein Zimmer hatte. Die Geige lag noch immer unbenutzt in dem kleinen Wandregal. Er hatte so schön gespielt in ihren Gottesdiensten. Der Meister hatte immer Lob für ihn übrig gehabt. Auf dem Schreibtisch waren alte Schulbücher gestapelt. Matti setzte sich hin und zog die erste Schublade auf. Er griff nach einem Brief und klappte ihn auf. Wie so oft in den letzten Jahren fuhren seine Augen über die wenigen Zeilen, die ihnen Veikko damals dagelassen hatte.


    Liebe Mama, lieber Papa,
    wenn ihr diesen Brief lest, bin ich fort. Es tut mir leid, ich halte das einfach nicht mehr aus. Ich will kein Gefangener von Gott sein. Aber vergesst bitte nicht, dass ich euch dennoch liebe.
    Veikko Henrik


    Matti begann zu weinen und eine Träne tropfte auf das Papier. Er schluckte und klappte den Brief wieder zu. „Bald wirst du wieder bei uns sein Veikko. Bald wirst du zurückkehren“, flüsterte er leise. Dann verließ er das Zimmer und begab sich für das Abendessen in die Küche.

  • Mit dem heutigen Kapitel verabschiede ich mich für eine Woche in den Urlaub. Das nächste Update gibt es dann am kommenden Dienstag. Stay tuned!


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    Semir hob den Arm, als er Antti in der Menge der wartenden Menschen ausgemacht hatte. Der Blonde tat es ihm nach.
    „Hast du schon was neues gehört?“, wollte der deutsche Kommissar nach einer kurzen Begrüßung wissen. Antti schüttelte den Kopf. „Nein noch nichts. Ich habe irgendwie auch überhaupt keine Ahnung, wo ich ansetzen soll. Sektenkram gehört normalerweise nicht zu den Aufgaben der Mordkommission und dementsprechend groß ist auch mein Wissen darüber.“
    Der Finne dirigierte Semir, durch die Menschenmenge auf den Parkplatz, zu einem blauen Audi. „Was ist mit Freunden. Veikko muss doch irgendwem davon erzählt haben, oder nicht?“
    Antti drückte den Knopf seiner Fernbedingung und entriegelte das Auto. Kurz darauf zog er den Kofferraum auf und Semir schmiss seine Tasche hinein. „Max Hagenström, also der jetzige Freund seiner Ex-Frau, der weiß ein bisschen was. Aber er kann uns nicht wirklich helfen, was den Standort dieser Sektenheinis anbelangt.“
    Semir nickte. „Was ist mit Mikael?“
    Antti sah ihn lange an. „Er hat schon so Sorgen genug. Ich kann doch nicht hingehen und ihn mit so etwas konfrontieren! Es muss eine andere Lösung geben, Semir.“
    Semir öffnete die Beifahrertür. „Und wenn es keine andere gibt?“, fragte er, während er sich in das Auto setzte.
    Der Finne setzte sich neben ihm hinter das Lenkrad. „Wenn du Mikael sehen würdest, dann würdest du das verstehen. Glaub mir, er ist nicht in der Verfassung für so etwas.“
    „Aber die Dinge von damals, die bekommt doch Mikael ganz gut zusammen.“
    „Ich möchte nicht, dass er sich um Veikko Sorgen macht, außerdem glaube ich nicht, dass er heute noch viel zusammenbekommen wird. Er war schon heute Mittag vollkommen neben der Spur.“
    Semir nickte. „Natürlich, aber Mikael ist nicht aus Zucker. Er ist derzeit dein einziger Hinweis, oder nicht?“
    Antti atmete einige Mal tief durch. „Ich werde Eva danach fragen, ja? Ich weiß nicht, ob er das verkraftet, dieses Gefühl, dass er derzeit nichts tun kann. Heute Abend können wir dort eh nicht mehr aufkreuzen. Er wird schon schlafen.“
    „Du wirst sehen Antti, Mikael kann mehr einstecken, als du glaubst“, beruhigte Semir seinen Freund aus Finnland abermals. „Ich hoffe es“, murmelte Antti leise, ehe er den Schlüssel in das Zündschloss steckte und den Wagen startete.


    Die Fahrt vom Flughafen bis in die Innenstadt von Helsinki benötigte knapp 45 Minuten. Dann brachte er das Auto vor einem dreistöckigen Altbau zum stehen. „Hier ist es“, ließ Antti verlauten und öffnete dann die Fahrertür. „Meine Wohnung ist im zweiten Stock.“ Antti öffnete den Kofferraum und Semir hob seine Reisetasche wieder heraus. „Einen Fahrstuhl gibt es nicht, aber ich denke, bis in den zweiten Stock werden wir zwei alten Männer das schon noch schaffen.“
    „Davon gehe ich fest aus“, antwortete Semir und lachte. Der Deutschtürke folgte seinem Freund in das Haus, bis in den zweiten Stock. Vor einer robusten Tür machte der Finne halt und öffnete sie. Semir wusste, dass Antti alleine wohnte. In all den Jahren, in den er ihn nun kannte, hatte er zudem niemals eine Freundin gehabt oder sie zumindest niemals erwähnt.


    Als sie in die Wohnung kamen und Antti ihn rumführte, staunte Semir nicht schlecht. Er hatte etwas ganz anderes erwartet, als das hier. Die Wohnung war großzügig und elegant eingerichtet. Durch die großen Fenster flutete viel Licht hinein und so war sie trotz des eher trüben Wetters in Finnland hell. Es gab eine große Küche, ein großes Esszimmer und zwei große Schlafzimmer sowie ein Bad und ein riesiges Wohnzimmer.
    „Hast du einen Zweitjob als Bankräuber?“, ließ Semir verlauten.
    „Wie?“ Antti sah ihn fragend an.
    „Na, deine Wohnung. Die war doch sicherlich nicht billig, oder?“
    Der Blonde lächelte verlegen. „Verwöhnter Sohn einer Wirtschaftsgröße, könnte man sagen. Das Haus gehört der Familie.“ Semir nickte. Antti zeigte Semir noch sein Zimmer und ging dann in das Wohnzimmer, um Eva anzurufen. Der deutsche Kommissar entledigte sich kurz seiner Sachen und machte sich dann ebenfalls auf in den größten Raum der Wohnung. Er beobachtete Antti dabei, wie er am Fenster stand und nervös mit den Fingern auf die Fensterbank klopfte. Kurz darauf legte er wieder auf. „Eva ist wohl schon schlafen oder noch bei Mikael“, sagte er. „Ich kann sie nicht erreichen.“
    Antti legte sein Handy auf die Fensterbank. „Soll ich dir zeigen, was ich bisher über diese Sekte habe?“
    „Ja, zeig her.“
    Der Finne verschwand kurz und kehrte kurz darauf mit einer Akte zurück. „Es ist nicht besonders viel darüber bekannt und bisher waren die auch eher unaufmerksam. Erst seit ein gewisser Erik Blomling als Meister – also sozusagen als Anführer – benannt wurde, geht sie einen aggressiveren Weg.“
    Antti zeigte auf das Sofa. „Komm.“ Er setzte sich hin und Semir folgte ihm. „Allerdings hat mir Hagenström auch erzählt, dass Veikko Angst vor denen hatte. Das wird nicht von ungefähr kommen. Die scheinen eine panische Angst vor den Teufel zu haben und seine Eltern scheinen davon auszugehen, dass Veikko sowas wie ein Untergebener des Teufels ist.“
    „Warum?“
    Antti zuckte mit den Schultern. „So viel ich das verstanden habe, weil er vor ein paar Jahren in einem Einsatz jemanden erschossen hatte.“ Der Blonde fuhr sich durch die Haare. „Himmel, es war Notwehr! Was sollte denn der Junge tun? Mord wird nicht verziehen, ich glaube, so hatte es Hagenström ausgedrückt.“
    Semir schluckte. „Und die machen jetzt was mit ihm?“
    „Ich glaube sowas wie eine Teufelsaustreibung. Ich weiß es nicht, es gibt überhaupt nichts darüber in den Unterlagen. Vielleicht hat Likpi etwas, aber da kann ich unmöglich hin.“
    „Teufelsaustreibung? Das klingt, wie in einem schlechten Horrorfilm.“
    „Wenn Ben das mitbekommt, wird er Veikko helfen wollen. Das wird er doch unmöglich zulassen!“, gab Antti nun zu bedenken. Der Finne stand auf und holte eine Flasche Whiskey sowie zwei Gläser aus einem der Schränke. Er stellte sie auf den Tisch und goss jedem etwas der gelbgoldenen Flüssigkeit ein. „Außerdem will ich mir nicht vorstellen, was genau bei diesen Teufelsaustreibungen passiert. Hagenström sagte etwas von Schmerzen, aber was heißt das genau?“
    Semir griff danach und lehnte sich in dem Sofa zurück. Er schwenkte das Glas vor seinen Augen im Kreis. „Ich hoffe nur Ben hält zumindest solange durch, bis wir sie gefunden haben. Wenn er auffliegt, ich will nicht wissen, was diese Verrückten mit ihm machen werden.“
    „Er ist ein erfahrener Polizist, Semir.“
    „Ich höre dein „aber“ Antti, du brauchst dir nicht solche Mühe geben.“
    Der Finne lachte leise. „Aber er lässt sich halt auch von seinen Gefühlen leiten und das könnte ihm zur Gefahr werden.“
    „Wir müssen sie schnell finden“, sagte Semir.
    „Ja, das stimmt wohl.“ Antti stand auf und versuchte abermals Eva zu erreichen, hatte aber auch diesmal kein Erfolg. „Wo steckt die denn?“, schimpfte er leise.
    „Vielleicht wirklich schon im Bett? Es muss anstrengend sein. Da ist Mikael und auf der anderen Seite aber auch Oskari, der ebenfalls ihre volle Aufmerksamkeit braucht.“
    Der Blonde setzte sich wieder neben ihn hin und nahm einen großen Schluck aus seinem Whiskey-Glas. „Sie tut mir leid. Sie ist so eine liebevolle und selbstlose Frau. Manchmal, da habe ich Angst, dass sie sich übernimmt und es nicht bemerkt.“
    „Sie wohnt wieder bei ihren Eltern, hat mir Andrea erzählt.“
    „Ja. Ihr Vater hat darauf bestanden. Ich denke, dass es auch gut so ist. Wenn Mikael aus der Klinik kommt, dann kann sie ja problemlos wieder zurückziehen. Sie hat ja nur Oskaris Babysachen und etwas zum Anziehen mitgenommen.“
    „Wie sieht es eigentlich aus? Du sagtest, dass er heute neben der Spur war.“
    Antti griff nach seinem Glas und nahm abermals einen Schluck. „Naja, er war ziemlich unglücklich, dass er dort sein muss. Dann hat er einfach nicht begriffen, dass er Ben nicht anrufen kann und er war ziemlich müde, obwohl mir die Krankenschwester versichert hat, dass er schon viel geschlafen habe, bevor ich gekommen bin.“ Der Finne stellte das Glas wieder hin und lehnte sich zurück. „Es gibt Tage, da schläft er fast nur, dann wieder gibt es Tage, da glaubst du, dass er einen enormen Schritt gemacht hat. Dann redet er fast ganz normal mit dir, versteht vieles und behält auch einiges … einen Tag später, kommt dir dieser Tag dann allerdings wieder wie ein Traum vor.“
    Semir legte Antti die Hand auf die Schulter. „Du wirst sehen, mit der Zeit wird Mikael wieder der Alte werden.“
    „Ich hoffe es. Das alles, es raubt einem so viel Kraft!“

  • Die Nacht war auch in ihrer zweiten Hälfte nicht ruhiger geworden. Weder Antti noch Semir hatten Schlaf finden können. Der finnische Kommissar hatte am morgen versucht noch einmal Eva zu erreichen, doch dieses Mal war nur ihre Mutter rangegangen. „Sie ist schon bei Mikael in der Klinik“, ließ er Semir wissen, als er aufgelegt hatte. Der Deutschtürke nickte. Antti griff nach seinen Schuhen und schlüpfte hinein. „Dann werden wir halt einen kurzen Besuch machen. Es wird sich schon etwas ergeben, um Eva zu fragen, wie viel ich Mikael zumuten kann.“


    Die Fahrt zur Klinik dauerte durch den morgendlichen Berufsverkehr knapp eine Stunde. Antti hatte die Möglichkeit genutzt, um im Büro eine Nachricht zu hinterlassen, dass er etwas später zum Dienst kommen würde. Nun stiefelten die beiden Hauptkommissare den langen dünnen Kiesweg zur Klinik hoch. „Ich glaube, sie wollte heute bei der Krankengymnastik dabei sein, weil er so frustriert ist und sich manchmal sträubt mitzuarbeiten.“
    Semir nickte. „Verständlich, oder nicht? Er war ziemlich agil und das nicht nur körperlich sondern auch im Oberstübchen.“
    „Er verweigert das Gespräch mit einer Psychologin.“
    Der deutsche Kommissar schüttelte den Kopf. „Ein Sturkopf, wie immer!“
    Antti seufzte. „Ja, so ist es wohl. Ich wünschte, dass ich ihm mehr helfen könnte, aber was sollen wir machen. Am Ende ist es doch seine Willenskraft, die über das Ergebnis entscheidet.“
    „Ich bin mir sicher, du tust schon genug für ihn, Antti.“
    Der Finne lächelte, als er Semir die Tür aufhielt. „Er ist immerhin so etwas wie meine Familie. Aber wem erzählte ich das. Es geht dir mit Ben sicher nicht anders.“
    „Ja, ich denke, Familie trifft es ganz gut.“
    Gemeinsam traten sie in die Klinik und nahmen den Fahrstuhl in den dritten Stock. Ehe sie allerdings das Zimmer von Mikael betreten konnten, kam Eva heraus. Sie sah sie erstaunt an. „Was ist los? Was macht Semir hier?“ Antti lächelte. „Es ist etwas schief gelaufen bei Bens Einsatz.“
    „Was?“ Sie sah auf die geschlossene Zimmertür. „Kommt lasst uns runter in das Cafe gehen.“ Antti und Semir nickten und so fuhren sie mit dem Fahrstuhl wieder zurück ins Erdgeschoss. Semir und Eva setzten sich hin, während Antti ihnen drei Kaffee holte.
    „Was ist schiefgelaufen bei Bens Einsatz? Ist er in Gefahr?“, fragte sie hektisch nach, als der finnische Kommissar die Kaffeetassen auf den Tisch gestellt hatte.
    Antti und Semir tauschten Blicke aus, doch schließlich begann der Finne zu erzählen. „Es ist nicht nur das, Eva. Es geht auch um Veikko.“
    „Veikko?“
    „Er würde vermutlich entführt.“
    „Wie meint ihr das, entführt?“, fragte die Finnin ungläubig.
    „Seit gestern morgen fehlt jede Spur von ihm. Oder sagen wir, seit dem Augenblick, wo er bei Mikael war.“
    Antti griff nach ihrer Hand. „Deshalb wollten wir dich fragen, ob du glaubst, dass es möglich ist mit Mikael darüber zu sprechen.“
    Sie sah auf ihre Tasse und zuckte mit den Schultern. „Er schläft. Er hatte heute keine Lust auf die Übungen und schließlich hat die Krankengymnastin abgebrochen … er wollte nicht mitarbeiten, so sehr wir ihn ermutigt haben.“
    Antti nickte. „Ich verstehe“, sagte er mit einem traurigen Unterton.
    „Ab morgen werden sie ihm wohl Antidepressiver geben. Vielleicht wird es ja dann besser. Ich meine, er muss doch kämpfen?“ Ihre Lippen bebten und ihre Augen wurden wässrig. „Er … er kann sich doch nicht aufgeben!“
    Antti drückte ihre Hand fester und die junge Frau wischte sich die Tränen von der Wange. „Aber hier geht es ja auch um Veikko und Ben. Was wollest du von Mikael wissen?“
    „Es geht um Veikkos Vergangenheit“, erklärte Antti.
    „Du meinst die Sekte?“
    „Du weißt also davon?“, kam es nun von Semir.
    „Nein, eigentlich nicht. Ich weiß, dass Kasper und Veikko sich getroffen haben, um über diese Sekte zu reden. Ich bin ihm mal gefolgt, als wir noch zusammen waren.“ Sie sah verlegen auf ihre Tasse. „Ich habe geglaubt, dass er mich betrügt.“
    „Kasper?“, wiederholte Antti ungläubig.
    „Kasper Kramsu, Mikaels Ers …“
    „Jaja, das habe ich begriffen. Mir war nur nicht bewusst, dass er auch mit dieser Sekte zusammenhängt.“
    Sie sah Antti mit großen Augen an. „Die Sache mit seiner Schwester war doch lange das Thema im Präsidium. Da gab es allerhand Gerüchte.“
    Der Blonde stöhnte. „Du solltest wissen, wie wenig wert ich auf Klatsch und Tratsch lege. Also erzähl uns darüber.“
    „Naja so viel gibt es dort nicht zu erzählen. Seine Schwester ist im Jugendalter auf die schiefe Bahn geraten, dort eingetreten und hat sich wohl den Teufel austreiben lassen, wobei sie starb. Kasper hat das nie überwunden. In der Polizeiakademie hat er wohl mitbekommen, dass Veikko in dieser Sekte ist.“
    „Wodurch?“
    Sie hob ihren Arm hoch und zeigte auf eine Stelle etwas unterhalb der Achselhöhle. „Die Leute in hohen Rängen haben ein Tattoo. Engelsflügel. Er hat es wohl gesehen und Eins und Eins zusammengezählt. Veikko hat deshalb immer lange T-Shirts getragen, war extrem vorsichtig.“
    „Wie viel weiß er darüber, wie viel, denkst du, hat Veikko ihm erzählt?“
    Sie zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung Antti, er wird dir sicherlich alles gesagt haben, was er weiß.“
    Der finnische Hauptkommissar lächelte verlegen. „Wenn ich ihn denn gefragt hätte. Er hatte gestern seinen freien Tag und weiß sicherlich noch nicht was passiert ist.“
    Eva nickte. „Oh stimmt, es ist der Todestag gewesen von seiner Schwester. Da hat er immer frei, ist bei seiner Familie.“
    Antti stand auf und Semir tat es ihm nach. „Ich danke dir, Eva. Ich werde dich anrufen, sobald wir etwas haben, ja?“
    „Das wäre nett“, sagte sie leise. „Ich werde wohl gleich wieder hoch zu Mikael. Vielleicht schaffe ich es ja doch noch irgendwie an ihn heranzukommen. Denn Veikko kann ich wohl gerade nicht fragen, er hat es oft geschafft ihn aufzuheitern.“
    Der Finne lachte. „Der erste Schnee, ich weiß. Er hat von nichts anderem geredet, als ich gestern hier war.“

  • Ben hatte die Nacht nicht schlafen können. Immer und immer wieder hatte er daran denken müssen, was Enni gesagt hatte. Der Meister wollte ihm dabei haben, wenn er Veikko die nächste Spritze gab. Panik durchflutete seinen Körper. Vor seinem inneren Auge sah er Veikko hilflos auf der Pritsche. Die zusammengebissenen Zähne. Das schmerzverzerrte Gesicht. Seine Worte hallten in seinem Kopf wieder. Irgendwann würde sein Herz davon aufhören zu schlagen. Veikko konnte sterben. Das konnte er doch nicht zulassen, auch wenn es bedeutete, dass er vielleicht aufflog. Nein, so viel stand fest. Er würde dabei nicht noch einmal zusehen. Er hatte seinen Entschluss ein für alle Mal getroffen. Er, Ben Jäger, würde seinen Freund nicht so im Stich lassen.


    Es klopfte an der Tür. „Ben! Mein Vater und der Meister verlangen nach dir. Drüben beim Keller. Ich soll dich hinbringen.“ Er atmete tief durch und versuchte seinen panischen Körper unter Kontrolle zu bringen. Er wünschte, dass er diese Maske beherrschen würde, die Mikael immer aufzog. Ein Lächeln, welches nichts aussagte. Ben öffnete die Tür und blickte in das fröhliche Gesicht von Enni. „Ich dachte schon, du kommst nicht!“ Sie griff nach seiner Hand und zog ihn mit. „Komm. Es wird Zeit!“ Er ging ihr hinterher und fragte sich einmal mehr, was in diesem Mädchen nur vorging. Begriff sie das alles überhaupt nicht? Verstand sie denn nicht, was darin mit ihrem Bruder passiert? War sie blind? Sie hatte doch seine Schmerzen gesehen, wie konnte sie das alles nur für richtig halten, wie konnte sie dabei zusehen, wie er vielleicht starb?
    Als sie im Keller angekommen waren, verschwanden auch die letzten Zweifel in Ben. Veikko sah fürchterlich aus. Er war blass und eine dünne Schweißschicht lag auf seiner Haut. Sein Atem klang hohl und alles andere als gesund. „Du kommst genau zur richtig Zeit, Ben“, ließ ihn Erik Blomling wissen. „Ich wollte gerade beginnen!“ Ben setzte sich in Bewegung und stellte sich vor das Bett. Er breitete die Arme aus. „Sie fassen ihn nicht wieder an!“
    „Wa-was tust du da?“ Ennis Stimme zitterte und ihre Lippen bebten. „Geh zur Seite … Ben!“
    Der Braunhaarige schüttelte energisch den Kopf. „Ich werde nicht zulassen, dass Veikko noch mehr Schmerzen zugefügt werden. Er hat keinen Teufel in sich!“
    Erik Blomling lächelte. „Du bist neu, vielleicht bist du verunsichert.“ Er trat näher an Ben heran und der junge Kommissar spürte, wie sich in seinem Körper das Adrenalin ausbreitete. Im Grunde hatte er keine Chance. Es war Drei gegen Einen. Gut Enni würde sicherlich keine Gefahr darstellen, aber Blomling und Lindström waren ganz andere Kaliber. Sein Herz begann schneller zu schlagen, als Erik Blomling genau vor ihm stehen blieb. „Oder bist du am Ende gar nicht so ein überzeugtes Mitglied? Sag, Ben, was hat dich zu uns getrieben?“ Der großgewachsene blonde Mann griff in seine Jackentasche und zog eine Spritze hervor. „Tret zur Seite!“, forderte er. Ben sah auf Veikko. Er war jetzt schon am Ende. Niemals würde er diese Tortur noch einmal überstehen. „Nein!“
    Blomling fixierte ihn mit seinen blauen Augen. „Matti!“
    Matti Lindström holte etwas unter seinem Pullover hervor. Eine Pistole. Er richtete sie in seine Richtung. „Beweg dich von meinem Sohn weg!“, rief er ihm zu.
    Ben schüttelte energisch den Kopf.
    „Ich würde tun, was er sagt, Bulle. Matti setzt seine Wünsche immer durch“, ließ ihn Erik Blomling mit einem schiefen Lächeln wissen. Bens Augen weiteten sich. Er hatte Bulle gesagt. Er wusste also, dass er Polizist war. Woher? Seit wann?
    „Du fragst dich, wann du aufgeflogen bist?“, Blomling lachte. „Als du den ersten Fuß hierherein gesetzt hast. Es war nicht besonders schwer herauszufinden, wer du warst. Und nun bitte ich dich, dass du freiwillig zur Seite trittst. Ich will dich nicht zwingen müssen.“
    „Ich kann leider nicht zulassen, dass sie meinem Freund Schmerzen zufügen!“
    Matti Lindströms Finger näherte sich den Abzug. „Willst du das wirklich Ben?“ fragte er. „Noch hast du die Chance den richtigen Weg zu wählen.“
    „Fick dich!“, presste Ben hervor.
    „Papa, nein … lass ihn“, flüsterte Veikko hinter ihm leise. Matti Lindström schüttelte den Kopf. „Es tut mir leid, mein Sohn. Aber wenn der Teufel dich verlassen hat, dann wirst du verstehen, dass es notwendig war!“


    Bens Augen fixierten Lindström. Er könnte es auf einen Kampf anlegen, aber was würde dann passieren? Hätte er überhaupt eine Chance? Er war so abgelenkt, dass er nicht mit bekam, dass Erik Blomling genau vor seinen Augen seine Chance nutzte. Erst ein leiser Aufschrei von Veikko ließ ihn die Gefahr erkennen, aber zu spät. Blomling packte zu, nahm ihn in den Schwitzkasten und drückte die Spritze in seinen Arm. Er versuchte sich zu wehen, doch der Mann schien viel kräftiger, als es Ben auf dem ersten Blick vorgekommen war und als es ihm fast gelungen war, kam auch Matti Lindström hinzu. Mit Panik verfolgte er, wie Blomling den Kolben der Spritze runterdrückte. Fast augenblicklich begann die Welt zu verblassen. Er bekam plötzlich kaum noch Luft. Die Wirklichkeit war schlimmer als er es sich vorgestellt hatte, als er Veikko bei diesem Kampf gegen das Zeug zugesehen hatte. Er zitterte und glitt zu Boden, als die beiden Männer ihn losließen. Er spürte, wie jemand nach seinem Arm griff, hörte eine Kette klimpern, doch er konnte nicht darauf reagieren. Es war, als hätte sein Körper keine Kraft mehr, weil er zu sehr mit den Schmerzen beschäftigt war.


    Ben wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, ehe die Schmerzen nachließen. Langsam kehrte er in diese Welt zurück. Er öffnete die Augen und stellte fest, dass er auf dem Boden lag. Vor ihm stand das Bett. „Veikko … Veikko … hörst … du mich?“, krächzte er leise hervor, nachdem er sicher gegangen war, dass niemand mehr im Raum war. Er erhielt keine Antwort. Das Einzige, was er hörte war ein atemloses Keuchen. „Veikko“, versuchte er es abermals, aber auch dieses Mal antwortete ihm die Stille. Ben legte die Hände flach auf den Boden und versuchte seinen Körper hochzustemmen in die stehende Position. Er hörte das klimpern von Ketten und erinnerte sich daran, wie er dieses Geräusch bereits gehört hatte, kurz nachdem man ihm das Zeug gespritzt hatte. Er sah auf seinen rechten Arm und sah, dass man ihn mit einer Art Armreifen an einer Kette festgemacht hatte, die wiederum an einem Ring in der Wand befestigt war. Er war ein wenig wackelig auf den Beinen und alles begann sich zu drehen als er stand. Er hielt sich an der Wand fest und wartete darauf, dass der Schwindel nachließ. Er sah auf das Bett. Veikko zitterte und atmete schwer. Seine Haut war blass und von Schweiß überzogen. „Veikko!“ Ben wollte zum Bett rennen, doch ehe er den Schwarzhaarigen erreiche konnte, wurde er von der Kette um seinen Arm brutal zurückgezogen. „Fuck!“, schimpfe er laut. Er riss an der Kette, doch nichts tat sich. Sie war fest in der Wand verankert. Von der Anstrengung klopfte sein Herz wieder heftig und der Schwindel packte abermals zu. Er lehnte sich gegen die Wand und holte einige Male tief Luft. Veikko hatte das bei den ersten Spritzen problemlos weggesteckt, dann würde er das auch schaffen. Wieder sah er zum Bett. Veikko rührte sich nicht, schien bewusstlos. Immerhin hörte er ihn atmen. Er war also noch nicht tot.

  • Als Semir mit Antti im Präsidium ankam, leitete ihn der Finne hoch in den dritten Stock, wo die Büros der Mordkommission lagen. „24 Stunden Semir“, schimpfte der Blonde aufgebracht. „24 Stunden, in denen ich ihnen schon hätte helfen können!“
    „Du konntest doch nicht wissen, dass dein Kollege mit Veikko näher zutun hat“, versuchte Semir seinen Freund zu beruhigen. Natürlich ärgerte es auch ihn, dass sie wichtige Zeit durch diese fehlende Information verschwendet hatten, aber sie hatten es nicht wissen können.
    „Ich hätte ganz einfach früher zu Eva gehen sollen, wegen Mikael.“ Antti drehte sich um und sah ihn an. „Aber ich muss ihn ja vor allem beschützen!“
    „Das ist doch nur natürlich. Dir liegt eben viel an Mikael.“ Antti raufte sich durch die Haare. „Aber das heißt ja nicht, dass ich ihn in Watte packen muss!“ Er seufzte und drückte die Tür zu seinem Büro auf. Sofort blickte ein junger Mann in Bens Alter von seinem Stuhl auf. Seine Haare waren kurz und blond, er wirkte sportlich und trug einen hellbraunen Anzug. „Kasper wir müssen reden“, begann Antti und sprach zur Überraschung von Semir deutsch. Der junge Kommissar sah sie nun noch verwirrter an. „Das ist ein Kollege aus Deutschland. Es geht um Ben Jäger. Ich habe dir doch von ihm erzählt.“
    Nun nickte ihr Gegenüber. „Ja, der Freund von Mikael“, sagte er nun in einem perfekten Deutsch.
    „Weißt du, wo sein Undercovereinsatz ist?“
    Langsam wurde der finnische Kommissar ungeduldig. Er setzte sich in seinem Stuhl gerade hin und sah sie skeptisch an. „Was willst du Antti? Nein, du hast es mir nie gesagt.“
    „Die Diener Gottes.“
    Der Kugelschreiber, den der junge Kollege in der Hand hielt, fiel mit einem leisen Ploppen auf den Tisch. All das Selbstbewusstsein schien wegzubrechen. „Eva hat mir mit geredet“, berichtete Antti nun weiter. Der Blonde nickte. „Ich verstehe“, murmelte er leise und richtete den Kopf in Richtung Schreibtischplatte.
    „Es geht hierbei nicht um die Sache mit deiner Schwester, Kasper. Da ist noch etwas.“ Antti trat näher an den Schreibtisch, während Semir im Hintergrund blieb. „Du und Veikko ihr seid gute Freunde nicht wahr?“
    „Wir machen öfters was gemeinsam, ja“, kam es leise von Kasper Kramsu, dem die Richtung des Gespräches immer weniger zu gefallen schien. Er mied den Blickkontakt mit den erfahrenen Kollegen und zappelte nervös in seinem Stuhl hin und her.
    Antti atmete tief durch. „Wir müssen leider davon ausgehen, dass er von diesen Menschen entführt wurde“, ließ er die Katze aus dem Sack.
    Kasper sah ihn ungläubig an, drehte den Kopf in Semirs Richtung und dann wieder zu Antti. „Veikko … entführt?“
    „Es tut mir leid, Kasper. Hätte ich gewusst, dass ihr gute Freunde seid, ich hätte dir bereits gestern Bescheid gegeben, dass es solche Hinweise gibt.“
    „Gestern schon …“
    Antti atmete tief durch, ehe er weitersprach. „Ja. Wir müssen davon ausgehen, dass er Vorgestern auf dem Rückweg von der Klinik, in der Mikael ist, überrumpelt wurde.“
    Kasper nickte. „Hast du schon Hinweise?“ Er sah wieder auf Semir. „Ich meine natürlich ihr. Habt ihr schon Hinweise.“
    Antti und Semir schüttelten synchron die Köpfe. „Nein, leider nicht. Deshalb brauchen wir deine Hilfe“, sagte Antti.
    Kasper Kramsus blauen Augen weiteten sich. „Meine? Ich glaube nicht, dass ich wirklich helfen kann.“
    „Es geht um den Standort dieser Gemeinschaft. Hat dir Veikko irgendwann einmal etwas erzählt oder Andeutungen gemacht?“
    Kasper lehnte sich zurück und dachte einige Sekunden nach. Dann jedoch schüttelte er den Kopf. „Ich habe ihn um ehrlich zu sein nun auch nicht danach gefragt.“ Er schluckte. „Die Zeit nach Majas Tod – also meiner Schwester – war für die Familie schlimm genug. Mein Vater hat alles versucht, um diese Menschen dafür dranzukriegen, aber sie waren zu clever. Wir hatten nichts! Keine Beweise, keine Zeugen … nichts!“ Die Hand des jungen Kommissars bildete eine Faust. „Gegen diese Sekten kommt man einfach nicht an, dass habe ich inzwischen begriffen. Maja wurde da auch nicht gegen ihren Willen festgehalten … so schwer es fällt sich das einzugestehen.“
    Kasper legte die Hand gegen seinen Kopf und massierte sich die Schläfen. „Veikko hingegen hatte immer Angst, dass so etwas passieren würde, wenn sie herausbekommen, dass er damals einen Mann in Notwehr erschossen hat.“
    „Warum?“
    „Er hat mir mal erzählt, dass er Angst hat, dass seine Familie niemals dieser Sekte entkommen wird. Und im Grunde ist es ja Veikko auch nicht. Er hat seine Rolle gespielt bei Familienfesten. Er ist da immer wieder hin und ich glaube er hatte jedes Mal Angst, dass er nicht …“
    Kasper Kramsu stockte und griff zu dem Telefon. „Moment. Da könnte vielleicht etwas sein. Wartet mal kurz“, murmelte er leise und wenig später vernahm Semir, wie der Kollege aufgeregt mit jemanden auf Finnisch redete und sich etwas notierte. Kurz darauf legte er auf. „Veikko hat einen Bilderrahmen auf seinem Schreibtisch stehen. Ein Foto von seiner Familie, also Laura und die Kleine. Auf dem Rahmen sind allerdings Koordinaten geschrieben.“ Kasper reichte Antti den Zettel. „Als ich ihn mal gefragt habe, wovon die sind, sagte er von der kleinen Wohnung, wo sie gemeinsam gelebt haben. Das stimmt aber nicht. Das passt nicht.“
    „Du kennst dich mit so etwas aus?“, fragte Antti verwundert. Gerade in Kasper hatte er ein Interesse für Zahlen und Koordinaten nicht erwartet.
    „Nein, eigentlich nicht. Wir mussten im Unterricht mal die Koordinaten unserer Schule lernen, die ist ganz in der Nähe von der Wohnung. Diese Zahlenreihe geht mir seit dem nicht mehr aus dem Kopf. Daher weiß ich, dass diese Koordinaten unmöglich stimmen können.“


    Antti sah Semir an und dieser nickte. Das war doch endlich mal ein brauchbarer Hinweis. Wenn Veikko Angst hatte, könnte es durchaus sein, dass er sichtbare Spuren hinterlassen hatte. „Und wohin führen die Koordinaten, wo hält sich unsere Sekte auf?“, fragte Antti neugierig. Der junge Kommissar sah ihn fragend an. „Sehe ich aus, als könnte ich das auf Grund von Koordinaten sagen? Ich bin nicht Mikael, ich weiß nur die in unmittelbarer Umgebung der Schule.“
    „Dann frag halt dein Google“, warf Antti ein und der Kollege nickte.
    Kasper wandte sich seinem PC und die beiden Älteren begaben sich nun neugierig hinter den jüngeren Beamten, um zu verfolgen, wo sie die Zahlen hinführen würden. Die eingeblendete Karte zoomte von einem großen Ausschnitt Europas immer mehr hinein und markierte schließlich einen Punkt in Mitten von kleinen Seen, die gar nicht so weit von Helsinki zu sein schienen. „Gut, du Kasper sorgst dafür, dass Lipki uns dort ein Sondereinsatzkommando hinschickt. Semir und ich fahren sofort dahin!“
    Der blonde Mann sah seinen Partner mit großen Augen an. „Ich kann auch mitkommen, weißt du.“
    „Nein. Du wirst nachkommen. Die Sache mit Lipki ist auch wichtig!“, widersprach Antti mit scharfer Stimme. Der Mann vor dem PC nickte schließlich widerwillig. „Wie du meinst Antti, du bist der Boss.“
    „Danke dir.“ Antti gab Semir ein Zeichen und der deutsche Kommissar ließ sich nicht zwei Mal bitten. Eilig gingen sie aus dem Büro und machten sich auf in Richtung Parkplatz. „Du hättest ihn vielleicht einweihen sollen, dass Lipki erst noch überzeugt werden muss“, erwähnte Semir. Antti sah ihn an und lächelte. „Kasper hat da bessere Karten, sein Vater hat viele Bekannte und ist eine große Nummer. Er bekommt das schon hin. Genau deshalb, habe ich ihn das ja übernehmen lassen.“

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