Auf dünnem Eis

  • Als Ben zwei uniformierte Kollegen und Semir vor dem Zimmer sah, verabschiedete er sich von Mikael und ging vor die Tür. „Haben wir schon was von Westhof?“, fragte er nervös. Sein Partner schüttelte den Kopf. „Wir haben das Auto gefunden, aber es war verlassen. Er muss mit einem anderen fahrbaren Untersatz weiter sein oder vielleicht sogar zu Fuß.“
    „Verdammt!“ Ben raufte sich durch die Haare. „Wieso habe ich auch nicht früher hochgesehen oder schneller geschaltet! Ich war vollkommen überrumpelt ihn da an der Scheibe zu sehen.“
    „Du kannst dir nichts vorwerfen Ben, du hast alles versucht.“
    „Wie kommt er überhaupt hierher? Woher wusste er, dass Mikael hier ist? Woher hatte er Mikaels Namen? Ich meine … ich bin mir sicher, dass ich ihn nicht benutzt habe, als wir da waren.“
    „Ich weiß es nicht, aber wir werden es sicher herausfinden.“ Semir sah an Ben vorbei in das Zimmer. „Wie geht es ihm?“
    „Er ist soweit stabil, aber noch ist sein Zustand kritisch.“
    Der Ältere nickte. „Er wird es schon schaffen, du musst nur Geduld haben.“
    „Und dann? Selbst wenn er aufwacht, Semir … hast du dich mal im Internet informiert? Ich meine, was da alles steht!“
    Semir verschränkte die Arme vor der Brust. „Du hast dich wirklich im Internet informiert? Du weißt doch, dass man so etwas bei medizinischen Dingen lassen sollte.“
    „Ich wollte wissen, was uns erwartet“, wehrte sich Ben, wurde dann aber leiser. „Und das alles, es macht mir Angst.“
    „Er ist ein sturer Bock, wie du. Es wird ihn nicht interessieren, was in deinem Internet steht.“
    Das entlockte Ben ein kleines Lächeln. Er atmete tief durch und warf einen letzten Blick in das Zimmer. „Du hast Recht.“
    Die beiden Kommissar bedankten sich bei den uniformierten Kollegen und verließen nun die Intensivstation und das Krankenhaus.
    „Du sagtest am Telefon, dass er etwas gesagt hat. Weißt du was?“
    Der junge Kommissar blieb einige Zeit still und versuchte sich an die Situation zu erinnern. „Ich weiß nicht, es war zu leise, um etwas bewusst hören zu können. Er hat irgendwelche Worte mit seinen Lippen geformt.“ Er wurde wieder still. „So absurd es klingen mag, vielleicht war es sogar ‚es tut mir leid‘ … ja es könnte wirklich stimmen.“
    Semir nickte. „Hmm, vielleicht wollte er das alles nicht. Aber wir werden den Polizeischutz dennoch vor der Tür behalten. Sicher ist sicher.“
    Der Ältere beobachte seinen Partner aufmerksam und kam nicht umher das leichte Humpeln zu übersehen. „Hat er dich bei der Flucht verletzt?“
    „Wie?“
    „Du humpelst.“
    Ben lächelte. „Achso. Ich bin auf der Treppe einige Stufen gesegelt. Es ist nichts wildes, wird sicherlich nur ein dicker blauer Fleck.“
    „Du hast es also ansehen lassen?“, fragte Semir ohne das er seinen leichten sarkastischen Unterton verstecken konnte.
    „Sofort!“, bestätigte Ben und grinste breit. „Komm lass uns die Gegend abfahren und schauen, ob wir vielleicht eine Spur von Westhof finden.“
    „Du weißt aber, dass die Wahrscheinlichkeit recht gering ist?“, gab ihm der Ältere zu bedenken.
    „Ich möchte es dennoch nicht unversucht lassen.“
    „Gut, aber danach fahren wir dann zu mir. Es wäre ein Schande, wenn Andrea extra für dich gekocht hat und du es nicht anrührst.“



    *


    Marko Westhof fuhr nach seiner Flucht aus dem Krankenhaus einige Straßen kreuz und quer, ehe er schließlich seinen Ford irgendwo abstellte und zu Fuß weiterging. Er hatte eine Käppi auf und diese tief in sein Gesicht gezogen. Er war sich sicher, dass ihn so kaum ein Mensch auf der Straße erkennen würde. Sein Auto hingegen dürfte zu auffällig sein. Er ärgerte sich über sich selbst. Warum war er auch so naiv gewesen und hatte zu diesem Bullen gemusst? Er hatte sehen wollen, was er getan hatte und sich entschuldigen wollen. Warum, war ihm ein Rätsel. Immerhin war der kleine Bulle ja auch in gewisser Weise selbst Schuld. Er hätte ihn nicht so bedrängen sollen im Garten. Er hatte doch nichts verkehrt gemacht. Es war doch Svantjes Schuld, dass sie so wunderhübsch war und ihm den Kopf verdrehte. Er sah um die Ecke, als er das Ende der Straße erreicht hatte und ging dann weiter, als er keine Polizisten erkennen konnte. Er musste schnell zu seinem Bekannten. Er brauchte seine neue Identität und das nun dringender denn je. Er musste diese Stadt verlassen und sich irgendwo ein neues Leben aufbauen. Die Polizei rückte ihm zu nahe und das mochte er überhaupt nicht. Er war davon ausgegangen, dass alles wunderbar geklappt hatte. Er hatte doch darauf geachtet, dass er keine Spuren hinterließ. Wie also hatten Sie ihn gefunden? Westhof schüttelte den Kopf. Das alles spielte keine Rolle mehr. Er musste weg und das schnell, denn eins wusste er, er wollte sicherlich nicht hinter Gitter.
    Westhof bog die nächste Straße links ab, folgte ihr knapp 500 Meter, ehe er wieder rechts und sofort danach noch einmal rechts ging. Dann kam er vor einem kleinen Reihenhaus an. Genau hierhin hatte er gewollt. Er ging auf die weiße Haustür zu und betätigte den Klingelknopf. Kurz darauf vernahm er Schritte von drinnen und wenig später öffnete ihm sein Freund.
    „Was ist mit meiner neuen Identität? Ich brauche sie dringend!“, sagte er nervös.
    Richter sah an ihm vorbei. „Wo ist das Auto, was ich dir besorgt habe?“
    Er quetsche sich an seinem Freund vorbei in den Hausflur. „Ich musste es irgendwo abstellen. Scheiße, die Bullen waren überall! Die machen Jagd auf mich, verstehst du!?“
    „Haben die dich etwa gesehen? Ich kann keinen Ärger gebrauchen Marko. Ist dir klar, dass die hier in meiner Bude waren? Du kannst von Glück reden, dass du da schon wieder weg warst!“
    Westhof stöhnte. „Ich war im Krankenhaus, bei diesem Bullen. Verdammt, ich wollte doch nur sehen, wie es aussieht. Er sollte ja nicht sterben.“
    Stefan Richter schüttelte amüsiert den Kopf. „Du bist selten dämlich, nech?! Was denkst du, passiert, wenn du ihn diesen Abgang herunter schubst? Und wie hast du ihn da überhaupt gefunden? Nirgends stand, wie dein Bulle heißt.“
    „Ich bin ihnen dorthin gefolgt, an dem Tag, wo es passiert war. Es war nicht besonders schwer, sie haben mich überhaupt nicht bemerkt“, verteidigte sich der gesuchte Mann „Aber sein scheiß Kollege war bei ihm. Der, der dabei war als es passiert ist. Er hat mich gejagt, wie ein Tier!“
    „Sicher, du hast seinen Kollegen ins Koma gebracht. Da würde ich dich auch jagen!“
    „Er hat mich bedrängt dieser Bulle! Er hätte mich nicht in die Enge treiben sollen!“, schimpfte Westhof sofort und zappelte nervös mit seinem Fuß. „Also hast du meine Papiere?“
    „Warte hier!“ Stefan Richter verschwand für einen Augenblick und kam dann mit einem Pass und anderen wichtigen Karten zurück. „Ab heute heißt du Olaf Schulz“, verkündete sein Gegenüber mit einem Grinsen.

  • Es war 22 Uhr als Semir, gemeinsam mit Ben, die Treppen zu seiner Wohnung erklomm. Sie hatten vergebens nach einem Hinweis auf Westhof gesucht. Der Mann war nach seinem Besuch im Krankenhaus wieder wie vom Erdboden verschluckt. Semir steckte den Schlüssel in das Schloss und trat in das Haus. Im Flur legte er den Schlüssel auf die Kommode und ging dann durch in das Wohnzimmer, da noch Licht brannte. Andrea und Eva saßen auf dem Sofa und schienen sie schon erwartet zu haben. „Was war los? Was habt ihr gefunden?“, fragte Andrea neugierig mit einem aufgeregten Unterton.
    Beide Frauen hatten den Anruf von Ben vor einigen Stunden mitbekommen und erst jetzt fiel Semir auf, dass er total vergessen hatte die Beiden zu informieren, wie er ursprünglich versprochen hatte, als er aus dem Haus gegangen war. „Es war wohl kein Angriff auf Mikael. Ben glaubt, dass er eine Entschuldigung gemurmelt hat. Dennoch haben wir Polizeischutz angefordert. Sicher ist sicher.“
    „Und ihr habt keine Spur?“, bohrte Andrea weiter nach.
    Er schüttelte den Kopf. „Nein, leider nicht. Wir haben nur seinen Wagen gefunden.“
    Semir sah zu Ben, der etwas verloren auf Eva blickte. „Wie ging es ihm heute Abend?“, wollte die Finnin wissen. Er zuckte mit den Schultern. „Ich weiß nicht. Er … ich glaube, dass sich nichts getan hat“, gab er schließlich zu.
    Sie nickte seicht und spielte dabei mit dem Armband von Mikael, welches ihr eine Krankenschwester mit den anderen persönlichen Sachen mitgegeben hatte. Sie schluckte. „Morgen, da gibt es sicherlich neue positive Nachrichten.“
    „Bestimmt“, machte Ben ihr Mut, kämpfte aber gleichzeitig damit, dass ihm seine Stimme bei dieser Aussage nicht wegbrach.
    „Komm Partner, lass uns in die Küche. Sonst hat Andrea dir umsonst etwas übergelassen“, verkündete Semir und zog seinen Freund aus dem Wohnzimmer.
    Wenig später betrachtete der Braunhaarige die noch fast volle Auflaufform. „Etwas übrig gelassen also, aha.“
    Semir lächelte. „Ich will nur nicht, das du vom Fleisch fällst.“
    „Jaja!“ Ben wärmte das Gericht in der Mikrowelle auf. „Denkst du, dass wir Westhof bekommen?“, fragte er nach einer Weile mit bedrückter Stimme.
    „Ich hoffe es Ben“, antwortete ihm Semir und setzte sich an den Küchentisch. „Aber wir müssen auch ehrlich mit uns sein. Die Chancen werden mit jedem verstrichenen Tag natürlich geringer.“
    „Ja, das stimmt wohl. Er ist uns wieder entkommen und er wird sicherlich nicht noch einmal im Krankenhaus auftauchen. So dumm ist er nicht.“ Die Mikrowelle piepte und er hob den Teller heraus, um sich dann zu Semir zu gesellen. „Ja, leider“, bestätigte dieser leise.
    Ben stocherte gedankenverloren in seinem Essen. „Ich werde gleich noch mal nach Eva sehen. Sie sah mitgenommen aus.“
    „Es ist alles ziemlich viel auf einmal und dann hat sie ja auch noch Oskari.“ Semir seufzte. „Ich habe heute mit Antti gesprochen. Er hat wirklich alles versucht, aber er kann einfach nicht weg. Allerdings glaube ich, dass er auch etwas Angst vor dieser Situation hat. Er hat schon viele Partner verloren, ich kann das verstehen.“
    „Mikael hat wirklich Glück, Antti scheint ihm mehr als nur ein guter Freund zu sein … fast wie eine Vaterfigur.“
    „Ja, so ist es wohl“, bestätigte Semir. Er hatte mit Antti viel geredet bei ihrem letzten Besuch. Er war ein Mann, mit dem man gut auskommen konnte und der die Geduld zu haben schien, mit Mikaels schwierigem Charakter zurechtzukommen. Ihm wäre angesichts dieses jungen Mannes wohl bereits mehrmals der Geduldsfaden gerissen.
    „Ich hoffe Mikael wird wieder der Alte“, murmelte Ben und wandte sich nun wieder dem Essen zu. Eigentlich verspürte er gar keinen Hunger, aber andererseits wusste er, dass er schon seit dem Morgen nicht mehr wirklich gegessen hatte.


    Kurz bevor Ben nach Hause aufbrach, zog es ihn noch zu Eva. Sie war wieder in das Gästezimmer gegangen und als Ben hereinkam, saß sie gedankenverloren auf dem Bett. Vor ihr waren Mikaels Sachen ausgebreitet. Er erkannte sie sofort, an dem alten verschlissenen Notizbuch, in welches er seinen Freund manchmal hatte reinschreiben sehen. Eva selbst hielt einen Post-It in der Hand. Er setzte sich zu ihr und warf einen Blick darauf. Es ein finnischer Satz. „Das hat Antti ihm mal gegeben.“ Eine Träne tropfte darauf. „Ich wusste nicht einmal, dass er es noch hat.“
    „Was steht da?“
    „Teamarbeit ist die Zusammenarbeit einer Gruppe von Personen, um ein gemeinsames Ziel zu erreichen.“
    „Eine Definition von Teamarbeit?“ Ben sah sie erstaunt an und sie lächelte, während sie sich einige Tränen von der Wange wischte.
    „Ich weiß nicht, wie oft Antti ihm diesen Vortrag gehalten hat, das es da nicht nur ihn gibt, sondern noch zahlreiche andere Kollegen, die er in seine Überlegungen mit einschließen muss. Ich glaube Mikael macht es auch nicht mit Absicht. Vielleicht ist es eine Angewohnheit aus der Zeit, in der er auf sich alleine gestellt war. Er tut sich schwer mit anderen Leuten zusammenzuarbeiten und bei der Drogenfahndung, da scheint es niemanden wirklich interessiert zu haben.“ Sie strich mit den Finger über die Worte. „Antti hat immer gesagt, dass es der einzige Punkt ist, was ihm nur zu einen guten und keinen ausgezeichneten Polizisten macht. Es hat ihn furchtbar geärgert, dass er den Grundpfeiler seines Berufs nicht hinbekam.“
    Eva schien seinen doch überraschten Gesichtsausdruck zu bemerken. „Was ist?“
    „Es ist nur …“ Er schüttelte den Kopf. „Es ist nicht wichtig“, sagte er dann.
    Sie kniff die Augen zusammen. „Nicht wichtig?“
    „Ich wünschte nur, er hätte auch mit mir darüber gesprochen, dass er sich schwer tut im Team zu arbeiten“, gab Ben nun zu. „Das hätte uns den einen oder anderen Streit sicherlich erspart.“

  • Robert Vogt seufzte und sah in den dunklen wolkenbehangenen Himmeln. Es regnete kleine Bindfäden und war sicherlich alles andere als gutes Wetter, um stichartige Verkehrskontrollen durchzuführen. Derzeit würde er alles dafür geben, wenn er nur den langweiligen Streifendienst verrichten dürfte. Die A1 rauf und runter fahren im geschützten Auto, das wäre es jetzt. Er richtete seine Mütze zurecht und ging nun auf den kleinen blauen Opel zu, den er einer seiner Kollegen aus dem Verkehr heraus gewunken hatte. Das Fenster wurde geöffnet und er stellte sich kurz als Beamter der Autobahnpolizei Düsseldorf vor, während er den Mann betrachtete. Er kam ihm irgendwoher bekannt vor, doch Vogt konnte nicht packen, woher. „Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte“, bat er und der Mann im Inneren des Wagens kam seinen Wunsch sofort nach. „Was habe ich den verbrochen?“, wollte er wissen, während er ihm die gewünschten Papiere in die Hand gab. Er war etwas nervös, aber der erfahrene Streifenpolizist war dieses Benehmen bereits gewöhnt. So ging es vielen Leuten, wenn sie in eine Verkehrskontrolle gerieten. Vogt lächelte. „Es handelt sich um reine Routinekontrollen. Ihre Fahrweise war in keinster Weise auffällig.“ Der großgewachsene blonde Beamte studierte für einen Augenblick den Führerschein und die Papiere. Olaf Schulz war sein Name. Er überlegte für einige Sekunden, doch stellte dann fest, dass ihm dieser Name nicht bekannt vorkam. Vielleicht hatte er den Mann einfach irgendwo beim Einkaufen oder so gesehen. Manchmal ist es ja so, dass man sich bestimmte Gesichter besser einprägen konnte, als andere. Er reichte dem Mann seine Papiere zurück. „Ich würde dann gerne noch Verbandskasten und Warnweste sehen.“ „Ja, natürlich. Die Sachen sind unter meinem Fahrersitz.“ Vogt nickte und öffnete nun die hintere Tür und griff nach dem Kasten und der darüber gelagerten Weste. Er überprüfte kurz die Kiste sowie den Inhalt, ehe er es wieder zurücklegte. „Alles in Ordnung, Herr Schulz. Denken Sie bitte daran, dass das Verfallsdatum bald erreicht ist.“ Schulz nickte. „Natürlich. Ich werde gleich die Tage einen Neuen kaufen.“ Vogt nickte zufrieden und ließ sich noch kurz das Warndreieck zeigen, ehe er sich mit einem freundlichen Dank von Olaf Schulz verabschiedete. „Vielen Dank. Wirklich ein vorbild …“ Er stockte. Nun fiel es ihm ein, woher ihm dieser Mann so bekannt vorkam. Er sah in die Richtung seines Kollegen und griff im gleichen Augenblick nach seiner Waffe. „Thomas, kommst du mal!“
    Er legte die Hand auf seine Pistole, doch im gleichen Moment gab der Mann Gas und bog auf die Autobahn ab. Er hatte überlegt auf den Wagen zu schießen, doch dann war ihm das Risiko zu groß, dass er unbeteiligte Menschen traf. „Verdammt!“, schimpfte Vogt und rannte schnell in die Richtung seines Kollegen. „Komm schon, wir müssen hinterher. Das war dieser Westhof!“ Vogt sprang in den Steifenwagen und ließ den Motor an. Kurz darauf setzte sich sein Kollege Thomas Brinkberg neben ihn. „Und es war wirklich Westhof?“, fragte er hektisch. „Ja doch! Er hatte zwar falsche Papiere, aber er war es!“ Er drückte das Gaspedal herunter und ließ den Wagen beschleunigen. „Sag der Zentrale bescheid!“ Brinkberg griff nach dem Funkgerät. „Zentrale kommen, hier Streife 56.“ „Hier Zentrale. Wir hören, Streife 56.“ „Wir verfolgen gerade den Flüchtigen Marko Westhof. Befinden uns auf der A1, Kilometer 21. Er ist in einem blauen Opel Corsa unterwegs. Erbitten dringend Verstärkung, haben Sichtkontakt hergestellt.“ „Ich werde euch ein paar Wagen schicken“, quickte es aus dem Gerät.


    Nur unmittelbar darauf, kam die Nachricht von der Flucht auch im Dienstwagen von Semir an, der heute alleine auf Streife war. Ben hatte sich den Vormittag freigenommen, weil er sich um Oskari kümmern wollte, während Eva im Krankenhaus bei ihrem Freund war. „Dich krieg ich du Schwein!“, zischte er leise und schaltete beim Beschleunigen einen Gang höher. Während er mit der linken Hand den Wagen auf der Spur hielt, griff er mit der rechten nach dem Funkgerät. „Cobra 11 an Zentrale. Bin ganz in der Nähe. Gebt mir bitte alle Details durch!“ Die Stimme am anderen Ende bestätigte seine Bitte und Semir machte sich auf die Jagd. Diesmal würden sie Westhof entkommen und dann würde dieser Mann für die Sachen büßen, die er in den letzten Tagen verbrochen hatte. Er trat das Gaspedal bis auf den Boden durch und lenkte das Fahrzeug auf den Standstreifen, um sich so schneller durch den Verkehr zu kämpfen. Tatsächlich dauerte es nicht lange und er konnte den Streifenwagen der beiden Kollegen sehen, die Westhof verfolgen. Dann kam auch der Opel Corsa von Westhof in sein Sichtfeld. Da sein BMW deutlich mehr Pferdestärken unter der Haube hatte, brauchte er nicht besonders lange, um zu dem Fahrzeug aufzuschließen.


    Er lenkte sein Auto nach auf die linke Spur und setzte seinen silbernen BMW neben Westhofs Wagen und hupte einige Male. Der Mann sah rüber, machte aber keinerlei Anstalten auch stehen zu bleiben. „Du glaubst doch wohl nicht, dass du mit deiner Gurke gegen mich ankommst?“ Sie fuhren auf gleich mehrere Autos auf und Semir fluchte innerlich, dass mal wieder überhaupt niemand in den Rückspiegel zu sehen schien. Ein roter Audi riss direkt vor ihm auf die linke Spur. Er verriss schnell das Lenkrad nach rechts und wich gerade noch dem Auto aus. Durch diese Bewegung schien er Westhof vor sich nervös gemacht zu haben. Der Mann lenke ebenfalls nach rechts, wollte offenbar den Seitenstreifen zur Flucht nutzen, verlor durch die harte Lenkbewegung aber die Kontrolle über seinen Wagen. Die Leitplanke wurde zu einer Schanze, das Auto hob ab und vollführte in der Luft eine halbe Drehung, ehe es mit einem lauten Krachen kopfüber in der Böschung neben der Autobahn einschlug. Semir brachte seinen Wagen mit quietschenden Reifen auf dem Standstreifen zum stehen, schnallte sich schnell ab und hechtete auf den Unfallwagen zu. Das Fahrzeug lag auf dem verbeulten Dach und die Reifen drehten sich weiterhin. Die Fenster waren zersprungen und die Glassplitter einige Meter um das Fahrzeug verteilt. Er beugte sich an der Fahrertür herunter und vermutete bereits das schlimmste, doch es schien, als hätte Westhof einmal mehr Glück als Verstand. Der Mann war bereits dabei sich von seinem Anschnaller zu befreien. „Keine Bewegung Westhof. Sie sind festgenommen wegen Mordes an Svantje Sandberg und des versuchten Mordes an Mikael Häkkinen!“ Westhof sah ihn geschockt an, schien dann aber zu erkennen, dass er keine Chance hatte und ließ sich ohne Gegenwehr aus dem Wagen ziehen. „Sind Sie verletzt?“, fragte Semir mit forscher Stimme. Eigentlich interessierte es ihn recht wenig, aber er wusste, dass er sich nun so professionell wie nur möglich verhalten musste. Es brachte niemanden etwas, wenn er nun ausrastete.
    „Mein Kopf tut weh und mein Arm“, murmelte der Festgenommene kleinlaut. Semir drehte er sich zu seinen uniformierten Kollegen, die inzwischen ebenfalls an der Unfallstelle angekommen waren. „Kümmert euch darum, dass ein Notarzt kommt und sich Westhof ansieht.“
    Vogt nickte und ging zurück zu dem grau-blauen Polizeiwagen, um über Funk einen Notarzt anzufordern. Gleichzeitig sorgte sein Kollege für die Sicherung des Unfallortes.


    „Kommen Sie!“ Semir griff nach Westhofs linkem Oberarm und zog den Mann mit zu seinem Dienstwagen, wo er mit Handschellen festmachte. Danach atmete er tief durch und lehnte sich an die Motorhaube. Endlich hatten Sie den Mann, den sie nun schon einige Tage jagten und nun würde er seine Strafe bekommen, denn da konnte er sich so leicht nicht mehr herausreden. Man hatte Beweise, die erdrückend waren.

  • Semir blickte in den Verhörraum. Marko Westhof saß an dem Tisch und hatte einen Becher mit Automatenkaffee vor sich stehen. Die Verletzung am Arm und die Platzwunde war versorgt worden und der Arzt hatte seine Freigabe für ein Verhör gegeben. Semir hatte überlegt, ob er Ben verständigen sollte, dass sie Westhof geschnappt hatten, doch er hatte sich schließlich dagegen entschieden. Ben konnte sehr impulsiv werden und gerade jetzt, wo er so unter Druck stand durch die schwere Verletzung von Mikael, da wollte er nicht riskieren, dass er bei dem Verhör vielleicht ausrastete und sich ein Disziplinarverfahren einhandelte. Sein Freund hatte auch so schon genug Probleme, da brauchte er nicht noch ein weiteres.


    Semir atmete tief durch, nahm die Akte in die Hand und ging nun in das Verhörzimmer. Er setzte sich gegenüber von Marko Westhof an den Tisch und schaltete das Aufnahmegerät ein, um die obligatorischen Standarddaten aufzuzählen. Dann sah er den Festgenommenen an. „Was wollten Sie bei unserem Kollegen im Krankenhaus?“
    Westhof drehte den Kaffeebecher in seinen Händen hin und her. „Sehen, wie es ihm geht. Ich wollte ja nicht, dass so etwas passiert.“
    „Sie haben sich der Festnahme widersetzt und den Kollegen einen Steilhang heruntergestoßen. Was haben Sie geglaubt, was passiert?“
    „Er kam mir zu nahe! Er hat mich in die Enge getrieben … ich habe mich nur gewehrt!“ Westhof nickte energisch. „Ja, genau! Es war Notwehr!“
    Semir schluckte schwer und versuchte die Kontrolle zu behalten. Er würde Westhof kein vollständiges Geständnis all seiner Taten entlocken können, wenn er jetzt ausrastete und ihn damit ebenfalls in die Enge trieb. „Woher wussten Sie, in welchem Krankenhaus er lag?“
    „Ich bin ihnen gefolgt, an dem Tag.“
    „Sie sind uns gefolgt?“, fragte Semir ungläubig nach. Er hatte geglaubt, dass Westhof längst über alle Berge gewesen war, als er damals am Tatort angekommen war. Das Auto war immerhin nicht mehr dort gewesen.
    „Ja. Bis zu dem Krankenhaus“, bestätigte Westhof abermals. Er ließ den Kaffeebecher nun los und legte die Hände flach auf den Tisch. „Ich habe lange überlegt, ob ich nachsehen soll, wie es diesem Bull … ich meine Polizisten geht. Ich wollte ihm nichts tun, ich wollte nur …“
    „Ich habe verstanden“, unterbrach Semir den Mann gegenüber von sich. Er wollte sich dieses Geplänkel nicht abermals anhören, ansonsten würde er wohl tatsächlich die Geduld verlieren. Die letzten Tage waren nicht einfach gewesen. Während er versuchte Ben irgendwie aufzubauen und die nötige Kraft zu geben, hatte seine Frau alles versucht, um Eva zu unterstützen.
    Er verdrängte die Gedanken, die ihn ihm aufkeimten und versuchte sich wieder auf das Verhör mit Westhof zu konzentrieren. „Woher hatten Sie den Namen von meinem Kollegen?“
    Westhof griff wieder nach dem Kaffeebecher und nahm einige Schlucke. „Ihr Kollege hat ihn geschrien, als er gestürzt war. Ziemlich laut, ich konnte ihn bei der Flucht hören. Kein sehr häufiger Name. Ich habe ganz einfach gesagt, dass ich ihn vom Training kenne und wir dort nur die Vornamen benutzen. Da hat man mir gesagt, dass er auf der Intensiv liegt. Da habe ich mir dann eine neue Ausrede einfallen lassen, um auf die Station zu kommen.“
    Semir verfiel für einen Augenblick in Sprachlosigkeit. War es wirklich so einfach gewesen, einen Namen zu erhalten und eine Zimmernummer herauszubekommen? Anderseits hatten sie auch nie geglaubt, dass Westhof dort auftauchen würde. Sie hatten keine Geheimhaltung oder ähnliches verlangt.
    „Wollten Sie ihm etwas antun?“
    Westhofs Augen weiteten sich. „Wie? Warum sollte ich das tun?“, fragte er erschüttert.
    „Sie haben ihn immerhin den Abhang heruntergestoßen. Vielleicht wollten Sie ihn nun vollständig aus dem Weg haben.“
    „Nein … nein. Ich wollte doch nur nach ihm sehen. Mehr nicht. Ich wollte wirklich nur schauen.“ Westhofs Hände begannen zu zittern. „Ich hatte gehofft, dass es nicht so schlimm ist. Warum musste er mich auch so bedrängen? Wieso hat er mich nicht einfach gehen lassen?! Er ist doch auch irgendwie selbst schuld, oder?!“ Der Mann sah ihn mit seinen von Verzweiflung gekennzeichneten Augen an, erwarte eine Antwort von ihm. „Ich habe daran keine Schuld, sondern nur er. Ja, nur er!“, wiederholte er abermals.
    „Es war seine Aufgabe Sie festzunehmen. Sie sind doch weggelaufen. Warum? Wegen Svantje Sandberg, weil Sie sie umgebracht hatten?“
    Westhof begann zu lächeln. „Svantje war wunderschön.“
    „Herr Westhof. Würden Sie bitte auf die Frage antworten.“ Semir lehnte sich etwas nach vorne. „Ein Geständnis würde Ihnen in ihrer derzeitigen Situation helfen. Die Indizien reichen auch so, um Sie des Mordes an Svantje Sandberg zu überführen.“
    „Sie wollte, dass ich nicht mehr komme. Sie hatte Angst vor mir“, gestand Westhof nun eine und nahm abermals einen Schluck Kaffee aus dem Becher. „Vor mir? Können Sie das verstehen? Ich habe ihr Geschenke gemacht, Blumen geschickt und sie hatte Angst? Vor was?“
    „Vielleicht hat sie Sie nicht so geliebt, wie Sie geglaubt haben Herr Westhof“, gab der Kommissar vorsichtig zu bedenken.
    „Natürlich hat Sie das! Sie wollte es nur nicht wahrhaben. Wir waren füreinander bestimmt! Sie war so schön, so anmutig.“
    „Warum haben Sie sie getötet? Wieso musste sie sterben, wenn sie Sie auch geliebt hat?“
    Westhofs Blick veränderte sich und er sah ihn schon fast angewidert an. „Sie wollte es nicht lassen! Ich habe ihr verboten mit all diesen Männern zu schlafen und Sie, sie hat es dennoch getan!“, antwortete er wütend und knallte dabei den Becher Kaffee so hart auf den Tisch, das etwas der Flüssigkeit über den Rand auf den Tisch schwappte. „Das war es doch was sie wollte, von allen für ihre Schönheit und Anmut geliebt zu werden. Ich habe ihr nur gegeben, was sie wollte. Ich habe sie der Welt präsentiert!“
    „Wieso als Schneewittchen, wieso in diesem Sarg?“
    Marko Westhof lächelte. „Ich bin dein Schneewittchen Marko, hat sie immer gesagt … glauben Sie mir, ich habe noch nie eine solch schöne Frau gesehen.“
    „Wie haben Sie den Sarg an der Autobahn aufgestellt? Hatten Sie Hilfe Herr Westhof?“
    „Wie meinen Sie die Frage?“
    Semir klappte die Akte vor sich auf. „Dieser Sarg, der war doch sicherlich sehr schwer, oder nicht? Ihr Auto hat ebenfalls kein Ladefläche oder Raum für etwas in dieser Größe. Sagen Sie mir, wie haben Sie es bewerkstelligt?“
    „Der Sarg ist leer nicht besonders schwer, ich habe Svantje erst dort hineingelegt.“
    „Dennoch haben Sie nicht den Platz einen solchen Sarg zu transportieren. Haben Sie sich vielleicht ein Auto geliehen? Von einem Freund oder bei einer Firma.“
    Westhof nickte. „Ja, aber das spielt doch keine Rolle. Ich wollte, dass die Welt sie sieht.“
    „Wo sie tot war, wollten Sie also ihre Schönheit teilen?“
    Westhof lachte. „Ja, aber der Prinz, der sie wieder wachküssen würde, der war ja ich.“
    „Woher haben Sie das Auto? Wer hat Ihnen die falschen Papiere besorgt?“
    „Eine Verleihfirma. Keine besonders seriöse, wenn Sie mich fragen. Sie haben nicht einmal meine Daten geprüft.“ Semir stutzte. Klang der Mann vor ihm gerade sogar erschüttert darüber?
    „Und die falschen Papiere? Wer hat die Ihnen besorgt.“
    Westhof verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Darüber werde ich nichts sagen. Ich bin ein ehrlicher Mann. Ich werde niemanden verraten!“
    Semir lehnte sich zurück und beobachtete den Mann vor sich. Westhof schien einerseits sortiert, andererseits passten einige Dinge aber auch überhaupt nicht zusammen. Dazu dieser wahnwitzige Vorstellung, dass Svantje Sandberg sein Schneewittchen war und er ihr Prinz. Er wollte sie im Leben nicht teilen, als Tote aber schon. Er klappte die Akte vor sich zu und stand dann auf. „Ein Kollege wird Sie gleich in ihre Zelle bringen. Für heute soll es das gewesen sein.“


    Als der Hauptkommissar aus dem Verhörraum trat, wurde er bereits von seiner Chefin empfangen. „Und?“, fragte Kim Krüger neugierig nach. Semir stöhne und legte die Akte auf den Tisch. „Ich weiß nicht. Um ehrlich zu sein, glaube ich, dass Westhof nicht mehr alle Latten am Zaun hat!“
    „Wie kommen Sie darauf?“
    „ Einerseits glaube ich ihm wirklich, dass er Mikael nicht verletzten wollte und es vielleicht wirklich eine Kurzschlussreaktion war, andererseits schildert er den Mord an Svantje Sandberg als einen, den er aus voller Überzeugung begangen hat. Aber für beide Dinge gibt er den Opfern die Schuld.“
    Er sah durch den Spiegel in den Verhörraum. „Und da glaubt man, Mord sei Mord.“
    Die Schwarzhaarige nickte. „Ich werde einen Spezialisten zu Rate ziehen. Vielleicht kann er uns ja helfen Westhof zu verstehen.“
    „Vielleicht ist das keine so schlechte Idee. Ich habe das Gefühl, als würde ich da nicht wirklich was ausrichten können. Wahrscheinlich geht es jetzt ja ohnehin nur darum, wo er untergebracht wird, denn er hat gestanden.“
    „Ja, so ist es wohl“, bestätigte seine Chefin.
    Semir seufzte. „Nun wartet die nächste Mammutaufgabe auf mich. Ich muss Ben beichten, dass ich ihn bezüglich Westhof ausgeschlossen habe.“
    Kim Krüger lachte. „Sie werden das schon schaffen Herr Gerkhan. Sagen Sie ihm, ich hätte ihn ohnehin in seinem derzeitigen Zustand nicht in Westhofes Nähe gelassen.“
    „Ich fürchte, dass wird für ihn kein wirklicher Trost sein.“



    *


    Semir atmete tief durch, ehe er den Schlüssel in die Wohnungstür steckte und umdrehte. Sofort als er in das Wohnzimmer trat, wo Ben mit Oskari auf dem Sofa saß, schien sein Partner zu merken, dass in den letzten Stunden etwas vorgefallen war. „Es geht doch hoffentlich nicht um Mikael“, sagte er mit schwerer Stimme. Der erfahrene Kommissar schüttelte den Kopf. „Nein, Westhof.“ Er setzte sich neben Ben hin. „Er ist heute in eine Verkehrskontrolle auffällig geworden.“
    „Das heißt?“
    „Wir haben ihn verfolgt und festsetzen können.“
    „Wir haben ihn?“, fragte Ben ungläubig nach.
    „Ja. Sein Auto hat sich überschlagen. Er konnte nicht mehr entkommen.“ Semir atmete tief durch. „Ben, ich habe das Verhör alleine durchgeführt. Ich wollte nicht, dass du dir vielleicht Ärger einhandelst, weil du dich nicht im Griff hast, wo das mit Mikael passiert ist.“
    Der Braunhaarige nickte. „Ich verstehe“, sagte er leise. Semir stutzte. Das war alles? Kein Vorwurf? Keine Zurechtweisung, dass er es durchaus geschafft hätte?
    „Du bist nicht sauer?“
    „Du hast vermutlich Recht. Ich weiß nicht, was ich mit dem Kerl gemacht hätte.“ Ben sah in das unschuldige Gesicht von Oskari. „Er hat in Kauf genommen, dass Mikael stirbt. Es ist mir egal, ob er sich dafür vielleicht schuldig fühlt. Mikael hilft das kein bisschen weiter. Es wird ihm nicht dabei helfen, diese Sache zu überstehen.“


    Ben stand auf und legte das Baby in die Wiege, wo er ihn liebevoll zudeckte. „Und er war geständig?“
    „Ja. Es fehlt nur noch ein bisschen Papierkram und wir können den Deckel der Akte endlich schließen.“ Semir lehnte sich zurück. „Ab jetzt warten wohl wieder spannende Kontrollen auf uns.“
    Ben sah nachdenklich aus dem Fenster. Eine Geste, die Semir nicht entging. „Was ist? Da ist doch etwas, das nicht bedrückt. Geht es um Mikael?“
    Sein Freund seufzte. „Nicht direkt. Es ist wegen dieser Sache mit Mahler und meiner Angst vor Särgen … ich meine …“ Ben schüttelte energisch den Kopf und begann von vorne. „Ich muss mich dieser Sache stellen und ich denke, ich bin bereit dazu. Ich habe einen Termin bei einem Spezialisten gemacht. In acht Tagen.“
    Semir lächelte, stand auf und hob seine Hand auf Bens Schulter. „Respekt, Partner. Damit nimmst du mir die Arbeit ab dich höchstpersönlich dorthin zu schleppen.“
    Der Jüngere lachte. „Es wird Zeit, dass ich diese Scheißangst hinter mir lasse. Es hat mich in diesem Fall behindert und ich möchte nicht, dass es noch einmal passiert.“

  • „Immer mit dem Patienten sprechen“, hatte ihnen der Arzt geraten und Ben gab sich Mühe diesen Ratschlag auch einzuhalten. Wenn Mikael ihn wirklich hören konnte, dann wäre er über diese Aussage sicherlich nicht begeistert. Er hasste es, wenn immer geredet werden musste. Er lächelte bei den Gedanken daran, wie sein Freund ihn immer zu zurechtwies, wenn er wieder einmal ohne Punkt und Komma redete, nur weil er es hasste stumm nebeneinanderzusitzen. Ben holte sich einen Stuhl an das Bett und betrachte seinen Freund. Der Hirndruck war inzwischen wieder in Ordnung, aber noch wollte man einige Tage warten, bis man den ersten Aufweckversuch wagen würde. „Kämpf weiter“, sagte er. „Du hast es bis hierher geschafft, jetzt packst du den Rest auch noch!“


    Er beobachtete das Heben und Senken von Mikaels Brustkorb, während er ihm von dem letzten Tag berichtete. Da Westhof geschnappt war, hatte er sich einige Tage freigenommen und sich um Oskari gekümmert, während Eva bei Mikael war. „Du kannst stolz sein, einen so tollen Sohn zu haben. Ich glaube ja er kommt nach dir, er ist genauso still. Er schreit kaum.“ Ben lachte leise. „Ist sicherlich auch besser, wo ich ihn derzeit öfters aufpassen muss, weil du hier bist. Ich bin immerhin nicht gerade zum Babysitter geboren!“ Er griff nach der Hand seinen Freundes und konnte sich immer noch nicht so recht daran gewöhnen, dass einfach kein Gegendruck kam. „Eva versucht stark zu sein, aber mache es ihr nicht unnötig schwer. Werd einfach schnell wieder gesund. Wir alle, wir vermissen dich.“


    Die letzten Tage waren fürchterlich anstrengend gewesen. Eine Berg und Talfahrt der Gefühle. Ben schauderte es noch heute, wenn er an die Worte des behandelnden Arztes zurückdachte. Es ist wie Lotto, hatte er ihm erklärt, die Chancen, dass sein Freund wieder der Alte werden würde lägen zwischen 0 und 100 Prozent. „Du weißt aber doch sicherlich, wie man so einen Algorithmus austrickst, oder?“, fragte er leise in den Raum.


    Nachdem Ben etwa 30 Minuten im Zimmer verbracht hatte, stand er auf und legte Mikaels Hand vorsichtig wieder auf das Laken. „Ich muss jetzt gehen, ich habe noch einen wichtigen Termin.“ Leise stellte er den Stuhl wieder zurück an seine Stelle und verließ dann das Krankenzimmer. Seine Hand fuhr an seinen Hals und der umgriff den Anhänger seiner Kette. „Hilf mir dabei Kumpel, ja?“, murmelte er leise, ehe er zu seinem Auto ging und in Richtung einer Praxis für Angstbewältigung aufbrach. Der Fall Svantje Sandberg hatte ihm seine Grenzen aufgezeigt und nun war es Zeit, dass er sich seinem Problem stellte.


    Wenig später stand der junge Kommissar mit seinem Privatwagen vor der Praxis. „Scheiße, ich hätte nicht gedacht, dass es so schwer ist“, fluchte er leise. Er stand schon fünf Minuten hier, hatte aber noch nicht den Mut gehabt, sein Auto auch zu verlassen und in die Praxis zu gehen. Es war, als würde er sich seine Schwäche dann vollkommen eingestehen. Er trommelte nervös mit den Fingern auf seinem Lenkrad. Es konnte doch nichts so schwer sein? Oder doch? Er löste den Anschnaller und zog den Gurt von seiner Brust. „Sei kein Feigling Ben Jäger.“ Doch er war ein Feigling. Nun begriff er, was Mikael gemeint hatte, als er ihm erzählt hatte, dass da eine unsichtbare Wand war, die ihn von einem Besuch an Joshuas Grab abhielt. Genauso fühlte er sich jetzt. Da war diese Mauer, die ihn davon abhielt seinen Termin bei dieser Ärztin auch anzunehmen. Vielleicht hätte er Semir erzählen sollen, wann genau er diesen Termin geplant hatte? Sein Kollege und Freund hätte dafür gesorgt, dass er hierher gehen würde. Es waren nur wenige Schritte und doch war es eine solch große Strecke. Er schloss die Augen und versuchte seine hektische Atmung zu beruhigen. Ein helles Klopfen an der Schreibe ertönte und er öffnete seine Augen wieder. Ben sah geradewegs in ein blaues Augenpaar. „Eva“, entkam es ihm leise. Die blonde Frau öffnete die Tür und setzte sich neben ihn auf den Beifahrersitz. „Ich dachte, ich sehe nach, ob du auch wirklich hingehst.“
    „Ich dachte, du bist bei Mikael im Krankenhaus?“
    Sie lächelte. „Er wird ein paar Minuten warten können, nicht? Ich glaube, er würde es verstehen.“
    Ben sah wieder auf die Praxis. „Ich schaffe es einfach nicht. Was wenn es nicht klappt und ich die Angst nicht loswerde?“
    „Das kannst du nicht wissen, wenn du es nicht versuchst. Es ist doch immerhin schon ein großer Satz von dir, dass du die Schwäche siehst und etwas dagegen unternimmst.“
    „Du meinst Schritt“, verbesserte er sie.
    Sie lachte. „Ja Schritt. Alleine das verlangt viel von einem Menschen. Jetzt sind es nur noch ein paar Meter.“
    Er wusste, dass sie auf Mikael ansprach. Sein Freund, der es hasste zuzugeben, dass er Hilfe benötigte und so viel mit sich herumschleppte ohne sich jemand anzuvertrauen.
    „Ich kann mitkommen, wenn du willst“, bot Eva neben ihm an. „Natürlich nur bis ins Wartezimmer.“
    Er atmete tief durch und lächelte dann. „Vermutlich wäre es besser, sonst mache ich vielleicht doch wieder einen Rückzieher.“
    Gemeinsam stiegen sie aus und gingen in das Gebäude. Die Treppen bis in den zweiten Stock kamen Ben unendlich vor und auch die Anmeldung fand er recht unangenehm. Als er dann aber im Sprechstundenzimmer der Ärztin saß und sie mit ihm eigentlich ganz locker redete, war seine Anspannung verflogen und er hatte überhaupt nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vorüber gegangen war.
    Als er das Zimmer wieder verließ, holte er Eva aus dem Wartezimmer ab und er entschied sich, noch einmal mit ihr ins Krankenhaus zu fahren. Wenn sie liebevoll mit Mikael redete, konnte er manchmal nicht anders als zu lächeln auch wenn es in der Situation, in der sie gerade steckten, wenig Grund gab. Sein Freund hatte wirklich Glück gehabt, dass diese Frau ihn vor zwei Jahren nicht einfach so aufgegeben hatte. Ihr mag es zwar oft an Selbstbewusstsein fehlen, aber wenn es darauf ankam, zeigte sie Stärke. Manchmal konnte er nicht glauben, wie Mikael es zustande gebracht hatte diese tolle Frau – die nicht einmal schlecht aussah – auf der Polizeiakademie zu übersehen. „Oskari hat sich prächtig entwickelt, als du nicht da warst. Er greift jetzt schon dauernd nach irgendwelchen Dingen“, hörte er Evas liebevolle Stimme. „Du wirst sehen, du bist bald wieder fit und dann kannst du selbst sehen, wie er sich macht. Außerdem müssen wir doch noch ins Tierheim uns einen Hund ansehen. Erinnerst du dich? Du hast doch davon gesprochen, dass wir uns einen Hund zulegen sollten.“ Die Blonde umgriff Mikaels Hand fester. „Als du schon in Deutschland warst, da war ich bei einem Tierschutzverein. Die hatten einen ganz tollen Hund … er hieß Toivo, ist das nicht passend?“ Eine Träne lief ihre Wange herunter und tropfte auf die Hand ihres Freundes. Sie sah Ben an. „Toivo bedeutet Hoffnung“, sagte sie leise und er nickte. „Ich habe Hoffnung, dass du bald wieder bei uns bist, Mikael. Du schaffst das!“


    *


    Semir las die Akte vor sich noch einmal genau durch. Es war der abschließende Bericht zum Mordfall Svantje Sandberg und er war froh, dass er ihn heute endlich abschließen konnte. Er hatte in den letzten Tagen noch häufiger Verhöre mit Westhof geführt, aber es hatte sich nicht viel geändert. Dem Mann tat es weiterhin leid, was er Mikael zugefügt war, sah aber auch nicht ein, dass der junge Kollege daran keine Schuld tragen sollte. Er bestand darauf, dass er in Notwehr gehandelt habe. Auch bei Svantje Sandberg sah er sich nicht als Hauptschuldigen. Sie sei durch ihre Schönheit selbst Schuld an ihrem Unglück. Vor Gericht würde dann wohl ein Gutachter entscheiden, ob Westhof schuldfähig war. Was seinen Helfer anging, schwieg der Mann weiter. Er wollte nicht sagen, wer ihm den Pass und die übrigen Karten besorgt hatte.
    Er seufzte. Der Fall war abgeschlossen und in gewisser Weise aber auch nicht. Nein, noch konnten sie eigentlich den Aktendeckel nicht zuklappen. Da waren diese Panikattacken von Ben gewesen, die sein junger Kollege zwar in Angriff nehmen wollte, aber die ihn wohl noch einige Zeit begleiten würden. Und vor allem war da dieser Unfall bei der Festnahme gewesen. Kopfverletzungen machten aus dem hochintelligenten Menschen hilflose Bündel und Mikaels Schädelverletzung war schwerwiegend, daran gab es überhaupt keinen Zweifel. Er besuchte den jungen Kollegen sicherlich nicht so oft wie Ben, doch auch ihn setzte die Situation zu. Es war eine komische, bedrückende Situation in dem Zimmer und bei seinem ersten Besuch hatte er überhaupt nicht gewusst, was er zu diesem Mann sagen sollte, der dort so verloren lag. Sicher, es gab gute Nachrichten und die Ärzte waren guter Dinge, dass man die Medikamente, die Mikael im Koma hielten, bald zurückfahren konnten, aber dann kam die nächste schwierige Phase. Erst wenn er richtig wach war, würden sich die wahren Schäden zeigen und erst dann würde klar sein, ob und wie Mikael das Leben wieder in Angriff nehmen konnte.


    FIN

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