Eiskalte Rache … entkommen wirst du nie!

  • Diese Geschichte ist der zweite Teil der "Mordkommission Helsinki"-Serie. Die anderen Teile kannst du hier nachlesen:



    1.Fall: Der Finne - Das ewige Lied des Nordens
    2.Fall: -
    3.Fall: Auf dünnem Eis
    4.Fall: Pirun palvelijan - Diener des Teufels
    5.Fall: Blackout
    6.Fall: Kalter Schnee, heißes Blut
    7.Fall: Vertrauen
    8. Fall: Grüße aus St. Petersburg
    9. Fall: Kalter Abschied

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    Prolog


    I'm scared to get close and I hate being alone
    I long for that feeling to not feel at all
    The higher I get, the lower I'll sink
    I can't drown my demons, they know how to swim
    (Bring Me The Horizon - Can You Feel My Heart)


    In ihm keimte eine fürchterliche Angst. Er rannte, stolperte, stand wieder auf und rannte einfach weiter. Seine Lungen stachen, seine Beine fühlten sich unglaublich schwer an. Er rutschte auf dem schneebedeckten Gras aus, erhob sich mit zittrigen Armen wieder. Es fiel ihm schwerer, einen klaren Gedanken zu fassen. Qualvoll schnürte ihm die Panik Herz und Kehle zu. Das durfte nicht sein! Das konnte nicht passieren! Es war ein Albtraum. Irgendwann würde er daraus aufwachen. Und dann wird alles wieder in Ordnung sein. Ja, so würde es sein.


    Er blieb abrupt stehen, sah auf den leblosen Körper hinab. Der Mensch vor ihm war blass, seine Augen geschlossen. Blut sickerte unter ihm in den Schnee, färbte ihn rot. Ihm wurde übel und für einen Augenblick war ihm schwarz vor Augen. Seine Beine gaben nach und er fiel auf die Knie. Mit zittrigen Händen suchte er nach dem Puls und fühlte … nichts. „Nein, nein, nein!“ Panik machte sich in ihm breit, unglaubliche Panik. Eisige, kalte Krallen griffen nach seinem Herz. Drückten es zusammen, wie einen Spielball.
    Er bracht ihn in Rückenlage und legte die Hände übereinander, drückte auf seinen Brustkorb. Eins, zwei, drei, vier, fünf … 30. Dann überstreckte er leicht den Kopf. Zwei Atemstöße. Eins, zwei, drei, vier, fünf … 30.
    Wieder blies er Luft in die Lungen. Tränen liefen über seine Wangen, während er immer weitermachte. Er konnte nicht gehen. Er brauchte ihn! Er konnte nicht sterben, nicht nach allem, was sie durchgemacht hatten!
    Herzdruckmassage.
    Atmen. Dann wieder Massage.
    „Komm schon!“ Seine Arme begannen zu zittern. Er wurde immer müder. Er beugte sich wieder runter. Zwei Atemstöße. Die Panik wurde größer. Sein Herz trommelte in seinem Brustkorb, als würde es gleich aus seinem Käfig aus Rippen und Brustbein herausspringen. Das konnte nicht wahr sein, das durfte nicht wahr sein!
    „Er ist tot, bitte lass das!“ Jemand griff nach seinem Oberarm, doch er schlug ihn weg. „Lass mich!“ Wieder legte er seine Hände auf die Brust und setzte die Herz-Lungen-Massage fort. „Bitte, stirb nicht!“, flehte er. Er machte wieder Mund-zu-Mund-Beatmung, drückte dann wieder auf seinen Brustkorb. „Du hast versprochen, dass wir immer Freunde bleiben … dass uns nichts trennen kann!“ Er wiederholte die Prozedur immer und immer wieder, bis ihn schließlich die Kräfte verließen.


    Jetzt begriff er, dass sein Freund gegangen war. Er war tot. Er drückte den kalten Körper an sich, spürte, wie das warme Blut in seine Kleidung sickerte. Wog ihn hin und her und weinte. Er weinte und verfluchte sich selbst. Das hier, das war alles seine Schuld! Er hätte tot sein müssen. Nur er!

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  • Ben griff nach seiner Reisetasche und schulterte sie anschließend. „Kannst du mir noch einmal sagen, warum wir uns nicht mehr gegen diesen Kongress gewehrt haben? Polizeiarbeit über die Grenzen hinaus, alleine der Titel klingt nach Spannung!“, schimpfte Semir neben ihm. Sie standen in der Flughafenhalle Helsinki-Vantaa und waren auf der Suche nach irgendeiner Information, die sie der Stadt ein Stück näher bringen würde, da der Flughafen etwas außerhalb lag. Ben hatte in Köln versprochen, sich vor dem Abflug darum zu kümmern, aber es dann vergessen. „Weil es in Helsinki ist, deshalb“, erinnerte er seinen Freund und Partner. „Und außerdem, du hast doch die Chefin gehört. Wir müssen mal langsam wieder einen Fortbildungskurs belegen!“
    Semir stöhnte. „Jaja ich weiß, du siehst es eine gute Möglichkeit mehr über Mikael zu erfahren.“ Der Jüngere grinste. „Irgendwie müssen wir ja die Jahre wieder aufholen und er wird sich sicher freuen, wenn wir dann vor seiner Tür …“ Semir hob die Hand. „ … Moment, immer langsam mit den jungen Pferden. Das hört sich gerade so, als würde er nichts wissen … also, dass wir kommen?“
    „Das ist doch der Sinn einer Überraschung.“
    „Ich bin mir nicht sicher, ob Mikael so der Typ für Überraschungen ist“, merkte der Ältere kritisch an. „Ich dachte, dass du ihn gefragt hättest, ob wir dort übernachten können.“
    Ben winkte ab. „Er wird sich schon freuen. Immerhin wollte er mich schon lange nach Helsinki einladen.“ Dann sah der Jüngere wieder auf den Plan. „Die Frage ist nur, wie wir überhaupt bis zu Mikaels Wohnungstür kommen.“ Semir stellte sich neben seinen jüngeren Partner. „Vielleicht rufst du einfach Mikael an, wie wir nun von diesem Teufelsflughafen wegkommen. Oder wir nehmen uns einfach ein Taxi“, gab der Deutschtürke zu bedenken. „Ein Taxi? Pah, damit ich mir nachher wieder anhören muss, dass ich nicht fähig bin mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu reisen? Nein, nein … wir nehmen den Bus!“ Ben zeigte auf einen Plan. „Schau, dieser hier fährt jede halbe Stunde nach Helsinki rein.“ „Und wenn wir da sind? Wie hat der Herr sich vorgestellt zu Mikaels Wohnung zu kommen? Hast du dir die Straße zumindest aufgeschrieben.“ Der Braunhaarige sah zur Seite, dann wanderte sein Blick jedoch verlegen auf den Boden. „Puron … keine Ahnung wie es weiterging. Dieses Finnisch macht mich total wahnsinnig! Irgendwo war da noch zwei Mal das ‚I‘. Ich habe gedacht, dass ich es mir merken kann!“ Semir zog sein Handy aus der Tasche und hielt es seinem jüngeren Freund entgegen. „Nun ruf ihn halt an. Ich würde es nämlich vorziehen, wenn wir heute Abend ein Dach über den Kopf hätten. Finnland soll zur Winterzeit nicht gerade warm sein.“ Ben nahm das Gerät aus Semirs Hand und schimpfte leise vor sich hin, bevor er schließlich im Adressbuch die Nummer von Mikael heraussuchte und anwählte.




    *


    Mikael rannte, bis seine Lungen brannten und er schweißgebadet war. Beim Joggen bekam er immer einen klaren Kopf. Für eine Stunde brauchte er an nichts denken, fühlte sich einfach frei. Der erste Schnee des Jahres machte die Joggingtour heute zu einer kleinen Herausforderung, die Balance zu halten, aber das hielt ihn dennoch nicht davon ab, wie fast jeden Morgen seine Kilometer zu absolvieren. Außerdem liebte er Schnee. Auf eine eigenartige Weise hatte ihm der Winter immer mehr gefallen, als der Sommer. Er fühlte sich wohl, wenn es kalt war. Er mochte es, wenn der Atem kleine Wölkchen bildete und alles in weiß getaucht war. Sicherlich war der Winter gerade hier in Finnland eine beengende Jahreszeit, dafür sprach die Selbstmordrate, aber ihn hatte es nie wirklich bedrückt und das sollte doch schon etwas heißen. Immerhin hatte er schon lange aufgehört unbeschwert in den Tag hineinzuleben. Die Zeiten waren lange vorbei. So lange, dass er überhaupt nicht mehr wusste, wie das ging: Unbeschwertheit, Leichtigkeit.


    Als er wieder in seiner Wohnung ankam, die etwas außerhalb des Zentrums der Stadt lag, wurde er bereits von Joshua empfangen. Seit seine Frau vor einigen Monaten erschossen worden war, wohnten sie wieder gemeinsam in einer Wohnung, wie in den Tagen bevor er geheiratet hatte. Joshua und er hatten gemeinsam bei der Polizei begonnen, doch seinen Freund hatte es nicht mehr dort gehalten, als das mit seiner Frau passiert war. Inzwischen hatte er eine Stelle bei der Post angenommen. Es war sicherlich kein Traumjob, brachte aber Geld in die Haushaltskasse. Der Blonde hielt ihm eine Wasserflasche hin, die er dankend entgegennahm und aufschraubte. „Dein Kollege hat angerufen, dieser Heikkinen“, informierte er ihn. Mikael nahm einige Schlucke aus der Wasserflasche, ehe er sie dann wieder zuschraubte. „Was will er?“ Joshua lachte leise und schüttelte den Kopf. „Du bist bei der Mordkommission, was denkst du, was er will? Ich habe ihm gesagt, wann du ungefähr zurück bist. Er wird hierher kommen und dich abholen.“


    „Okay.“ Mikael begab sich in Richtung Bad und erledigte sich seiner Joggingklamotten. „Und Ben hat auch angerufen. Ich war so frei ranzugehen.“ „Und?“, rief er in Richtung Wohnzimmer, als Joshua seine Erzählung nicht direkt fortsetzte. Er vernahm Schritte und wenig später stand der Blonde in der Tür zum Badezimmer und grinste ihn an. „Er sagte, er und Semir wären gerade in Helsinki gelandet und er bräuchte einen Hinweis, wie er denn nun am besten in die Stadt käme.“
    „Wie?“
    „Er sagte, dass er und Semir in Finnland gel…“
    „Jaja, das habe ich ja verstanden. Ich meine, davon weiß ich nichts. Er hat nichts angedeutet.“ Mikael hatte begonnen nervös mit seinem Armband zu spielen. Warum zur Hölle hatte Ben sich nicht früher angekündigt? „Ich war so frei, ihnen zu sagen, welchen Bus und welche Straßenbahn sie nehmen müssen, wo unser Auto in der Werkstatt ist.“ Joshua sah ihn an und musterte ihn besorgt. „Freust du dich nicht?“ „Doch … es ist nur … ich hatte nicht damit gerechnet und …“ Sein Freund bemerkte seinen abwesenden Blick, der direkt an dem Blonden vorbei ins Wohnzimmer führte. „Ich werde die Zeichnungen und die Akte wegräumen, ja?“ Er nickte und lief in seiner Boxershorts an Joshua vorbei in sein Zimmer, um sich eine Jeans, ein T-Shirt und einen Kapuzenpullover überzuziehen. „Ben würde es sicherlich nicht verstehen“, sagte er leise, „ich meine, dass ich immer noch … du weißt schon.“ Sein Freund lehnte sich an die Wand. „Ich werde darüber kein Wort verlieren.“ Mikael kam dennoch nicht umher die Tonveränderung in der Stimme seines Freundes zu bemerken. „Aber?“, hakte er nach. „Du solltest es ihm anvertrauen. Wenn er es so herausfindet. Nach all dem, was dein Vater ihm angetan hat … ich denke, dass er ein Recht darauf hat.“ „Das weiß ich auch Josh, aber gerade jetzt … also im Augenblick. Ich weiß doch selbst noch nicht, wie ich über meinen Vater denke. In dem einen Moment hasse ich ihn, in dem anderen vermisse ich ihn.“


    Es klingelte an der Tür und Mikael zog sich noch eilig Turnschuhe an und griff nach seiner Dienstmarke und seiner Waffe. „Wir sehen uns dann später. Ich verlasse mich auf dich, dass du Ben und Semir gut unterhältst!“ Danach verschwand er in Richtung Wohnungstür.

  • Als Mikael vor die Tür trat, blickte er geradewegs in die blauen Augen eines blonden Mannes, Ende Dreißig. Seine Haare trug er kurz, seine Statur war kräftig und offenbarte einem geschulten Auge, das er regelmäßig ins Fitnessstudio ging. Er trug einen dunklen Anzug, allerdings nicht besonders feine Schuhe dazu. „Na Kollege. Wieder das Handy nicht dabei gehabt?“, fragte er, als er bereits wieder kehrt machte und in Richtung Auto lief. Mikael versenkte seine Hände in den Taschen seiner Jacke und lief Antti Heikkinen hinterher. „Dieses ganze immerzu erreichbar sein ist auf die Dauer halt ungesund.“ Er bekam ein tiefes Lachen als Antwort. Er arbeitete nun schon zwei Monate bei der Mordkommission, aber bisher hatte er noch nicht herausgefunden, ob er Heikkinen trauen konnte. Seit er in seiner alten Abteilung hintergangen wurde, war er noch vorsichtiger geworden, was Vertrauen anging. Sein älterer Partner hatte keine steile Polizeikarriere hinter sich und es war kein Geheimnis, das ihn viele als Kollegen mieden, wenn es denn möglich war. Seine Wutausbrüche waren im Präsidium gefürchtet, aber bisher hatte er diese Seite nicht kennengelernt. Die einzige Seite, die er momentan von Heikkinen kannte, war eine Fürsorge, die ihn ab und an zu erdrücken drohte. Gut, immerhin half Heikkinen dabei sich im Präsidium einige Leute vom Hals zu halten, die ihn schräg ansahen und nicht glauben wollten, dass er kein korrupter Polizist war. Heikkinen hatte Respekt, den er zumindest bei der Polizei nicht hatte.


    Es dauerte nicht länger als 20 Minuten und sie waren am Tatort angekommen. „Es war wohl ein Nachbarschaftsstreit“, sagte Heikkinen neben ihm, „aber genaueres wurde mir auch noch nicht gesagt.“ Er nickte und folgte ihm aus dem Auto, nachdem er seinen Einmalanzug angezogen hatte. Es handelte sich um einen Altbau und die Treppenstufen quietschen, als sie hoch gingen. Die Spurensicherung war bereits im vollen Gange und als sie an der Wohnung, die im dritten Stock lag, angekommen waren, drang Blitzlicht heraus. Ein Polizeifotograf machte detailierte Aufnahmen für die Akten. Eine ganz nützliche Sache, obwohl er sich in den letzten Monaten angewöhnt hatte, sich selbst Skizzen von dem jeweiligen Tat- oder Fundort zu machen. So konnte er sich Details deutlich besser merken. Als er in die Wohnung trat, fühlte er sich erschlagen. Sein Gehirn fror ein. Auf der weißen Wand hinter dem Sofa prangte ein krakeliger Schriftzug. Mikael spürte, wie er zu zittern begann, ihm wurde schlecht. Er rannte die Treppen herunter und hielt sich an einem Baum fest. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals und er bekam Atemnot. Er schloss die Augen und versuchte sich zu beruhigen. Tief ein und aus atmen, sagte er in seinem Inneren zu sich und spürte, wie sein Körper langsam aufhörte zu zittern. Dann sank er mit dem Rücken an den Baum gelehnt hinunter auf die Erde und starrte auf das Haus. Du wist leiden Häkkinen. Diese vier Worte hatten an der Wand gestanden. Er spürte, wie erneut Panik in ihm aufstieg. Er schloss wiederholt die Augen. „Ich wusste nicht, dass es an der Wand steht“, ertönte eine Stimme. Seine Lider öffneten sich und er erblickte Antti Heikkinen, der vor ihm stand. Nun setzte er sich neben ihn. „Kennst du den Toten?“ Mikael schüttelte den Kopf. „Nein … ich kenne ihn nicht, habe ihn nie gesehen“, brachte er mit dünner Stimmer heraus. „Vielleicht bist du ja nicht gemeint. Es stand immerhin nur ein Nachname da und es gibt einige Menschen mit diesem Nachnamen“, überlegte der Blonde dann laut.
    „Wer dann?“
    „Keine Ahnung, aber wir werden das rausfinden, hörst du? Ich werde dich ins Präsidium fahren, okay?“ Mikael schüttelte den Kopf und stand auf. „Nein. Es ist alles gut. Ich werde meine Arbeit erledigen, keine Angst. Das hat mich nur für einen kurzen Moment aus dem Konzept gebracht Heikkinen.“ Er wollte wieder in Richtung des Hauses gehen, doch der Kollege umgriff sein Handgelenk und hielt ihn zurück. „Darum geht es nicht. Ich mache mir nur Sorgen.“ „Du kennst mich überhaupt nicht!“, schimpfte er leise. „Du bist mein Partner und die sollten aneinander vertrauen.“ Er lachte leise. „Vertrauen?“, wiederholte er, „Sowas habe ich nicht mehr!“


    Mikael riss sich los, doch ehe er in das Haus treten konnte, versperrte ihm ein Mann in seinem Alter den Weg. Er war nicht viel größer als er, trug schwarzes zerzaustes Haar, das knapp über die Ohren ging und mit grünen Strähnen gesprenkelt war. „Veikko, lass mich durch!“. Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort. „Du solltest das nicht tun“, antwortete er mit ruhiger Stimme. Kurz darauf spürte er wieder Heikkinens Hand, die ihn ein Stück wegzog und dem Techniker kurz dankend zunickte. „Lindström hat Recht. Du solltest nicht wieder reingehen. Ich bin mir sicher, dass er den Tatort gut skizzieren wird. Du vertraust doch seinen Fähigkeiten, oder nicht?“ Er nickte. Natürlich vertraue er Veikkos Fähigkeiten als Techniker. Er war immerhin einer der Besten in Helsinki, auch wenn es sein zweiter Bildungsweg war. Eigentlich hatte er eine Polizeilaufbahn angestrebt, hatte viel mit ihm und Joshua rumgehangen, doch dann hatte er jemanden erschossen bei einem Einsatz und alles an den Nagel gehängt. Außerdem war er einer der wenigen, die immer gewusst hatten, dass Andreas Hansen sein Vater war. Ein Drogenboss, der die Szene in Finnland im Griff gehabt hatte. Veikko Lindström lächelte ihn an und kratzte sich dann am Hinterkopf. „In drei Stunden habt ihr was, ja?“ „Jaja“, schimpfte er leise und ging wieder in die andere Richtung, zog die Beifahrertür von Heikkinens Audi auf und setzte sich auf den Sitz. „Kommst du dann Heikkinen!“


    Der Blonde atmete sichtbar tief durch und setzte sich dann auf den Fahrersitz, startete den Wagen jedoch nicht. „Was? Willst du nicht fahren?“, entfuhr Mikael genervt, als Heikkinen auch noch einigen stillen und elend langen Sekunden den Schlüssel nicht in das Zündschloss gesteckt hatte. „Mikael, ich will, dass du weißt, dass niemand von dir verlangt, dass du diesen Fall bearbeitest. Wir können zum Chef gehen und es …“ „Du hast keine Ahnung Heikkinen! Du kennst mich doch überhaupt nicht? Ich habe kein Problem mit diesem Fall! Und jetzt fahr los, ich hasse es, wenn man wichtige Ermittlungszeit verschwendet!“ Der Schwarzhaarige drehte den Oberkörper von Antti Heikkinen weg, lehnte den Ellenbogen auf die Ablage der Beifahrertür und sah aus dem Fenster. „Harte Schale, weicher Kern hmm?“, hörte er Heikkinen noch leise sagen, doch dann startete der Kollege endlich den Wagen.

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  • Ben drückte Joshua im Flur des Mietshauses kurz an sich, ehe Semir es ihm nachtat. „Du siehst gut aus“, sagte der Älteste, als er Joshua ein Stück von sich hielt. Als Semir den jungen Finnen das letzte Mal gesehen hatte, war er in Selbstmitleid verflossen und all die Fröhlichkeit, die er an Joshua schätzen gelernt hatte, verschwunden. „Es geht auch aufwärts. Ich bekomme mein Leben langsam wieder in den Griff, denke ich. Vielleicht auch dank Mikael. Er war wirklich eine wichtige Stütze in den letzten Monaten und das obwohl ich manchmal wirklich ein Arsch war.“ Joshua lachte. „Aber nun kommt erst einmal rein. Habt ihr Hunger? Wir haben noch ein paar Nudeln von gestern Mittag übrig.“ „Da sag ich nicht nein“, sagte Ben und schulterte seine Reisetasche, um in die Wohnung zu treten. Sie war nicht besonders groß, aber hell. Es standen nicht viele Möbel in den Räumen und Fotos konnte Ben, bis auf ein Abschlussfoto von der Polizeischule, nicht sehen. „Habt ihr mit meiner Beschreibung gut hergefunden?“, fragte Joshua, der vorausgegangen war ins Wohnzimmer. „Ja, der Tipp mit den schwedischen Straßennamen, die unter den finnischen stehen. Der war wirklich gut. Die sind etwas leichter zu merken“, antwortete ihm Semir und stellte dann seinen Koffer auf dem Boden ab. „Übrigens Danke, dass du so spontan zugesagt hattest“, fuhr Semir fort und sah dann herausfordernd auf Ben. „MEIN Partner hier dachte, er könnte Mikael überraschen.“
    Joshua lachte laut. „Mikael hasst Überraschungen!“
    „Das habe ich Ben auch gesagt.“
    Joshua zeigte auf das Sofa und die beiden deutschen Kommissare setzten sich und sahen sich um. Sie mussten feststellen, dass auch das Wohnzimmer eher sporadisch eingerichtet war. Das einzige auffällige daran war ein großes Regal, welches mit allerhand Fachbüchern gefüllt war. Nur in einem Regalbrett standen einige DVDs. Der Blonde setzte sich gegenüber von ihnen auf den Sessel. „Und was ist das jetzt für ein Kongress von dem ihr am Telefon erzählt habt?“ Semir seufzte. „Irgendwas mit Zusammenarbeit über die Grenzen. Ich glaube, dass es nicht sehr spannend wird.“ Joshua lächelte. „Sind solche Fortbildungen und Kongresse jemals spannend?“ „Da hast du natürlich Recht“, gestand Semir ein.


    Der junge Finne war inzwischen wieder aufgestanden. „Ich werde dann mal Essen machen. Was wollt ihr trinken? Bier oder Wasser? Wir haben auch noch etwas Orangensaft, meine ich. Mikael ist mit einkaufen dran, aber der ist in so etwas nicht besonders zuverlässig, daher ist schon wieder Ebbe im Kühlschrank.“ „Ein Bier ist okay“, sagte Semir und auch Ben stimmte zu. Der Braunhaarige lehnte sich im Sofa zurück. „Wann kommt Mikael wieder?“, wollte er wissen. „Er hat noch einen Fall reinbekommen. Wahrscheinlich dauert es länger. Er verkriecht sich gerne in der Arbeit seit der Sache mit Kaurismäki. Er will alles richtig machen, glaubt, dass die Mordkommission seine letzte Chance ist.“
    Ben nickte. Er erinnerte sich daran, wie Mikael ihn angerufen und von dieser Stelle berichtet hatte. Nach dem Spießrutenlauf durch die Interne, hatte er schon geglaubt, dass er im Keller vor einem Stapel Akten landen würde, aber dann hatte sich der Chef der Mordkommission für Mikael interessiert. „Kennst du den Chef der Mordkommission?“ Joshua zuckte mit den Schultern. „Was heißt kennen. Ich habe ihn einige Male in der Mensa gesehen, mehr nicht. Gleiches gilt für Mikaels Partner, diesen Heikkinen. Wobei, über ihn erzählt man sich, dass er der Drogenfahndung ohnehin kritisch gegenübersteht. Dann kann er so schlecht ja nicht sein.“ „Hhm, ja vermutlich“, erwiderte Ben leise und verfiel dann wieder in seine Gedanken. Er wünschte Mikael, dass er angekommen war. In einer Dienststelle, die ihm neuen Halt geben konnte, wo sein Vertrauen zu anderen Menschen einen solch dicken Kratzer erhalten hatte.
    Der Jungkommissar sah auf, als Joshua zwei Flaschen Bier auf den Tisch stellte und dann wieder in die Küche verschwand. „Wo hast du einen Flaschenöffner?“, rief Ben in Richtung der Küche und bekam zugleich die Antwort: „In der Schublade unter dem Fernseher.“ Ben stand auf, ging auf die hölzerne Kommode zu und zog sie auf. Sein Blick fiel auf einen Stapel Papier, der, so schien es, eilig hineingelegt worden war. Kurz darauf vernahm er ein Fluchen von Joshua, der dann hastig zurück ins Wohnzimmer kam. „Vielleicht sollte ich besser … “, er stockte, „… du hast sie schon aufgemacht.“ Ben griff nach einem der Zettel und überflog das Papier. Andreas Hansens Name war darauf verzeichnet sowie zwei Figuren aufgemalt. Die etwas größere hielt eine Waffe in der Hand. „Was ist das?“ Er hielt die Zeichnung in Joshuas Richtung und auch Semir konnte sehen, was darauf abgebildet war.


    Joshua nahm den Zettel und legte ihn wieder in die Kommode. „Er war sein Vater. Mikael will nur verstehen.“ „Aha“, murmelte Ben leise und zog unmittelbar darauf den Zettel wieder heraus und sah die Papiere darunter ebenfalls an. „Das sind alles Zeichnungen, du brauchst es dir nicht alles ansehen“, hörte er Joshua hinter sich. Der Braunhaarige schloss die Schublade lauter als es nötig war und blickte seinen finnischen Freund skeptisch an. „Wozu? Sein Vater hat auf ihn geschossen! Was gibt es da zu verstehen?!“ „Das Warum“, erwiderte Joshua. Ben stöhnte. „Wie? Das Warum … warum wohl? Damit er stirbt!“ Der Blonde sah in Bens Augen. „Es frisst ihn auf! Er will unbedingt, dass er ihn nicht töten wollte. Dass sein Vater ihn absichtlich so getroffen hat, dass er es schaffen kann.“ Ben sah an Joshua vorbei auf Semir. Sein Partner mied den Augenkontakt. „Jetzt sag nicht, dass du davon gewusst hast“, entkam es Ben leise. „Er hatte ähnliche Zeichnung im Krankenhaus liegen. Ich habe mir schon gedacht, dass ihn das vielleicht noch immer beschäftigt.“ „Aha.“ Mehr wusste Ben nicht zu erwidern. Er versuchte zu verstehen, wie Mikael noch immer so etwas wie Gefühle für seinen Vater haben konnte, konnte es aber nicht. Immer wenn er an Andreas Hansen dachte, da war da nur Hass und Wut. Dieser Typ wollte immerhin seinen Sohn eiskalt abknallen. Was soll es da zu verstehen geben. „Ben … er war sein Vater und diese Bindung, die ist manchmal schwer zu erklären.“ Semir war inzwischen aufgestanden und hatte seine Hände auf seine Schultern gelegt. „Jaja, ich habe es ja verstanden!“, stieß Ben wütend aus, zog die Schublade wieder auf, griff dann nach dem Flaschenöffner und setzte sich wieder auf das Sofa. Joshua stand noch immer an der Kommode und sah ihn an. „Wolltest du nicht kochen?“, raunte Ben und sah wie sich der Blonde schnell in Bewegung setzte, um seiner schlechten Laune zu entgehen.


    Semir setzte sich neben ihn hin. „Ich habe dir nichts davon erzählt, weil ich dachte, dass Mikael es selbst tun muss. Vor allem, wo ihr euch gerade wieder kennenlernt.“ Ben lehnte seinen Kopf gegen die Sofalehne und sah an die weiße Decke. „Er hat sich so unheimlich verändert. Ich meine, natürlich, er war schon immer still und in sich gekehrt, aber nicht so schlimm. Manchmal da habe ich das Gefühl, als wäre da eine Mauer, die nicht zulässt, dass ich seinem wahren Ich näher komme.“
    „Du bist zu ungeduldig Ben. Er hatte eine schwere Zeit hinter sich.“
    „Aber ich bin doch sein Freund. Man redet doch mit seinen Freunden, oder?“ Ben löste seinen Blick von der Decke und sah nun Semir eindringlich an. „Vielleicht hat er Angst dich damit zu verletzten, also mit der Tatsache, dass er trotz allem noch nach etwas menschlichen in seinem Vater sucht.“
    „Vielleicht“, antwortete der Jüngere leise und richtete seinen Blick wieder an die Decke. Er überlegte, ob er Mikael damit konfrontieren sollte, was er gefunden hatte, oder ob er so tun sollte, ob die letzten Minuten nie passiert waren. Würde er seine Meinung respektieren? Oder würde seine Auffassung über diese Sache wieder einen Keil zwischen ihre Freundschaft treiben?

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  • „Johannes Hautamäki, Busfahrer, 40, keine Kinder, keine Lebensgefährtin. Er wurde erstochen, genauer gesagt zwei Stiche direkt ins Herz.“ Veikko Lindström legte ihnen jeweils eine dünne Akte auf den Tisch. Mikael blätterte darin, ehe der Techniker sie ihm vor der Nase zuklappte. „Was?“, schimpfte er verwirrt. „Da ist noch etwas. Ich habe es unter dem Blut an der Wand gefunden … es war mit Kugelschreiber geschrieben.“ Mikaels Herz begann schneller zu schlagen und eine nervöse Unruhe breitete sich in ihm aus. Veikko schien nach den richtigen Worten zu suchen, sah zu Heikkinen und dann wieder zu ihm. Es stimmte also. Er war mit den Worten an der Wand gemeint gewesen. „Was zur Hölle Veikko! Sag schon!“ Er atmete tief durch. „Was stand da?“, fragte er jetzt etwas leiser, aber weiterhin fordernd. Veikko blickte verlegen auf die Akte. „Ich werde dir etwas nehmen Mikael. Du wirst nie wieder glücklich sein.“


    Nackte Angst überfiel ihn wie ein Donnerschlag. Etwas nehmen, das bedeutete doch, dass es nicht gegen ihn direkt ging, sondern um etwas, was ihm wichtig war oder jemand. Er sah auf die Akte in seiner Hand, die begonnen hatte sich leicht auf und ab zu bewegen, weil er zitterte. Hier war er, der Moment, vor dem jeder Polizist Angst hatte. Rache. Nackte, kalte Rache eines Verbrechers, den man hinter Gitter gebracht hatte. Jemand nahm die Mappe aus seiner Hand, kurz darauf sah er in das Gesicht von Heikkinen. „Wir beide gehen jetzt zum Chef, dann wirst du beurlaubt. Ja?“, sagte er behutsam. Er schüttelte mechanisch den Kopf. „Mikael, sei vernünftig. Das hier musst du nicht tun!“ „Ich werde das nicht zulassen“, sprach er leise, „ich werde nicht zulassen, dass jemand sich an dem vergreift, was ich noch habe.“ Heikkinens kräftigen Hände legten sich auf seine Schultern, drückten sie sanft. „Das kannst du dir nicht antun. Bitte … der beste Ort wäre jetzt eine Schutzwohnung.“ Mikaels Kopfschütteln wurde energischer. „Nein! Ich werde mich nicht verstecken!“ „Mikael, du musst doch einsehen, dass du …“, begann sein Partner erneut, doch er löste sich aus seinem Griff. „Nein! Ein Hansen lässt sich nicht erpressen, von niemanden!“ Antti Heikkinen starrte ihn an. Sein Mund war etwas geöffnet, während Veikko dahinter verkrampft auf den Boden sah. Erst jetzt wurde ihm bewusst, was er so eben gesagt hatte und welchen Namen er benutzt hatte. Er fuhr sich mit seiner zittrigen Hand durch das Gesicht und spürte, wie sich ein dicker Kloß in seinem Hals bildete. Was sollte Heikkinen nun denken, wenn er den Nachnamen seines Vaters verwendete? Er hatte durch seine Unbedachtheit alles zerstört. Nun war seine neue Chance bei der Mordkommission sicher dahin.


    „Ich werde uns Akten zusammensuchen lassen von Leuten, die du hinter Gitter gebracht hast und die wieder frei sind. So viele können es ja nicht sein, es ist ja nicht so, als wärst du schon seit zig Jahren Polizist“, durchbrach Antti Heikkinen nach einer Weile die unangenehme Stille und er nickte bloß, dankbar, dass der Kollege den Raum schnell verließ. Mikael schloss für einen Augenblick die Augen. Er musste sich beruhigen! Er musste seinen aufgewühlten und nervösen Körper in Griff bekommen. „Er verurteilt dich nicht“, ertönte die Stimme von Veikko und er öffnete seine Augen wieder. Der Techniker lehnte an Heikkinens Schreibtisch und lächelte. „Er verurteilt dich nicht“, wiederholte er. „Er sieht dich als Kollegen, wie jeden anderen auch. Heikkinen ist okay. Schmeiß es nicht weg, indem du ihn so behandelst, ja?“ „Wie meinst du das?“, fragte er nach. „Du bist so voller Wut und Kälte ihm gegenüber. Du vertraust ihm nicht, aber du kannst ihm vertrauen.“ Veikko zwinkerte ihm zu und ging dann ebenfalls aus dem Raum. Er war alleine, alleine mit sich und seinen Gedanken. Verurteilte ihn Heikkinen wirklich nicht? Er hatte doch sein Gesicht gesehen. Dieser Unglaube, als er den Namen Hansen gesagt hatte. Diese schnelle Flucht danach. Das waren die Situationen, in denen ihm bewusst wurde, dass er nun gebrandmarkt war. Gekennzeichnet als Hansens Sohn.


    Es hatte 40 Minuten gedauert und Antti Heikkinen war wieder in das Büro getreten. Er hatte einen Stapel Akten in den Armen und legte sie auf seinen Schreibtisch. „Ich würde sagen, jeder nimmt die Hälfte, was hältst du davon?“ Er zuckte mit den Schultern. „Wenn du es für einen fairen Deal hältst.“
    Heikkinen lachte leise. „Nein, du bist einer von diesen Schnell-Lesern. Eigentlich ist es kein wirklich guter Deal für mich.“ Der Ältere gab ihm dennoch nur die Hälfte des Haufens, der aus knapp 40 Akten bestand. „Ich habe übrigens mit dem Chef geredet. Er hat mir die volle Handlungsfreiheit gegeben. Ich entscheide, wann und ob du abgezogen wirst“, informierte der Blonde ihn nach einer Weile und er nickte. „Okay. Verständlich, du bist mein Vorgesetzter.“ Heikkinen zog die Augenbraue hoch. „Das hast du jetzt falsch verstanden. Ich will, dass du weißt, dass wir ein Team sind. Ich trage deine Entscheidung mit, aber ich möchte auch, dass du mir sagst, wenn du aussteigen möchtest aus diesem Fall. So etwas persönliches, jeder kann daran scheitern. Es ist in Ordnung.“

  • Nachdem Joshua sie bekocht hatte, waren Ben und Semir in die Stadt aufgebrochen. Ihre erste Station war die Kongresshalle, wo sie sich für das bevorstehende Seminar angemeldet hatten. Die erste Vorlesung stand bereits in wenigen Stunden an. Die Autobahn-Kommissare nutzten die Zeit, um die Innenstadt zu erkunden, die nur wenige Stationen mit der Straßenbahn entfernt war. Auf der Straße lag eine dünne Schneedecke und es herrschten leichte Minusgrade, so dass sie sich in ihre Jacken kuschelten. „Ich weiß nicht, wie Mikael es hier aushält. Hätte ich die Option, ich würde sofort nach Köln zurück!“, sagte Semir, während er an einem kleinen Geschäft Halt machte und sich Handschuhe ansah. Ausgerechnet die hatte er nämlich in Köln vergessen. Ben lachte. „Er hat Schnee eigentlich schon immer gemocht. Schon als wir Kinder waren … also wenn es denn mal geschneit hat in Köln, dann war er nicht mehr zu halten!“
    Semir hielt ein paar Handschuhe in die Luft. „Was hältst du von diesen hier?“
    Ben zuckte mit den Schultern. „Nimm sie halt, ich will nicht ewig hier stehen und mir den Hintern abfrieren.“
    „Du hast immerhin Handschuhe“, empörte sich der Ältere sofort.
    Ben zog den rechten Mundwinkel nach oben und legte den Kopf schief. „Die hättest du auch, wenn du sie nicht bei deiner bezaubernden Frau vergessen hättest.“
    „Jaja … ist ja gut. Ich mach ja schon!“ Semir verschwand in das Geschäft und kam wenig später wieder heraus. Schnell zog er sich die wärmenden Handschuhe über und lächelte zufrieden. „Schon viel besser!“
    „Und was machen wir jetzt?!“, wollte Ben wissen und sah sich um.
    Semir warf einen prüfenden Blick auf die Uhr. „Jetzt Ben, werden wir zurück fahren und uns einen spannenden Vortag über internationale Verbrechungsbekämpfung anhören müssen!“
    Der Jüngere stöhnte merklich. „Muss das wirklich sein! Vielleicht können wir uns ja irgendwie in die Anwesenheitslisten eintragen und dann gehen wir wieder. Wie klingt das?“
    „Nicht sehr überzeugend!“ Semir blieb stehen und stemmte die Hände in seine Seiten. „Warst nicht du derjenige, der dieses Seminar unbedingt machen wollte?“
    „Weil es in Helsinki war. Wegen Mikael. Den ich jetzt auch gerne begrüßen würde“, wehrte sich der Braunhaarige.
    „Das kannst du ja. Wenn wir mit unserem heutigen Seminarprogramm durch sind. Er ist sicherlich ohnehin noch arbeiten!“


    Inzwischen waren sie bei der Straßenbahn-Haltestelle angekommen und Semir studierte intensiv den Plan. „In ein paar Minuten kommt die Linie, die wir nehmen müssen“, ließ er Ben wissen, der neben ihm ein weiteres Mal laut aufstöhnte. „Das wird sicherlich ein toller Abend! Ich freue mich riesig!“
    „Wie gesagt, du hast dir dieses Seminar ausgesucht. Und nun musst du die Suppe auch auslöffeln.“



    *


    Mikael stöhnte und legte die Akte zur Seite, die er gerade gelesen hatte. Ein Kleindealer, den er vor zwei Jahren verhaftet hatte. Nichts Besonderes und sicherlich der Mann, den sie suchten. Er hatte bei weitem nicht das Kaliber für so etwas. „Ich gehe kurz zum Automaten und hole mir einen Schokoriegel. Willst du auch was?“ Sein älterer Kollege sah kurz auf, schüttelte dann jedoch den Kopf. „Nein, ich werde gleich einen Salat in der Küche essen, aber danke.“ Er nickte und erhob sich von seinem Stuhl, um sich vom dritten Stock runter in das Foyer zu begeben, wo der Süßigkeitenautomat des Präsidiums stand.


    Eine blonde Frau in seinem Alter stand davor und hatte vor wenigen Sekunden begonnen wild auf die Knöpfe zu drücken. „Ist der Automat defekt?“ Sie zuckte zusammen, sah ihn an und lächelte dann unsicher. Eva Järvinen also. Die Tochter des Polizeipräsidenten. Er war mit ihr zur Polizeischule gegangen, hatte ihr bei den Prüfungen geholfen, aber im Grunde hatte sie sich immer zurückgehalten. Manchmal war er sich sicher, dass einige der Mitschüler sie überhaupt nicht registriert hatten, wenn es um Einladungen zu Partys ging. Er auch nicht. Er hatte sie nie auf eine Party eingeladen. „Er hat meine Münze geschluckt, spuckt den Riegel aber nicht aus“, sagte sie jetzt leise und strich mit der rechten Hand über ihren Pferdeschwanz. Er nickte. „Lass es mich mal versuchen.“ Sie trat zur Seite und er stellte sich vor das Gerät. Einige Zentimeter unter den Münzeinwurf schlug er mit der flachen Hand rechts gegen den Automaten. Nur wenig später setzte sich das Gerät in Bewegung und der Schokoriegel landete in der Ausgabeschale. Er griff danach und hielt ihn ihr hin. „Bitte.“ Ihre Augen blieben für einen Augenblick auf seinen Armen hängen und sie betrachtete die Narben, die seine Pulsadern zierten. „Ich glaube dir übrigens, dass du von all dem nichts wusstest.“ Ihre Stimme klang dünn und unsicher. Sie war immer unsicher gewesen. Nie hatte er so etwas wie Stärke in ihrer Stimme vernommen. Vielleicht lag es an ihrem Vater, denn so wirklich glaubte er nicht daran, dass Eva den Weg zur Polizei alleine gewählt hatte. Sie gehörte auch nicht wirklich hierher, fand er, sie war so zart und liebevoll. Er lächelte. „Danke.“ Dann griff sie nach dem Schokoriegel und verschwand eilig in Richtung Aufzug. Sie arbeitete in der internen Ermittlung, vielleicht hatte sie sogar seinen eigenen Fall auf dem Tisch gehabt. Wobei, befragt wurde er immer von ihrem Chef und mit dem hatte er sich nie wirklich gut verstanden. Er war sich sicher, dass er ihn gerne aus dem Polizeidienst haben wollte. Er steckte sein eigenes Eurostück in den Automaten und griff nach dem Riegel, den er sich ausgewählt hatte.


    Er überlegte kurz, steckte dann den Riegel ein und lief Eva hinterher, die vor den Aufzügen stand und wartete. „Hast du vielleicht Lust mit mir irgendwann Mal etwas zu essen?“ Sie sah sich erstaunt um und er merkte, wie sie versuchte so unauffällig wie möglich nach rechts und links zu schauen, ob er nicht vielleicht jemand anderen gemeint hast. „Ich?“ Er zog die Mundwinkel leicht nach oben. „Warum nicht du? Sieh es als ein Dankeschön. Immerhin schauen mich die Meisten hier derzeit eher skeptisch an.“ „Ja … ja ich würde gerne mit dir Essen gehen. Es sei denn du hast damit die Kantine gemeint.“ „In ein paar Tagen?“ Er hielt ihr sein Handy hin. „Wenn du deine Nummer eintippst, dann schreibe ich dir.“ Sie griff danach und tippte ihre Nummer ein, ehe sie es ihm zurückgab. „Bis dann!“ Er steckte sein Handy ein und drückte auf den Knopf des Aufzuges, in den sie anschließend gemeinsam einstiegen, allerdings nun kein Wort mehr sagten. Als er im dritten Stock Halt machte, stieg er aus und wünschte Eva noch einen schönen restlichen Tag.


    Als er den Flur der Mordkommission betrat, war es leise. Die meisten Kollegen waren bereits nach Hause gefahren, immerhin warteten auf sie Familien. Wehmut packte ihn, als er den leeren Gang zu seinem Büro entlang ging. Er hatte in den letzten Jahren vergessen, wie sich das überhaupt anfühlte. Familie. Sein Vater und seine Mutter hatten ihn zurückgelassen als er 17 war. Danach war er in einigen Betreuungsgruppen gewesen, aber das konnte man nicht Familie nennen. Nach der Sache in Köln hatte er nach seiner Mutter gesucht, um dann festzustellen, dass sie bereits sieben Jahre tot war. Sie hatte Krebs gehabt. Sicher, er hatte Joshua. Er war wie eine Art Familie für ihn, aber die Sehnsucht nach einer richtigen, intakten Familie würde das nie stillen. Vielleicht hatte er deshalb Eva eingeladen? Immerhin war es Joshua gewesen, der ihm gesagt hatte, dass er sie einladen solle, auch wenn es noch damals auf der Polizeischule war. Er betrat sein Büro. Es war nicht besonders großzügig eingerichtet. Zwei Schreibtische standen darin, wobei nur derjenige von Antti Heikkinen aufgeräumt war. Auf seinem lagen die Akten und Fälle, die sie zu bearbeiten hatten, wild durcheinander. Es stand eine Zimmerpflanze auf der Fensterbank. Sie gehörte dem älteren Kollegen. Er hatte ihm einmal erzählt, dass sie einem seiner Vorgänger gehört hatte. Er war vor einigen Jahren bei einer Routinekontrolle erschossen worden. Als er auf seinen Schreibtisch zuging, entdeckte er einen Zettel, der aufgeklappt darauf lag. Er vermutete, dass einer der Kollegen ihm etwas aufgeschrieben hatte und griff danach.


    Vielleicht ja sie? Sie ist hübsch. Mikael starrte den Zettel an. Las ihn noch einmal. Las ihn ein drittes Mal. Seine Hände begannen zu zittern. Sein Atem ging schneller und Angst jagte durch seinen Körper. Die Hände zitterten immer heftiger. Er zerknüllte den Zettel in seiner Hand, ließ ihn zu Boden gleiten, hörte wie er mit einem leisen Ploppen aufschlug. Ihm wurde schlecht. Für einen Augenblick fühlte es sich an, als würde er von Schwärze verschlungen werden. Als würden seine Beine den Halt unter sich verlieren. „Mikael?“ Jemand packte seine Schulter. Er zuckte zusammen, drehte sich dann hektisch um. Antti Heikkinen war aus der Küche zurück gekommen, stand vor ihm und musterte ihn kritisch. „Was ist? Du bist blass.“
    „Ich … wer hat das hier reingebracht?“
    „Was?“
    „Den Zettel!“, schrie er. „Diesen verdammten Zettel! Irgendwer war hier! Irgendwer ist in unser Büro …“ Seine Stimme versagte und er schüttelte den Kopf.
    Heikkinen beugte sich herunter, griff nach dem zusammengeknüllten Stück Papier und faltete es auseinander. Es herrschte lange Schweigen. „Wer ist gemeint?“ „Eva, also Järvinen aus der Internen … ich habe gerade mit ihr am Automaten geredet. Verstehst du! Gerade eben … vor nicht einmal 10 Minuten!“ Er zog Heikkinen das Papier aus der Hand und zerriss es. „Ich wollte nur nett sein! Nichts weiter!“ Seine zittrigen Hände lösten sich von den Papierfetzen, die abermals zu Boden fielen. Der Ältere kniete sich herunter und sammelte wiederholt auf, was er am liebsten aus dem Gedächtnis streichen würde. „Wir werden das in die KTU bringen. Wenn es Spuren gibt, wird man sie finden.“ Er legte die Fetzen auf den Tisch und sah ihn dann eindringlich an. „Wir werden ihn bekommen. Wer immer dafür verantwortlich ist, wird nicht davonkommen!“ „Und wenn nicht? Wenn er seine Drohung wahr macht?!“ Mikael hatte Mühe die Tränen zurückzuhalten. Er wollte nicht wieder einen Menschen verlieren. Über die letzten Monate hatte er sich versucht einzureden, dass es seinem Vater nur Recht geschah, dass er erschossen wurde, doch tief in seinem Inneren wusste er, dass es nicht stimmte. Trotz allem hoffte ein kleiner Teil von ihm, das sein Vater ihn absichtlich so getroffen hatte, damit er überleben konnte. Er hatte ihn immer beschützt, er konnte einfach nicht seinen Tod gewollt haben. Oft genug ertappte er sich dabei, wie er seinen Vater noch immer vermisste.
    „Das wird er nicht“, sagte Heikkinen mit bestimmter Stimme und griff dabei nach dem Telefon. „Ich werde jetzt ihre Abteilung verständigen, damit sie Schutz bekommt, danach rufe ich den Chef an und dann Mikael … ich würde es wirklich vorziehen, wenn du für heute nach Hause gehst.“
    Der Jüngere erwiderte nichts. Die Ereignisse der letzten Minuten steckten ihm noch zu sehr in den Knochen, als das er seinem Kollegen widersprechen könnte.

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  • Joshua sah nachdenklich aus dem Fenster. Er versuchte sich daran zu erinnern, ob Antti Heikkinen Mikael in den letzten Monaten jemals nach Hause gebracht hatte. Er musste allerdings feststellen, dass Mikael immer mit dem Bus gekommen war, oder mit dem Fahrrad. Überhaupt, die ganze Situation, die sich vor dem Haus abspielte, passte nicht zusammen. Heikkinen schien besorgt über irgendetwas, sein Freund seltsam distanziert. Er beobachtete, wie sie noch einige Minuten miteinander redeten, ehe Mikael dann in Richtung Haus ging.
    „Was ist los? Was ist das für ein Fall, den du heute bekommen hast?“, fragte Joshua, als sein Freund oben in der Wohnung angekommen war. „Nichts von Bedeutung“, winkte er ab.
    „Ach komm. Du weißt, dass du mir schon lange nichts mehr vormachen kannst.“ Der Schwarzhaarige blieb stumm. „Sag schon“, forderte Joshua abermals. „Wir sind doch Freunde. Wir haben uns immer vertraut!“
    „Es ist so weit“, begann Mikael leise. „Der Tag vor dem wir uns gefürchtet haben, er ist gekommen.“ Joshua verstand sofort. Sie hatten dieses Gespräch immerhin schon öfters geführt, allerdings war es dann eine Was-Wäre-Wenn Situation gewesen. „Wer will Rache?“ Mikael zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht Josh ... wirklich nicht.“ Der Polizist der Mordkommission begann seinem Freund alles zu erzählen, was am heutigen Tag passiert war. „Und kurz nachdem ich dann Eva zum Essen eingeladen habe, war da dieser Zettel auf meinem Schreibtisch. Vielleicht ja sie, stand da drauf“, beendete er den Bericht.
    Der Blonde grinste. „Du hast Eva zum Essen eingeladen?“
    Mikael stöhnte. „Du hast doch gesagt, dass ich es machen soll, deshalb habe ich es gemacht. Aber das ist ja auch nicht der Punkt. Der Punkt ist, dass jemand sich an mir rächen will und dafür andere Menschen opfert. Dieser Tote in der Wohnung, der überhaupt keine Verbindung zu mir hat, Eva …“ Joshua nickte. „Jeder in meiner Nähe ist ein potentielles Opfer, verstehst du? Jeder!“ Mikael ging zum Fenster. Er stemmte den Arm gegen die Scheibe und legte den Kopf darauf. „Ich bringe den Leuten Unglück. Scheiße, warum!“ Joshua musterte seinen Freund, der begonnen hatte leicht zu zittern. Da war sie wieder, die Unsicherheit, die Mikael eigentlich perfekt verstecken konnte. Die Angst, die ab und an aus dem Nichts zupackte und ihn daran zweifeln ließ, ob er jemals sein Leben in den Griff bekam. „Das ist Blödsinn“, antwortete er. „Du bringst überhaupt niemanden Unglück. Niemanden wird etwas passieren. Ihr bekommt dieses Schwein. Habt ihr geschaut, wer aus dem Gefängnis entlassen wurde?“, fragte Joshua.
    „Ja doch … natürlich!“
    „Was ist mit Veikko? Ich meine, er kann doch sicher in seinen Computern irgendwas herausfinden, oder?“
    Mikael lachte leise. „Du weißt, dass es ewig dauert, dafür eine Genehmigung zu bekommen!“
    „Dann muss es eben Ohne gehen.“
    Joshua bekam ein Kopfschütteln als Antwort. „Er hat schon Ärger mit der Internen gehabt deswegen. Er braucht ihn nicht noch einmal. Ich möchte nicht, dass er wegen mir den Job verliert.“
    Der Schwarzhaarige löste sich von der Scheibe, als er zwei bekannte Personen auf dem Bürgersteig wahrnahm. „Kein Wort zu Semir und Ben“, gab er Joshua zu verstehen und sammelte sich dann für einen Augenblick. „Dir ist klar, dass sie es dennoch merken werden?“, erwiderte der Blonde leise und öffnete ihren Freunden aus Deutschland dann die Tür.



    *


    Es war ein netter Abend geworden und sie hatten viel geredet und gelacht. Semir war froh darüber, dass Ben seinen Ärger um die Dokumente zu Andreas Hansen erst einmal verschwieg, auch wenn er weiterhin angefressen war deswegen. Aber nach einigem guten Zureden auf dem Weg von Kongresszentrum hierher, da hatte sein junger Partner verstanden, dass er in dieser Sache versuchen sollte zu verstehen. Auch hoffte Semir, dass Mikael diesen Schritt selbst machte und damit Ben zu verstehen gab, dass er ihm vertraute. Trotz der lockeren Atmosphäre wurde Semir das Gefühl nicht los, dass etwas ganz und gar nicht stimmte. Mikael hatte bisher nur etwas gesagt, wenn man ihn direkt ansprach und knibbelte ansonsten nachdenklich am Etikett seiner Bierflasche. Vor zehn Minuten hatte sein Handy gepiept und seit diesem Moment war er noch stiller geworden, hielt die Flasche in seinen Händen fast krampfhaft fest. „Was ist los?“, setzte er schließlich an. Mikael reagierte nicht. Sah weiterhin auf die Flasche. „Mikael. Ich rede mit dir?“ Sein nun etwas forscherer Ton holte den Schwarzhaarigen zurück aus seiner Welt und er sah ihn fragend an. „Was ist? Was hast du gesagt?“ Semir lächelte. „Ich habe gefragt, was los ist. Du bist schon den ganzen Abend irgendwo, aber nicht hier bei uns.“ „Nichts, es ist nichts. Ich freue mich, dass ihr hier seid. Wirklich.“ Mikael schluckte und senkte seinen Blick wieder. „Du weißt hoffentlich, dass du uns vertrauen kannst“, setzte nun Ben an. „Du konntest uns immer vertrauen.“
    „Das weiß ich.“ Der junge Kommissar presste ein Lächeln heraus. „Es ist alles in Ordnung. Ich bin wohl nur überarbeitet.“
    „Er wird bedroht“, antwortete jetzt Joshua für seinen Freund. Der Satz hing lange im Raum, ohne das einer der deutschen Polizisten die passende Antwort fand. „Von wem? Seit wann?“, fragte Ben.
    Joshua wartete einen Augenblick und als Mikael nicht antwortete, erzählte er ihm von den Vorkommnissen des Tages. „Du musst in eine sichere Wohnung!“, schoss es aus Ben heraus.
    Mikael schüttelte den Kopf. „Hast du zugehört? Er will nicht mir etwas antun! Ich bin überhaupt nicht in Gefahr! Du, du bist es hingegen schon viel mehr!“ Er war hochgeprescht und schmiss Ben sein Handy hin. „Warum musstest du herkommen?! Wieso!“ Ben starrte seinen Freund an. „Ich … Entschuldigung, ich dachte, es wäre eine gute Möglichkeit, dass wir uns besser kennenlernen können“, brachte er mit dünner Stimme heraus, weil er von dem Ausbruch seines Freundes noch immer vollkommen überrascht war.
    „Trotzdem kann man anrufen. Du tauchst hier auf, ohne eine Nachricht und denkst, dass … dass …“ Mikael schnaufte wütend und verschwand dann mit einem lauten Türenknallen in seinem Zimmer. Ben sah mit leicht geöffnetem Mund auf die Tür. Er konnte immer noch nicht so recht glauben, was Mikael gerade gesagt hatte. Er wollte ihn doch nur besser kennenlernen, warum war er nur so unheimlich schwierig? „Er ist nur gestresst, er meint das nicht so“, hörte er neben sich Joshuas Stimme. „Sicher …“, nuschelte er leise.


    Semirs Interesse galt dem Handy. Er hatte das SMS-Postfach geöffnet und die letzte Nachricht gelesen, doch sie war natürlich auf Finnisch. Er hielt das Gerät Joshua hin. „Was steht da drin?“, wollte er wissen. Joshua nahm das Handy entgegen und senkte seinen Blick. „Vielleicht ja dein deutscher Freund, wie hieß er? Ben Jäger … mehr nicht.“ Der Deutschtürke nickte nachdenklich und sah dann auf Ben. Es war kein Wunder, das Mikael so unter Druck war. Irgendjemand spielt mit ihm und seiner Psyche. Plötzlich war jeder in seinem Umfeld potenzielles Opfer. „Ben, ich würde es besser finden, wenn du eine sichere Woh…“
    Sein Partner sah ihn mit großen Augen an. „Was? Kommt überhaupt nicht in Frage! Ich werde mich doch jetzt nicht verkriechen!“
    „Ben wirklich. Die Sache ist ernst und …“
    „Nein! Entschuldigung Semir, aber ich bin Polizist und solange es nichts außer einer SMS gibt, werde ich mich nicht verstecken. Ja?“
    Joshua hob beschwichtigend die Hände. „Jungs. Beruhigt euch wieder! Ich denke auch, dass Ben fürs Erste hier sicher sein dürfte. Wir haben zwei Waffen im Haus, also kommt hier keiner so leicht rein und knallt ihn ab.“
    Ben zog die Augenbraue hoch. „Das hast du jetzt aber liebevoll ausgedrückt.“
    Joshua lachte und hob seine Bierflasche. „Danke für die Blumen.“
    Von Semir war indes ein leises Grummeln zu vernehmen. So ganz war der erfahrende Polizist mit der Meinung der Jüngeren nicht einverstanden, hielt sich fürs Erste aber dennoch im Hintergrund. Dieser Abend war schon zu viel von schlechter Laune durchzogen.


    Es war drei Uhr, als Semir auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer von leisen Schritten aufgeweckt wurde. Er öffnete die Augen und sah, wie Mikael zu der Küchenzeile schlich und sich ein Glas Wasser nahm. Danach verschwand er wieder in sein Zimmer. Das seichte Licht, welches unter der Tür hervorkam, verriet jedoch, dass Mikael nicht schlief. Semir sah kurz auf Ben und erhob sich dann vorsichtig, ohne seinen Partner zu wecken. Dann ging er leise in Richtung des Zimmers und öffnete die Tür geräuschlos. Mikael saß an seinem Schreibtisch und schrieb in einem Notizbuch. Sein Laptop war ebenfalls geöffnet. „Hast du überhaupt geschlafen?“ Der Schwarzhaarige sah sich kurz um, richtete seinen Blick dann jedoch wieder auf seine Unterlagen. „Nein, nicht wirklich. Wie soll ich die Leute um mich herum beschützen, wenn ich nicht weiß, wer das Opfer sein wird?“ Mikael raufte sich durch die Haare. „Ich kann das nicht … ich bin zu schwach. Verstehst du? Schon alleine der Gedanke daran, dass wegen mir ein Mensch ermordet wird … oder eigentlich schon ermordet wurde!“
    Semir nickte und sah auf den Notizblock. Auf einer Seite waren untereinander verschiedene Namen verzeichnet. „Alles Menschen, die du hinter Gittern gebracht hast?“ „Ja, sie sind schon wieder frei … aber ich sehe in keinem davon den potentiellen Täter.“ Mikael griff nach einem Kugelschreiber und ließ in zwischen seinen Fingern kreisen. „Weißt du, ich denke langsam immer mehr, dass es jemand ist, der noch sitzt. Ich weiß durch meinen Vater, dass es nicht besonders schwer ist Informationen von draußen nach drinnen oder andersherum zu bekommen.“ Semir konnte sehen, wie sich in Mikaels Augen eine Traurigkeit ausbreitete. „An wen denkst du?“ Mikael schüttelte den Kopf und ließ den Stift sinken. „Es gibt nur eine Person, der ich es zutrauen würde.“
    Der deutsche Kommissar sah unweigerlich auf die tiefen Naben an den Handgelenken des jungen Kollegen. „Kaurismäki?“ Der Schwarzhaarige schluckte schwer. „Damals, bei der Gerichtsverhandlung … wie er mich angesehen hat. Als wäre er noch nicht fertig. Er ist es Semir! Ich bin mir inzwischen sicher! Was mache ich denn jetzt? Wie finde ich den Mann, den er beauftragt hat?“ Der Finne fuhr sich mit seinen Händen erneut durch die Haare. Seine Atmung begann hektischer zu werden. „Wie beschütze ich die Leute um mich herum? … Wie!“
    „Mikael!“ Semir griff nach den Schultern des Schwarzhaarigen. Er hielt in seiner Bewegung inne und sah ihn an. „Du musst dich beruhigen. Wir werden es herausfinden, du bist ein guter Polizist. Du wirst es herausfinden!“


    Mikael nickte seicht und schloss für einen Moment die Augen. Dann öffnete er die Schublade seines Schreibtisches und holte eine Pistole heraus. Anschließend drückte er sie Semir in die Hand. „Bitte … bitte lass nicht zu, dass er Ben etwas antun kann!“ Semir umschloss die Waffe fest mit seinen Fingern. „Natürlich. Ich werde Ben nicht aus den Augen lassen.“

  • Als Ben am nächsten Morgen aufwachte, war Mikael bereits verschwunden. „Er ist ins Präsidium. Es gibt einen Hinweis“, erklärte ihm Semir, als er in die Küche trat. „Was für einen Hinweis?“, fragte er nach und rieb sich den Schlaf aus den Augen. „Er glaubt, dass Harri Kaurismäki der Drahtzieher ist.“ Ben brauchte einen Augenblick, ehe das Gesagte zu ihm durchgedrungen war. „Sein ehemaliger Chef?“ Der Braunhaarige setzte sich auf einen der Stühle und fuhr sich mit der Hand über das Gesicht. „Warum sollte er sich rächen wollen?“ Semir zuckte mit den Schultern. „Wer weiß, was in einem Menschen, wie dem vorgeht.“ Ben goss sich Kaffee ein und hielt die warme Tasse mit seinen Händen fest umschlossen. „Und jetzt? Was hat er vor?“
    „Er wird mit seinem neuen Kollegen ins Gefängnis fahren, Kaurismäki etwas ausquetschen.“
    „Und das wird helfen? Ich bin mir da nicht so sicher.“
    Ben seufzte und nahm einen Schluck von seinem heißen Getränk. Als sein Blick auf die Küchenuhr fiel, wurde er nervös. „Scheiße, wir sollten schon lange bei dem ersten Vortag sein!“ Er wollte aufstehen, doch Semir umgriff sein Handgelenk und er setzte sich wieder. Ben zog die rechte Augenbraue leicht nach oben. „Was? Du bist doch derjenige, der immer Pünktlichkeit predigt.“
    „Ich würde es vorziehen, wenn du hier in dieser Wohnung bleibst. Da draußen ist immerhin ein unbekannter Mann, der es auf dich abgesehen hat. Ich will nichts riskieren. Das habe ich auch schon mit der Chefin besprochen.“
    „Du sperrst mich hier ein? Wirklich das ist total unnötig!“, schimpfte Ben leise. Er konnte sich besseres vorstellen, als den ganzen Tag hier herumzusitzen. „Und wenn Kaurismäki nicht zugibt, dass er es ist? Was dann? Muss ich dann für ewig hier, in dieser Wohnung bleiben?“
    „Vielleicht“, mischte sich eine dritte Stimme ein und er sah sich um. Joshua stand im Türrahmen und hob zur Begrüßung leicht die Hand. „Du machst da auch noch mit, oder was?“, fragte Ben in die Richtung des Finnen.
    „Die SMS war doch deutlich, Ben. Deshalb solltest du wirklich hierbleiben.“
    Der junge Kommissar musterte sein Gegenüber kritisch. „Und du nicht? Warum hast du deine Dienstkleidung an?“
    „Weil ich Post austragen gehe, wie jeden Tag“, erwiderte Joshua. „Denn ich wurde in der Droh-SMS nicht erwähnt. Vielleicht denkt Kaurismäki ja, dass wir noch immer verkracht sind. Darüber hat er sich zumindest bei der Gerichtsverhandlung köstlich amüsiert.“ Der Blick des Finnen fiel kurz auf die Uhr. „Und jetzt muss ich auch, ich möchte keinen Ärger mit meinem Chef bekommen!“




    *


    Antti Heikkinen sah seinen jungen Partner eindringlich an, nachdem sie ihre Wertgegenstände und Waffen an der Pforte abgegeben hatten. „Ich möchte, dass du mich die Befragung übernehmen lässt. Vertraust du mir?“ Mikael verschränkte die Arme vor seiner Brust. „Du denkst, dass ich das nicht schaffe oder was Antti?“ Der Blonde lächelte sanft, als ihm bewusst wurde, dass Mikael ihm gerade indirekt geantwortet hatte, dass er ihm vertraute. Nie hatte er ihn in den letzten Monaten mit Vornamen angesprochen, fast so, als könne er dadurch die Distanz wahren. „Ich glaube, dass es besser ist, wenn ich es mache. Du bist persönlich involviert und ich möchte nicht, dass du morgen schon wieder bei der Inneren vorsprechen musst.“ Er bekam ein Schnaufen als Antwort. „Jaja, ist ja gut. Ich werde dich die Befragung leiten lassen.“


    Harri Kaurismäki lächelte sie an, als sie durch die Tür in den kleinen Befragungsraum des Gefängnisses traten. „Antti, Mikael … womit habe ich einen so hohen Besuch verdient?“ Er bettete die Hände auf den Tisch und faltete sie ineinander. „Der Typ, der mir nie getraut hat und mein treustes Hündchen. Ironisch nicht?“
    Antti Heikkinen ließ sich durch die Provokationen nicht aus der Ruhe bringen und setzte sich hin. Im Augenwinkel sah er, wie Mikael seine Hände zu Fäusten ballte. Er griff nach dessen Arm und drückte ihn sanft auf einen der Stühle. Danach schaltete er das Diktiergerät ein, welches er mitgebracht hatte.


    „Befragung mit Herr Kaurismäki“, begann er, wurde jedoch sofort unterbrochen. „Ach Komm, wir waren doch schon beim Du.“ „Nun nicht mehr“, entgegnete der Hauptkommissar der Mordkommission und fuhr dann unbeirrt fort: „Befragung mit Herrn Kaurismäki betreffend der Mordermittlungen im Fall Hautamäki.“
    Kaurismäki sah Mikael an. „Du hast etwas länger gebraucht, als ich geglaubt habe, um es herauszufinden. Was hat dich aufgehalten? Oder war am Ende das Lob auf dich höher, als das was du tatsächlich leistest?“
    „Sie geben also zu, dass Sie an den Mordanschlag auf Herrn Hautamäki beteiligt sind?“, schritt Antti Heikkinen ein.
    Kaurismäki lehnte sich in seinem Stuhl zurück und sein Mund verzog sich zu seinem spöttischen Lächeln. „Füge den Fall Joshua Lehto hinzu!“ Kein Laut war zu vernehmen, man hätte eine Stecknadel fallen hören. Die beängstigende Stille dauerte an, bis schließlich Mikael von seinem Stuhl hochfuhr, Harri Kaurismäki auf die Füße zog und ihn gegen die Wand schleuderte. „Was meinst du damit! Sag schon!“, schrie er.
    „Abwarten Mikael! Du wirst es schon noch erfahren!“, antwortete ihm Kaurismäki unbeeindruckt.
    Bedrohlich hob Mikael seine Faust. „Was hast du gemeint! Wenn du Joshua nur ein Haar krümmst, dann bringe ich dich um!“ Antti Heikkinen packte seinen Kollegen von hinten, wollte ihn von Harri Kaurismäki wegziehen, doch Mikael entwickelte ungeahnte Kräfte und hatte sich bereits wieder losgerissen. Mikaels Faust knallte mitten in Kaurismäkis Gesicht, von seiner aufgeplatzten Lippe rann Blut über sein Kinn. Sein Hinterkopf knallte gegen die Wand. Und doch lächelte er. „Merkst du es schon?! Die Verzweiflung!“ Mikael griff nach Kaurismäkis Oberteil und drückte ihn wieder gegen das Gemäuer des Raumes. Seine Hände legten sich um den Hals seines ehemaligen Vorgesetzen und er drückte zu.
    „Sag schon!“
    „So ist es also, wenn du handelst, wie es ein Hansen gelernt hat!?“, presste sein Gegenüber hervor.
    „Du willst nicht wissen, wie es ist, wenn ich wie ein Hansen handle!“, schrie der junge Kommissar wütend und verstärkte seinen Druck ein weiteres Mal. „Was hast du vor! Sag es!“
    „Mikael!“ Antti Heikkinen zog seinen jungen Kollegen erneut von Kaurismäki weg. „Lass mich zur Hölle!“ Er wollte erneut auf seinen ehemaligen Chef zustürmen, doch diesmal kam ihm Heikkinen zuvor.
    Der Blonde presste seinen Arm quer über Kaurismäkis Brustkorb. „Das ist eine Warnung. Du kennst mich, du weißt, dass ich diesen verdammten Polizeijob nicht brauche, um über die Runden zu kommen. Wenn es sein muss, werde ich das erledigen, was Mikael ohne zu zögern in diesem Augenblick machen würde. Du wirst uns jetzt sagen, was mit Lehto ist!“
    Kaurismäki lachte. „Ist er dir schon so ans Herz gewachsen der Kleine? Weiß Mikael, dass dir die Partner traditionell wegsterben?“ Antti Heikkinens Druck verstärkte sich und er sah, wie Kaurismäki nach Luft schnappte. „Ich … sage dir nichts Antti!“, keuchte er hervor.
    Der stämmige Finne verstärkte seinen Druck abermals. „Was hast du vor!“ Kaurismäkis Blick fiel auf die Uhr um Heikkinens Handgelenk. „Ihr werdet zu spät kommen … bis ihr da seit, ist er schon tot!“
    „WOHIN ZU SPÄT!“, schrie Antti wütend und nun rückte Kaurismäki mit einer Andresse raus. Der erfahrene Kommissar ließ den Mann vor sich los und drehte sich zu Mikael um. Er stand einfach nur da, bewegungslos. Starr vor Angst um seinen Freund. Antti holte tief Luft und griff dann nach Mikaels Arm, um ihn mitzuziehen. „Sind deine deutschen Freunde noch da?“, wollte er wissen, als sie die Zelle verlassen hatten und er ihn, wie einen Roboter in Richtung Auto steuerte. Ihm war klar, dass Kaurismäki ihm nur die Informationen gegeben hatte, weil er sicher war, dass sie es nicht rechtzeitig schaffen würden, aber vielleicht hatten die deutschen Kollegen eine Chance. Mikael nickte leicht. „Gut. Ruf sie an, jetzt sofort! Es ist in der Nähe von eurer Wohnung, sie können Joshua sicher schneller erreichen.“ Der junge Kollege rührte sich nicht, gab keine Anzeichen, dass er seiner Aufforderung nachkommen würde. „Mikael! Jetzt sofort!“, sagte er harsch und nun kam Leben in den Schwarzhaarigen. Mikael zog sein Handy heraus und hielt es an sein Ohr.

  • Ben ließ das Handy sinken und sah Semir an. „Was ist? Was war das für ein Anruf?“, wollte dieser wissen. „Kaurismäki hat den Mord an Joshua gestanden … er sagt, dass er sterben wird. Dass Mikael ihn nicht rechtzeitig erreichen würde.“ Bens Stimme zitterte und der Braunhaarige spürte, wie sich sein Magen zusammenzog. Joshua war vor nicht weniger als zwei Stunden noch bei ihnen gewesen. Er hatte hier gesessen. „Semir … wir müssen ihn finden. Der Ort, den Kaurismäki genannt hat … der ist hier ganz in der Nähe!“ Semir nickte, griff nach der Waffe und sie rannten los.


    Sie rannten die Straße entlang, bogen nach einigen Häusern rechts und nahmen dann die Treppen, wie Mikael es Ben am Telefon mit zittriger und leiser Stimme erklärt hatte. Sie mussten langsamer werden. Die Treppenstufen waren von dem Schnee glatt und rutschig. Dann einige Meter weiter, links durch eine Gasse und sie kamen an einem kleinen Park an, an dem Joshuas Route vorbeiführte. Bens Augen rissen weit offen, als er erkannte, dass sie zu spät waren. Ein Mann, Mitte 30 mit schwarzem, nach hinten gegeltem Haar und einem langen schwarzen Wintermantel richtete eine Waffe auf Joshua, der seine Hände leicht gehoben hatte, allerdings vollkommen wehrlos war.
    „Put the gun down!“, schrie Ben, während Semir die Waffe hob.
    Der Unbekannte umgriff seine Pistole fester, der Finger näherte sich dem Abzug. „It's too late!“ Ben sah auf Joshua und mit starrem Blick auf den Mann vor ihm sah. „No, it's not. Let's talk about this...” „There's nothing left to talk about!“ Der Mann atmete tief durch und sein Zeigefinger drückte den Abzug durch. Ein Schuss löste sich und eine einzelne Kugel raste auf Joshua zu, der nicht der Hauch einer Chance hatte. Fast zeitgleich feuerte auch Semirs Pistole die Kugel los, doch diese traf den unbekannten Mann zu spät. Mit Entsetzen nahm der erfahrene Polizist wahr, wie die Kugel Joshua genau in die Brust traf. Der Blonde riss die Augen weit auf und fiel auf die Knie. Ben war sofort bei ihm, ließ ihn sanft rücklings auf den Boden gleiten. Der Schmerz stand ihm ins Gesicht geschrieben und Joshua griff nach Bens Hand und drückte sie fest. Blut quoll aus der Wunde in seiner Brust. Seine Atmung ging nur noch stockend und flach.
    „Kümmer dich um Mik … ael, ja? Bit ... te“, presste er leise heraus.
    „Du wirst nicht sterben, hörst du!“, erwiderte Ben verzweifelt. Joshua sagte nichts, bewegte sich nicht. Ben wollte ihn schlagen, ihn anschreien, damit er versprach, nicht zu sterben.
    „Versprich es … mir“, wiederholte Joshua leise und undeutlich, während ihm ein Faden Blut aus dem Mundwinkel rann. Ben spürte, wie der Druck um seine Hand schwächer wurde und der Hauptkommissar merkte, wie ihn die Angst immer mehr die Luft zum Atem zu nehmen schien.
    Er nickte. „Ja … ich werde auf ihn aufpassen“, sagte er leise mit zittriger Stimme. Joshua lächelte. Dann fiel sein Kopf zurück, seine Augen schlossen sich und sein Atem verstummte. Er war tot. Hilflos rannen die Tränen über Bens Gesicht. „Wir waren nicht schnell genug!“, brachte er leise hervor. Ben spürte Semirs Händedruck auf seiner Schulter. „Du kannst nichts dafür, Ben.“ Der Braunhaarige löste seine Hände von dem leblosen Körper und erhob sich langsam. „Was ist mit dem Typen? Ist er …“ „ … er ist tot“, führte Semir seinen Satz fort und sah zu dem Mann herüber, den er vor nicht einmal einer Minute erschossen hatte. Die Kugel hatte ihn mitten ins Herz getroffen.


    Ben sah wie hypnotisiert auf die Leiche von Joshua. Der Blutfleck auf dessen Brust breitete sich aus, gleichzeitig färbte sich der Schnee unter ihm rot. Ihm wurde übel und er fühlte sich, als würde ihm die Luft abgeschnürt. Sie hatten Joshua nicht retten können. Sie waren nur wenige Minuten zu spät gekommen, um den Menschen zu schützen, der Mikael alles bedeutete. Sie hatten sich durch die Botschaften von Kaurismäki in die Irre führen lassen und geglaubt, dass Joshua niemals in Gefahr war, obwohl er sicherlich die ganze Zeit das Ziel war. Ben wusste nicht, was derzeit überwog. Die Schuld, die Wut oder die Trauer.


    Erst als sich jemand neben ihm in den Schnee fallen ließ, war Ben wieder im Hier und Jetzt angekommen. Mikael beugte sich über Joshua und versuchte verzweifelt ihm wieder Leben einzuhauchen. Immer und immer wieder wiederholte er die Wiederbelebungsmaßnahmen, dabei musste er doch verstehen, dass es zu spät war. Joshua war schon lange tot. Er konnte nicht mehr gerettet werden. Er griff nach Mikaels Arm und zog ihn seicht weg. „Er ist tot, bitte lass das!“, forderte er, doch Mikael riss sich von ihm los und begann die Prozedur von neuem. Immer wieder hauchte er Joshua Luft ein und wurde mit jedem Mal verzweifelter. „Bitte, stirb nicht!“, hörte Ben seinen Freund leise flüstern. „Du hast versprochen, dass wir immer Freunde bleiben … dass uns nichts trennen kann!“


    Irgendwann schien Mikael zu verstehen. Der Schwarzhaarige begann zu weinen und drückte Joshua an sich. Antti Heikkinen griff sanft nach Mikaels Arm, doch er wollte ihn nicht loslassen. Unter keinen Umständen. Erst als Semir dem Kollegen von Mikael half, schafften sie es ihn von der Leiche zu lösen. „Lass mich Antti! Ich will zu Joshua!“ Mikael wollte sich losreißen, doch der großgewachsene blonde Mann drückte ihn an sich, versuchte ihn zu beruhigen, indem er ihm mit der Hand über die Haare strich. Er sah Semir und Ben an, entschied dann aber Semir anzusprechen. „Ich gebe Ihnen mein Handy. Rufen Sie bitte meinen Chef Ville Rautianen an, ja? Er spricht kein perfektes Deutsch, aber er wird Sie verstehen.“ Semir nickte und griff nach dem Handy, welches ihm der Mann entgegenhielt. Kurz darauf wählte er die besagte Nummer und erklärte in wenigen Worten, was vorgefallen war. „Sie werden in ein paar Minuten hier sein.“ Der Mann nickte. „Könnt ihr ihn hier wegbringen? Nach Hause?“
    „Natürlich“, antwortete Semir.
    Der Blick des blonden Kommissars blieb für einen Augenblick auf Semirs Waffe haften. „Und die lassen Sie hier“, sagte er mit bestimmter Stimme.
    Semir nickte und reichte ihm die Waffe, die er in den Hosenbund steckte, mit der Vorahnung, dass er sich durch seinen Schuss vielleicht noch viel Ärger einhandeln könnte.
    Antti Heikkinen löste Mikael leicht von sich und blickte in das bleiche Gesicht seines Partners. „Deine Freunde werden dich nach Hause bringen, ja? Ich komme später.“ „Ich will nicht! Ich will hier bleiben … bei Josh!“, flüsterte Mikael leise und verzweifelt. Neue Tränen fanden ihren Weg und er begann immer stärker zu zittern. „Bitte Mikael, es ist besser so.“ Heikkinen sah Semir an und dieser verstand. Er packte sanft nach Mikaels rechter Schulter und zog ihn mit sich in Richtung der Wohnung, während Ben einige Meter dahinter stumm folgte, ebenfalls sichtlich geschockt von den letzten Minuten.

  • Semir schüttete heißes Wasser in zwei Tassen, in die er kurz zuvor Teebeutel gehangen hatte. Sein Blick fiel durch die offene Tür auf den jungen Kollegen. Mikael saß auf dem Sofa, hatte die Beine an seinen Körper angewinkelt und sah ins Nichts. Er konnte sich vorstellen, wie es in ihm aussah. Der Tod war in den letzten Jahren auch für ihn ein ständiger Begleiter gewesen. Semir selbst war von der Sache noch total aufgewühlt. Joshua war ein guter Kollege gewesen. Ein junger Mann, der alles noch vor sich hatte. Er fragte sich, ob er es hätte ändern können, kam aber zu dem Schluss, dass es wohl unausweichlich gewesen war. Ben und er hatten richtig gehandelt. Vielleicht hätte er sofort auf den Unbekannten schießen sollen, aber erste Pflicht war nun einmal die Deeskalation und dazu war er jetzt auch niemand von denen, die gerne auf andere Menschen schossen.


    Er atmete tief durch und griff nach den Tassen, um wieder ins Wohnzimmer zu gehen. „Hier. Ich habe Tee gemacht.“ Semir lächelte und hielt Mikael eine Tasse hin. Dieser sah auf und nickte, nahm die Tasse jedoch nicht entgegen, woraufhin er sie auf den Tisch stellte. Er setzte sich auf das Sofa.
    Mikael senkte den Kopf wieder. Danach herrschte eine fast erdrückende Stille.
    „Willst du darüber reden?“ Er bekam ein Kopfschütteln als Antwort. Mikael zog die Knie enger an seinen Körper. „Du und Joshua ihr wart gute Freunde nicht wahr?“ Wieder erhielt er keine Antwort. Im Grunde war sie auch überflüssig. Er wusste, von dem gemeinsamen Fall in Deutschland, wie tief die Freundschaft gewesen war. Für ihn war es sofort erkennbar gewesen, dass sie sich blind verstanden hatten. „Wie lange kennt ihr euch schon?“, setzte er nach einer Weile an. „Spielt das eine Rolle?“ Mikael hatte ihn für einen kurzen Augenblick angesehen, sah dann aber wieder weg. „Ich weiß nicht. Ich will nur verstehen.“ Semir rührte in seiner Tasse und folgte Mikaels Blick ins Nichts, als könnte die weiße Wand vor ihnen auch ihm seine Antworten liefern, die er so dringend haben wollte.
    „Machst du dir Vorwürfe?“
    „Er ist tot, weil Kaurismäki Rache wollte – an mir! Natürlich mache ich mir Vorwürfe! Joshua könnte noch leben“, schrie Mikael wütend, doch dann versagte seine Stimme und er begann zu weinen. „Verstehst du? Er … er könnte noch leben. Ich … ich will doch nicht alleine sein!“ Aus einem väterlichen Reflex der Fürsorge zog Semir den jungen Kollegen an sich. „Du bist nicht alleine! Denke sowas nie! Joshua hätte nicht gewollt, dass du dir Schuld gibst.“



    *


    Ben stand vor dem Waschbecken. Seine Hände hielt er immer noch unter dem kalten Wasserstrahl, obwohl das ganze Blut bereits lange Zeit abgewaschen war. Er ist tot. Joshua ist tot, dachte er und sah sich im Spiegel an. Erst jetzt sah er, dass auch an seiner Wange etwas Blut klebte. Er hob seine Hand und wischte es ab, betrachte anschließend das rote Blut auf seinen Fingern. Er dachte an nichts. Er fühle sich hilflos der Situation ausgeliefert. Er kannte Joshua erst kurz, aber dennoch war er ihm schnell ans Herz gewachsen und nun, nun war er tot. Erschossen, weil jemand Rache an Mikael wollte. Ben schluckte und hielt die blutverschmierte Hand wieder unter das Wasser. Das würde ihn zerstören. Mikael würde sich und nur sich an all dem die Schuld geben. Seine Hände begannen zu zittern und er bekam Panik. Angst, dass er sein Versprechen nicht halten konnte. Wenn Joshua mit Mikael redete, dann war da Vertrautheit. Wie sollte er das ersetzen? Mikael tat sich doch so schwer, sich ihm zu öffnen. Er war doch Kilometer von seinem Freund entfernt, niemals könnte er die Rolle von Joshua einnehmen. Niemals konnte er diesen Platz füllen und auf Mikael aufpassen. Er drehte den Wasserhahn zu und setzte sich auf den Rand der Badewanne. Er atmete einige Male tief durch, versuchte sich und seinen aufgewühlten Körper zu beruhigen, doch es gelang ihm nicht. Joshua war in seinen Armen gestorben, er hatte ihn nicht retten können. Vielleicht hätte es etwas geändert, wenn sie nur etwas schneller gelaufen wären, wenn es ihn nicht gekümmert hätte, ob er auf dieser Treppe ausrutschte? Ben sah auf seine zitternden Hände. Die Situation, wie Mikael vor Joshua gekniet hatte, verzweifelt versucht hatte, ihn wiederzubeleben, hatte sich auf ewig in seinem Gehirn eingebrannt und er fragte sich, wie viel Leid ein einzelner Mensch wohl ertragen konnte. Die Sache mit seiner Dienstelle, sein Vater und nun das hier. Konnte Mikael das alles wirklich hinter sich lassen? Würde er jemals vergessen können?


    Er schloss für einen Moment die Augen und erhob sich dann, um das Badezimmer zu verlassen. Semir saß mit Mikael auf dem Sofa und hatte den Schwarzhaarigen, der leise schluchzte, an sich gedrückt. Ben wünschte, dass ihm etwas einfallen würde, was er sagen könnte, um alles etwas erträglicher zu machen, doch ihm fiel nichts ein. Also setzte er sich einfach auf den Sessel und schwieg, während er Mikael beobachtete. Wenn seine harten Gesichtszüge verschwunden waren, wirkte er viel jünger. Er wirkte so zerbrechlich. So verwundbar. All diese Kühle, die seinen Freund manchmal umgab, war verschwunden. Die letzten 24 Stunden hatten alles geändert.

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  • Als es an der Tür klingelte, öffnete Semir. Der Kollege von Mikael trat herein und stellte sich ihm als Antti Heikkinen vor. „Wie geht es ihm?“, fragte er und sah an ihm vorbei in Richtung Wohnzimmer. „Nicht sehr gut.“
    „Verständlich. Diese Sache … furchtbar.“
    Semir nickte. Er wusste nicht, was er darauf erwidern sollte. Es stimmte, diese Sache war unbegreiflich. „Wollen wir auf den Balkon?“, drang das brüchige Deutsch von Heikkinen zu ihm durch. Semir warf einen Blick auf Mikael und Ben. Sie saßen stumm auf dem Sofa, beide in ihren eigenen Gedanken vertieft. „Ja“, antwortete er nach einer Weile und wies dem Mann den Weg.


    Als sie die Glastür hinter sich geschlossen haben, platzierte sich Heikkinen an dem Geländer und sah über die Wohnsiedlung. Es war inzwischen Dunkel geworden. „Was die Notwehr angeht. Ich habe gesagt, dass ich geschossen habe. Es würde sonst alles noch komplizierter machen.“
    Semir nickte. Vermutlich hatte der Kollege Recht. Ben und er hatten keine Befugnis hier in Finnland eine Waffe zu tragen. Dafür hätte es eine Genehmigung gebraucht. „Man wird sicherlich nicht viele Fragen stellen“, setzte Antti Heikkinen fort. Der Blonde trommelte mit den Fingern auf dem Geländer des Balkons. Er drehte sich zu Semir. „Im Grunde haben wir alles. Den Auftraggeber, den Mörder.“
    „Wie wollen Sie erklären, dass es nicht Ihre Dienstwaffe ist, mit der Sie geschossen haben?“
    Der Blonde Mann, hob seine Anzugjacke ein Stück und zeigte auf das leere Pistolen-Holster. „Ich habe meine vergessen, Mikael hat mir seine Private überlassen.“
    „Sie wissen, dass Sie das nicht tun müssen“, gab Semir zu bedenken. Denn sollte diese Sache bei den Ermittlungen herauskommen, dann würde es sicherlich das Ende der Karriere für den ihm noch unbekannten Kommissar bedeuten.
    „Natürlich, aber es ist die einfachste Lösung. Für mich spielt es keine Rolle, ob Sie geschossen haben, oder ich. Für dieses manchmal verkorkste Justizsystem allerdings schon. Machen Sie sich keine Sorgen. Niemand wird etwas nachprüfen.“
    Heikkinen seufzte und drehte sich jetzt in Richtung Haus. Semir folgte seinen Blick, der auf Ben und Mikael haften blieb. „Was für ein Scheißfall. Einer der beschissensten in meiner ganzen Karriere! Der Schütze, er war einer von uns. Ein Streifenpolizist, der mit Kaurismäki früher einmal im Monat Karten gespielt hat“, stieß Heikkinen wütend aus.
    „Das kann man wohl so sagen!“
    „Mikael. Er tut mir unendlich leid. Er hat das alles nicht verdient. Er hatte es auch so schon schwer genug. Nach diesem Hansen/Kaurismäki-Fall. Sie glauben ja nicht, wie es danach im Präsidium zuging. Die reinsten Klatschweiber! Jeder wusste es besser, als der andere!“ Anttis Hand verkrampfte sich um das Geländer, so fest, dass seine Knöchel bereits weiß wurden. „Und jetzt das hier? Wie soll er jemals ankommen?“
    Der Mann neben ihm, sprach aus, was Semir dachte. Mikael gab zwar vor, dass er es mit allem und jedem aufnehmen konnte, doch in Wirklichkeit war er sensibel und hatte Angst zu versagen. Das es nun mit Joshua ausgerechnet seinen besten Freund traf, seine einzige wirkliche Vertrauensperson, und das auch noch, weil Harri Kaurismäki nur Mikael bestrafen wollte, war unbegreiflich und würde Mikael sicherlich noch lange beschäftigen. Dass der Schwarzhaarige nicht loslassen konnte, dafür sprachen immerhin die ganzen Zeichnungen und Ermittlungen zu seinem Vater.
    Allerdings würde dieser Tag sicherlich auch Ben eine Weile nachhängen. Sein Partner vor noch jung und hatte mit schwierigen persönlichen Fällen noch nicht die Erfahrung. Er selbst spürte zwar, wie ihm die Sache nahe ging, doch er hatte mit der Zeit gelernt solche Dinge zu verdrängen. Er wusste, dass wenn er bald wieder bei Andrea und Ayda war, dass ihre Heiterkeit all diese depressiven und dunklen Gedanken vertreiben würde. Bei ihm überwiegten dann die Fakten und die waren nun einmal, dass sie nichts hätten ändern können. Kaurismäki hatte mit ihnen gespielt. Er hatte ihnen erst offenbart, wo Joshua sterben würde, als es schon zu spät war. Sie hätten ihn nicht retten können, so sehr Semir es sich auch wünschte.


    Heikkinen seufzte neben ihm laut. „Ich denke, ich muss jetzt zurück ins Präsidium. Ich muss noch zur Technik und dann erwartet mich der Chef … vermutlich auch der Polizeipräsident. Diese Sache ist immerhin sehr brisant“, sagte er und löste sich von dem Geländer und ging wieder in die Wohnung. Er redete kurz mit Mikael auf Finnisch, ehe er sich dann bei Semir und Ben verabschiedete.
    Semir trat wieder auf den Balkon und sah Antti Heikkinen hinterher. Dieser Mann half ihm, obwohl er ihn nicht kannte, aus dem einfachen Grund, weil er Mikaels Freund war und das rechnete er ihm hoch an. Es stand ohne Frage, dass unangenehme Befragungen auf Heikkinen warteten. So leicht, wie er es ihm erklärte, würde es nicht werden.

  • Mikael wachte auf und sah auf die Uhr. Es war kurz vor fünf. Er hatte 30 Minuten geschlafen. Er sah in die Dunkelheit. Joshua ist tot, dachte er. Das alles in den letzten Stunden war nicht nur ein böser Traum. Joshua war tot, das hier war die Wirklichkeit. Der eine Gedanke füllte sein ganzes Bewusstsein aus. Er dachte an nichts. Da waren nur diese drei Worte in seinem Kopf. Sein Freund würde nicht zurückkehren und Kaurismäki hatte erreicht, was er gewollt hatte. Ihm genommen, was sein Anker war. Er fühlte nur Leere, die ihn zu leblosen Materie hatte werden lassen. Er fühlte nichts, dachte nichts. Da war nur dieser eine Gedanke. Joshua ist tot.
    Die roten Digitalziffern auf seinem Wecker zeigten 05:10 Uhr. Wie in Trance beobachtete er den Wechsel der Ziffern. Als sie auf 06:00 Uhr sprangen, stand er auf und ging in die Küche. Er
    öffnete die Tür vom Kühlschrank, ließ sie aber gleich darauf wieder zu fallen. Anschließend öffnete er den Schrank über der Spüle und holte ein Glas hervor. Er füllte es mit Leitungswasser und trank es in einem Zug leer. Dann ging er zurück in sein Zimmer und zog sich an. Semir wälzte sich auf dem Sofa unruhig hin und her, aber schien ihn dennoch nicht zu bemerken. Zuletzt griff er im Flur nach seinen Schuhen, schlich aus der Tür der kleinen Wohnung und ging die Treppe hinunter nach draußen.


    Es war kalt. Sein Atem bildete kleine Wölkchen, die eine Weile in der Luft standen, bis sie sich auflösten. Er spürte, wie die Kälte von seinem Körper besitzt ergriff. Er atmete langsam durch und sog die kalte Luft in seine Lungen. Er wiederholte diese Prozedur einige Male, bis das Organ von der schneidenden Luft schmerzte. Mikael setzte sich langsam in Bewegung, ohne ein wirkliches Ziel vor Augen zu haben. Er musste feststellen, dass sich seine Ziele mit dem Tod von Joshua in Luft aufgelöst hatten. Nichts schien mehr eine Bedeutung zu haben. Wie sollte er endlich glücklich werden, eine Familie finden, wenn es nun ohne Joshua geschehen musste? Sie hatten sich versprochen, dass sie nichts trennen konnte. Es war eine Lüge gewesen. Etwas hatte sie getrennt. Ein Mörder. Kaltblütig und ohne Erbarmen für einen jungen Polizisten, der mit einer Kugel seinen Halt und seinen Glauben verloren hatte.
    Zwei Stunden später kehrte Mikael in seine Wohnung zurück. Ben saß in der Küche und hielt eine Teetasse in den Händen. „Du warst nicht hier, als ich aufgewacht bin. Semir hat gesagt, dass du raus bist …“, sagte er. Semir hatte ihn also vom Schlafsofa gehört, aber nichts gesagt. Er setzte sich ihm gegenüber. „Ich musste einfach raus.“
    Ben musterte ihn lange. „Hast du schlafen können?“
    „Nein … vielleicht eine halbe Stunde, mehr nicht.“
    „Kaurismäki wird nicht davonkommen, hörst du? Das Schwein wird bekommen, was es verdient!“
    „Was bringt das noch? Josh ist tot.“
    „Vielleicht Gerechtigkeit. Du kannst doch nicht wollen, dass sein Mörder davonkommt.“
    „Natürlich nicht“, räumte Mikael ein und sah aus dem Fenster. Es hatte wieder zu schneien begonnen und die ersten Schneeflocken sammelten sich am Fensterrahmen. „Willst du Tee?“ Er sah wieder zu Ben und schüttelte den Kopf. „Sonst etwas?“ Er schüttelte abermals den Kopf. Was er wollte, dass würde ihn Ben nicht erfüllen können, denn Joshua war tot. Nichts könnte daran etwas ändern. Er war in einem Albtraum gefangen, aus dem er nicht erwachen würde.


    Ben griff nach Mikaels Hand. „Hör zu. Ich will, dass du weißt, dass ich immer für dich da bin. Wir sind Freunde, du kannst mir alles anvertrauen. Egal, was es ist.“
    Mikaels blauen Augen sahen in seine. „Geht es irgendwann weg? Dieser Schmerz, die Schuld und die Leere?“, nuschelte der Schwarzhaarige leise.
    Ben saß da und wusste lange Zeit nicht, was er antworten sollte. Schließlich schüttelte er den Kopf. „Nein, du lernst nur damit zu leben. Irgendwie.“
    „Irgendwie“, wiederholte Mikael kaum hörbar und richte seinen Blick nun nach draußen, wo der Schnee die Stadt langsam eintauchte.
    „Aber du bist nicht alleine, ja? Du kannst immer mit mir reden. Egal wann. Immer!“, erklärte Ben mit fester und ernster Stimme.
    „Hat Josh … hat er etwas gesagt, bevor er …“ Mikael sprach den Satz nicht aus und schluckte schwer. Ben konnte sehen, wie sich Tränen formten und sein Freund verzweifelt versuchte, sie nicht an die Oberfläche kommen zu lassen. Er schien stark sein zu wollen, unter allen Umständen.
    „Das du keine Schuld hast“, antworte er, wohlwissend, dass es eine Lüge war. Dennoch fühlte er sich nicht schlecht dabei, auch weil er damit Mikael vielleicht helfen konnte. Er spürte, tief in sich drin, dass Joshua ihm wegen dieser Aussage nicht verurteilen würde.
    Der Schwarzhaarige nickte seicht und stand dann auf. „Ich werde ins Wohnzimmer gehen“, ließ er Ben wissen und war dann verschwunden.


    Ben sah aus der Küche zu Mikael herüber, der nun auf dem Sofa saß und wieder ins Nichts sah. Er fühlte sich, als würde diese Wohnung ihn vor Trauer und Wut erdrücken wollen. Alles wirkte noch trostloser, als ohnehin schon. Es fehlte etwas. Joshua Lehto. Sein helles Lachen konnte diesen Wänden Leben einhauchen. „Die ersten Tage sind die schwersten“, sagte Semir. Sein Partner trat in die Küche und setzte sich neben ihn. „Damals als …“, die Stimme des Älteren stockte für einen Augenblick, … das mit deinen Vorgängern war. Ich habe lange gebraucht, bis ich wieder klar denken konnte.“ Ben nickte. Selbst heute, so viele Jahre später, war es noch schwer für Semir darüber zu reden. Der Jungkommissar sog die Luft tief ein. „Ich weiß nicht, wie ich an ihn rankommen soll. Plötzlich da merke ich, wie da noch diese Distanz zwischen uns ist. Er will sich nicht öffnen, macht zu.“ „Mikael ist kein leichter Charakter, aber er wird sich dir anvertrauen, wenn er bereit ist. Keine Angst.“
    „Und bis dahin? Soll ich zusehen, wie er leidet oder was?“ Ben betrachte einmal mehr den Mann, der vor vielen Jahren einmal sein bester Freund gewesen war. Der Mensch, der ihm alles erzählt hatte, war nun verschlossen und unnahbar. Es würde eine Mamutaufgabe werden, wenn er sein Versprechen Joshua gegenüber halten wollte.

  • Mikael sog die kalte Luft tief ein. Drei Tage waren nun schon seit dem Tod von Joshua vergangen. Drei lange Tage, in denen er keinen klaren Gedanken fassen konnte, außer dem, dass sein bester Freund niemals zurückkehren würde. Joshua hatte ihn alleine gelassen in einer kalten, kahlen Welt, in der er nicht wusste, was sein Platz war. Antti war wie fast jeden morgen auch heute zu Besuch gewesen, doch er war nur nach wenigen Minuten an die frische Luft geflüchtet. Er fühlte sich nicht im Stande seinem Bericht zu lauschen. Es war ihm vollkommen egal, wie die Verhöre gelaufen waren, was der Staatsanwalt für eine Strategie vor Gericht verfolgen würde. Das hatte keine Bedeutung, denn das würde nichts an dem Umstand ändern, dass Joshua nicht mehr da war. Und es würde nicht ändern, dass er auch die Schuld am Tod von Hautamäki trug. Wie Antti erzählt hatte, war er am Ende ein Zufallsopfer gewesen. Nur um ihm diese kranke Botschaft zu übermitteln. Zumindest hatte Kaurismäki damit in Anttis Verhören geprahlt.
    Neben ihm lief Ben und er war dankbar, dass er zumindest für einige Minuten aufgehört hatte, dauernd wissen zu wollen, ob alles in Ordnung war. Nichts war in Ordnung. Er wusste plötzlich überhaupt nichts mehr mit sich anzufangen.


    Sein Unterbewusstsein hatte Mikael dahin getragen, wo er damals Joshua begegnet war. Das alte Viertel. Das Viertel, in dem sein Vater – Andreas Hansen – das Sagen gehabt hatte. Hier bekam man alles, was man sich wünschte: Von einer Waffe bis zu einer Frau. Es war eine der Ecken in Helsinki, wo sich viele Leute nicht gerne hin verliefen. Die Politik hatte diesen Ort schon lange verloren gegeben und sich selbst überlassen. Die Polizei versuchte etwas zu ändern, musste aber einsehen, dass es ein sich immer drehender Kreis war, der nicht zu stoppen war.
    „Wer sind die Typen?“, fragte Ben neben ihm leise. Mikael konnte aus der Stimmlage seines Freundes heraushören, dass sich reichlich unwohl fühlte und plötzlich in Alarmbereitschaft war. Er sah auf. Einige Meter von ihnen entfernt lief eine Gruppe von fünf Männern in ihre Richtung. Etwas vor den anderen lief ein bulliger Typ mit Lederjacke und Jeans. Seine Gesichtszüge waren kantig und eine Narbe zierte sein rechtes Handgelenk.
    „Niemand vor dem du Angst haben musst.“ Das war nicht ganz die Wahrheit. Lehtinen, der bullige Mann, hatte wegen Totschlags gesessen. Wäre Ben alleine in der Nacht hier unterwegs, dann würde er sicherlich ein Opfer seiner Truppe darstellen, denn durch die teure Uhr und die Klamotten gab Ben durchaus Preis, dass er Geld besaß und vor allem Geld war es, worauf Lehtinen es abgesehen hatte.


    Lehtinen und die anderen Männer blieben direkt vor ihnen stehen. „Hansen“, grüßte er ihn. Mikael spürte, wie Ben sich hinter ihm verkrampfte. So ganz schien ihm sein Freund aus Deutschland nicht geglaubt zu haben, dass Lehtinen und seine Bande niemanden etwas Böses taten. „Es heißt Häkkinen“, erwiderte er unbeeindruckt und verschränkte die Arme vor seinem Oberkörper.
    Der Mann gegenüber von ihm nickte. „Es tut mir Leid, die Sache mit Joshua. Er war einer von uns. Wir waren bei seinem Vater. Er ist vollkommen fertig.“ Er nickte. Joshuas Vater hatte einen kleinen Kiosk. Der einzige, der in diesem Viertel noch übrig war. Und dennoch war er nie in krumme Geschäfte verstrickt gewesen. Man respektierte ihn, tastete ihn nicht an. Vielleicht, ja vielleicht, weil auch Arttu Lehto unter der schützenden Hand von seinem Vater gestanden hatte. Andreas Hansen genoss Respekt und hatte einen langen Arm, der über seinen Tod hinaushing und auch ihn in den ersten Jahren als Polizist sicherlich davor beschützt hatte, von einer dieser Gangs in die Mangel genommen zu werden. Inzwischen brauchte er diese schützende Hand nicht mehr. Er hatte sich den Respekt der wichtigen Menschen hier erarbeitet und die kleinen Fische machten immerhin das, was ihnen die großen vorgaben.
    „Willst du ihn besuchen? Also Arttu?“, fragte Lehtinen. Er schüttelte den Kopf. Nein, das würde er nicht schaffen. Er wusste nicht, was er hätte sagen sollen. Egal was er sagte, es würde Joshua nicht zurückbringen. Er bezweifelte gar, dass er es schaffen würde überhaupt einen Fuß in den Laden von Joshuas Vater zu setzen. Nein, ein Besuch bei Arttu Lehto war keine Option.
    „Warum bist du dann hier?“ Er zuckte mit den Schultern. „Meine Füße hatten mich hergetragen. Es hatte keinen speziellen Grund. Vielleicht, ja vielleicht ist es der Gedanke an damals, als Joshua noch gelebt hat.“
    Nun musterte Lehtinen Ben, der die ganze Zeit still geblieben war, dennoch weiterhin in Alarmbereitschaft. Er verstand immerhin kein Wort Finnisch und so hatte er keine Ahnung, worum sich ihr Gespräch drehte.
    „Ist dein Freund stumm?“
    „Deutscher“, antwortete er, löste die Hände von seiner Brust und schob sie in seine Jacke. Die Männer gegenüber von ihm lächelten. „Na dann“, antwortete ihm Lehtinen.
    Es herrschte einige Zeit Stille, ehe Lehtinen wieder die Stimme erhob. „Kaurismäki ist zu weit gegangen. Er wird nicht davonkommen. Er hat sich geschnitten, wenn er glaubt, wir lassen uns das gefallen!“
    „Was willst du damit andeuteten?“, fragte er, obwohl es ihm klar war. Kaurismäkis Leben im Knast würde noch unbequemer werden und das war es ohnehin schon, weil er gewagt hatte Andreas Hansen anzutasten.
    Lehtinen hob die Faust. „Er hat sich an einem Mitglied unseres Viertels vergriffen und wir vergessen nie. Dieser linke Bulle wird bezahlen!“
    Er erwiderte nichts darauf, weil er darauf nichts zu sagen hatte. Seine Meinung hatte sich nicht geändert. Es schien ihm aus irgendeinem Grund nicht wichtig, an Kaurismäki Rache zu nehmen. Der Gedanke daran, vertrieb die dunklen Gedanken in seinem Kopf nicht. Es füllte ihn nicht mit Wärme, wenn er daran dachte, wie er sich rächen könnt. Denn er wusste, dass es ihm seinen Freund nicht zurückbrachte. Er musste weiterleben, irgendwie, auch wenn er noch nicht wusste wie. Vielleicht würde er es nie herausfinden und ewig als eine Hülle aus nichtigen Gedanken durch die Gegend laufen?


    Lehtinen erzählte noch irgendwas, doch er hatte aufgehört zuzuhören. Er konnte sich nicht auf die tiefe, penetrante Stimme konzentrieren. Nach etwa fünf Minuten verabschiedete sich Lehtinen und er setzte sich wieder in Bewegung. „Was waren das für Männer?“, ertönte nach einiger Zeit Bens Stimme. „Alte Bekannte.“ Er hörte, wie Ben laut stöhnte, um ihm zu zeigen, dass er sich eine ausführlichere Antwort erwartete. Doch erhalten würde er sie nie.

  • Joshua Lehto wurde am Dienstag, den 22. Januar, bestattet. Die Kirche war bis zum letzten Platz gefüllt und ein junger Pastor hatte vor wenigen Minuten mit der Trauer-Rede begonnen. Ben und Semir hatten sich etwas weiter hinten hingesetzt, da sie ohnehin nichts verstanden und sich auch eher als Außenstehende sahen, da sie Joshua noch nicht lange kannten. Der Jüngere sah immer wieder zur großen Tür. Sie waren mit Mikael hergekommen, doch dann hatte er gesagt, dass sie schon vorgehen sollten. Mit jeder verstrichenen Minute wurde Ben bewusster, dass Mikael nicht kommen würde. Das er es ganz einfach nicht über sich brachte diese Kirche zu betreten. In den letzten Tagen hatte sich Mikael sich in seinem Zimmer verschanzt und wollte sich weder ihm, noch Semir öffnen. Alles schien seinem Freund plötzlich egal zu sein. Antti Heikkinen hatte ihnen eine Akte vorbeigebracht, aber Mikael hatte nie hineingeschaut und sie lag immer noch unberührt auf dem Küchentisch.
    Antti saß einige Reihen vor ihnen, neben ihm saß ein junger Kollege, den Ben nicht kannte. Seine Haare waren mit grünen Strähnen gesprenkelt. Er beobachtete, wie dessen Schultern zu beben begannen und Antti ihm tröstend die Hand in den Nacken legte. Ganz vorne saß die Familie von Joshua. Er war ihr einziger Sohn gewesen. Auf der anderen Seite waren ebenfalls einige Reihen gefüllt. Verbrauchte Gesichter, Narben, Tattoos zierten diese Männer. Fünf davon kannte Ben bereits. Das waren die Typen, denen er gemeinsam mit Mikael begegnet war, in diesem Viertel. Ein grauenhafter, trostloser Ort, wie Ben fand. Es war ein Wunder gewesen, dass Mikael danach nicht noch depressiver war, als zuvor. Ihn zumindest würde so schnell nichts mehr dahin zurückbringen.


    Als der Pastor fertig war, sagte noch ein Mann in Polizeiuniform ein paar Worte. Vermutlich sprach er darüber, wie sehr das Präsidium Joshua vermissen würde. Ben gab sich Mühe dem Gottesdienst zu folgen, doch irgendwie tauchten ausgerechnet jetzt die Bilder wieder auf, wie Joshua vor ihren Augen erschossen wurde. Sie hatten nichts ausrichten können, waren nur wenige Minuten zu spät gekommen. Du kannst nicht jeden retten, redete er sich ein, doch er wusste, dass ihm das nicht wirklich helfen würde. Ab und an hatte er Albträume, doch sie waren längst nicht so schlimm, wie Mikaels. Ben hatte ihn schreien hören, in den letzten Nächten. Er war jedes Mal in das Zimmer von seinem Freund gestürmt, um festzustellen, dass er mit zittrigen Beinen am Fenster stand und in die Nacht blickte.



    *


    Eva Järvinen stieg aus der Straßenbahn und beeilte sich. Ausgerechnet heute hatte ihr Auto streiken müssen. Sie wollte nicht zu spät zu der Trauerfeier kommen. Tief in ihrem Inneren fühlte sie sich gegenüber Joshua in der Pflicht. Er war immer nett zu ihr gewesen und würde eine tiefe Lücke im Präsidium hinterlassen. Denn auch wenn er nach dem Tod seiner Frau nie wieder als Polizist arbeiten wollte, hatte sie ihn doch manches Male bei kleineren Aktivitäten gesehen. Etwas erhaschte ihre Aufmerksamkeit und sie blieb stehen. Eine Person saß an die Wand des Friedhofes gelehnt und vergrub den Kopf zwischen den angewinkelten Beinen. Das zerzauste schwarze Haar und ein silberner Anhänger an einem Lederarmband, das von seinem rechten Handgelenk baumelte, ließ sie sofort erkennen, wer es war. Sie setzte sich daneben, wusste aber nicht was sie sagen sollte, wie so oft in seiner Nähe. Sie hatte geglaubt, inzwischen mehr Selbstbewusstsein zu haben, aber das schien ein Trugschluss zu sein. Nichts wollte ihrem Mund entkommen. Nichts wollte ihr einfallen, was in seiner Nähe nicht dumm oder naiv klingen würde. „Willst du nicht zur Beerdigung?“, brachte sie schließlich heraus. Er sah zum ersten Mal auf und sah sie an. Seine Augen, diese intensiven blauen Augen, leuchteten vor Trauer, Wut und Schmerz. „Nein“, antwortete er leise. „Aber du hattest es vor, oder nicht?“ Er nickte mit dem Kopf und jetzt konnte er erneute Tränen nicht mehr zurückhalten und ließ ihnen freien Lauf. „Er ist tot … und ich bin Schuld“, presste er schluchzend heraus. Die junge Polizistin sah ihn an. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Kurzerhand umarmte sie ihn und drückte ihn sanft an sich. „Es ist nicht deine Schuld“, sagte sie leise und zog ihn enger an sich. Sie spürte, wie sein Herz gegen seine Brust schlug. Schnell und aufgeregt. Sein Druck um sie wurde enger und seine Tränen durchnässten ihre Kleidung. Fast eine halbe Stunde verharrten sie in dieser Umarmung, ehe sich Mikael von ihr löste. „Ich … es tut mir Leid … ich wollte nicht“, stotterte er unsicher und erhob sich langsam. Alles was sie noch hörte, ehe er ging war ein leises „Danke.“


    Sie erhob sich ebenfalls und sah ihm hinterher. Sollte sie ihn jetzt wirklich alleine lassen? Er war aufgelöst und voll Trauer und Wut. Sie atmete tief durch und lief ihm dann nach. Es dauerte nicht lange und sie hatte Mikael eingeholt. Eva wartete darauf, dass er sie anschreien würde. Ihr sagen würde, dass er alleine sein wollte, doch es kam nichts. Er blieb stumm, sagte kein Wort und lief einfach weiter, bis sie am Strand angekommen waren, der nur wenige hundert Meter von dem Friedhof entfernt lag. Er blieb vor dem Wasser stehen und sah auf die dunklen Wolken, die sich am Horizont türmten. „Denkst du, dass es Menschen gibt, die niemals glücklich sein können?“ Seine Stimme klang hell, dünn und ängstlich. Nicht, wie sie es gewohnt war, stark und in gewisser Weise streng. Fast automatisch griff sie nach seiner Hand. „Ich denke, dass es Menschen gibt, die größere Hürden bewältigen müssen, als andere. Aber das heißt nicht, dass sie nicht glücklich sein dürfen.“ Sie spürte, wie seine Hand ihren Druck zart bestätigte. Antworten tat er allerdings nicht auf ihre Auffassung, doch sie meinte so etwas wie ein seichtes unauffälliges Nicken von ihm zu vernehmen. Sie folgte seinem Blick aufs Meer und dachte darüber nach, was er gesagt hatte. Zum ersten Mal wurde ihr bewusst, wie viel Glück sie wirklich hatte. Sie hatte nicht das perfekte Leben, aber wenn sie daran dachte, wie das Leben des Menschen, der neben ihr stand, aussah, empfand sie ihre Probleme plötzlich als ungeheuer klein.



    *


    Als der Gottesdienst zu Ende war, sprachen Ben und Semir den Eltern ihr Mitleid aus. Joshuas Mutter hatte offensichtlich gewusst, wer er war, denn er hatte ihn gefragt, wo Mikael sei. Er hat es nicht geschafft. Er fühlt sich schuldig, hatte er ihr ehrlich geantwortet. Sie hatte gelächelt und ihm gesagt, dass er ihm ausrichten solle, dass niemand die Schuld trage.


    Nun verfolgte Ben, wie einige von den Männern von der anderen Seite der Kirche mit Joshuas Vater redeten. „Keine Zeitgenossen mit denen man sich herumtreiben sollte“, sagte eine tiefe Stimme. Antti Heikkinen war auf sie zugetreten. Neben ihm stand der junge Kollege, den Ben schon in der Kirche gesehen hatte. „Wie meinst du das?“, wollte Semir wissen, dem die Männer ebenfalls nicht entgangen waren. Der stämmige Finne steckte die Hände in die Taschen seines Anzuges. „Joshua und Mikael kommen aus dem gleichen Viertel. Dort tummelt sich alles, was du dir wünschen kannst. Die Eltern von Joshua hatten nie viel Geld, sein Vater hat einen kleinen Kiosk.“ Ben und Semir sahen zu dem Mann. Er wirkte nicht, wie jemand der aus einem Brennpunkt-Viertel kam. Antti schien ihren Blick richtig zu deuten. „Herr Lehto war immer sauber. Keine kriminellen Geschäfte. Verrückt, dass dennoch alles zusammenhält. Vielleicht ist es ja der lange Arm von Hansen. Seit seiner Ära gab es in dem Viertel keine Bandenkriege mehr. Nur eins: Zusammenhalt.“ Der finnische Kommissar zog die Hände wieder aus den Taschen und fuhr sich dann über sein Kinn. „Und genau das macht mir gerade Sorgen.“ Semir nickte. Er verstand, worauf der Kollege hinaus wollte. „Du denkst, dass sie Kaurismäki richten werden?“ Antti nickte. „Es ist kein Problem für sie Kontakte ins Gefängnis zu knüpfen und dass sich Kaurismäki an Andreas Hansens Sohn vergangen hat … sagen wir so, damit hat er sein Todesurteil unterschrieben. Hansen hat dafür gesorgt, dass sein Sohn eine Sonderstellung genießt. Wer ihn anrührt, lebt auf dünnem Eis. So zumindest würde ich es interpretieren, dass Mikael nie mit diesen Menschen aneinandergerät, wenn er Festnahmen vornimmt.“
    „Und nun wird Kaurismäki geschützt! Diese Welt ist krank!“, schimpfte der Kollege, den Ben und Semir bisher nur hier in der Kirche gesehen hatten.
    „Es ist unser Job, ob es uns gefällt oder nicht“, ergänzte Heikkinen. Der Schwarzhaarige stöhnte. „Es ist nicht mein Job. Ich komme erst ins Spiel, wenn etwas mit ihm passiert ist.“
    „Lindström … bitte nicht heute. Ich will nicht diskutieren müssen. Sehe ich so aus, als würde ich das gerne machen? Nein. Aber ich kann es nicht ändern!“
    „Jaja“, kam es trotzig und wenig später entschuldigte sich der junge Mann, damit er der Familie sein Beileid aussprechen konnte.
    „Er ist einer unser Techniker“, erklärte Antti Heikkinen ihnen. „Er hat eine Kommisarsausbildung, hat aber dann doch den anderen Weg eingeschlagen. Mikael, Joshua und er waren in einem Jahrgang.“
    „Er kennt Mikael gut?“, fragte Ben neugierig. Denn eins wusste er schon, obwohl sie sich erst wieder wenige Monate kannten. Mikael hatte nicht viele Freunde und die er hatte, die schienen ihm viel zu bedeuten.
    „Nun gut ist ein breiter Ausdruck. Er gehört zumindest zu denen, denen Mikael reinen Wein eingeschenkt hat, was Andreas Hansen angeht. Aber ich glaube seit ein paar Jahren sind sie nicht mehr so dick miteinander.“ Ben nickte. Also war er einer von Mikaels engeren Freunden, oder zumindest gewesen. Ben hörte noch eine Weile zu, wie Antti mit Semir über den Fall sprach und die bevorstehende Gerichtsverhandlung, dann machte er sich auf die Suche nach Mikael. Sie hatten etwas weiter weg geparkt, vielleicht war er ja zum Auto zurück gegangen.

  • Ben lehnte an dem Auto und klopfte nervös auf die Motorhaube. Er hatte Mikael nicht gefunden. Sein Freund war wie vom Erdboden verschluckt. In ihm breitete sich ein ungutes Gefühl aus. Hätte er Mikael nicht alleine lassen sollen? Immerhin hatte er doch gesehen, wie sehr ihn der heutige Tag zugesetzt hatte. Er zog sein Handy aus der Tasche und sah nach, ob er eine Nachricht hatte, doch da war nichts. Ben öffnete sein Adressbuch und scrollte herunter. Bei ‚J‘ blieb er hängen. Joshua. Immer und immer wieder las er diesen Namen. Er atmete tief durch und rief die Optionen aus, schloss sie dann jedoch wieder. Nein, er brachte es noch nicht über sich, die Nummer zu löschen. Noch nicht. Er scrollte weiter bis Mikaels Name erschien und rief an. Doch nach nur wenigen Freitönen schaltete sich die Mailbox an. Er ließ das Handy wieder in die Tasche sinken und zappelte nun mit dem Bein. Er sah sich um. Wo könnte Mikael hingegangen sein?


    Als er abermals sein Handy hervorziehen wollte, konnte er seinen Freund endlich in der Ferne sehen. Er lief in seine Richtung. Neben ihm ging eine junge Frau, mit längeren blonden Haaren. Ben hatte sie noch nie gesehen. Umso näher sie kamen, desto besser konnte er sie sehen. Ihre Gesichtszüge waren fein, ihre Augen strahlend blau. Ihre Wangen von der Kälte in ein leichtes Rot getaucht.
    „Wo zur Hölle warst du?“, fragte Ben, als Mikael endlich am Auto angekommen war.
    „Am Strand … Ich konnte das einfach nicht … es tut mir leid.“ Ben nickte. „Ich habe mir nur Sorgen gemacht. Ich dachte schon, das du dir was antust.“ Sein Blick fiel jetzt wieder auf die blonde Frau. Sie hielt ihm seine Hand hin. „Eva Järvinen. Mikael und Ich waren gemeinsam auf der Polizeiakademie.“ Er erwiderte ihren Händedruck und stellte sich ebenfalls vor. „Du sprichst Deutsch?“ „Ich hatte es in der Schule, aber ich bin sicherlich nicht besonders gut“, sagte sie verlegen.
    „Nein, nein … du sprichst es hervorragend! Wirklich.“ Er sah, wie ihre Wangen eine rötliche Färbung bekamen. „Danke.“
    „Willst du noch hier bleiben, oder soll ich dich nach Hause fahren?“, fragte er Mikael, der immer wieder angespannt in Richtung der Kirche sah.
    „Ich denke nicht, dass ich bereit bin“, antworte ihm der Schwarzhaarige nach einer Weile und sah dann zu Eva. „Danke.“ Sie lächelte. „Du brauchst mir nicht zu danken. Es ist alles okay. Alles ist in Ordnung … es hat mir nichts ausgemacht.“


    Mikael öffnete die Beifahrertür und stieg hinein, während Ben noch zusah, wie Eva in Richtung der Kirche verschwand, ehe er sich ebenfalls in den Wagen setzte und ihn startete. Kurz bevor er losfuhr, schrieb er noch schnell eine Nachricht an Semir, dass er Mikael nach Hause bringen würde. Es herrschte lange eine unangenehme Stille, ehe Ben sie schließlich durchbrach. „Läuft da etwas zwischen dir und dieser Eva?“
    Mikael sah ihn an. „Wie kommst du darauf?“
    „Naja, wie ihr euch angesehen habt.“
    Der Schwarzhaarige richtete seinen Blick wieder aus dem Fenster und legte seinen Arm auf die Ablage. „Vorhin, als sie da war. Für einen Augenblick, da habe ich nicht nur Leere gespürt.“
    Ben lächelte. „Aha, du hast dich verliebt!“, schoss es aus ihm raus.
    „Quatsch! Entschuldige, das ist ja wohl der unpassendste Moment, um sich zu verlieben. Josh … er … er“, Mikael schluckte schwer, „er ist gerade erst tot und ich …“
    „Das heißt doch nicht, dass du jetzt nicht mehr glücklich sein darfst, dich verlieben“, fuhr Ben ihm ins Wort.
    „Jetzt fühlt es sich aber so an. Verstehst du?“
    „Du musst weiterleben, Mikael! Du kannst nicht all die guten Momente aufgeben, nur weil Joshua nun nicht mehr da ist!“
    „Und dann?“ Mikael fuhr sich mit der Hand durch die Haare. „Was mache ich, wenn da wieder jemand ist, der das alles zerstören will? Wie soll ich glücklich sein, wenn ich Angst habe, dass jemand dieses Glück ruinieren könnte?!“ Die Hand des Schwarzhaarigen formte sich zur Faust und knallte dann gegen die Scheibe der Beifahrerseite. „Dann zerstörst du dein Glück schon vorher“, sagte Ben leise. Der deutsche Kommissar lenkte den Wagen auf den Seitenstrafen und hielt an. Er sah seinen Beifahrer eindringlich an. „Das kannst du noch nicht wollen, oder? Ewig in dieser Melancholie leben? Joshua würde das nicht wollen.“
    „Ich will niemanden mehr verlieren. Das ist es, was ich will!“ Mikaels Hände vergruben sich in dessen Jeans und Ben sah, wie er wieder einmal damit kämpfte, dass keine Träne seinen Augen verließ. „Warum sterben alle Leute um mich herum? Warum kann ich sie nicht in meinem Leben halten? Ich will nicht alleine sein und doch, ich … ich habe Angst, jemanden an mich zu binden, weil ich Angst habe diesen Menschen wieder zu verlieren. Wie ich alles verliere, wie mir alles aus den Händen rinnt.“
    Der Braunhaarige griff mit seiner rechten Hand nach Mikaels linken und löste sie aus ihrer krampfhaften Haltung. „Du wirst wieder glücklich sein. Du wirst diese Zeit überstehen! Ich bin mir sicher, dass du das schaffen wirst. Du musst, schon alleine, weil ich dich nicht als Freund verlieren will.“ Ben lächelte. „Du bist nicht alleine. Du hast Semir und mich und du hast diesen Heikkinen. Er macht sich wirklich Sorgen um dich.“
    Mikael nickte seicht und sah nun wieder aus dem Fenster. „Ich weiß“, murmelte er leise.
    Ben wartete, ob vielleicht noch mehr kommen würde, doch es kam nichts. Mikael blieb stumm und schien sich wieder in seinen Gedanken einzugraben. Der deutsche Kommissar drückte noch einmal Mikaels Hand, ehe er den Wagen wieder in Gang setzte. Inzwischen weißt du, was Trauer war, dachte er. Ein leeres tiefes Loch, aus dem man nur schwer entkam.

  • Zwei Tage nach der Beerdigung packte Ben die letzten Sachen in seine Reisetasche. Er wünschte, dass sie länger bleiben könnten, aber es war nicht möglich. Die Chefin hatte einfach keinen Ersatz gefunden, zumal eine Grippewelle NRW fest im Griff hatte. Er sah auf. Mikael stand an der Tür gelehnt, hatte die Arme vor der Brust verschränkt. Seit zehn Minuten stand er jetzt schon da, beobachtete ihn, sagte allerdings nichts. „Vielleicht kann ich die Krüger ja doch noch überzeugen … oder du kommst einfach mit nach Deutschland, ich meine, du bist ja ohnehin noch beurlaubt und …“ „Ich komme klar Ben. Mach dir keine Gedanken“, unterbrach der Schwarzhaarige ihn. „Ich sehe doch, dass es dir nicht gut geht. Wieso quälst du dich so?“, setzte er abermals an. „Wirklich, ich bekomme es hin. Ich brauche keinen Babysitter, der rund um die Uhr hinter mir steht.“
    Ben seufzte. Mikael hatte eine Mauer errichtet, die er unmöglich niederreißen konnte. Vielleicht war es ja so. Vielleicht wollte Mikael jetzt wirklich lieber alleine sein und niemanden in seiner Nähe haben. Außerdem schien dieser Antti Heikkinen wirklich auf Mikael aufzupassen. Er war in den Tagen zwischen Joshuas Tod und der Beerdigung mehrmals hier gewesen. Um sie über die Ermittlungen zu informieren, aber auch um nach Mikael zu sehen. Semir hatte ihm erzählt, dass Heikkinen selbst schon Kollegen verloren hatte. Er wusste also, wovon er redete und konnte Mikael sicher viel besser helfen, als er. Dennoch blieb dieser bittere Beigeschmack. Ein dumpfes Gefühl, dass er seinen Freund in Stich ließ. Mikael schienen seine Sorgen nicht zu entgehen. „Ich schaffe das, wirklich Ben. Du stehst wegen nichts in meiner Schuld … eigentlich wäre es wohl auch eher umgekehrt.“
    Er sah seinen Freund erstaunt an. „Wie meinst du das?“
    Der Schwarzhaarige spielte mit seinem Armband. „Immerhin bin ich derjenige, der sich all die Jahre nicht gemeldet habe. Glaub mir, auch wenn es manchmal nicht so scheint, ich freue mich wirklich, dass wir wieder zueinander gefunden haben … ich schätze dich als Freund.“
    Ben lächelte, stand auf und legte seine Hand auf Mikaels Schulter. „Glaub mir, dass weiß ich. Es spielt keine Rolle mehr, warum du dich dazu entschieden hast, dich nicht bei mir zu melden. Egal was es ist, ich verstehe das. Ich bin nur froh, dass ich dich wieder getroffen habe und dass wir wieder Freunde sind. Auch wenn … auch wenn wir uns Beide sicherlich seitdem verändert haben.“
    „Veränderungen gehören zum Leben dazu“, antworte Mikael leise. Wie Recht er doch hatte, dachte Ben. Auch jetzt mussten sie sich wieder einer Veränderung stellen. Wie sie aus dieser herausgingen, lag bei ihnen. Würde es sie stärker machen, oder würde diese eine Sache – der Tod von Joshua – immer in ihrem Gedächtnis bleiben? Besondern bei Mikael machte er sich Sorgen, dass er sich nie lösen könnte.
    „Ja, das gehören sie wohl“, antwortete er und löste seine Hand wieder von der Schulter des Schwarzhaarigen. Dann griff er nach seiner Tasche. „Und du rufst auch an, wenn du Hilfe brauchst?“
    „Natürlich. Ich werde mich melden.“
    Der deutsche Kommissar nickte und verließ das Gästezimmer. Semir stand in dem Wohnzimmer und schien bereits ungeduldig zu warten. „Es ist doch immer das Gleiche mit dir. Hättest du gestern Abend schon gepackt, dann hätten wir jetzt keinen Zeitdruck“, wies er Ben zurecht. „Wir werden den Flieger schon bekommen, keine Angst“, erwiderte er.
    „Ich habe euch schon ein Taxi bestellt, das euch zum Flughafen bringen wird“, sagte nun Mikael und Semir nickte ihm dankend zu. „Scheint, als würden wir unseren Herrn Jäger ziemlich gut kennen.“ „Naja, seine Unpünktlichkeit wird er wohl nie ablegen.“
    „Hört mal. Ich bin anwesend!“, empörte sich Ben.


    Als das Taxi vor der Wohnung hielt, verabschiedeten sie sich mit einer Umarmung. „Er wird es schaffen“, sagte Semir ihm, als sich die Wohnungstür hinter ihnen geschlossen hatte. „Mach dir keine Sorgen. Mikael wird sich sicher bei dir melden.“
    „Ich hoffe es“, murmelte Ben leise und warf noch einmal einen letzten Blick hoch in die Wohnung. Vielleicht, weil er gehofft hatte, dass Mikael am Fenster stand und ihm zuwinkte. Aber er tat es nicht. Im Grunde würde so etwas auch nicht wirklich zu seinem Freund aus dem hohen Norden passen. Er seufzte und lud seine Tasche in den Kofferraum des Taxis, um sich wenig später auf der Rückbank niederzulassen.


    Die Fahrt zum Flughafen und der Rückflug zum Düsseldorfer Flughafen verlief äußert ruhig und die beiden Kommissare redeten nicht fiel. Beide waren sich jedoch einig, dass sie darauf achten würden, dass Mikael sich nicht zu sehr in diese dunklen Gedanken eingraben würde, auch wenn nun wieder mehr als 1.000 Kilometer zwischen ihnen lagen. Immerhin dauerte die Reise nach Finnland nicht viel länger, als eine Autofahrt nach Bayern.

  • Mikael legte sein Handy auf den Tisch und sah nach draußen. Harri Kaurismäki war tot. Ein Mithäftling hat ihm eine angespitzte Zahnbürste in die Halsschlagader gerammt. Laut Antti war es bereits gestern Abend passiert und man hatte kaum Hinweise, wer es gewesen war. Es war einer dieser klassischen Gefängnismorde. Menschentraube, viel Trubel, keine Sicht, keine Zeugen und am Ende auch keine Fingerabdrücke. Er horchte in sich hinein, musste aber feststellen, dass diese Tatsache nichts veränderte. Da war immer noch diese Leere. Er fühlte nichts mehr. Die Leere hatte sein Inneres voll und ganz eingenommen. Alles erschien sinnlos, dunkel, endlos. Es gab keine Möglichkeit dem Nichts zu entkommen. Und jetzt begriff er, dass Kaurismäki sein Ziel erreicht hatte. Er würde niemals wieder vollständiges Glück spüren, sich fallen lassen können ohne die Angst zu verlieren. Etwas zu verlieren, jemanden zu verlieren.


    Er verfolgte, wie sich der Schnee im Fensterrahmen sammelte, immer höher auftürmte. Er dachte daran, dass er bald wieder arbeiten müsste. Er brauchte Ablenkung, eine Aufgabe. Dieses herumsitzen und in Selbstzweifel baden, brachte ihn nicht weiter. Es zog ihn immer weiter in die Tiefe und er wusste, dass er den Punkt erreichte, wo er abstürzen würde. Er fühlte sich, als würde er auf einem dünnen Drahtseil balancieren. Ein falscher Schritt und er würde fallen. In eine Welt voller schlechter Gedanken. Eine Welt, die er schon einmal betreten hatte. Nach dem Scheintod seiner Eltern, als er 17 war. Nie wollte er dahin wieder zurück und doch spürte er, wie die Dämonen nach ihm griffen. An seinen Armen und Beinen zerrten. Trauer war ein konstanter Begleiter in seinem Leben. Sie zog ihn an den Rand des Abgrundes und darüber hinaus. Vielleicht sollte er joggen gehen? Er war schon lange nicht mehr joggen. Nein, irgendwas hielt seinen Körper davon ab aufzustehen. Der Schnee vor seinem Fenster wurde dichter. Die Gedanken in seinem Kopf begannen ihre Kreise zu ziehen, ohne das er einen davon wirklich packen konnte. So ging es schon seit Tagen. Er saß hier und versuchte an etwas zu denken, ohne das am Ende Joshuas Gesicht vor seinem inneren Auge erschien.


    Das Klingeln der Tür drang zu ihm durch und er stand auf, auf Befehl, wie ein Roboter. Er öffnete die Tür erst einen Spalt, als er sah, dass Eva Järvinen davor stand, zog er sie weiter auf. Seine Hand umklammerte die Klinke jedoch krampfhaft, als könnte er die Tür bei einem falschen Wort seines Besuchers schnell wieder zuknallen, um sich in seine Einsamkeit aus dunklen Gedanken zurückzuziehen.
    Es sah ihn lange an mit ihren dunkelblauen Augen. „Du hattest mal gesagt, dass du mich zum Essen einladen wirst. Ich dachte heute wäre ein guter Zeitpunkt“, begann sie nach einer Weile. Er nickte mechanisch. Ja natürlich, dachte er, du hast es versprochen, damals vor dem Automaten. Damals, als Joshua noch lebte. Damals war sie unsicher gewesen, jetzt klang ihre Stimme fest und liebevoll. Als hätte man sie auch ausgetauscht. So wie ihn. „Ist das ein Ja?“, fragte sie.
    „Ich weiß nicht“, antwortete er ehrlich. Sie trat in die Wohnung und stand jetzt dicht vor ihm. „Du bist blass und mager. Heikkinen sagt, dass du noch beurlaubt bist.“
    „Schickt er dich? Um nach mir zu sehen?“
    „Nein. Ich habe dich vermisst … im Präsidium meine ich. Ich wollte schauen, wie es dir geht.“ Sie strich eine Strähne hinter sein Ohr. Ihre Hand war so warm, ihre Berührung so zart. Er spürte, wie für einen Augenblick die Kälte in seinem Inneren verdrängt wurde. Wärme, die er lange nicht gespürt hatte, breitete sich in ihm aus. Die Spannung, Angst und die Leere wichen für einen winzigen kleinen Moment. Er wünschte, sie würde ihre Hand niemals wieder von ihm lösen, doch kurz darauf tat sie es.
    „Ich habe mir Sorgen gemacht“, sagte sie.
    „Wegen mir? Mir geht es gut, du brauchst dir keine Sorgen zu machen.“
    Sie sah in seine Augen. „Dir geht es nicht gut.“
    Seine Hand löste sich von der Klinke, die er bis vorhin fest umschlossen hatte. „Nein, mir geht es nicht gut“, gab er zu und war im selben Augenblick erstaunt darüber, was ihn zu der Wahrheit bewegt hatte. Er griff nach ihrer Hand, tastete nach der Wärme ihrer Finger. „Ich würde es schön finden, wenn du heute Abend hier bleibst … ich will nicht alleine sein.“

  • 1 ½ Jahre später



    Ben lehnte am Geländer eines hölzernen Stegs und spürte die warme Sommersonne in seinem Nacken. „Und habe ich dir zu viel versprochen?“, fragte Mikael. Er hatte Eva von hinten umarmt und streichelte dabei sanft ihren leicht gewölbten Bauch und lächelte versonnen, als wäre da nichts in der Welt, was ihm diesen Moment nehmen konnte. „Nein. Es ist wirklich ein tolles Haus“, gestand Ben ein. Mikael hatte ihn und Semir für ein paar Tage in sein Sommerhaus eingeladen und sie hatten gerne angenommen. Das Häuschen hatte wohl früher Mikaels Vater gehört, bis er seinen Scheintod vorgetäuscht hatte. Seit diesem Augenblick stand Mikaels Name in den Grundbüchern. Es war eines dieser typischen skandinavischen Holzhäuser. Es war weiß gestrichen und lag in einer wunderschönen Gegend an einem kleinen See. Nicht unweit von hier gab es auch einen kleinen Wald. Da es doch etwas weiter von Helsinki entfernt lag, hatten sie weiterhin ein kleines Mietshaus etwas weiter in die Stadt hinein, aber es war keine Wunder, dass Mikael sich gerne am Wochenende hierher flüchtete. Hier konnte man so richtig die Seele baumeln lassen und den Alltag vergessen.


    Inzwischen hatten sie sich immer besser kennengelernt und Ben bekam langsam raus, wie Mikael tickte und schaffte es in diesen weicheren Kern vorzudringen, der ihn noch vor zwei Jahren vollkommen verschlossen schien. Doch er wusste auch, dass es Geheimnisse gab, die ihm Mikael noch nicht eröffnet hatte und vielleicht niemals eröffnen würde. Niemals hatte er darüber geredet, was denn nun der wahre Grund war, warum er sich nie bei ihm gemeldet hatte und niemals sprach er über seine Jugend. Ben hatte irgendwann aufgehört nachzufragen, als er gespürt hatte, wie sich Mikael dann jedes Mal von ihm zurückzog. Auch hatte er immer noch Albträume nach dem Tod von Joshua. Er lässt mich nicht gehen, so hatte es Mikael ihm gegenüber Mal erzählt.
    „Was wird es, ein Junge oder Mädchen?“, lenkte Ben sich schnell von den dunklen Gedanken ab.
    Evas Hand legte sich in Mikaels, die weiterhin auf ihrem Bauch lag und ihre Finger umschlagen sanft seine. „Ein Junge“, sagte sie und lächelte.
    „Wir werden ihn Oskari nennen“, fuhr nun Mikael fort und drückte dabei Evas Hand. „Josh … er hat mir mal erzählt, dass er seinen Sohn so nennen wollte, wenn er jemals Kinder bekommen sollte.“ In den blauen Augen des Schwarzhaarigen blitzte für einen Augenblick Wehmut auf. So wie sie es immer tat, wenn er über Joshua redete. Vielleicht war das der Grund, warum er so wenig über seinen toten Freund sprach. Es tat ihm immer noch weh. In Augenblicken wie diesen, da war Ben klar, dass Kaurismäki damals seine Rache erreicht hatte. Es war so unheimlich schwer für seinen Freund, dass er sein Glück genießen konnte. Er hatte alles. Eine Frau, die ihn liebte, bald einen Sohn und mit Antti und Veikko zwei Freund, die immer an seiner Seite waren und doch gab es diese kleinen winzigen Momente, wo Mikael an die letzten Monate dachte und sich dann wieder für viele Tage vollkommen zurückzog.


    Ben sah an Mikael und Eva vorbei. Semir stand bei Antti, der sich damit abmühte, den Grill irgendwie anzubekommen. Inzwischen hatte sich zwischen den beiden älteren Kollegen eine Freundschaft entwickelt und auch Ben mochte Antti. Man kam eigentlich schnell mit ihm zurecht und da Ben vorwiegend privat mit ihm zutun hatte, wurde er bisher auch noch nicht mit einem seiner legendären Wutausbrüche konfrontiert. Viel wichtiger war ohnehin, dass Mikael seinem Kollegen bei der Mordkommission vertraute und das tat er. Sie waren zu einem guten Duo geworden und Ben war sich sicher, dass Mikael mit der Mordkommission neues Vertrauen gewann. Vertrauen, was ihm durch die Sache mit Kaurismäki verloren gegangen war. Die Narben an seinen Pulsadern waren auch heute noch deutlich sichtbar. Mikael trug an der einen Seite jedoch das Armband mit dem Anhänger und an der anderen Seite eine Uhr mit einem dicken Lederarmband, so dass die Narben gut verdeckt waren. Ihn störten sie wenig, allerdings hatte er Ben im Vertrauen einmal erzählt, dass er die Blicke von einigen Leuten leid geworden war. An der Supermarktkasse, an der Bushaltestelle. Plötzlich hatte er sich gefühlt, als würden alle nur auf seine Arme schielen.
    Neben Antti Heikkinen stand Veikko Lindström, den Mikael ebenfalls an den See eingeladen hatte. Ben kannte ihn bisher nur von Joshuas Beerdigung, doch er kam ihm äußerst sympathisch vor und zumindest ihr Humor war schon einmal ähnlich. Antti hatte ihm Veikko als eine Art zweigeteilte Persönlichkeit beschrieben. Nichts an ihm schien zusammenzupassen. Er fuhr Skateboard, färbte sich die Haare in schrillen Farben, hörte aber klassische Musik und spielte Geige. Er hatte eine Tochter, die bereits sieben Jahre alt war, war geschieden, allerdings mit dem jetzigen Freund seiner Ex-Frau gut befreundet.


    „Wir können anfangen!“, holte ihn Anttis Stimme aus den Gedanken und Ben machte sich gemeinsam mit Eva und Mikael auf den Weg in Richtung des nussbraunen Holztisches, der auf der Terrasse stand. „Wurde auch Zeit, ich war am verhungern!“, ließ Ben verlauten, als er sich hinsetzte.

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